Deutscher Bundestag Terror gegen die Wallstreet? Die Attentate auf J.P. Morgan und J.D. Rockefeller in der Entstehungszeit des „Federal Reserve System“ 1914-20 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 1 – 3000/021/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 2 Terror gegen die Wallstreet? Die Attentate auf J.P. Morgan und J.D. Rockefeller in der Entstehungszeit des „Federal Reserve System“ 1914-20 Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 1 – 3000/021/12 Abschluss der Arbeit: 25.04.2012 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Hintergründe, Verlauf und Folgen der Attentate auf J.P. Morgan und J.D. Rockefeller 6 2.1. Sprengstoffanschlag in New York 1914 („Lexington Avenue Bombing“) 6 2.2. Schüsse auf J.P. Morgan Jr. 1915 12 2.3. Terroranschlag im Finanzzentrum der USA 1920 („Wall Street Bombing“) 18 3. Verbindungen des „Federal Reserve Systems“ zu Morgan und Rockefeller 23 4. Fazit und Schlussüberlegung 32 5. Literaturliste 37 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 4 1. Einleitung Untrennbar verbunden mit dem Aufstieg der USA zur Wirtschaftsgroßmacht im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sind die Lebensgeschichten unternehmerischer Gründerpersönlichkeiten wie Vanderbilt, Harriman, Gould oder Carnegie. Diese „Heroen“ auf wirtschaftlichem Gebiet trieben mit ihrem Streben nach Reichtum den wirtschaftlichen Aufstieg der USA voran.1 Vom Charakter her wohl den amerikanischen Wild-West-Pionieren nicht ganz unähnlich, deren Methoden sie zeitgenössischen Berichten zufolge in zivilisierterer Form imitiert haben sollen,2 waren diese Dynasten des Kapitalismus Hasardeure und nüchterne Kalkulatoren in einem. Sie waren Familienmenschen, selbstbewusste Abenteurer mit Buchhalterbegabung und Registrierkassenmentalität, Verfechter des Klotzens statt Kleckerns auf wirtschaftlichem, politischem, aber auch philanthropischem Gebiet und damit frühe Gussformen jenes Unternehmertyps der Marke „think big in every respect“, wie er in die amerikanische Filmwelt und Literatur des gesamten 20. Jahrhunderts als „stock character“ Eingang gefunden hat. Die kulturelle Umsetzung reicht von F. Scott Fitzgeralds „The Great Gatsby“ über Edna Ferbers Öl-Millionär Jett Rink im Romanepos „Giants“ bis hin zur Populärvariante „moderner“ Unternehmer-Clans in diversen Fernsehserien („Dallas“, „Dynasty“, „Falcon Crest“ etc.). Die beiden bedeutendsten Vertreter dieser Big Business Spezies hießen Morgan und Rockefeller . Im Wechsel mit Gould trugen sie nacheinander die Beinamen „reichster Mann Amerikas “ bzw. „reichster Mann der Welt.“3 Damit standen sie wirtschaftlich an der Spitze der US-Gesellschaft, die manche ihrer zeitgenössischen Kritiker als Pyramide darstellten, deren Gipfelpunkt das Geld bildete.4 Ungeachtet dieses Erfolges waren beide Unternehmerpersönlichkeiten nicht unumstritten. Neben viel Bewunderung erfuhren sie auch vehemente Ablehnung. In den sozialkritischen Romanen Upton Sinclairs5 etwa wurden sie – mindestens indirekt – gegeißelt, und in den 1 Vgl. Morus, passim. 2 Vgl. Lundberg, S.126 und Hawke, S.188/89. Teilweise wurden noch unvorteilhaftere Vergleiche etwa mit mittelalterlichen Raubrittern angestellt. Vgl. Hawke, S.160. 3 Vgl. Merten, passim, Morus, S.128 und Hawke, Rockefeller, S.211, S.236. 4 In einer zeitgenössischen Polemik sozialistischer Herkunft werden die USA als Pyramide dargestellt, auf deren Spitze ein Geldsack mit Dollar-Zeichen „thront“ (http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Anticapitalism _color.gif&filetimestamp=20070324104408, Stand: 10.04.2012). Positiv gewendet wurde das monetär verstandene Pyramidensymbol später von der US-Regierung. Präsident Roosevelt ließ 1933 auf der Ein-Dollar- Note eine Pyramide anbringen, die von einem strahlenumkränzten Auge „bekrönt“ wird (http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:United_States_one_dollar_bill,_reverse.jpg&filetimestamp=20 070429004142, Stand: 10.04.2011). Über die genaue Bedeutung dieser Symbolik spekulieren noch heute die Beobachter in teils abenteuerlicher Weise (vgl. Mullins, S.11), doch war sie vermutlich gar nicht „geheimnisvoll“, sondern sollte lediglich die Absicht der Regierung bekunden, mit dem als unverzichtbar anerkannten Geld „aufgeklärt“ umzugehen und das Allgemeinwohl fest im „Blick“ zu haben. Vgl. Sautter, S.267/68 (Stichwort: „New Deal“). 5 Lebensdaten: 1878-1968. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 5 Sachbüchern der Enthüllungsjournalistin Ida Tarbell6 kamen die Familienmitglieder des Rockefeller-Clans unmittelbar schlecht weg.7 Auch die bis heute beliebten Verschwörungstheorien, in deren Mittelpunkt Morgan und Rockefeller regelmäßig stehen, sind Ausdruck dieser zwiespältigen Resonanz.8 In einer Mischung aus Verblüffung und Abscheu traute und traut das Publikum diesen Titanen der Ökonomie allerhand zu (bis hin zur Versenkung der Titanic9) und projiziert besonders in monetärer Hinsicht Allmachtsphantasien in sie hinein, die ein rationales Maß weit übersteigen. Grund genug, den Sachverhalt etwas genauer zu betrachten und zu versuchen, Fakten von Fiktion zu trennen. Was steckte insbesondere hinter den Attentaten auf Morgan und Rockefeller , die für sich genommen ein weiterer Beleg für den mindestens bei bestimmten Bevölkerungsteilen extrem schlechten Ruf dieser Großunternehmer sind? Waren die Anschläge Ausdruck eines „Krieges“ gegen die Wallstreet, eine Art terroristischer Vorwegnahme der heutigen Occupy-Bewegung? Wer waren die Täter, welche Folgen hatten die Anschläge? Und gab es einen Zusammenhang zwischen beiden Unternehmerpersönlichkeiten und der amerikanischen Zentralbank, also jener machtvollen geldpolitischen Instanz, die nach Aussage eines der aktuellsten Sachbuchautoren eine nur Böses erzeugende „Monsterschöpfung “ aus dem Frankensteinschen Geldlaboratorium der Morgans und Rockefellers gewesen sein soll?10 6 Lebensdaten: 1857-1944. 7 Vgl. Collier/Horowitz, S.10, Hawke, S.9/10, Lundberg, S.127 und Chernow, Rockefeller, S.228. 8 Vgl. Lundberg, S.17. Henderson, S.7 etwa konstruiert Verbindungen zwischen dem Rockefeller-Clan und dem Kennedy-Attentat. Auf die Haltlosigkeit solcher Theorien verweist der Historiker und Ökonom Edward Flaherty, der als „Conspiracy-Killer“ bekannt ist: http://www.publiceye.org/conspire/flaherty/flaherty9.html, Stand: 16.04.2012. 9 Vgl. Gardiner, Titanic-Verschwörung (1997) und Wisnewski, Titanic-Attentat (2012). Während der erste Autor Mutmaßungen anstellt, Morgan als Besitzer der White-Star-Line, zu der die Titanic gehörte, habe durch Beharren auf eine riskante Schiffsroute einen Untergang bewusst in Kauf genommen, um die defizitär geführte Linie durch Herbeiführung des Versicherungsfalles zu sanieren, gibt es bei Wisnewski sogar regelrechte Attentatsvorwürfe. Morgan habe Interesse daran gehabt, einige Konkurrenten wie die Astors aus dem Weg zu räumen, die Passagier auf der Jungfernfahrt waren. Also habe er einen Untergang „veranlasst“, dem dann tatsächlich die Morgan-Konkurrenten zum Opfer fielen, weil nicht genügend Rettungsboote existierten, deren Zahl Morgan zuvor angeblich aus Kostengründen habe reduzieren lassen. Von seriösen Forschern gibt es keinerlei Bestätigung dieser fantastisch anmutenden Theorien (vgl. Allen, Morgan, S.269), die eine große Lust der Verfasser am Fabulieren erkennen lassen (Wisnewski z.B. bezweifelt auch die Mondlandung, die Täterschaft arabischer Terroristen beim Anschlag auf das World Trade Center 2001, den Selbstmord Kirsten Heisigs u.v.m. und ist als Verschwörungstheoretiker bekannt). Überdies sprechen die Veröffentlichungszeitpunkte für vorwiegend kommerzielle Motive der Autoren, deren Publikationsentscheidung vor allem dem Ziel verpflichtet gewesen sein dürfte, vom erwartbaren Medien-Hype rund um bestimmte Titanic-Jubiläen zu profitieren. (Gardiners Buch erschien im Jahr des populären Titanic-Spielfilms von James Cameron, und 2012, in dem der Film in 3-D erneut ins Kino kommt, brachte Wisnewski sein Buch pünktlich zum 100. Jahrestag des Schiffsunglücks vom 15.04.1912 heraus). 10 Vgl. Griffin (2006), Die Kreatur von Jekyll Island. Die US Notenbank Federal Reserve. Das schrecklichste Ungeheuer, das die internationale Hochfinanz schuf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 6 2. Hintergründe, Verlauf und Folgen der Attentate auf J.P. Morgan und J.D. Rockefeller Bereits ein erster Blick auf die Attentate belegt eine auffallende Diskrepanz zwischen Tatsachen und umlaufenden Behauptungen, was vermutlich mit dem Misslingen der Attentate zu tun hat. Dies machte sie in den seriösen Lebensbeschreibungen Morgans und Rockefellers zu einem zwar festen, aber vergleichsweise nebensächlichen Aspekt. Sie wurden bis heute nicht so ausführlich untersucht bzw. geschildert, dass sie im Gedächtnis der Öffentlichkeit einen festen Erinnerungsort gefunden hätten. Dieses Feld der Memoration blieb, wie die Historikerzunft der USA inzwischen selbst bedauernd einräumt,11 meist sog. „Enthüllungsschriftstellern“ überlassen, die mehr auf Sensation zielten. Sie nahmen es mit den Fakten nicht immer genau und trugen so dazu bei, das Ereignis als solches zwar leidlich bekannt zu halten, nicht aber die jeweiligen Einzelheiten. Dies eröffnete Raum für teils wilde Spekulationen. Dazu zählt etwa die Frage nach einem möglichen inneren Zusammenhang der Anschläge und nach Verbindungen der Attentäter untereinander. Eine solche Frage verdankt ihr Entstehen vor allem der Annahme, die Anschläge hätten im gleichen Jahr stattgefunden (1919), wären also kurz nacheinander erfolgt. Bereits diese Vermutung erweist sich als falsch.12 Zwischen den Anschlägen , von denen es insgesamt drei gab (zwei auf Morgan 1915 und 1920, einen auf Rockefeller 1914), liegt ein Zeitraum von sechs Jahren, sodass kaum von einer Verbindung ausgegangen werden kann. Auch waren die jeweiligen Anlässe und Umstände zu verschieden, um innere Zusammenhänge erwarten zu lassen. Dass diese tatsächlich nicht bestanden, zeigt ein näherer Blick auf die Ereignisse. 2.1. Sprengstoffanschlag in New York 1914 („Lexington Avenue Bombing“) Das erste Attentat fand in den letzten Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs statt, also noch im tiefsten Frieden, und galt John D. Rockefeller Jr.13 Diesem Sohn des gleichnamigen Gründers der Standard Oil Company, eines Petroleum-Giganten mit wirtschaftlichen Interessen auch im Bergbau, Eisenbahnwesen und auf dem Bankensektor, trachteten vier sozialistische Bombenleger nach dem Leben. Die vier Gewerkschaftsaktivisten wollten den Erben des Rockefeller Trusts mit einem selbstgebastelten Sprengkörper in seinem New Yorker Familiendomizil töten. Hintergrund waren tragische Vorkommnisse mit Todesfolge in einer zum Standard Oil Trust gehörenden Firma in Colorado, für die man Rockefeller, den Aufsichtsratsvorsitzenden, verant- 11 Die Historikerin Beverly Gage beklagt ausdrücklich „the lack of a memorial” und die Politik des Vergessens z.B. im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag auf die Morgan-Bank 1920. Vgl. Gage, „Business As Usual“, letzte Seite des Aufsatzes, der keine Seitenzahlen enthält. 12 Auslöser dieser Vermutung sind die in einer Chicagoer Zeitung 1919 publizierten Namen von 36 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der USA, darunter Rockefeller Sr. und Morgan Jr., denen angeblich Briefbomben italienischer Anarchisten zugedacht gewesen seien. Allerdings kam es zu diesen Anschlägen nie, sodass die Ernsthaftigkeit der Anschlags-Ankündigungen weder bestätigt noch dementiert werden kann. Vgl. Daily Tribune vom 1. Mai 1919, http://www.fold3.com/spotlight/6883/1919_anarchist_bombings_chicago/, Stand: 16.04.2012. 13 Lebensdaten: 1874-1960. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 7 wortlich machte. In der Bergarbeiterstadt Ludlow hatten von der Werksleitung bezahlte Streikbrecher , unterstützt von der Nationalgarde und Teilen der regulären Armee, einen über Monate sich hinziehenden Streik der Arbeiter mit Waffengewalt zu beenden versucht, wie es vielfach zuvor schon in anderen Betrieben der Rockefellers, aber auch anderer Großunternehmer geschehen war. Hatte sich bisher durch solche Einschüchterungsversuche der Konzernbevollmächtigten die Lage stets rasch beruhigt, zeigten sich dieses Mal die Arbeiter unbeeindruckt. Sie gingen nicht, wie in vergleichbaren Fällen vorher, nach den ersten Drohgebärden der Besitzer wieder an die Arbeit, sondern verharrten im Ausstand. Unklar ist bis heute, ob dies Ausdruck ihrer Verzweiflung wegen der Arbeitsbedingungen war, also spontane Eigenentscheidung, oder der Agitation militanter Gewerkschafter zuzuschreiben gewesen ist, die bewusst die Konfrontation suchten.14 Fest steht, dass die Situation schließlich eskalierte. Nach einer Reihe verbaler Provokationen auf beiden Seiten eröffneten am 20. April 1914 die Ordnungskräfte das Feuer auf die Streikenden. Sie töteten nicht nur Dutzende Arbeiter, sondern auch zwei Frauen und elf Kinder, die in der Nähe des Werksgeländes in einer Zeltstadt campiert hatten. Insbesondere dieses Übergreifen der Gewaltaktionen auf die Familien der Arbeiter empörte die Öffentlichkeit. Das in den Zeitungen verbreitete Bild von verzweifelten Müttern, die in ihren Zelten Schutz vor den Kampfhandlungen gesucht hatten und dort mit ihren Kindern auf grausame Art umkamen, als aus ungeklärten Umständen, vermutlich durch Funkenflug, Feuer ausbrach, schockierte die Menschen überall in den Vereinigten Staaten. Der Vorfall erhielt umgehend die Bezeichnung „Ludlow-Massaker“ und ließ das schon bisher nicht besonders gute Image der vermeintlich „kaltherzigen Kapitalistenfamilie“15 Rockefeller in freien Fall übergehen. Verschlimmert wurde die Lage noch durch naive Spontan-Äußerungen Rockefellers kurz nach den Vorkommnissen. Der in seiner New Yorker Zentrale über die Tragweite der Ludlow-Ereignisse offenkundig nur unzureichend informierte Aufsichtsratschef verkündete in einer ersten Stellungnahme, die Betriebsleitung vor Ort habe aus seiner Sicht alles richtig gemacht und genieße auch weiterhin sein volles Vertrauen.16 Dies wirkte in der Öffentlichkeit wie blanker Zynismus , ja wie eine Verhöhnung der Opfer, und brachte auch prinzipielle Bewunderer des radikalliberalen Credos vom unumschränkten Herrschaftsrecht des Fabrikbesitzers auf eigenem Grund und Boden gegen Rockefeller auf. Aus dem Erben des Standard Oil Imperiums wurde so kurzzeitig der meistgehasste Mann der USA, das Schreckbild eines unternehmerischen Ausbeuters, der buchstäblich über Leichen ging, um seine Bilanzen in Ordnung zu halten.17 Dies entbehrte insofern nicht einer gewissen Tragik, als der junge Rockefeller in Wirklichkeit das ziemliche Gegenteil eines Ausbeuters war. Er hatte sich wiederholt über die rauen Methoden und die Unternehmensprinzipien in den Vorstandsetagen von Standard Oil beklagt und sich deswe- 14 Zur hetzerischen Tendenz der Gewerkschaften vgl. Lundberg, der amerikanische Gewerkschaftsfunktionäre mit Sowjetkommissaren vergleicht und ihnen vorwirft, ihre Organisationen totalitär geführt zu haben. Vgl. Lundberg, S.190. 15 Vgl. Hawke, Rockefeller, S.236ff. 16 Vgl. Lundberg, S.186. 17 Vgl. Collier/Horowitz, S.99ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 8 gen schon Jahre zuvor gegen den Willen seines Vaters aus dem operativen Geschäft zurückgezogen . Nur den Posten eines Konzerndirektors, der einer Aufsichtsratsposition vergleichbar war, behielt er inne und versuchte dort, reformerisch tätig zu werden.18 Im Gegensatz zu seinem Vater, dem eigentlichen Firmengründer,19 dessen calvinistische Frömmigkeit ihn vergleichsweise mitleidlos gegen Leute machte, die es nicht aus eigener Kraft zu Wohlstand brachten, war der junge Rockefeller empathisch veranlagt. Er dachte ernsthaft darüber nach, wie er den ungebremstem Kapitalismus-Kurs im Familien-Trust abmildern und der Standard Oil Company ein menschlicheres Antlitz verleihen könnte. Alle diese Ansätze spielten jedoch plötzlich keine Rolle mehr. Der sozialkritische Schriftsteller Upton Sinclair organisierte Massenproteste gegen Standard Oil, und die Presse schoss sich mit verächtlichen Kommentaren auf Rockefeller Jr. ein. Er bekam die volle Verantwortung für die Ludlow-Ereignisse zugesprochen, musste nach Meinung von Freunden der Familie allerdings auch dafür büßen, dass er von Beruf „Sohn“ war und über ererbten Reichtum verfügte, den die Kommentatoren nicht besaßen.20 In dieser Situation, aufgeputscht von der einhelligen Medienverdammung, die bereits zu ersten Mordaufrufen geführt hatte,21 entschlossen sich vier Ideologen der Arbeiterbewegung zum Attentat auf Rockefeller.22 Kopf der Verschwörergruppe war der Franko-Kanadier Arthur Caron, Mitglied der linken Gewerkschaft „Industrial Workers of the World“ (I.W.W.). Deren gesellschaftlicher Einfluss war zwar - wie der aller sozialistischen Gruppen in den USA - traditionell eher gering , reichte aber immerhin in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus, um spektakuläre Streikaktionen mit zu organisieren, darunter jene in Ludlow, Colorado.23 Trotz dieser direkten Verbindung zwischen den dortigen Ereignissen und der organisatorischen „Heimat“ Carons gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Gewerkschaftsführung um William „Big Bill“ Haywood24 von den Anschlagsplänen etwas gewusst, geschweige denn sie in Auftrag gegeben hätte. Unhaltbar sind auch die Vermutungen, die Kommunistische Partei der USA hätte logistische Hilfe geleistet. Dies ist schon aufgrund der Chronologie unmöglich. Die KP der USA, deren Einfluss auf die I.W.W.-Gewerkschaft in den späteren zwanziger Jahren beträchtlich war, 18 Vgl. Lundberg, S.182. 19 John D. Rockefeller Sr. (1839-1937). 20 Vgl. Collier/Horowitz, S.108. Ähnlich auch Hawke, S.234, der darauf hinweist, dass persönliche Motive bei der Negativbeurteilung der Rockefellers eine große Rolle spielten. So habe etwa Ida Tarbell ihren publizistischen Feldzug gegen Standard Oil einst aus dem Glauben heraus gestartet, die monopolistische Übermacht Rockefellers sei der Grund für den Bankrott ihres Vaters, eines kleinen Ölproduzenten, gewesen. 21 „Wenn ihr Mumm in den Knochen hättet, dann wäre John D. Rockefeller morgen nicht mehr am Leben“, rief etwa die Arbeiterin Marie Ganz ihren männlichen Kollegen auf einer Versammlung in Colorado zu, was landesweit bekannt wurde. Zit. nach: Collier/Horowitz, S.102. 22 Ebd. 23 Hauptorganisator des Streiks war die Gewerkschaft „United Mine Workers of America“ (UMW), die aber enge Kontakte zur I.W.W. besaß. So gehörte etwa die I.W.W.-Gründerin Mary „Mother“ Jones, mit der sich Rockefeller nach den Ereignissen, am 27.01.1915, zu Gesprächen traf, um die Auswirkungen des Ludlow- „Massakers“ zu besprechen, auch der UMW an. Ebd., S.97 sowie Chernow, Rockefeller, Bilderserie ab S.252 (ohne Seitennummerierung). 24 Lebensdaten: 1869-1928. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 9 wurde erst 1919 gegründet, also fünf Jahre nach dem Attentat und in Reaktion auf die bolschewistische Revolution in Russland. Caron arbeitete also trotz seinem gewerkschaftlich-anarchistisch -sozialistischen Hintergrund auf eigene Rechnung und offensichtlich aus jener spontanen Empörung über Rockefellers vermeintliche Schuld am „Ludlow-Massaker“ heraus, die er mit vielen Amerikanern teilte, allerdings deutlich radikaler umsetzte. Unterstützung fand er bei drei Immigranten aus Lettland, die der dortigen Bewegung „Anarchistisches Rotes Kreuz“ gegen das Zarenreich angehört hatten und infolge drohender Strafverfolgung 1913 nach Amerika ausgewandert waren.25 Charles Berg, Carl Hanson und Louise Berger, wie ihre amerikanisierten Namen lauteten, beschlossen gemeinsam mit Caron, ein Zeichen gegen die „Unmenschlichkeit“ des Rockefeller-Trusts zu setzen. Sie hatten aus der Presse bzw. über den „Buschfunk“ der I.W.W.-Mitglieder, den sog. „Wobblies“, von den Ereignissen in Ludlow erfahren und sich zunächst friedlich mit vielen anderen Demonstranten an Protesten vor dem New Yorker Domzil der Rockefellers in West 54th Street,26 Tarrytown beteiligt. Da auch hier Ordnungskräfte zum Einsatz kamen, um die protestierenden Menschentrauben aufzulösen , sahen die vier Anarchisten nun auch das Grundrecht der Redefreiheit bedroht. So reifte bei ihnen der Plan, mit Gewalt gegen den „Urheber“ des Ganzen vorzugehen. Inspiriert vom Vorbild des in New York lebenden Anarchisten Alexander Berkman,27 der ein Verfechter des Prinzips „Propaganda der Tat“ war und selbst vor Jahren versucht hatte, einen Unternehmer zu ermorden , beschafften sich die vier Verschwörer Dynamit aus Russland. Daraus bastelten sie in der Wohnung von Louise Berger einen Sprengkörper.28 Es war geplant, ihn am 3. Juli 1914 in die Tarrytown-Wohnung Rockefellers zu schmuggeln und dort zur Explosion zu bringen. Ein erster Versuch dazu scheiterte oder wurde vor Vollendung abgebrochen, und so kamen die Verschwörer überein, den Anschlag endgültig am Nationalfeiertag durchzuführen. Am Morgen dieses symbolträchtigen (und vermutlich deswegen gewählten) 4. Juli verließ Louise Berger um 9 Uhr früh ihre Wohnung im sechsten Stock von 1626 Lexington Avenue. Sie ging ins gegenüberliegende Gebäude in der 119. Straße. Dort war die Redaktion des Anarchistenblattes „Mother Earth“ untergebracht, und Vermutungen zufolge, die allerdings nie bestätigt wurden, wollte sie dortigen Sympathisanten mitteilen, dass schon bald ein „entscheidendes“ Zeichen gegen den Kapitalismus gesetzt würde.29 Kurz danach, etwa gegen 9.15 Uhr, erschütterte eine gewaltige Explosion das Mietshaus in der Lexington Avenue. Wie sich herausstellte, war die für Rockefeller vorgesehene Bombe hochgegangen, als die Attentäter sie „transportfertig“ verpacken wollten. Im Zuge dieser verfrühten Explosion am „falschen Ort“, der dem Anschlagsversuch seinen heutigen Namen „Lexington Avenue Bombing“ einbrachte, kamen Carl Hanson, Charles Berg und Arthur Caron ums Leben. Auch eine an der Verschwörung unbeteiligte Bewohnerin eines 25 Vgl. dazu den Online-Artikel „The Lettish Anarchist Red Cross and the Attempt to Kill Rockefeller“ von 2010, der den Tathergang des Attentats zwar aus voreingenommener Perspektive von offenkundigen Sympathisanten des Anschlags beschreibt, aber in der Schilderung des Ablaufs präziser ist als andere Darstellungen. 26 Zur Adresse vgl. Collier/Horowitz, S.102. 27 Lebensdaten: 1870-1936. 28 Vgl. Avrich, The Anarchist Background, passim. 29 Vgl. The Lettish Anarchist Red Cross. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 10 Nebenzimmers namens Marie Chavez kam um, sodass sich die Zahl der Todesopfer auf vier belief . Auch der Sachschaden am Gebäude war erheblich. Ein Großteil der Decke des sechsten Stockwerks war zerstört, und ein auf derselben Etage wohnender Mieter wäre fast das fünfte Todesopfer geworden, als er durch die Decke brach und mehrere Meter in die Tiefe stürzte.30 Insgesamt scheint die Sprengkraft der Bombe enorm gewesen zu sein. Dies vermittelt eine Ahnung davon, welchen Schaden sie hätte anrichten können, wenn sie an ihrem Bestimmungsort zur Explosion gebracht worden wäre. Die Polizei mochte unter diesen Umständen nicht an eine Einzeltäterschaft der vier Anarchisten glauben. Sie schloss von der Wucht des Sprengkörpers auf eine mächtige Organisation im Hintergrund und ging von einer weitverzweigten Verschwörung aus. Es wurde in alle Richtungen ermittelt, und sämtliche als Anarchismussympathisanten bekannten Aktivisten, darunter Alexander Berkman, gerieten ins Visier der Behörden.31 Im Endeffekt zeigte sich jedoch, dass eine über die vier Attentäter hinausgehende Verschwörung nicht bewiesen werden konnte. Die Ermittlungen endeten mit dem Ergebnis, das „Lexington Avenue Bombing“ sei eine Tat von Einzelnen gewesen, von denen drei im Zuge der verfrühten Explosion selbst umkamen. Die vierte im Bunde, Louise Berger, entzog sich nach ersten Befragungen den Behörden durch Flucht. Sie tauchte unter, lebte mehrere Jahre im Verborgenen und kehrte kurz nach der russischen Oktoberrevolution 1917 in ihre lettische Heimat zurück. Dort fand sie mutmaßlich nach einer erfolglosen Betätigung als Bankräuberin den Tod im Zuge einer 1920/21 im ehemaligen Zarenreich grassierenden Typhus-Epidemie.32 War das Resultat der polizeilichen Ermittlungen damit vergleichsweise unspektakulär, so erwies sich die Wirkung des versuchten Bombenanschlags auf die Rockefeller-Familie als grundstürzend . Hatte bereits die Medienkritik am Ludlow-Massaker die Mitglieder des Unternehmerclans erschüttert und insbesondere den Hauptbetroffenen John D. Rockefeller Jr. Überlegungen anstellen lassen, wie er sein Image aufbessern könne, so zeigte ihm die offenkundig nur mit Glück überstandene Anschlagsepisode, dass es höchste Zeit zu handeln war.33 Er empfand es als nachgerade überlebenswichtig, seine schon länger gehegten Reformpläne innerhalb des Konzerns nun endlich massiv voranzutreiben und sie vor allem auch der bisher nur unzureichend informierten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Zu diesem Zweck engagierte er zwei Experten, die ihm bei dieser Reform Hilfestellung leisten sollten. Für die Organisation und technische Umsetzung war Mackenzie King zuständig, ein sozial gesinnter Politiker aus Kanada, der später Premierminister seines Landes wurde.34 Ihm gelang die Einführung von Betriebsgewerkschaften, also eine institutionalisierte Mitsprachemöglichkeit der Arbeitnehmer im Rockefeller-Konzern. Sie war bisher von der Konzernleitung als 30 Ebd., vgl. auch die Rekonstruktion des Tathergangs in dem großen Bericht der New York Times vom 5. Juli 1914, Artikel “Exploded…” 31 Ebd. 32 Vgl. Avrich, Anarchist Voices, passim sowie „The Lettish Anarchist Red Cross.“ 33 Vgl. Lundberg, S.191. 34 Vgl. Collier/Horowitz, S.105/06. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 11 Anathema betrachtet worden, wurde nun aber zugestanden und trug tatsächlich zur Befriedung bei, indem sie mithalf, ein zweites „Ludlow“ zu verhindern.35 Flankiert wurden diese Reformmaßnahmen vom PR-Feldzug Ivy Lees, des zweiten rekrutierten Experten. Dem Gründervater der Corporate Public Relations36 gelang es durch beharrliche Kampagnenarbeit, aber auch filigrane Seelenmassage bei Schriftstellern und Journalisten, einen grundlegenden Wandel in der öffentlichen Bewertung der Rockefellers herbeizuführen. Mit Hilfe der geschickten Einbeziehung von entscheidenden Meinungsbildnern und Multiplikatoren, darunter die bisherige Rockefeller-Kritikerin Ida Tarbell, die nun zu einer Freundin des Hauses wurde,37 gelang es Lee etwa, die traditionelle Spendenbereitschaft der Unternehmerfamilie in ein günstiges Licht zu rücken. Nach dem PR-Motto „Tue Gutes und rede darüber“ berichtete Lee von der schon unter Rockefeller Sr. um 1900 begonnenen Praxis, einen erheblichen Anteil des erzielten Unternehmensgewinns in karitative Stiftungen zu stecken. Mit seinen entsprechenden Schilderungen sorgte er für wachsende Akzeptanz des philanthropischen Engagements der Rockefellers, das nun erst als solches auch allgemein bekannt wurde. Wie groß diese Leistung Lees war, zeigt sich vielleicht am deutlichsten an der radikalen Verhaltensänderung der Spendenempfänger. Unter diesen waren bisher nicht wenige gewesen, die insbesondere Rockefeller Seniors Zuwendungen höchst skeptisch betrachtet hatten. Die von ihm angebotenen Spenden hatten sie zumeist mit dem Hinweis abgelehnt, Rockefellers Überweisungen seien ja doch nur der fragwürdige Ausdruck eines urplötzlich um sein Seelenheil besorgten alten Menschenschinders. Außerdem beruhten sie auf unredlich erworbenem Reichtum, seien also letztlich „schmutziges Geld“, das man besser gar nicht erst anfasse.38 Unter Ivy Lees Einfluss verlor sich diese Einstellung völlig. Nun griffen alle Spendenempfänger gerne zu und akzeptierten fortan das Bemühen des Rockefeller-Clans, vom Schicksal benachteiligten Menschen finanzielle Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren, mehr und mehr als aufrichtig. Und so wurden im Laufe der Zeit aus den meistgehassten Leuten Amerikas die meistbewunderten..39 Ihr Name wurde 35 Ebd. 36 Ebd., S.103 und Chernow, Rockefeller, S.252ff. (nicht nummerierte Bilderserie mit Untertiteln). 37 Vgl. Hawke, S.234/35. 38 Ebd., S.239 und Merten, S.192/93 (Beschriftung der hier abgebildeten Fotos) bzw. S.384. 39 Zu dieser bis etwa 1920 abgeschlossenen Entwicklung trugen auch äußere Umstände bei, sodass die unleugbare Kraft der „PR“ keineswegs überschätzt werden darf. So begünstigte etwa der Erste Weltkrieg erheblich den Imagewandel der Rockefellers. Die Tendenz dieses Völkerringens, die ökonomischen Ressourcen aller beteiligten Länder extrem zu beanspruchen und dadurch jenen Nationen wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen, die über große Trusts verfügten, also Synergieeffekte mobilisieren konnten, galt 1920 allgemein als Beweis für den richtigen Instinkt des Trust-Erfinders Rockefeller Senior, der gegen heftigste Kritik sein Konzept unternehmerischer Großzusammenschlüsse seit etwa 1890 verfolgt und verteidigt hatte. Selbst einstige Gegner konzedierten ihm jetzt, vorausschauender als andere gewesen zu sein und frühzeitig die richtigen Weichen für Amerikas (Wirtschafts-)Größe gestellt zu haben. Weit davon entfernt, die Vorkriegspolitik der auf Zerschlagung der Trusts angelegten Gesetzesinitiativen Theodore Roosevelts und seines Nachfolgers Taft wiederaufzunehmen, gab man Rockefeller jetzt von Washington aus freie Hand und ließ ihn gewähren. Vgl. Morus, S.27, „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“, S.12/13 sowie S.87 und Collier/Horowitz, S.112/13. Diese gleichsam nachträgliche „Bestätigung“ der Rockefeller-„Politik“ durch den Gang der Ereignisse erwies sich als ausgesprochen glücklicher Umstand für die Familie und erklärt zu einem gut Teil die bekannte Aussage ihres noch bis 1937 die Geschicke der Standard Oil Company leitenden Patriarchen John D. Senior, das wesentlichste Geheimnis seines Erfolges sei stets Glück gewesen, „Glück, Glück und nochmals Glück.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 12 gleichgesetzt mit Wohltätigkeit, zuerst in Amerika, später überall auf der Welt.40 Dies galt insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich die Familie sogar um die Vereinten Nationen verdient machte. Sie schenkte der UNO in New York ein Millionen Dollar teures Grundstück, auf dem das heutige Hauptverwaltungsgebäude der Völkerorganisation errichtet werden konnte.41 Wie sehr dieses nach 1914 entstehende Positivbild der Rockefellers bis heute anhält, Ivy Lees Arbeit also nachhaltig erfolgreich war,42 zeigt die Tatsache, dass selbst klassische „Kleine-Leute“- Banken Rockefeller positiv zu sehen begannen. Diese Kreditinstitute, darunter Spar- und Darlehenskassen auch in Deutschland, hatten vor dem Ersten Weltkrieg erhebliche Vorbehalte gegen quasi-monopolistische Großunternehmen wie Standard Oil gehabt. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts änderte sich diese Einstellung jedoch grundlegend. Sie betrachteten Rockefeller zunehmend als Vorbild an wirtschaftlicher Vernunft und halten an dieser Ansicht bis heute fest.43 So wirbt etwa gegenwärtig die Sparkasse Recklinghausen auf ihrer Homepage mit dem amerikanischen Multimilliardär und zitiert zustimmend sein Motto „Lieber eine Stunde über Geld nachdenken, als einen Monat hart dafür zu arbeiten.“44 Dies ist vermutlich die bemerkenswerteste Illustration für die aufrüttelnde Wirkung, die von der Medienberichterstattung über das „Ludlow-Massaker“ und von dem dadurch ausgelösten Attentat ausgegangen war. Sie verwandelte Amerika, aber auch die Rockefellers und hierbei vor allem das Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihnen machte. 2.2. Schüsse auf J.P. Morgan Jr. 1915 Eine solche Wirkung hatten die Attentate auf Morgan nicht. Nie ganz so verhasst wie die Rockefellers, schaffte es deren vor allem im Bankgeschäft aktiver Konkurrent andererseits auch zu keinem Zeitpunkt, das Image seiner Familie so ins Positive zu wenden wie die Eigentümer von Standard Oil. Dies lag sicher mit am Fehlen eines Ivy Lee congenialen Imageberaters. Doch spielten auch die diskreteren Investitionsstrategien Morgans eine Rolle, die dieser Familie eine im Guten wie im Schlechten größere Anonymität sicherten.45 40 Vgl. Morus, S.34ff. 41 Vgl. Merten, S.192/93 (Beschriftung der hier abgebildeten Fotos) 42 Vgl. Collier/Horowitz, S.103. 43 Dies vermutete bereits Morus 1927 in seiner biographischen Skizze Rockefellers, wenn er schreibt: „Ein Vierteljahrhundert [i.e.1895-1920] hindurch währt dieser Streit [i.e. zwischen Klein-Banken und der Standard Oil Company], der, soziologisch gesehen, den letzten Abwehrkampf des Mittelstandes und des individualistischen Kleinbürgertums gegen die aufkommende Macht des Großkapitals und der Großunternehmung darstellt und der schließlich mit einem vollen Sieg der Trustidee endet.“ Morus, S.22. 44 Vgl. Homepage der Sparkasse Vest Recklinghausen unter https://www.sparkassere .de/5_privatebanking/depotbetreuung/index.php?n=%2Fprivatebanking%2Fdepotbetreuung%2F (Stand: 10.04.2012). 45 Vgl. Carnegie, S.85 und Morus, S.106. Genau dieses mehr im Verborgenen liegende Wirken ist es allerdings, das die Morgans seit einigen Jahren zu einem begehrten Objekt für „Verschwörungstheoretiker“ hat werden lassen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 13 So wusste z.B. die Öffentlichkeit bis 1912, von Äußerlichkeiten abgesehen, nur wenig vom Firmenpatriarchen John Pierpont Morgan Senior46 und seinem Konzern.47 Dies änderte sich erst im Zuge der sog. Pujo-Kommission dieses Jahres. Diese vom Kongress eingesetzte Gruppe von Abgeordneten hatte die Aufgabe, den „Money Trust“ der USA zu untersuchen. Insbesondere Morgan als dessen mächtigster Exponent stand im Fokus der Ermittlungen. Vor den zahlreichen „geheimen “ Unternehmensbeteiligungen Morgans sollte der „Vorhang“ weggezogen und sein verschachtelter Konzern mit wahren Beteiligungstentakeln in alle Richtungen als die einflussreichste Ballung wirtschaftlicher Macht in den USA erkennbar werden.48 Doch erwies sich die Wirkung dieser Enthüllungen, in deren Verlauf Firmenchef Morgan vor den Untersuchungsausschuss zitiert wurde und mit seinen Antworten zeitweise für großes Publikumsinteresse sorgte,49 nur in einer Hinsicht als nachhaltig. Die Enthüllungen belegten die insbesondere für ausländische Betrachter interessante Verflechtung des Morgan-Konzerns mit europäischen Firmen so unzweideutig, vor allem seine mit Bankhäusern in Großbritannien und Frankreich bestehende Symbiose,50 dass die beträchtliche Gruppe von Deutsch-Amerikanern in den USA51 dauerhaftes Misstrauen gegen Morgan entwickelte.52 Diese Bürger, vielfach Akademiker mit geisteswissenschaftlichem Hintergrund, aus deren Reihen der spätere Attentäter kam, begannen im Vorfeld des Ersten Weltkriegs ihre deutschen Wurzeln bewusster zu empfinden als zuvor und patrioti- Obwohl auch die Rockefellers in solchen Überlegungen, wie in der Einleitung erwähnt, eine wiedekehrende Rolle spielen, sind die Morgans stets Hauptakteure und stehen im Zentrum konspirationsorientierter Spekulationen, wie etwa das in Fußnote 9 beschriebene Szenario einer angeblichen „Titanic-Verschwörung“ gezeigt hat. 46 Lebensdaten: 1837-1913. 47 Zu den bekannten Äußerlichkeiten gehörten vor allem physiognomische Details wie die von Ekzemen entstellte Nase des alten Morgan, auf die wiederholt in der Öffentlichkeit Bezug genommen wurde. Vgl. Morus, S.112/13 (Porträt Morgans). 48 Vgl. Allen, Morgan, S.11-17. Der Name Pujo-Kommission leitet sich vom Kommissionsleiter Arsène Pujo her, einem Kongressabgeordneten aus Louisiana. Ebd. 49 Ebd. 50 Vgl. Morus, S.104. 51 Zwischen 1820 und 1920 waren 5,5 Millionen Deutsche nach Amerika ausgewandert. Sie bildeten damit die zahlenmäßig stärkste Immigrantengruppe in den USA. Vgl. Junker, S.21, ähnlich auch Rothbard, S.7. 52 Eine gut informierte und ausgewogen argumentierende Schrift der Frankfurter Zeitung von 1916 verweist darauf, dass diese Vorbehalte der Deutschen gegen Morgan schon vor 1914 bestanden. So sei beispielsweise der juristische Berater der Pujo-Kommission ein gebürtiger Bayer namens Samuel Untermeyer gewesen, dessen Arbeit darauf gerichtet war, den Morgan-Trust zu zerschlagen. Ob aus wirtschaftlichen oder deutschpatriotischen Gesichtspunkten, geht indes aus dem Aufsatz nicht hervor. Vgl. „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“ von 1916, S.9 und S.22/23. Hier findet sich im Anhang auch ein Faltplan im damals modernsten Dreifarbendruck, der eine informative Graphik der zahlreichen Unternehmensbeteiligungen Morgans enthält, auf die die Pujo-Kommission aufmerksam gemacht hatte. Diese Kommission wird auch explizit als Quelle genannt. S.24 und S.25 (Fußnote). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 14 sche Regungen zu entwickeln. Nach Kriegsausbruch verstärkte sich diese Tendenz, und die Deutsch-Amerikaner sahen in der Verflechtung der Morgan-Banken mit „Feinden“ des Wilhelminischen Reichs unter „vaterländischen“ Gesichtspunkten ein großes Problem, ja eine mögliche Gefahr für ihre angestammte Heimat. Morgan war, so wussten diese Kreise, der bedeutendste Finanzier der US-Regierung und über seine Bank-Dependancen in Großbritannien und Paris auch der dortigen Administrationen . Es erschien daher plausibel, dass er seine Verbindungen zu London und Paris nutzen würde, um Washington zugunsten der Entente-Mächte in den Weltkrieg eintreten zu lassen. Obwohl das mindestens unmittelbar nicht geschah und Präsident Woodrow Wilson die USA bis 1917 neutral hielt,53 verringerten sich die Vorbehalte der Deutsch-Amerikaner gegen Morgan nicht. Man warf seinem Konzern im Gegenteil bereits im ersten Kriegsjahr 1914/15 Kriegsgewinnlertum vor, als die Hoffnungen auf einen raschen deutschen Sieg zerrannen und der Schrecken blutigen Stellungskrieges die Fronten in Europa erstarren ließ. Man unterstellte Morgan sogar, zur Sicherung seiner Wirtschaftsinteressen und aus schierer Vorliebe für England mutwillig auf den Krieg hingearbeitet zu haben.54 Weit entfernt davon, die komplexen Kriegsursachen damit auch nur annähernd korrekt zu beschreiben, wurde dieser Vorwurf dennoch weithin geglaubt.55 Er geriet schließlich zum Anlass für das erste auf Morgan verübte Attentat, das also keinen sozialen Hintergrund wie der Anschlag auf Rockefeller hatte, sondern auf nationalistische Ursachen zurückging.56 Der 43-jährige Hochschullehrer Erich Muenter aus Uelzen in Niedersachsen, der seit Jahren in den USA lebte und zunächst an der Universität Harvard Germanistik und deutsche Literatur unterrichtet hatte, war zum Äußersten entschlossen, als er sich im Sommer 1915 zum Ferienhaus der Morgans auf Long Island begab. Überzeugt, in dieser Familie die finanziellen Hauptverantwortlichen für das kriegerische Morden in Europa vor sich zu haben, wollte er J.P. Morgan Jr.57 umbringen. Dieser war seinem 1913 verstorbenen gleichnamigen Vater, dem Konzerngründer, der vor der Pujo-Kommission ausgesagt hatte, an der Konzernspitze gefolgt und hatte dessen Kurs bruchlos, ja mit noch größerer Verve und Effizienz fortge- 53 Vgl. Junker, S.41-43. 54 Selbst in der um Fairness bemühten Schrift „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“ von 1916 hieß es dazu, Morgan und die USA seien die Hauptprofiteure der Kampfhandlungen in Europa (S.49): „Der Krieg f ü r Amerika, so wurde die über Europa hereingebrochene Katastrophe kürzlich genannt. Und mit jeder neuen Woche gewinnt diese bitterböse Bezeichnung größere Berechtigung.“ S.39. 55 In der Schrift „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“ wurde deutliche Kritik geübt am „Haus Morgan, das die Oeffentlichkeit in geradezu raffinierter Weise für seine, das heißt in diesem Falle für Englands Interessen zu beeinflussen versteht“, S.92. Und weiter: „Die Inhaber der Firma Morgan aber legen eben, wie man auch in diesem Falle [i.e. Goldhandel] wieder sieht, die Dinge immer so aus, wie sie im Interesse des englischen Schatzkanzlers liegen.“ S.93. 56 Vgl. Morus, S.130. 57 Lebensdaten: 1867-1943. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 15 setzt.58 Aufgrund seiner Erziehung in England war er weit anglophiler als sein Vater und deutschen Interessen daher tatsächlich wenig gewogen.59 So hatte Morgan Jr. etwa schon im August 1914 der Bank von England weitest mögliche Kreditlinien eingeräumt, die London in Stand setzten, den Krieg gegen Deutschland zu finanzieren .60 In der Forschung gilt er daher als Hauptgeldgeber der Entente, und das Kriegsengagement seiner Bank wird von einem US-Beobachter folgendermaßen beschrieben : „In 1915, Morgan & Co. floated the hugest foreign loan ever dreamed of. Five hundred million dollars – half a billion – went across the seas to serve as the sinews of war. The Morgans became the purchasing agents in the United States for the whole Allied armies. They bought billions upon billions of dollars´ worth of arms and supplies. In one month, they spent more money than ordinarily passes hands over the entire surface of the globe in a like amount of time.”61 Die im Text erwähnten Waffen, deren Herstellung Morgan in den mit ihm in Verbindung stehenden Fabriken etwa der Remington Arms Company veranlasst hatte, wurden teilweise auf britischen Passagierschiffen transportiert.62 Mehr noch als seine Finanztransaktionen war dies an sich sowohl mit dem Neutralitätsstatus der USA, den sie bis 1917 beibehielten, als auch mit internationalem Seerecht schwer vereinbar. Es wurde aber von offizieller Seite in Washington toleriert63 und bildete schließlich den Hintergrund für die tragische Versenkung des mit amerikanischem Kriegsgut beladenen britischen Passagierdampfers Lusitania durch deutsche U-Boote am 7. Mai 1915. Dies hätte fast schon zum Kriegseintritt der USA geführt, da beim Untergang des Schiffes auch zahlreiche US-Bürger umkamen.64 Doch von all dem wusste Muenter vermutlich trotz der zeitlichen Nähe des Ereignisses zu seinem Attentatsentschluss nichts. Als er sich am Morgen des 3. Juli 1915, zufällig fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem gänzlich anders motivierten Attentat auf Rockefeller, Zutritt zum Grundstück des New Yorker Banken-Moguls verschaffte und den Butler, der ihm 58 Vgl. „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“, S.27. 59 Morgan Sr. hatte einst in Göttingen Mathematik studiert und kannte Deutschland gut genug, um es nicht so pauschal aus seinem Gesichtskreis auszuschließen, wie es seinem Sohn dann nachgesagt wurde. Kaiser Wilhelm II. hielt große Stücke auf den alten Morgan und hatte ihm wegen einer persönlichen Gefälligkeit sogar den Roten Adlerorden verliehen. Vgl. Morus, S.127-29, Schwarz, S.4 und Allen, Morgan, S.13. 60 Eine anonym publizierte Schrift eines amerikanischen Morgan-Kenners nannte dies in der historischen Rückschau „The greatest financial arrangement in history“. Zur Vorgeschichte heißt es, Morgan habe kurz nach Kriegsausbruch 1914 in New York mit dem britischen Botschafter gesprochen. „Downing Street wanted an answer to one question! ´Would Mr. Morgan lend all of his power and force, financial and commercial, actual and potential, to the British Government?´…´I will,´ Mr. Morgan replied.” The Mirrors of Wallstreet, S.71. 61 Carnegie, S.89. 62 Vgl. „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“, S.49. 63 Vgl. Junker, S.44. 64 Zum Lusitania-Fall vgl. Junker, S.44/45, Sautter, Lexikon, S.229 und Hirschfeld, Enzyklopädie, S.689/90. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 16 die Haustüre öffnete, mit vorgehaltener Pistole zwang, ihn ins Haus zu lassen, sah Muenter in Morgan keinen Urheber konkreter Rechtsverletzungen gegenüber Deutschland. Er hielt ihn eher für eine allgemeine Symbolfigur wirtschaftlichen Kriegstreibertums. Und an dieser wollte er ein Exempel statuieren, wie er später der Polizei gegenüber aussagte.65 Als Muenter Morgan gegenübertrat, schoss er sofort. Er traf den Hausherrn zweimal in den Unterleib und verletzte ihn schwer, aber nicht tödlich. Bevor er einen weiteren Schuss abgeben und seine Tötungsabsicht doch noch verwirklichen konnte, wurde er von den Bediensteten Morgans überwältigt. Beim Polizeiverhör beteuerte Muenter anschließend, nicht aus Sympathie für Deutschland, sondern aus genereller Ablehnung von kriegerischem Massenmord gehandelt zu haben. Dies erschien den Beamten unglaubwürdig. Zwar sprach die Tatsache, dass Muenter, wie sich herausstellte, bereits am Vortag einen Sprengkörper im Senat von Washington gezündet und dabei sorgsam darauf geachtet hatte, nur Sachschaden anzurichten, für eine gewisse Aufrichtigkeit seines pazifistischen Bekenntnisses, demzufolge massenhaftes Blutvergießen grundsätzlich abscheulich und abzulehnen sei.66 Doch war er zu vernetzt mit der „German Community“ in Amerika, um nicht doch jener Gruppe deutscher Nationalpatrioten zugerechnet zu werden, die nach amerikanischem Empfinden aus pervertierter Anhänglichkeit an ihr Herkunftsland latente Gewalttäter waren und Überwachung verdienten. 67 Bereits seit August 1914 befasste sich eine Spezialabteilung der New Yorker Kriminalpolizei mit Dutzenden angeblicher Anschlagsplanungen deutscher Fanatiker. Deren Auftraggeber sollte der Berliner Geheimdienst bzw. Deutschlands US-Botschafter Bernstorff sein, in dem die New Yorker Polizei einen „arch plotter“ vermutete.68 In dieses aus Vorurteilen und kriegsbedingter Paranoia gespeiste Raster mit anti-deutscher Zielrichtung passte Muenter ideal hinein. Dass er sich bei den Verhören zunächst als Frank Holt ausgegeben hatte und erst später als Muenter identifiziert werden konnte, schien den Verdacht zu bestätigen, er gehöre zum Kreis der Berufsspione aus Deutschland, die falsche Identitäten bevorzugten. Dass der Identitätswechsel im aktuellen Fall Jahre zuvor, nach einem nie bewiesenen, aber Muenter zur Last gelegten Mord an seiner Ehefrau 1906 erfolgte, also nichts mit dem Krieg zu tun hatte, kam erst später heraus. Holt selbst, alias Muenter, konnte zur Klärung des Sachverhalts nichts mehr beitragen. Er entzog sich am 6. Juli 1915 weiteren Befragungen 65 Vgl. Chernow, House of Morgan, Kapitel 10. 66 Vgl. die zeitgenössische Schilderung im Hartford Courant, der größten Tageszeitung Connecticuts. Ausgabe vom 4. Juli 1915, Artikel „Man Who Shot J.P. Morgan Twice“, Abstract online abrufbar unter: http://pqasb.pqarchiver.com/courant/access/759264552.html?dids=759264552:759264552&FMT=ABS&FMTS= ABS:AI&type=historic&date=Jul+04%2C+1915&author=&pub=Hartford+Courant&desc=MAN+WHO+SHOT+J.+ P.+MORGAN+TWICE+ADMITS+SETTING+BOMB+AT+NATIONAL+CAPITAL&pqatl=google, Stand: 11.04.2012). Kompletter Artikel gebührenpflichtig. 67 Vgl. Tunney/Hollister, Throttled!, passim sowie die Besprechung dieses Buches zweier New Yorker Polizisten von 1919 in: New York Times Book Review vom 20.07.1919. 68 Ebd. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 17 durch Selbstmord im Bezirksgefängnis von Nassau County, was die behördlichen Ermittlungen beendete.69 Historiker kamen zu dem Ergebnis, dass Muenter ein Einzeltäter war, der letztlich aus Überspanntheit handelte und weder in die Kategorie Verschwörer noch „Bösewicht“ gehört , sondern wohl einfach psychisch gestört war.70 Dies hatten bereits zeitgenössische deutsche Zeitungen vermutet, die über den Vorfall berichteten . So hieß es etwa im „Hamburgischen Correspondent“, der ältesten Tageszeitung der Hansestadt, am 5. Juli 1915: „Der Anschlag auf Morgan wurde in dessen Sommerwohnung in Glencove auf Long Island um 9 Uhr morgens ausgeführt. Nach Aussage der Beamten, die den Urheber des Anschlages verhafteten, erklärte dieser, er sei deutscher Herkunft und bereit, sein Leben zu opfern, um das Ende des Krieges herbeizuführen. Beim Verhör erklärte er, dass er persönlich nichts gegen Morgan habe. Der Mann scheint g e i s t e s k r a n k zu sein.“71 In den USA war die Wirkung des misslungenen Attentats insgesamt gering, wenn man davon absieht, dass Morgan selbst seine Voreingenommenheit gegen Deutschland nach dieser Begegnung verstärkt haben dürfte, wie nach dem Krieg in deutschen Geschichtsbüchern bedauernd vermutet wurde.72 Eine Resonanz der amerikanischen Allgemeinheit blieb jedoch weitgehend aus. Sie war keinesfalls mit der öffentlichen Empörung nach der Lusitania-Versenkung zu vergleichen, die 128 Amerikaner das Leben gekostet hatte, darunter Morgans Milliardärskollegen Vanderbilt.73 69 Vgl. Chernow, House of Morgan, S.193/94 und Hartford Courant, Ausgabe vom 4. Juli 1915, Artikel „Man Who Shot J.P. Morgan Twice.“ 70 Vgl. Carnegie, S.85. 71 „Das Attentat auf Morgan“, http://webopac0.hwwa.de/DigiJPG/P/12491/P124910007000000H.jpg, Stand: 11.04.2012. Hervorhebung des Schlusssatzes durch den Verfasser. Sperrung im Original. 72 Morus etwa schrieb 1927: „Neigung und Geschäftsblick wiesen ihn [i.e. Morgan Jr.] auf die Seite Frankreichs und Englands. Aber vielleicht hätte er seine große Macht nicht so einseitig in den Dienst der Entente gestellt, wenn nicht ein junger Deutschamerikaner, ein geborener Hannoveraner, auf die Wahnsinnsidee gekommen wäre, auf den ´Deutschenfeind´ Morgan ein Attentat zu verüben.“ Vgl. Morus, S.130. Halten sich diese Annahmen im Rahmen des mit seriöser Forschung Vereinbaren, so erweisen sich die Behauptungen von Verschwörungstheoretikern wie Mullins als unhaltbar und absurd. Dessen Buch von 1952 lässt die Deutschfeindlichkeit Morgans monumental erscheinen, macht aus dem amerikanischen Bankier einen Schergen übelster Art und gipfelt in der Behauptung, die Finanzmacht Morgans (und seiner angeblichen jüdischen Komplizen) allein habe den ersten Weltkrieg verursacht, später auch den zweiten, und mache den dritten unausweichlich. Mullins, S.48-50 und S.76. 73 Bezeichnenderweise verweist keine der Onlineinformationsquellen (z.B. Wikipedia), die sich mit dem Anschlag auf Morgan befassen, auf einen Zeitungsbericht der New York Times, wie sie das beim Attentat auf Rockefeller taten. Lediglich Provinzblätter wie der Hartford Courant werden zitiert, was vermuten lässt, dass offensichtlich diese allein näher auf den Anschlag eingingen. Muenters Tat enthielt also offensichtlich aus Sicht führender Presseorgane des Anschlagsorts New York nur geringen Nachrichtenwert. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 18 2.3. Terroranschlag im Finanzzentrum der USA 1920 („Wall Street Bombing“) Dieser Empörung vergleichbar war erst wieder, wenigstens anfänglich, die öffentliche Reaktion auf den dritten hier zu schildernden Anschlag. Zu dem kam es fünf Jahre später, nach Ende des Weltkriegs, also wieder unter den Bedingungen äußeren Friedens. Er war der schlimmste der drei Attentatsversuche und der zweite, der Morgan galt. Seine Hintergründe sind bis heute nicht aufgeklärt. Eine Reihe plausibler Vermutungen rivalisiert um den Status der wahrscheinlichsten Erklärung, doch wird möglicherweise trotz unlängst wieder aufgenommenen historischen Nachforschungen nie restlos zu beurteilen sein, was wirklich dahintersteckte. Fest steht, dass es sich bei dem Bombenanschlag um den schrecklichsten Terrorakt handelte , der New York vor dem 11. September 2001 traf.74 Unbekannte Täter hatten vor dem 1871 errichteten und als „The Corner“ bekannten Hauptgebäude der JP Morgan Bank an der Ecke Wall Street/Broad Street75 am 16. September 1920 45 Kilogramm TNT zur Explosion gebracht und damit massiven Schaden angerichtet. Da sie der Bombe 230 Kilogramm Eisensplitter mit Schrapnellwirkung beigefügt hatten, muss hinter dem Anschlag von Anfang an eine massive Tötungsabsicht gestanden haben.76 Dafür spricht auch der gewählte Explosionszeitpunkt. Als die Bombe um 12.01 Uhr hochging , machten viele Beschäftigte der Morgan-Bank Mittagspause und gingen auf der Straße spazieren. Sie wurden dadurch unmittelbare Opfer des heimtückischen Anschlags. 38 Menschen kamen sofort um oder starben später im Krankenhaus, darunter Frauen und junge Auszubildende. 143 Personen wurden schwer verletzt. Zahlreiche weitere Opfer erlitten leichtere Blessuren, darunter J.P. Morgans Sohn, dem Glassplitter die Hand aufrissen und der deswegen kurzzeitig im Broadway Hospital behandelt werden musste. Demgegenüber fast bedeutungslos, aber dennoch beträchtlich war der Gebäudeschaden. Fassaden wurden eingerissen, Scheiben gingen zu Bruch, Außenmobiliar wurde zerstört. Vorübergehend wurde sogar mit einem Einsturz des Hauses gerechnet, da tragende Wände beschädigt worden waren. Die Renovierungskosten beliefen sich schließlich auf knapp 2 Millionen Dollar (nach heutiger Kaufkraft etwa 23 Millionen Dollar).77 J.P. Morgan Jr. selbst befand sich zum Anschlagszeitpunkt in Schottland. Da die Presse hierüber ausführlich berichtet hatte, schloss die Polizei bald aus, dass der Anschlag dem Firmeninhaber als Person gegolten habe. Wahrscheinlicher schien, dass sein Konzern getroffen werden sollte bzw. allgemein das Verbreiten von Angst und Schrecken im geldpolitischen Herzen Amerikas Anschlagszweck 74 Vgl. den entsprechenden Hinweis der Yale-Historikerin Beverly Gage, die als die beste Kennerin des Bombenanschlags angesehen werden kann, auf der Startseite ihres Aufsatzes „Business As Usual“, der keine Seitenzahlen enthält. 75 Zur Adresse vgl. Morus, S.109. 76 Vgl. Gage, The Day Wall Street Exploded, S.160/61. 77 Zu diesen Angaben vgl. ebd. und S.329/30. Vgl. auch die Beschreibung des Anschlags in der New York Times vom 17. September 1920, Artikel: „Havoc Wrought in Morgan Offices“. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 19 gewesen sei. Morgan selbst hielt das für möglich und bestand auf gründlichen Ermittlungen . Er setzte eine Belohnung von 50.000 Dollar für Hinweise aus, die zur Ergreifung der Täter oder Aufdeckung der Hintergründe führen könnten. In der Folge beteiligte sich nicht nur der gesamte Polizei- und Justizapparat der USA, sondern auch manch privater Sicherheitsdienst an der Jagd nach den unbekannten Bombenlegern.78 Der erste Verdacht richtete sich gegen russische Infiltranten. Die Presse sprach schon am Tag nach dem Attentat von Bolschewiki als möglichen Urhebern.79 Dabei hatte sie die sich radikalisierenden Ereignisse in Russland vor Augen, die seit der Oktoberrevolution einen Export revolutionären Gedankengutes denkbar erscheinen ließen. Ein Anschlag der Sowjetkommunisten auf das Zentrum des amerikanischen Kapitalismus wirkte unter diesen Umständen plausibel, zumal seit 1919 ein Ableger der Lenin-Partei als KP der USA existierte und Umsturzparolen in Umlauf brachte. Selbst die seriösesten Gazetten beschworen in dieser Situation eine „Rote Gefahr“ herauf.80 Die Washington Post etwa sah im Anschlag bereits einen „act of war“, und die New York Times, die ähnlich dachte, forderte massive Geldmittel zur Abwehr möglicher kommunistischer Attacken. Drei Tage nach dem Anschlag titelte sie dramatisch: „Funds Are Needed In Fight On Reds.“81 Trotz intensiven Untersuchungen erwies sich dieser Verdacht jedoch als unbegründet. In einem lange nach den Ereignissen angefertigten Abschlussbericht der amerikanischen Bundespolizei hieß es ausdrücklich, keine der mit den Kommunisten in Verbindung stehenden Gruppen (darunter die Gewerkschaft I.W.W.) habe „any hand in the matter“82 gehabt, und die Schuld sei offenkundig woanders zu suchen. Im Laufe der Ermittlungen, die insgesamt etwa 20 Jahre dauerten, konnte indes auch kein anderer Verantwortlicher sicher identifiziert werden. Am wahrscheinlichsten galt schließlich die Urheberschaft italienischer Anarchisten. Diese Gruppe mit zahlreichen um die Jahrhundertwende in die USA gekommenen Mitgliedern, darunter deren inoffizieller Anführer Luigi Galleani,83 hatte bereits zahlreiche Straftaten verübt und war als gewaltbereit bekannt. Außerdem beteiligten sich damals - im Zuge der 1919 eingeführten Prohibition84 - überdurchschnittlich viele Italo-Amerikaner am Aufbau von Verbrechersyndikaten, die 78 Vgl. Carnegie, S.88. 79 “There is no question in my mind…that the explosion was caused by Bolsheviki.“ Mit diesen Worten zitierte die New York Times zustimmend einen Augenzeugen des Anschlags. „Havoc Wrought in Morgan Offices“, in: New York Times vom 17. September 1920, S.1 und 4. 80 Dass in den Jahren 1919/20 eine „Red Scare“, also die Furcht vor einer „Roten Gefahr“, in den USA weit verbreitet war, geht aus dem Bericht des amerikanischen Generalstaatsanwalts A. Mitchell Palmer von 1920 hervor: „The Case Against the Reds“ http://chnm.gmu.edu/courses/hist409/palmer.html, Stand: 16.04.2012. 81 „Funds Are Needed In Fight On Reds“, in: NYT vom 19. September 1920. 82 Zit. nach Gage, The Day Wall Street Exploded, S.325. 83 Lebensdaten: 1861-1931. 84 Zum Alkoholverbot in den USA, das von 1919 bis 1933 galt und unabsichtlich zum Auslöser für die Entstehung des organisierten Verbrechens wurde, vgl. Sautter, Lexikon, S.304. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 20 während der gesamten zwanziger Jahre kriminell aktiv waren. Dies trug mit dazu bei, dass Einwanderern südeuropäischer Herkunft jegliche Gewalttat zugetraut wurde und sie gleichsam selbstverständlich zur Gruppe der „üblichen Verdächtigen“ bei ungeklärten Verbrechen gehörten.85 Ein kurz nach dem Wallstreet-Anschlag entdecktes „Bekennerschreiben“ wurde denn auch dem Italo-Anarchismus zugerechnet, obwohl es mit „American Anarchist Fighters“ gezeichnet war und nicht explizit Bezüge zur italienischen Bevölkerungsgruppe herstellte.86 Mangels Beweisen mussten die Ermittlungen 1940 indes auch in dieser Richtung eingestellt werden, und ein Gerichtsverfahren fand nie statt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten die Behörden Hinweise, die den Verdacht gegen Italo-Amerikaner erhärteten. Ihnen zufolge war der Bombenleger ein Terrorist namens Mario Buda,87 der zum Tatzeitpunkt unter dem Namen Mike Buda in New York lebte und über Erfahrungen in der Herstellung von Sprengstoff verfügte. Buda selbst, der kurz nach dem Anschlag nach Italien zurückgekehrt war, renommierte Mitte der fünfziger Jahre im Freundeskreis mit der Tat, legte also eine Art verspätetes „Geständnis“ für das drei Jahrzehnte zuvor geschehene Verbrechen ab. Als Motiv gab er Rache an.88 Er bezeichnete sich als Freund der nachmals populären Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, die 1920 in die Fänge der amerikanischen Justiz geraten und vier Monate vor dem Anschlag unter dem nie geklärten Vorwurf verhaftet worden waren, einen Geldtransport überfallen und zwei Wachmänner erschossen zu haben.89 Der jahrelang sich hinziehende Prozess mit anschließender Hinrichtung fand breite Publizität und erschien vielen Betrachtern infolge fragwürdiger Indizien als Justizmord oder zumindest Beleg für gravierende Mängel des amerikanischen Justizsystems. Dagegen Vergeltung zu üben, so Buda, habe er die Bombe gelegt. Tatsächlich kannte Buda Sacco und Vanzetti gut. Er hatte ihnen 1920 den Wagen geliehen, der mutmaßlich das Fluchtfahrzeug nach dem Raubüberfall gewesen war, der Sacco und Vanzetti zur Last gelegt wurde.90 Ob Buda deswegen aber tatsächlich der Attentäter war oder sich nur nachträglichen Wunschvorstellungen aus Wehmut über in Wahrheit unterlassene „Anarchistensolidarität“ hingab, ist keineswegs sicher. Zuviel Ungereimtes bietet auch diese Theorie. Warum sollte Buda seinen Anschlag so kurz nach Sacco und Vanzettis Verhaftung durchführen, als eine Verurteilung, geschweige denn Hinrichtung der beiden noch keineswegs feststand? Tatsächlich erfolgte der Schuldspruch erst im Juli 1921 und bis zur Vollstreckung des Todesurteils vergingen weitere sechs Jahre.91 Warum richtete Buda ferner die Bombe auf ein Ge- 85 Vgl. Riess, S.304. 86 Vgl. Gage, The Day Wall Street Exploded, S.171-75. 87 Lebensdaten: 1884-1963. 88 Vgl. Gage, The Day Wall Street Exploded, S.325. 89 Vgl. dazu Riess, Sacco und Vanzetti, S.297-317. 90 Vgl. Avrich, Anarchist Voices, S.133. 91 Vgl. Riess, Sacco und Vanzetti, S.297-317. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 21 bäude in der Bankenhauptstadt New York, wenn er das Rechtssystem des Landes treffen wollte,92 und nicht auf eine Regierungs- oder Justizbehörde in Massachussetts, wo der Prozess stattfand? Diese Frage drängt sich besonders angesichts der nachweislichen Sympathie der New Yorker Öffentlichkeit für Sacco und Vanzetti auf, die durch eine Gewalttat allenfalls negativ beeinflusst werden konnte.93 Und wieso gab es schließlich niemanden im Umfeld italienischer Anarchisten, der Buda schon vor seinem „Geständnis“ der Tat bezichtigte, obwohl der Italiener aufgrund seiner späteren ideologischen Kehrtwende vom Sozialismus zum Faschismus Mussolinis bei den linken Anarchisten als Verräter galt und keine „Schonung “ mehr verdient hatte?94 Trotz diesen offenen Fragen sehen Teile der Forschung die Buda-Lösung als die wahrscheinlichste an. Der Soziologe Mike Davis etwa, als Mitglied der Socialist Workers Party auf die Erforschung linker Bewegungen spezialisiert, hält den italienischen Anarchisten für den definitiven Täter. Er erklärte ihn 2006 auf der Basis dieser Annahme sogar zum „Erfinder der Autobombe“, weil die Wallstreet-Sprengladung 1920 in einem (Pferde-)Wagen zur Explosion gebracht wurde, also eine Attentatsmethode einführte, die erst später in Terroristenkreisen Verbreitung fand.95 Diese „wissenschaftsamtliche“ Festschreibung von Budas Schuld durch einen international renommierten Soziologen wird von Historikern nicht bestätigt. Sie erscheint auch insofern voreilig, als unlängst entwickelte Theorien mit beträchtlicher Plausibilität eine gänzlich neue Erklärung nahezulegen scheinen. Erstmals vertreten von dem renommierten Wallstreet Chronisten John Brooks, findet diese neue Interpretation in Kreisen der Fachwissenschaft , aber auch bei Romanciers,96 inzwischen großen Anklang.97 Sie sieht im Sprengstoffanschlag ein reines (wenngleich fraglos blutiges) Ablenkungsmanöver für einen (gescheiterten) Bankraub. „Normale“, auf Beute sinnende Kriminelle hätten auf die damals noch junge und nur schwach bewachte Zentralbank Federal Reserve mit ihrem immerhin verlockend erscheinenden Goldvorrat von 900 Millionen Dollar einen Überfall geplant. Das aufgefundene Bekennerschreiben wird in diesem Zusammenhang als „Red Herring“98 be- 92 Ebd. 93 Insbesondere die New York Times verteidigte Sacco und Vanzetti vehement und hielt sie für unschuldig im Sinne der Anklage. Vgl. Riess, S.309. 94 Über die Nähe Budas zu Mussolini, für den er schon in den frühen zwanziger Jahren spioniert haben soll, berichtet der Augenzeuge Charles Poggi, ein Landsmann Budas, zit. in: Avrich, Anarchist Voices, S.132. 95 Vgl. Davis, The Poor Man´s Air Force. A History of the Car Bomb (Part 1), online publiziert am 11. April 2006 unter: http://www.tomdispatch.com/post/76140/, Stand: 16.04.2012. Aus diesem Aufsatz entstand die längere Buchfassung von 2007, die auch auf Deutsch vorliegt und im Literaturverzeichnis aufgeführt ist. 96 Vgl. den Roman „Todesinstinkt“ von Jed Rubenfeld, der das Wallstreet-Attentat zum Hintergrund hat. 97 Der 2006 verstorbene John Kenneth Galbraith etwa lobte Brooks Buch 1999 als „civilized and superior history superbly written.” Brooks, Titelseite Einband des Neudrucks von 1999. http://books.google.de/books?id=KzrlCD2d8NwC&pg=PT1&lpg=PT1&dq=%22john+brooks%22+%22new+yorke r%22&source=web&ots=yZgwdtpdV2&sig=XByC_JemniUx6jch3fb- 3FW9V70&hl=en&sa=X&oi=book_result&ct=result&redir_esc=y#v=onepage&q=%22john%20brooks%22%20%2 2new%20yorker%22&f=false, Stand: 16.04.2012. 98 Brooks, S.11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 22 zeichnet und damit als Bestandteil des vermuteten Ablenkungsmanövers rund um den geplanten „Heist“99 interpretiert.100 Für diese Theorie spricht, dass am Anschlagstag die bisher im Schatzamt deponierten Goldbarren ins neu gebaute Assay Office der Zentralbank eingelagert wurden, das sich der Morgan-Bank direkt gegenüber befand. Dies bot ein nahezu „ideales“ Szenario für mögliche Räuber und spricht für die Plausibilität eines just auf dieses Datum gelegten Bombenanschlags zu Ablenkungszwecken. Da der „spectacular raid on the United States Treasury“101 aber nie durchgeführt wurde, ist auch dieser Erklärungsversuch letztlich nur Spekulation. Was aber auch immer die wahren Hintergründe gewesen sein mögen, die Auswirkungen des Attentats sind gut belegt und stehen fest. Sie bestanden vor allem in einem emotionalen Vereinigungsdrang der US-Bürger, der sich sofort bemerkbar machte. In großer patriotischer Solidarität versammelten sich bereits am Tag nach dem Anschlag Tausende Amerikaner aus allen Landesteilen und sozialen Schichten zum Opfergedenken vor der Washington Statue in New York und demonstrierten klassenübergreifende Eintracht. Sie erneuerten ihren Treueschwur auf Amerika - es war zufällig der Jahrestag der Verkündung der US-Verfassung , was gut „passte“ - und schlossen darin ausdrücklich auch die Wallstreet ein, auf deren „Geist“ der Anschlag gezielt hatte.102 Dies ist bemerkenswert, da in den Jahren zuvor noch teils massive Vorbehalte gegen den hier verorteten „Money Trust“ virulent gewesen waren. Insbesondere Arbeiter, Farmer, Handwerker und kleine Gewerbetreibende hatten traditionell misstrauisch auf das „Big Business “ der Unternehmer und Bankiers geschaut und im Geldbezirk Manhattans eine böse Krake gesehen, die die ehrliche Arbeit der „Kleinen Leute“ unmöglich mache.103 Diese Einstellung wandelte sich jetzt völlig.104 Sie verschaffte insbesondere J.P. Morgan Jr. als inoffiziellem Herrscher der Wallstreet,105 wenn schon nicht Liebe, so doch wenigstens allgemeinen Respekt und damit ein höheres Maß an Anerkennung, als er sie bis dahin genossen hatte. 99 Amerikanischer Ausdruck für einen raffinierten Raubüberfall großen Maßstabs. 100 Vgl. Bellows, der 2007 darauf verwies, dass sich inzwischen einige Historiker der These angeschlossen hätten: „that the incident may have actually been a botched attempt to rob the gold-filled Assay Office nearby…“ 101 Brooks, S.9. 102 Vgl. Gage, The Day Wall Street Exploded, S.166-68. 103 Vgl. Schwarz, S.6. 104 Brooks schreibt hierzu bestätigend, dass sich die Broker der Wall Street mit der Rückendeckung der Öffentlichkeit nun wie Veteranen fühlen konnten, die im Dienst der „gerechten amerikanischen Sache” gegen äußere Feinde ihr Leben riskiert hätten: „Selling paper for money – the basic business of Wall Street – had graduated from a mere way of making a living into a defiance of the country´s enemies, a moral act, and Wall Street was well launched into a decade when it could savor the treacherous and comfortable sensation of feeling its activities to be right as well as profitable.“ Brooks, S.19. 105 Brooks nennt Morgan „the most famous man in Wall Street and the public symbol of its power.“ Ebd., S.2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 23 3. Verbindungen des „Federal Reserve Systems“ zu Morgan und Rockefeller Dieser Stimmungswandel kam auch dem Federal Reserve System zugute, also jener 1913 geschaffenen Zentralbank der USA, der möglicherweise der Bombenanschlag 1920 eigentlich zugedacht war und die von heutigen Sachbuchautoren verdächtigt wird, für die finanzwirtschaftlichen Verwerfungen der Gegenwart verantwortlich zu sein. Ähnliche Vorbehalte hatte es bereits zur Zeit ihrer Gründung gegeben, und erst mit dem beschriebenen Ansehensgewinn der gesamten Bankenwelt im Nachgang zum „Wall Street Bombing“ von 1920 änderte sich die Lage. Aus Misstrauen wurde jetzt Zuversicht, und die Sorge vor den negativen Auswirkungen einer zu „zentralen“ Geldpolitik verwandelte sich nunmehr in den Glauben an eine gerade im Zentralismus grundgelegte monetäre Machbarkeit eines permanenten Aufschwungs.106 Auch wenn sich diese Annahme als gefährliche Illusion erwies und im Börsenkrach von 1929 endete, ist der Einstellungswandel dennoch Fakt und wird von Carl H. Moore in seiner maßgeblichen Geschichte der Zentralbank mit den Worten beschrieben, 1920 habe in den USA allgemeine Aufbruchstimmung geherrscht und insgesamt ein Jahrzehnt voll großer Erwartungen begonnen.107 Diese richteten sich nicht nur, aber eben auch und besonders an die „Fed“ und verschafften ihr allgemeine Anerkennung. Dies führt abschließend zu der Frage, ob es außer dem von Morgan und der Wallstreet „abgeleiteten “ Imagegewinn der Zentralbank noch andere Beziehungen bzw. Rückkopplungen zwischen den herausgehobenen Personen der US-Finanz- bzw. Wirtschaftswelt und der „Fed“ gab. Tatsächlich wird dies, wie in der Einleitung erwähnt, vielfach behauptet und von Kritikern bisweilen anklagend als Beweis für den angeblich unheilvollen Charakter der gesamten Institution angesehen. Diesen Kritikern gilt die „Fed“ als oligarchisch strukturierter Herrschaftsapparat von sieben bis acht Familien der amerikanischen Finanzaristokratie, wobei den Morgans und Rockefellers der Haupteinfluss zukomme.108 Davon kann bei näherer Betrachtung keine Rede sein. Zwar gab es zahlreiche personelle Querverbindungen zwischen der entstehenden Zentralbank und den genannten Familien. Doch sind es erstens nicht sieben bis acht, sondern mindestens „Sixty Families“109 gewesen, die mit dem (Zentral-)Bankensystem über längere Zeit zu tun hatten, was doch kein so ganz 106 Der damals sein Amt antretende US-Präsident Harding verfocht den Grundsatz: „Less government in business, more business in government“, was diesem Stimmungsumschwung eins zu eins entsprach. Zit. nach Junker, S.54. 107 Moore, S.57. 108 Vgl. Henderson, Das Kartell der Federal Reserve: die acht Familien, S.1. 109 So der Titel eines Buches von Ferdinand Lundberg, das 1937 erschien und den (angeblichen) Einfluss wirtschaftlicher und finanzieller Kreise auf die Politik der USA analysierte. Lundberg korrigierte im Laufe der Jahre die Zahl der maßgeblichen Familien immer weiter nach oben und gelangte in der Neuausgabe von 1968 zu dem Wert von 200.000! Vgl. New York Times vom 3. März 1995, Nachruf auf Lundberg http://www.nytimes.com/1995/03/03/obituaries/f-lundberg-92-author-who-wrote-of-the-rich.html, Stand: 12.04.2012). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 24 exklusiver Zirkel mehr ist. Ferner herrschte speziell zwischen Morgan und Rockefeller eine vehemente Rivalität,110 die persönliche Abneigung ausdrücklich mit einschloss,111 was ein konspiratives Zusammenwirken zwischen beiden gleichsam von vornherein unmöglich machte.112 Und drittens war Morgan als der in Währungsfragen mutmaßlich Einflussreichste unter diesen sechzig Familien113 ein vehementer Kritiker des Federal-Reserve-Konzepts.114 Insbesondere dies zeigt, wie wenig die bestehenden personellen Querverbindungen im Sinne einer heimlichen Herrschaft des Finanzmoguls über die Zentralbank angesehen werden können. Überhaupt verdankte die Forderung nach Errichtung einer Zentralbank in den USA, die mit einer knapp hundertjährigen Tradition ausgeprägter Zentralbankskepsis brach,115 ihr Aufkommen ausdrücklich wachsendem Misstrauen der Kongressabgeordneten g e g e n Morgan. Sie wurde also zur Abwehr seines Einflusses und nicht zu dessen subtiler Stabilisierung errichtet.116 Zwischen 1871, der Eröffnung seiner New Yorker Hauptbank, und 1913 war Morgan Senior eine Art personifizierte Ersatz-Notenbank der USA gewesen.117 Er verfügte über die größten Goldreserven der Nation und musste der Regierung nach der großen Wirtschaftskrise von 1893 sogar mit Edelmetalldarlehen aushelfen, um eine drohende Zahlungsunfähigkeit der USA zu verhindern.118 Sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien, die streckenweise auch zwischen Washington und Rockefeller bestand,119 war der Wunsch führender Politiker der USA. Dies galt insbesondere nach 1907, als eine weitere Wirtschaftskrise das Land überrollte , die im Vergleich zur vorherigen auch deswegen einen weit schwereren Verlauf 110 Vgl. Morus, S.18. 111 Vgl. Merten, S.322ff. und Hawke, S.229. 112 Rothbard spricht sogar von „open warfare“, der zwischen beiden Familien geherrscht habe. Rothbard, S.9. Zwar gab es später in Fragen der Zentralbankverfassung auch Übereinstimmungen. Die waren jedoch hauptsächlich negativer Art und bestanden in ihrer gemeinsamen Ablehnung der„Fed“ (ebd., S.18). Morgan und Rockefeller sahen in deren konkreter Ausgestaltung 1913 ihre Interessen unzureichend berücksichtigt und hielten es für angezeigt, deswegen zu opponieren. Vgl. Johnson, S.28 und 36. 113 Carnegie bezeichnete Morgan Jr. 1937 als „most powerful man in the world of finance“ und bescheinigte ihm, „Dictator of Wall Street, High Mogul of the World of Stocks and Bonds“ zu sein. Carnegie, S.85. 114 Jedenfalls in der Form, wie es verwirklicht wurde. Die Notwendigkeit einer Zentralbank an sich anerkannte Morgan, ja brachte die Idee dazu selbst auf. Vgl. „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“, S.40. 115 Vgl. Johnson, S.7-19. 116 Ebd., S.36. 117 Vgl. Morus, S.121, der Morgan als „Staatsbankier“ bezeichnet. Allen nennt ihn „die verkörperte Federal Reserve Bank“, S. 256 und Schwarz gibt Morgan sogar (zusammen mit seinem Sohn Morgan Jr.) wegen der faktischen Verfügungsmacht über die Goldreserven der USA den Beinamen „der ungekrönte König der Welt“, so der Titel seines Aufsatzes von 1933. 118 Vgl. Schwarz, S.8ff. 119 Vgl. Merten, S.322. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 25 nahm, weil Morgan sich einer ähnlichen Hilfe wie 1893/95 verweigerte, die Regierung also „im Regen stehen“ ließ. Stimmen behaupteten sogar, er habe in beiden Fällen wesentlich zum Entstehen der Krise beigetragen, sei also – gemeinsam mit Rockefeller - überhaupt deren Verursacher gewesen.120 Auch wenn das wohl nicht zutraf,121 sind sich die Experten einig, dass den damaligen Politikern spätestens zu diesem Zeitpunkt klar wurde, dass es sich eine wirtschaftlich immer bedeutendere Nation wie die amerikanische122 nicht länger leisten konnte, geldpolitische Entscheidungen dem Privatsektor zu überlassen, statt sie in irgendeiner Form staatlicher Kontrolle zu unterstellen.123 Die auf die Zeit der Gründerväter zurückgehende Sorge, ein staatliches Zentraldepot für Geld steigere die Macht der Regierung ins Unangemessene und sei damit freiheitsbedrohlich, verschwand zusehends. Hatte sie bisher einer Notenbankgründung hauptsächlich im Wege gestanden, verringerte sich diese Sorge jetzt im selben Maß, wie die Erkenntnis wuchs, dass noch weit bedrohlichere Folgen für die Freiheit von einer Währungs- und Finanzpolitik ausgehen könnten, die dem ungeregelten privaten Bankensystem überlassen bliebe, das notwendigerweise eigenes Geschäftsinteresse über Allgemeinwohlüberlegungen stellte.124 Diese Einsicht und die während der Krise von 1907 festgestellte Notwendigkeit, einen zentralen „lender of last resort“125 zu schaffen, also einen staatlichen Liquiditätslieferanten für in Zahlungsschwierigkeiten geratene Banken, um Geldpaniken, „Runs“ und massenweise Zusammenbrüche von Kreditinstituten zu verhindern – tatsächlich das Hauptproblem der Krise von 1907 -,126 gaben schließlich den Ausschlag für die Entscheidung des Kongresses, Pläne für die Errichtung einer Zentralnotenbank zu entwickeln.127 Im Zuge dieser Vorbereitungen, die bis 1913 reichten, ging man immer wieder auf die Banken zu und griff auf deren Sachverstand in der Geldpolitik zurück, ohne sich freilich zu dessen Sklaven zu machen. Dies behaupten zwar Verschwörungstheoretiker, freilich ohne dafür einen Beweis anführen zu können.128 Dass etwa ein informelles, unter striktem Aus- 120 Vgl. Morus, S.122, Schwarz, S.13ff. und „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“, S.31. 121 Vgl. Meltzer, S.69 Fußnote 6 und Allen, S.257. 122 Vgl. Meltzer, S.1. 123 Vgl. „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“, S.78/79. 124 Ebd., S.79. 125 Meltzer, S.48. Der Grundgedanke geht auf Überlegungen des britischen Ökonomen Walter Bagehot aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Ebd. 126 Vgl. Bernanke, S.17. 127 Vgl. Johnson, Historical Beginnings, S.16/17. 128 Eine detaillierte Widerlegung der von Verschwörungstheoretikern in Umlauf gesetzten Mythen rund um die Entstehung des „Federal Reserve System“ bietet Edward Flaherty, ein Ökonom und Wirtschaftshistoriker der Charleston Universität, South Carolina. Flaherty unterhält eine Homepage mit zahlreichen Querverbindungen zur Thematik und einer übersichtlichen Gegenüberstellung von „Myths“ und „Facts“ zur „Fed“, http://www.publiceye.org/conspire/flaherty/Federal_Reserve.html, Stand: 16.04.2012.. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 26 schluss der Öffentlichkeit durchgeführtes Treffen von Bankiers und Kongressabgeordneten 1910 auf Jekyll Island, Georgia, stattfand, auf dem das Zentralbankprojekt erste konkrete Formen annahm, ist durchaus kein Beleg für den konspirativen Charakter des Ganzen oder dafür, dass die Banken sich den Haupteinfluss auf die „Fed“ gesichert hätten, deren Unabhängigkeit also nur ein Popanz gewesen sei. Viele Währungsprojekte demokratischer Staaten sind auf ähnlichen Klausurtagungen entstanden,129 deren Abgeschiedenheit ein ablenkungsfreies Arbeiten garantiert und nichts mit Verschwörungsabsichten zu tun hat. Hinzu kommt, dass die seriöse Forschung dem informellen Treffen kaum Bedeutung beimisst,130 die spätere Zentralbank also keineswegs als „Kreatur von Jekyll Island“ bezeichnet werden kann wie in dem 2006 publizierten Buch von Griffin. Dessen Titelwahl verrät bereits reißerische Absicht und dürfte vor allem deswegen getroffen worden sein, weil der Buchname negativ konnotiert ist. Er weckt Assoziationen zu Stevensons berühmter Gruselgeschichte vom Arzt Dr. Jekyll, der sich nach Einnahme eines selbst gebrauten Elixiers in den diabolischen Mr. Hyde verwandelt und zum Verbrecher wird.131 Ein solches „Ungeheuer“ (Griffin) ist die „Fed“ nie gewesen. Trotz gravierenden Mängeln in ihrer Konzeption und strategischen Fehlentscheidungen besonders in der Frühphase bzw. in den zwanziger Jahren unterschied sie sich in der Grundsubstanz kaum von den etablierten Zentralbanken europäischer Staaten. Sie war sogar nach deren Vorbild gedrechselt , speziell nach dem der deutschen Reichsbank,132 und damit ähnlichen Schwierigkeiten unterworfen, die europäische Notenausgabestellen auch kannten.133 Als im Dezember 1913 der Kongress das Zentralbankgesetz annahm, dessen Implementation ein knappes Jahr benötigte und erst im November 1914 zum Abschluss kam, waren dessen Strukturen ein Kompromiss aus rivalisierenden Modellen von Demokraten und Republikanern.134 Während Republikaner eine in New York angesiedelte einzelne Zentralbank mit begrenzter staatlicher Einflussnahme wünschten, um die Wirkungsmöglichkeiten des von ihnen unterstützten Privatbankensystems möglichst groß zu halten, 129 Vgl. das berühmte „Konklave von Rothwesten“ bei Kassel, das die Währungsrefom in Westdeutschland 1948 vorbereitete und unter größter Geheimhaltung stattfand. Möller, S.66. 130 Meltzers voluminöse und gehaltvolle Geschichte der Federal Reserve etwa erwähnt die Tagung mit keinem Wort. Dies tun auch die Studien von Moore und Johnson nicht. Selbst Rothbard, der als konservativer Anarcho- Kapitalist die Zentralbank als Institution ablehnt und ihre Geschichte kritisch betrachtet, erwähnt das Treffen von Jekyll Island nur kurz (Rothbard, S.46/47). Anders als „Verschwörungstheoretiker“ sieht er diese Zusammenkunft keineswegs als ausschlaggebend an. Er misst ihr nur die Rolle einer wichtigen Einzelepisode in einer insgesamt recht langen Vorgeschichte der „Fed“ zu, deren Beginn er mit dem Jahr 1900 ansetzt. Ebd., S.3. 131 Flaherty bemerkt 2010 zur Überbetonung der Jekyll Island Konferenz vor allem durch Griffin: “G. Edward Griffin lays out this conspiratorial version of history in his book The Creature from Jekyll Island. His amateurish take on history is highly suspect, however. Gerry Rough, in a series of well-researched essays on U.S. banking history, reveals many historical inaccuracies, inconsistencies, and even contradictions in Griffin's book and others of its genre.” http://www.publiceye.org/conspire/flaherty/flaherty1.html#4, Stand: 16.04.2012. 132 Zum Vorbildcharakter Deutschlands in Zentralbankfragen vgl. Heideking, S.252 und Rothbard, S.23, 35 und 43. 133 Vgl. Meltzer, S.19ff., der insbesondere auf den Vorbildcharakter der „Bank of England“ für die „Fed“ verweist. Ähnlich auch „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“, S.79. 134 Diesen Kompromisscharakter betonen etwa Meltzer, S.65 und Johnson, Historical Beginnings, S.5 und S.25ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 27 setzten die seit 1912 den Präsidenten stellenden Demokraten ein Modell durch, das auf Regionalisierung setzte und einen stärkeren Zugriff des Staates erlaubte.135 Gerade deshalb bekämpfte Nelson Aldrich,136 ein führender Republikaner im Senat, das Zentralbankgesetz als vermeintlich verkorkstes Konzept und lehnte es ebenso vehement ab wie J.P. Morgan.137 Auch dies beweist, wie wenig die Zentralbank in ihrer konkreten Ausgestaltung als verlängerter Arm Morgan´scher oder Rockefeller´scher Interessen betrachtet werden kann,138 für die gerade Aldrich stand. Besonders mit den Eigentümern von Standard Oil und ihrem Money-Trust-Ableger „National City Bank“ in New York war der Parteiführer der Republikaner eng verbunden. Er hatte seine Tochter mit J.D. Rockefeller Jr. verheiratet, und deren gemeinsamer Sohn - in späteren Jahren Gouverneur von New York und US-Vizepräsident unter Gerald Ford - wurde dem Senator zu Ehren Nelson Aldrich getauft.139 Dass der Senator dann auch eine der Zentralfiguren der „Geheimkonferenz“ von Jekyll-Island war, befeuerte neben seiner engen verwandtschaftlichen Beziehung zum Großkapital die auf vermeintliche Gelddiktatur der Rockefellers und Morgans gerichteten Konspirationsphantasien der „Enthüllungsautoren.“ Dabei bestätigt gerade Aldrichs offenkundiges Scheitern bei der Zentralbankgestaltung eindringlich, wie wenig Einfluss diese Konferenz tatsächlich auf das Endresultat hatte, verschwörungstheoretische Behauptungen des Gegenteils also unangebracht sind.140 Das Zentralbanksystem bestand auf Druck der Demokraten aus 12 semi-selbstständigen Distrikt -Reservebanken, deren bedeutendste in New York angesiedelt war (eine Konzession an die Republikaner). Verwaltungssitz war das „Reserve Board“ in Washington, in dem sieben Direktoren die Linien der Notenbankpolitik vorgaben.141 Qua Amt gehörten der Finanzminister der USA und sein Unterstaatssekretär als „Comptroller of the Currency“ dem Direktorium an, verkörperten also die staatliche Oberaufsicht, die es nun erstmals gab.142 Diese Oberaufsicht ging zwischen 1914 und 1920 von Demokraten aus und wech- 135 Vgl. Meltzer, S.66. 136 Lebensdaten: 1841-1915. 137 Zur ablehnenden Haltung Morgans vgl. „The mirrors of Wall Street“, S.74. Ähnlich auch Johnson, Historical Beginnings, S.36 und „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“, S.92. Hier wird auf 1916 ergriffene Maßnahmen der „Fed“ gegen das Bankhaus Morgan verwiesen, die den Inhaber verärgerten und gegen die Zentralbank aufbrachten, die offensichtlich n i c h t seinen Interessen diente. 138 Edward Flaherty schreibt hierzu: „Conspiracy theorists have long viewed the Federal Reserve Act as a means of giving control of the banking system to the money trusts, when in reality the intent and effect was to wrestle control away from them. History clearly demonstrates that in the decades prior to the Federal Reserve Act the decisions of a few large New York banks had, at times, enormous repercussions for banks throughout the country and the economy in general. Following the return to central banking, at least some measure of control was removed from them and placed with the Federal Reserve.” http://www.publiceye.org/conspire/flaherty/flaherty1.html, Stand: 16.04.2012. 139 Vgl. Stammbaum der Rockefellers in: Collier/Horowitz, S.414/15. 140 Vgl. Johnson, Historical Beginnings, S.24 und S.28. 141 Vgl. Meltzer, S.74. 142 Ebd., S.75 Fußnote 25. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 28 selte erst mit dem Regierungsantritt Präsident Warren Hardings 1921 in die Hände wieder eher privatbankenfreundlicher Republikaner. Konzeptionelle Änderungen wurden aber auch in dieser Zeit nicht vorgenommen. Es blieb während der gesamten zwanziger Jahre bei der „demokratischen“ Gesamtstruktur der „Fed.“143 In den Anfangsjahren der Zentralbank (1914-18) nahm Paul M. Warburg, seit 1916 offiziell Vize-Präsident des Reserve Boards in Washington, eine herausgehobene Stellung ein und beeinflusste die Währungs- und Diskontpolitik entscheidend mit.144 Warburg, ein Privatbankier , der auch ein Teilnehmer der „Jekyll-Island“-Konferenz war, gilt vielen „Enthüllungsautoren “ als weiterer „Beweis“ für den vermeintlich bruchlos fortbestehenden Einfluss des Großkapitals auf die Währungspolitik. Doch auch in seinem Fall erweist ein genauer Blick die Substanzlosigkeit solcher Annahmen.145 Warburg hatte zwar enge Kontakte zu Rockefeller und Morgan. Er war Teilhaber des New Yorker Bankhauses Kuhn, Loeb & Co., das mit den Rothschilds kooperierte und gemeinsam mit Rockefeller und Morgan die Eigentumsrechte an der „National City Bank“ besaß, der wichtigsten privaten Geldinstitution der Wallstreet neben Morgans Hauptbank „JP Morgan & Co.“ Ein Erfüllungsgehilfe der beiden „reichsten Männer der Welt“ war Warburg dennoch nicht. Im Gegenteil erwies er sich mehr als skeptisch gegen viele Maßnahmen insbesondere Morgans. So lehnte der gebürtige Deutsche die offene Unterstützung der Entente-Mächte im Weltkrieg durch den Finanz -Mogul Morgan ab und weckte damit erhebliches Misstrauen seiner amerikanischen Kollegen, die gegen Deutschland voreingenommen waren. Dies führte schließlich zu Warburgs vorzeitiger Abberufung aus dem Zentralbankdirektorium, in dem man aufgrund des Eintritts der USA in den Krieg gegen Deutschland 1917 keinen Deutschen mehr haben wollte.146 Unhaltbar, ja nachgerade absurd sind deshalb die Behauptungen, Warburg habe den Krieg gegen sein Heimatland unterstützt und die Zentralbank in Einklang mit Morgans Wünschen auf anti-deutschen Kurs gebracht. Hintergrund solcher Behauptungen sind antisemitische Vorurteile, die bei fast allen Verschwörungstheoretikern eine Rolle spielen. Dies gilt vor allem für den einflussreichsten unter ihnen, Eustace Mullins, einen Freund des Faschismusfreundlichen Schriftstellers Ezra Pound. Mullins betont allenthalben die jüdische Herkunft Warburgs,147 verweist auf Kontakte zu den Rothschilds148 und konstruiert aus diesen zutref- 143 Die erste größere Änderung der Zentralbankverfassung gab es 1935. Sie war aber noch mehr dem Gedankengut der Demokraten verpflichtet, deren Präsident Roosevelt seit 1933 amtierte, stärkte also keinesfalls den Einfluss der Privatbanken auf das System der „Fed“. Vgl. Meltzer, S.3. 144 Vgl. Johnson, Historical Beginnings, S.53/54 und Meltzer, S.70 Fußnote 9. 145 Schwarz verweist auf die international verbreitete Praxis, in die Verwaltung einer staatlichen Notenbank auch Privatbankiers einzubeziehen, deren Sachverstand auch und gerade in einer staatlichen Behörde benötigt wird, die den Geldmarkt überwachen soll. Vgl. Schwarz, S.31 Fußnote 11. 146 Vgl. Moore, S. 53 und Meltzer, S.70 Fußnote 9. Warburg durfte erst nach Kriegsende wieder für die „Fed“ tätig werden, jedoch nicht mehr im Direktorium des Reserve Board, sondern als Mitglied des reinen Beratungsgremiums „Federal Advisory Council.“ Ebd. 147 Vgl. Mullins, S.56ff., S.63ff., S.92ff. Drei der Kapitel seines Buches tragen die bereits manische Züge verratende Titelabfolge: „Paul Warburg“, „Noch mehr über Paul Warburg“, „Und noch mehr über Paul Warburg.“ 148 Vgl. Mullins, S.19, 20, 30, 35 und ab S.56 passim. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 29 fenden Informationen die abenteuerliche These, der Bankier sei vaterlandslos gewesen. Er habe weder deutsche noch amerikanische Interessen vertreten, sondern dem „internationalen Judentum“ gedient.149 Das habe vom Krieg profitiert150 und deshalb auf dieses Völkermorden unter Christen hingearbeitet.151 In Mullins Darstellung von 1952, die von der seriösen Forschung nicht ernst genommen wird,152 aber in den „Enthüllungen“ nahezu aller seitherigen Verschwörungstheoretiker zustimmend zitiert wird,153 erscheint Warburg dann auch nicht als Erfüllungsgehilfe Morgans und Rockefellers. Die beiden Unternehmerfamilien werden im Gegenteil nun ihrerseits zu Marionetten einer angeblich weltweiten jüdischen „Bankierverschwörung“154 erklärt, die Warburg angezettelt habe. Die beiden „reichsten Männer der Welt“ erscheinen in dieser Betrachtung plötzlich als mit ihrem sonstigen Machtstatus unvereinbare Handlanger der Kapitalinteressen internationaler Geldgeber „jerusalemitischen Glaubens“.155 Diese unhaltbare, von der seriösen Forschung als verrückt eingestufte Argumentationskette 156 gipfelt in der Theorie, Warburgs Bruder, der für den deutschen Geheimdienst tätig war, habe 1917 die in Deutschland mit fast diktatorischer Macht ausgestattete Oberste Heeresleitung Hindenburgs und Ludendorffs zu ihrer bekannten (Fehl-)Entscheidung veranlasst , Lenin im plombierten Eisenbahnwaggon 1917 von seinem Schweizer Exil durch deutsches Territorium nach Petrograd zu transportieren,157 wo er dann die Oktoberrevolution durchführte.158 So sei die Warburg-Familie, die in Hamburg ihr Stammhaus unterhielt und die Mullins als Teil der „übelsten Elemente“ der Welt bezeichnet,159 nicht nur als 149 Demgegenüber lobt Mullins wiederholt treue „Patrioten“ wie Andrew Frame, der aus seiner Sicht das Gegenbild jüdischer Unternehmer war, nämlich „ein ehrlicher amerikanischer Bankier ohne internationale Verbindungen.“ Ebd., S.34. 150 „Der drastische Schritt Amerikas, in den Krieg einzutreten, war notwendig, um die übersteigerten Anleihen Rothschilds zu retten und die Gefahr von ihren privaten Banken in Frankreich und England abzuwenden und dem amerikanischen Volke aufzubürden.“ Ebd., S.78. 151 Ebd., S.48-50, S.74-78. 152 Flaherty weist Mullins Insinuationen zurück und widerlegt dessen Behauptungen, soweit sie auf nachprüfbarem Datenmaterial beruhen, Punkt für Punkt in seiner Online-Rubrik „Myths“ und „Facts“ rund um die „Fed“. http://www.publiceye.org/conspire/flaherty/flaherty5.html, Stand: 16.04.2012. 153 So z.B. von Henderson, S.2, der Mullins als „Fed-Experte“ beschreibt. 154 So der Titel von Mullins Buch. 155 Mullins, S.81. Speziell J.P. Morgan wird an dieser Stelle als Agent der Rothschilds bezeichnet. 156 Selbst Mullins Verschwörungstheoretiker-„Kollege“ Griffin verwahrt sich strikt dagegen, mit Mullins in einen Topf geworfen zu werden. Er leugnet jede Ähnlichkeit seiner „Enthüllungen“ mit denen von Mullins, benutzt ihn aber dennoch als Quelle, worauf Flaherty verweist, vgl. http://www.freedomforceinternational.org/freedomcontent.cfm?fuseaction=meetflaherty, Stand: 16.04.2012. 157 Zum historischen Hintergrund dieser tatsächlich unheilvollen Entscheidung, die aber nichts mit den Warburgs zu tun hatte, vgl. Haffner, Todsünden, S.83-99. 158 Vgl. Mullins, S.78 und S.93. 159 Ebd., S.79. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 30 heimliches Haupt des amerikanischen Finanzkapitalismus anzusehen, sondern auch als Begründer (und späterer Finanzier) seines ideologischen Todfeindes, des Kommunismus der Sowjetunion.160 Auf die Absurdität solcher Behauptungen, die auf der Primitivformel „Alles Schlechte kommt von Juden“ beruhen und schon in den 1920er Jahren verbreitet waren, verwies der Schweizer Ökonom Fritz Schwarz bereits 1933.161 Er zeigte insbesondere auf, dass etwa Morgan selbst Antisemit war und alles tat, um jüdische Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen.162 Dies ist auch anderweitig belegt163 und erklärt Morgans spätere Bereitwilligkeit, Mussolini und dem Faschismus massive Finanzhilfen zu leisten. Dies entkräftet die Theorie , Morgan und Rockefeller hätten sich von Warburg und Rothschild in irgendeiner Form instrumentieren lassen und seien ihre willfährigen „Agenten“ gewesen.164 Was die Behauptung anti-deutscher Gesinnung Warburgs angeht, so erweist sich deren Haltlosigkeit außer an der bereits erwähnten Entlassung Warburgs aus dem Zentralbankgremium wegen erkannter Deutschfreundlichkeit auch und vor allem durch seine massive Unterstützung seiner angestammten Heimat nach dem Versailler Frieden. Über seinen Bruder Max, der damals ins Direktorium der Reichsbank aufrückte, half Warburg entscheidend mit, Berlin 1924 jene Wirtschaftshilfen und Kredite zu verschaffen, ohne die es zu der nach Kriegsniederlage und Hyperinflation dringend nötigen wirtschaftlichen Stabilisierung der Weimarer Republik kaum hätte kommen können.165 Dass sich diese Stabilisierung nur als Scheinblüte erwies, die mit der Weltwirtschaftskrise 1929-33 abrupt zu Ende ging, schmälert Warburgs Leistung in keiner Weise.166 Sie ist auch nicht mit der geradezu infamen Insinuation von Mullins aus der Welt zu schaffen, die Stabilisierung sei nur aus taktischen Erwägungen erfolgt. Sie hätte nur der „Mästung“ Amerikas und Deutschlands gedient, um beide Länder dann mit umso größerem „Fleischgewinn“ in einem weiteren Weltkrieg zugunsten des Judentums erneut aufeinander hetzen zu können .167 Besonders diese empörende Implikation einer jüdischen Verantwortung für den von 160 Ebd., S.78 und S.93. 161 Vgl. Schwarz, S.22ff. 162 Ebd., S.23. 163 In dem Aufsatz „The mirrors of Wall Street“ von 1933 heißt es: „Mr. Morgan has two pet prejudices. He frankly admits them as prejudices and glories in them. They are Jews and Irish Catholics.“ S.82. 164 Ebd., vgl. auch Morus, S.114, der auf die Rivalität Morgans mit jüdischen Bankhäusern verweist und belegt, dass sich hier harte Konkurrenten gegenüberstanden und Morgan alles andere als ein Freund, geschweige denn abhängiger Knecht etwa der Rothschilds war. Er kaufte sich später sogar in diese Bankhäuser ein, übte also eher Dominanz aus, als selbst beherrscht zu werden. Ebd., sowie „The mirrors of Wall Street“, S.83/84. 165 Vgl. Benz/Graml, Lexikon, S.353/54 und Weitz, S.156. 166 Dies gilt um so mehr, als Warburg die Weltwirtschaftskrise kommen sah und alles in seiner Kraft Stehende tat, um ihren Ausbruch zu verhindern. Seine Warnungen verhallten indessen ungehört. Galbraith vergleicht ihn mit Kassandra, deren Prophezeiungen zwar zutreffend, doch leider wirkungslos waren. Vgl. Galbraith, S.109ff. 167 Vgl. Mullins, S.48, S.54 Fußnote, S.73, S.76, S.117, S.205 (Ergänzung von Co-Autor Bohlinger). Eine solche Insinuation ist ansatzweise auch bei Henderson erkennbar, der auf eine angebliche Finanzierung Hitlers durch Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 31 Hitler entfesselten Zweiten Weltkrieg erklärt, dass Mullins Buch bei seiner ersten Auflage in der Bundesrepublik 1956 von der Regierung Adenauer als hetzerisches Machwerk eingestuft und dessen deutscher Herausgeber gerichtlich belangt wurde.168 Bilanzierend lässt sich feststellen, dass die amerikanische Zentralbank, das sog. „Federal Reserve System“, durchaus mannigfache Verbindungen zu den führenden Unternehmerfamilien der USA besaß. Mit Benjamin Strong, dem charismatischen langjährigen Gouverneur der New Yorker Zentralbank (1914-28) war ein früherer Morgan-Mann sogar direkt mit „am Ruder.“169 Dennoch gibt es nicht den geringsten Anlass, die Politik der Zentralbank als Fortsetzung der Firmeninteressen der Morgans und Rockefellers mit anderen Mitteln zu betrachten .170 So galt etwa Strongs Loyalität wie die aller anderen Mitarbeiter (auch Warburgs) vom Moment seiner Berufung ins Zentralbankamt an voll und ganz der „Fed“ und nicht mehr früheren Arbeitgebern, bestimmten Religionsgruppen oder sonstigen „supranationalen Interessen.“171 Mag also manches an der Politik des „Federal Reserve System“ aus historischer Sicht kritikwürdig erscheinen und die Weltwirtschaftskrise von 1929-33, aber auch die Finanzkrise von 2007-10, mindestens indirekt auf Fehlentscheidungen der amerikanischen Zentralbank zurückgehen.172 Mit den Morgans und Rockefellers hat dies, wenn überhaupt, nur am Rande zu tun, und von einer irgendwie gearteten Verschwörung des „Money Trust“ kann keine Rede sein. Eine solche wurde weder von Morgan noch Rockefeller „angezettelt“ und erst jüdische Bankhäuser verweist und den Aufstieg des Faschismus als vom Judentum abgeleitet erscheinen lässt. Vgl. Henderson, S.5. 168 Vgl. dazu den Artikel „Der falsche Fünfzehner“ im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vom 15.08.1956, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43063766.html, Stand: 17.04.2012. 169 Strong war Morgans Unterhändler in „Jekyll Island.“ 170 Lundberg verweist im Gegenteil darauf, dass die „Fed“ bestimmten Ambitionen etwa der Rockefellers einen bewussten Riegel vorgeschoben habe, etwa beim Versuch einer Bank des Rockefeller-Trusts 1975, sich zulasten von Mitkonkurrenten in den USA auszubreiten. Vgl. Lundberg, Die Mächtigen, S.316. 171 Vgl. Meltzer, S.X (Vorwort von Alan Greenspan) und S.75ff. Strong, aber auch Warburg, wollten eine unabhängige Zentralbank, die sowohl politischer Einmischung als auch der Einflussnahme durch Geschäftsbanken entzogen sein sollte. Vgl. Meltzer, S.93, 125 und 134. Tatsächlich hatte die erste Fehlentscheidung der „Fed“, die Stützung von Agrarpreisen während des Ersten Weltkrieges, in einer bewussten Intervention Präsident Wilsons ihre Ursache. Dies bewies, dass Krisen nicht nur aufgrund zu geringer politischer Kontrolle erwachsen konnten, sondern auch durch ein Zuviel davon. Und das sollte künftig vermieden werden. Vgl. „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“, S.80. Die Unabhängigkeit der Zentralbank von wirtschaftlichen u n d politischen Einflüssen wurde später auch das Leitbild der deutschen Bundesbank und ihrer europäischen Nachfolgerin EZB. 172 Vgl. Galbraith, S.61ff. (bezogen auf die Jahre 1929-33. Die neuere Krise von 2007ff. wird beleuchtet durch Max Otte in seinem Vorwort zu Galbraith, in: ebd., S.17/18). Meltzer verweist auf die Startschwierigkeiten der „Fed“ und darauf, dass schon die kurze, aber heftige Nachkriegsrezession 1920 in unzureichenden Gegenmaßnahmen der „Fed“ ihre Ursache hatte. Dies habe an ihrer mangelnden Erfahrung mit Zentralbankaufgaben gelegen. Vgl. Meltzer, S.90. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 32 recht nicht von angeblichen jüdischen Hintermännern. Diese waren und sind, wie schon Schwarz 1933 schrieb, nur das Produkt einer wahnhaften Einbildung.173 4. Fazit und Schlussüberlegung Einen wie auch immer gearteten unmittelbaren Zusammenhang zwischen den drei Attentaten auf Rockefeller und Morgan hat es nicht gegeben. Anlässe, historische Umstände, Verlauf und Folgen waren jeweils höchst unterschiedlich. Der erste Anschlag 1914 hatte rein innenpolitische Ursachen, stand mit den sozialen Problemen der damaligen Phase des ungebremsten Hochkapitalismus in den USA in Verbindung und trug durch den Eindruck, den er auf Rockefeller als anvisiertem, aber glücklich verschont gebliebenem Opfer machte, dazu bei, diese Phase zu beenden und dem US-Kapitalismus ein menschlicheres Antlitz zu verleihen. Hinter dem zweiten Anschlag 1915 standen als eigentlicher Grund der Erste Weltkrieg und die sich in den USA abzeichnende Parteinahme zugunsten der Entente-Mächte. Er hatte also außenpolitisch motivierte, nationalistische Ursachen und war ganz an der internationalen Lage orientiert. Angesichts seines völligen Scheiterns blieb das Schusswaffenattentat auf Morgan indes in seiner Zeit ein kaum beachtetes Randphänomen und wirkte sich auf den weiteren Gang der Ereignisse so gut wie nicht aus. Der schrecklichste Anschlag war der dritte, der erneut Morgan traf, doch nicht als Person. Hauptleidtragender waren seine New Yorker Hauptbank und deren Beschäftigte. Im Zuge eines heimtückischen Bombenattentats 1920, das sich direkt vor dem Bankgebäude in 23 Wallstreet ereignete, kamen fast 40 Menschen ums Leben, zumeist Angestellte der Bank. Hunderte Wallstreet-Mitarbeiter wurden teils schwer verletzt, und der Sachschaden ging in die Millionen. Die Hintergründe sind völlig unklar, der oder die Täter wurden nie gefasst. Fest stehen nur die Auswirkungen des Anschlags auf die amerikanische Volksseele. Dieser schlimmste Terrorakt in Amerikas Geldmetropole vor dem 11. September 2001 beschäftigte vorübergehend die ganze Nation. Löste er zunächst Angst vor weiteren Anschlägen aus, verwandelte er sich bald in patriotischen Kitt, der die Bevölkerung zusammenhielt. Er überbrückte soziale Klüfte, da der Anschlag wohlhabende Broker ebenso getroffen hatte wie „proletarische“ Bedienstete des Reinigungspersonals und damit unterschiedslos dem „ganzen “ Amerika galt. Reich und Arm rückten daraufhin zusammen und schworen bereits in einer am Tag nach dem Attentat durchgeführten Solidaritätsdemonstration, treu zu Amerika zu stehen und es gegen jedweden inneren und äußeren Feind zu verteidigen.174 Unmittelbarer Profiteur dieses patriotischen Vereinigungsdrangs waren die Bankiers und ihre Mitarbeiter, der sog. „monied interest“ des Landes. Hatten gegen diese Gruppe, die die 173 Deren Ursache Schwarz auf die Wirtschaftskrisen der damaligen Zeit zurückführt, die eine Suche nach Sündenböcken auslöste. Dass die Sündenbock-Rolle den Juden zugewiesen wurde, lag nach Schwarz an damals verbreiteten Propagandawerken wie den antisemitischen „Protokollen von Zion“ oder dem judenkritischen Buch des Autofabrikanten Henry Ford „Der internationale Jude.“ Vgl. Schwarz, S.22. 174 Vgl. Brooks, S.12ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 33 Geldmacht des Landes repräsentierte, seit den 1890er Jahren massive Vorbehalte bestanden, waren progressive Schriftsteller mit kritischen Studien zu ihrem Wirken hervorgetreten und hatten Parlamentskommissionen wie jene Arsène Pujos noch 1912/13 Untersuchungen darüber angestellt, wie unheilvoll die Konzentration des Kapitals in den Händen solcher Oligarchen für die USA werden könnte, wandelte sich dies jetzt völlig. Banken galten nunmehr als wichtiger, ja unverzichtbarer Bestandteil der nationalen Größe der USA, und New Yorker Broker der Morgan-Bank konnten sich plötzlich in den Kneipen außerhalb des Bankenviertels sehen lassen, ohne mit Nasenrümpfen empfangen zu werden. Auch ihr Beitrag zur Gesamtnation wurde nun positiv veranschlagt. Und diejenigen unter ihnen, die Narben vorzeigen konnten, die vom Bombenanschlag herrührten, fanden sich plötzlich sogar ähnlich geachtet, ja als Helden gefeiert wie die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 als stolze Sieger aus Europa heimgekehrten US-Soldaten.175 Dieser Imagegewinn des Bankensystems und seiner Mitarbeiter erwies sich als nachhaltig und überstand auch die Wirtschaftskrise von 1929-33 weitgehend unbeschadet. Daran hatte auch die 1913 gegründete Zentralbank ihren Anteil. Einerseits profitierte sie selbst von der patriotischen Solidaritätswelle für die „Banker“ nach dem 16. September 1920. Denn auch gegen die Idee einer Zentralbank hatte es zuvor große Vorbehalte gegeben, die nun verschwanden . Sie wurden von Vorschusslorbeeren abgelöst, die aus der „Fed“ zumindest bis zum Börsenkrach von 1929 die vermutlich am meisten respektierte, ja bewunderte Einrichtung der Vereinigten Staaten von Amerika machten. Gleichzeitig trug das „Federal Reserve System“ seinerseits dazu bei, die Vorbehalte gegen den „Money Trust“ zu verringern, indem es mithalf, diesen zu „domestizieren.“ Die von den Demokraten im Dezember 1913 durchgesetzte staatliche Oberaufsicht über das Geldwesen des Landes beschwichtigte jene Kritiker eines Zentralbankkonzeptes, die bisher gefürchtet hatten, mit einem solchen Machtinstrument bekämen die Banken noch mehr Einfluss als zuvor und könnten desto ungehinderter schalten und walten. Woodrow Wilson und die ihn unterstützenden Kongressmitglieder um den Abgeordneten Carter Glass vermochten mit ihrem Reformwerk glaubhaft zu vermitteln, dass dem nicht so sei und die Regierung das „Geldmonster“ Manhattan erfolgreich gezähmt, ja in den Dienst der gemeinsamen Sache der Nation gestellt habe. Dies erwies sich insoweit auch als richtig, als der während des Ersten Weltkriegs offenkundig werdende Aufstieg der USA zur internationalen Großmacht durch das Wirken der „Fed“ auf finanzpolitischem Sektor flankiert, ja gefördert wurde und damit tatsächlich dem patriotisch definierten „Allgemeinwohl“ diente. Die seit 1918 feststellbare Dominanz des Dollars als Welt(reserve)-Währung, ein Quell anhaltenden Stolzes vieler US-Bürger, hatte in der erfolgreichen Tätigkeit der US-Zentralbank eine ihrer vornehmsten Ursachen. Erst sie machte aus einem monetären Entwicklungsland, was die USA aus europäischer Sicht zuvor noch waren,176 eine echte Finanz-Großmacht. Durch das von der „Fed“ beseitigte Chaos einer dezentralen Notenausgabepolitik, für die bis 1913 über 7.500 private Kreditinstitute zuständig waren, die ihrer Aufgabe schon wegen der unübersichtlichen Vielzahl bestenfalls 175 Ebd., S.19. 176 Vgl. Meltzer, S.1 und „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“, S.78/79. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 34 unzureichend gerecht wurden,177 waren die USA überhaupt erst im Stande, auf internationalem Finanzparkett eine wichtige Rolle zu spielen, die ihrer militärpolitischen Machtstellung entsprach. Dies taten sie dann ab spätestens 1920 mit großem Engagement und zementierten dadurch die Akzeptanz des (Noten-)Banksystems in der Bevölkerung. Dass auch in dieser Zeit personelle Querverbindungen zwischen der Zentralbank und den führenden Privatbankiers bestanden, darunter Rockefeller und Morgan, die Ausschaltung des „Money Trust“ aus der Währungspolitik also bei weitem nicht so „total“ war, wie von Wilson behauptet, spielte unter diesen Umständen keine Rolle mehr. Der Erfolg gab dem System Recht und trug zu dessen Stabilisierung bei. Wenn Verschwörungstheoretiker das Zentralbanksystem als vermeintlich gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt erklären, übersehen sie diese Stabilisierung offensichtlich. Dennoch ist sie Fakt. Das äußerte sich nicht zuletzt darin, dass ein den Attentaten auf Rockefeller und Morgan vergleichbarer Anschlag auf den „Money Trust“ nach 1920 nicht mehr versucht wurde, die Menschen dessen Existenz also akzeptiert hatten, ja für gut befanden.178 Viele Amerikaner wunderten sich bereits 1925, woher die als Relikt des „Wall Street Bombing“ übrig gebliebenen Schrapnelllöcher an der Hausfassade der Morgan-Bank wohl stammen mochten,179 weil sie sich nicht an das Attentat erinnern, ja gar nicht mehr vorstellen konnten, dass jemand etwas gegen das Bankensystem als solches gehabt hatte. Das Ereignis war vergessen .180 Seine Relevanz als Begünstiger der Aussöhnung zwischen (Geld-)Kapital und Gesellschaft bestand jedoch unbewusst fort. Dies ist vermutlich die bemerkenswerteste Konsequenz aus dem Attentat auf Morgans Bank und kann, da der Anschlag auf Rockefeller 1914 ähnliche (Fern-)Wirkungen auf die Beurteilung des „Big Business“ auslöste, insoweit als wenigstens äußerlich verbindendes Element des ansonsten sehr heterogenen Charakters der Attentate bezeichnet werden. Eine solche erst aus der historischen „Vogelperspektive“, also beim distanzierten Blick „von oben“ erkennbare Gemeinsamkeit stellt auch die nationale Herkunft der Attentäter dar und verdient abschließend Erwähnung, weil sie zur geschichtlichen Gesamteinordnung des Themas beiträgt. In allen untersuchten Fällen waren Migranten die Planer bzw. Ausführer der Anschläge oder gehörten zum engsten Kreis der Verdächtigen. Ein Franko-Kanadier und drei Letten wollten 1914 Rockefeller Jr. in die Luft sprengen, ein Deutscher versuchte Morgan Jr. zu erschießen. Und die lange Zeit als Drahtzieher des Wallstreet-Attentats von 1920 hauptsächlich verdächtigten Gruppen waren Italiener. Dieser Eindruck eines von „Ausländern“ unternommenen, also gewissermaßen „importierten “ Terrorismus´ verstärkt sich noch bei Einbeziehung aller übrigen bekannten Anschläge der Zeit von 1890 bis 1920, als es regelrechte Serien von Attentaten gab. Hinter den zahl- 177 „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“, S.78. 178 Vgl. Brooks, S.19. 179 Morgan Jr. hatte entschieden, die Löcher zum Gedenken an den Anschlag in der Gebäudewand zu belassen. Sie sind heute noch dort sichtbar. Vgl. Gage, ´Business As Usual´, kompletter Aufsatz, und das im Internet abgebildete Foto der Einschlagslöcher: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Wallstreetbomb.jpg, Stand: 19.04.2012. 180 Vgl. Wallstreet Journal vom 29. August 1925 und Gage, ´Business As Usual´, kompletter Aufsatz. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 35 reichen Bombenanschlägen von April/Mai bzw. Juni 1919 etwa, die sich über die gesamten USA erstreckten und für großes Unbehagen in der Öffentlichkeit sorgten, steckte der italienische Anarchist Luigi Galleani.181 Für den Bombenanschlag auf die „Preparedness Day Parade “ wiederum – eine Art Militärparade – vom 22. Juli 1916 wurde der aus dem Zarenreich stammende Anarchist Alexander Berkman verantwortlich gemacht. Berkman, der eigentlich Owsei Ossipowitsch Berkman hieß und bereits 1914 im Zusammenhang mit dem Anschlag auf Rockefeller als mutmaßlicher Mitwisser verhört worden war, hatte zwischen 1892 und 1906 in einem US-Gefängnis gesessen, weil er versucht hatte, den amerikanischen Industriellen Fisk, Manager des Carnegie-Stahlkonzerns, zu erschießen.182 Ausländische Anarchisten waren auch für das geplante, aber unvollendet gebliebene Attentat vom 19. November 1915 auf J.D. Archbold verantwortlich, den Präsidenten von Standard Oil und engen Vertrauten von John D. Rockefeller Senior.183 Und auch die spektakulärste Gewaltaktion dieser Epoche, die Ermordung von US-Präsident William McKinley, war die Tat eines Ausländers. Der polnische Migrant Leon Czolgosz erschoss McKinley 1901 kurz nach dessen Wiederwahl zum Präsidenten.184 Diese Häufung von Gewaltaktionen ausländischer Täter fiel auch den amerikanischen Behörden auf und hatte zur Folge, dass zwischen 1903 und 1918 drei Mal das Immigrationsgesetz verschärft wurde, die Hürden für Zuwanderer jedes Mal erhöhend und zuletzt gar die Möglichkeit einer Deportation gewaltbereiter Elemente schaffend. Generalstaatsanwalt A. Mitchell Palmer, selbst zwei Mal Ziel von Anschlägen ausländischer Täter, begrüßte in einem populären Traktat 1920 begeistert „the present sweeping processes of arrests and deportation of seditious aliens.“185 Er hatte selbst in den nach ihm benannten „Palmer Raids“ Ende 1919/Anfang 1920 dazu beigetragen, dass Tausende Migranten verhaftet, wochenlang festgehalten und knapp 600 von ihnen deportiert wurden, darunter Berkman und Galleani.186 Denn wer, so Palmer in seinem Traktat sarkastisch, die USA für ein so schlimmes Land halte, dass er glaube, sich mit Gewalt für Veränderungen einsetzen zu müssen, dem könne man ja wohl keinen größeren Gefallen tun, als sie dorthin abzuschieben, wo sie herkamen; „we are treating our alien enemies with extreme consideration. To deny them the privilege of remaining in a country which they have openly deplored as an unenlightened community (…) should be no hardship.”187 Nationale Herkunft wurde vorübergehend zum Hauptbeurteilungskriterium bei Straftaten, und Ausländer galten in dieser Phase nahezu per se als illoyal gegen amerikanische Interessen . So zeigte sich etwa im Verlauf des Prozesses gegen Sacco und Vanzetti 1920/21, dass 181 Vgl. dazu die Hinweise in Avrich, Anarchist Voices, passim. 182 Ebd. sowie Gage, ´Business As Usual´, gesamter Aufsatz. 183 Vgl. New York Times vom 22. November 1915. 184 Vgl. Heideking, Die amerikanischen Präsidenten, S.253. 185 Palmer, The Case, S.1 http://chnm.gmu.edu/courses/hist409/palmer.html, Stand: 17.04.2012. 186 Vgl. Brooks, S.10. 187 Palmer, The Case, S.3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 36 den Delinquenten weniger ihre mutmaßliche Beteiligung an einem Raubüberfall verübelt wurde, als vielmehr die Tatsache, dass sie sich 1917 vorübergehend nach Mexiko abgesetzt hatten, um der amerikanischen Wehrpflicht zu entgehen.188 Dies erklärte der leitende Staatsanwalt im Prozessverlauf wiederholt für schäbiges, unamerikanisches Verhalten und trug damit wesentlich zum letztlichen Schuldspruch trotz fehlenden Beweisen für die eigentliche Tat bei.189 Eine weitere Blüte dieser nationalistischen Stimmung gegen Zuwanderer war auch Paul Warburgs vorzeitige Entlassung aus dem Zentralbankdirektorium. Selbst dieser renommierte Bankier, der sozial weit über den erwähnten Straftätern stand, war ihnen plötzlich darin ähnlich, dass er wie sie als Ausländer galt und mit Misstrauen betrachtet wurde. Präsident Wilson musste deshalb akzeptieren, dass in der allgemeinen Missstimmung gegen Zuwanderer ein Deutscher im Vorstand der „Fed“ nicht durchsetzbar war, und entließ ihn im Frühjahr 1918. Inwieweit sich diese nationalistische Politik verstärkt hätte, wenn es zu weiteren Anschlägen gekommen wäre, ist schwer zu sagen. Da diese jedoch ausblieben, stellte sich die Frage nicht, und die Vorbehalte gegen Ausländer reduzierten sich gleichsam von selbst wieder auf ein Maß, das es möglich machte, die 1918 durchgeführte Verschärfung des Immigrationsgesetzes nicht mehr anzuwenden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gesetz insgesamt novelliert (1952). Als Fazit bleibt festzuhalten, dass zwischen 1890 und 1920 ein übersteigerter Nationalismus in Aktion und Reaktion auch die traditionell einwanderungsfreundliche US-Gesellschaft erfasst hatte und die ansonsten bemerkenswert effektive Integrations-„Maschine“ des „melting pot“ Vereinigte Staaten in diesen dreißig Jahren gehörig ins Stottern gekommen war. Ohne abschließend beurteilen zu können, ob die Attentate dabei Ursache oder Folge dieser Entwicklung waren, bildet der Extrem-Patriotismus in Amerika, von dem sich die Zuwanderer ausgeschlossen und abgelehnt fühlten, mehr als soziale Aspekte190 den gemeinsamen Hintergrund aller Attentate jener Epoche, so auch der in dieser Arbeit näher betrachteten Anschläge auf Rockefeller und Morgan. Diese sind also nicht als Terror gegen die Wallstreet zu verstehen und waren keine gewaltsame Vorwegnahme der anti-kapitalistischen Occupy-Bewegung. Sie sind vielmehr eher als 188 Vgl. Riess, S.304. 189 Ebd. 190 Zur üblicherweise ausgeprägten Fähigkeit der US-Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Zuwanderer selbst niedrigster sozialer Herkunft gut und erfolgreich zu integrieren, wenn nationalistische Gründe dem nicht entgegenstanden, vgl. die zeitgenössische Bestätigung aus deutscher Sicht in der Studie „Der Krieg und die amerikanische Wirtschaft“ (1916), S.14ff. und S.87ff. Dieser Untersuchung zufolge war das Geheimnis des Integrationserfolges in Amerika der konsequente Verzicht der Regierung auf Sozialleistungen, der „Nichtstuer“ von der Einwanderung abhalte, ferner die Beurteilung der Zuwanderer nach ihrem Können und Wollen, der auf Nützlichkeitserwägungen basiere, und schließlich ein engmaschiges Netz guter Privatschulen, das jedem Fleißigen den sozialen Aufstieg aus eigener Kraft ermögliche. Diese Integrationslogik hätten die Zuwanderer auch selbst akzeptiert, was den bemerkenswerten inneren Frieden in den USA erkläre und auch den Umstand verständlich mache, dass die Saat sozialistischer Agitation in Amerika trotz den armseligen Bedingungen in amerikanischen Industriebetrieben zumeist - und im Gegensatz zu Europa - auf unfruchtbaren Boden falle. Ebd. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/021/12 Seite 37 Ausdruck eines frühen „Clash of Civilizations“ (Huntington) mit nationalchauvinistischer Zuspitzung zu betrachten, wie er später, unter mehr religionskulturell-globalen Gesichtspunkten , auch zum 11. September 2001 geführt hat.191 5. Literaturliste Alien Anarchists (1919), in: New York Times vom 15. Dezember 1919, S.14 http://query.nytimes.com/gst/abstract.html?res=9C05EFD9123BEE32A25756C1A9649D946 896D6CF, Stand: 16.04.2012. Allen, Frederick Lewis (1950), Pierpont Morgan, Bern: Scherz. 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