© 2017 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 - 020/17 Zur Kulturgeschichte des Kopftuches Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 020/17 Seite 2 Zur Kulturgeschichte des Kopftuches Aktenzeichen: WD 1 - 3000 - 020/17 Abschluss der Arbeit: 30. November 2017 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte, Politik Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 020/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Zur Kulturgeschichte des Kopftuchs in christlichen Traditionen 4 2.1. Biblische Quellen 4 2.2. Kopftuch und Schleier in Europa 5 3. Zur Kulturgeschichte des Kopftuchs in islamischen Traditionen 7 3.1. Koranische Quellen 7 3.2. Kopftuch und Schleier im nahöstlichen Raum 7 4. Die Diskussion um das Kopftuch heute 10 5. Literatur 10 6. Pressedokumentation (Anhang) 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 020/17 Seite 4 1. Einleitung Im „Frauentrachtenbuch“ des Zürcher Illustrators Jost Amman von 1586 findet sich die Abbildung einer Edelfrau aus dem sächsischen Meißen, die in Trauer ist. Sie trägt einen schwarzen Mantelumhang und einen weißen Schleier, der Gesicht und Hals bedeckt, so dass lediglich die Augen freibleiben. Hierzu heißt es: „Also verhüllet ihren Leib/ Ein adeliges Meißnisch Weib/ Vom Haupt bis auff die Füß hinab/ Wenn sie begleitet zu dem Grab/ Ihren Mann/ Oder sonst jemand/ Der ihr mit Freundschaft ist verwandt/ Bis die Trauerzeit erreicht ihr End/ Und Gott ihr Klag in Freud verwaendt.“ 1 Das Buch zeigt 47 weitere Varianten von damals in Europa üblichen Kopfbedeckungen der Frauen, die von einem einfachen Schleier bis zum aufwendigen Kopfputz reichen. Im heutigen Straßenbild zeigen sich hauptsächlich muslimische Frauen mit Kopftuch oder Schleier. Auch hier gibt es sehr vielfältige Erscheinungsformen. Sie reichen von der Vollverschleierung bis zum Kopftuch, das zur Jeans getragen wird. Seit einer Lehrerin 1998 in Baden- Württemberg das Tragen des Kopftuches im Unterricht gerichtlich untersagt wurde und sich 2003 das Bundesverfassungsgericht mit dem Fall befasste, gibt es in Deutschland, wie auch in anderen europäischen Staaten, hierzu eine politisch-rechtliche Diskussion.2 Im Folgenden sollen die unterschiedlichen religiösen, kulturgeschichtlichen und gesellschaftlichen Traditionen und Zuschreibungen erläutert werden, die mit dem Kopftuch verbunden sind. Dabei können nicht alle zeitlichen, regionalen oder kulturellen Besonderheiten Berücksichtigung finden, sondern lediglich exemplarische Linien aufgezeigt werden. 2. Zur Kulturgeschichte des Kopftuchs in christlichen Traditionen 2.1. Biblische Quellen In vielen patriarchalen Gesellschaften des Alten Orient tragen Frauen ihr Haar bedeckt. Es gilt als ein Zeichen der Sittsamkeit und Ehrbarkeit, das Haar und manchmal den ganzen Körper den Blicken der Männer zu entziehen. Bei den Assyrern und Babyloniern hat nur die freie Frau das 1 Vgl. Jost Amman: Frauentrachtenbuch. Handkolorierter Faksimiledruck der deutschen Erstausgabe von 1586. Frankfurt/Main 1976. Ohne Seitenangabe, Abbildung ist im Anhang beigefügt. 2 Vgl. Sabine Berghahn/Petra Rostock: Der Stoff aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland , Österreich und der Schweiz. Bielefeld 2009. Der Band erschien im Rahmen des Forschungsprojekts VEIL (Values, Equality and Difference in Liberal Democracies), das im 6. Rahmenprogramm der EU von 2005 bis 2007 finanziert wurde. Es untersuchte in 8 europäischen Ländern die Politikdebatten bezüglich des Tragens von muslimischen Kopftüchern. Vgl. auch Ausarbeitungen der Wissenschaftlichen Dienste: WD 8 - 036/17 „Zur Situation Kopftuch tragender Lehrerinnen in ausgewählten Bundesländern“ vom 19.9.2017 und WD 3 - 003/16 „Konsequenzen der "Kopftuch -Entscheidung" des BVerfG vom 27.01.2015 auf die Rechtslage auf Bundes- und Landesebene“ vom 28.1.2016. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 020/17 Seite 5 Recht, den Schleier anzulegen. Einer Sklavin hingegen ist dies verwehrt.3 Im Alten Testament heißt es im Buch Genesis, als Rebekka erstmals ihren späteren Mann Isaak erblickt: „Da nahm sie den Schleier und verhüllte sich.“4 Die Verschleierung zeigte ihre Ehrbarkeit und Gottesfurcht an. Zugleich war die Kopfbedeckung Zierde und Schmuck. Beim Propheten Jesaja bestraft Gott die „hochmütigen Töchter Zions“, indem er ihnen ihren Schmuck wegnimmt: „die Ohrgehänge und Armkettchen, die Schleier und Turbane“.5 Vor diesem Hintergrund ermahnt der als Sohn einer jüdischen Familie aufgewachsene Apostel Paulus in seinem Brief die Gemeinde in Korinth: „Wenn ein Mann betet oder prophetisch redet und dabei sein Haupt bedeckt hat, entehrt er sein Haupt. Eine Frau aber entehrt ihr Haupt, wenn sie betet oder prophetisch redet und dabei ihr Haupt nicht verhüllt. (…) Wenn eine Frau kein Kopftuch trägt, soll sie sich doch gleich die Haare abschneiden lassen. Ist es aber für eine Frau eine Schande, sich die Haare abschneiden oder sich kahl scheren zu lassen, dann soll sie sich auch verhüllen.“6 Das katholische Kirchenrecht sah mit Rückgriff auf diese Bibelstelle aus dem Neuen Testament bis Anfang der 1983 vor, dass Frauen in der Messe eine Kopfbedeckung zu tragen hatten.7 Zur Audienz beim Papst schreibt das Protokoll für Frauen nach wie vor eine „Mantilla“ vor.8 2.2. Kopftuch und Schleier in Europa Bereits seit dem Altertum ist das Kopftuch eine in vielen Kulturen verbreitete Kopfbedeckung. In Europa ist sie auf Frauen beschränkt: „Haubenartig gebunden, lose fallend oder anderweitig drapiert , gewinnt das Kopftuch ein vielfältiges Erscheinungsbild (zum Beispiel Gebende, Kruseler, Mantilla). Sein Gebrauch reicht vom verhüllenden Schleier bis zur modischen Kopfbedeckung, von der Schutzkleidung bis zum traditionellen Kopfputz zahlreicher Volkstrachten.“9 3 Vgl. Hilke Jabbarian: Der Schleier in der Religions- und Kulturgeschichte. Eine Untersuchung von seinem Ursprung bis zu den Anfängen der Islamischen Republik Iran. Berlin, 2009. S. 63. 4 Vgl. Gen. 24,64. Einheitsübersetzung. 5 Vgl. Jes. 3,19f. Einheitsübersetzung. 6 1 Kor 11,4ff. Einheitsübersetzung. 7 Der Codex Iuris Canonici von 1917 wurde 1983 von einer neuen Fassung abgelöst. Vgl. Gaspari, Pietro (Hg.), Codex Iuris Canonici Pii X Pontificis Maximi iussu digestus, Benedicti Papae XV auctoritate promulgatus, Rom 1917. Zum heute geltenden Kirchenrecht vgl: Steuer-Flieser, Dagmar, „Grundrechte“ im Codex Iuris Canonici von 1983 im Vergleich mit dem deutschen Grundgesetz. Eine exemplarische Untersuchung anhand der Wissenschaftsfreiheit (Nomos Universitätsschriften Recht Bd. 33), Baden-Baden 1999. 8 Nicht alle Frauen halten sich heute daran. Während Melania Trump im Mai 2017 eine Mantilla trug, zeigte sich Angela Merkel im Juni 2017 bei einer Papstaudienz ohne Kopfbedeckung. 9 https://deutscher-bundestag.brockhaus.de/enzyklopaedie/kopftuch Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 020/17 Seite 6 Der römische Historiker Tacitus schreibt im 1. Jahrhundert nach Christus über die germanischen Frauen, dass sie über das lange, gescheitelte Haar ein Kopftuch mit roter Borte oder Stickerei trugen . 10 Jungfrauen trugen das Haar offen, während Ehefrauen es mit einem Netz oder Tuch bedeckten . In der deutschen Sprache zeigt sich der Sinnzusammenhang von „Schleier“ und „Frau“ im Begriff des „Weibes“, das im ursprünglichen Sinn auch „umhüllte Braut“ bedeutete.11 Der Schleier der Braut hat sich im Brauchtum bis heute erhalten. In Europa sind Tücher als Kopfbedeckungen seit dem Mittelalter üblich. Bis zum 11. Jahrhundert tragen die Frauen Schleier, die wie ein Mantel vom Kopf über Schulter und Rücken fallen. Je nach ihrer Herkunft ist der Schleier aus Seide oder einfachem Stoff. 11. Jahrhundert kommen durchsichtige Schleier mit Bändern auf, die zum Beispiel als Turban gesteckt werden. Im 13. Jahrhundert gibt es bereits eine Vielzahl von Kopfbedeckungen: verheiratete Frauen tragen sogenannte Gebende, die Kopf, Hals und Schulter bedecken, und nur noch das Gesicht frei lassen . Dazu heißt es: „Die fraw treit darumb gebende auf irem Haupt, das man daran erkenne, das si dem man sol untertänig sein.“12 Im 14. Jahrhundert tragen die Frauen vielfach Hauben, im 15. Jahrhundert sieht man in den Städten spanische und französische Hüte und weitere viele modische Formen der Kopfbedeckung. So gibt es beispielsweise in Nürnberg vom 15. bis ins 18. Jahrhundert das sogenannte Regentuch, das nicht nur praktische, sondern auch modische Zwecke erfüllt. Im 17. und 18. Jahrhundert tragen die Frauen im bayerischen Raum eine Vielzahl von Kopfbedeckungen: Pelzkappen, Hauben mit und ohne (Spitzen-)Schleier. Während sie auf dem Land eher Kopftücher und (zunehmend weniger) Hauben tragen, gehen sie in der Stadt eher mit Hut auf die Straße.13 In manchen ländlichen Gebieten gibt es bis ins 19. Jahrhundert zu unterschiedlichen Anlässen verschiedene Kopftücher: So trägt man im Forchheimer Raum. „Hörnertücher“ und bestickte Kopftücher zu Festtagen. Im Alltag hingegen wird das. „Reinbindtüchle“ umgebunden. Daneben gibt es Kopftücher, die zu bestimmten Anlässen getragen werden, wie das „Erntetüchle“, das „Herbst- und Frühjahrstüchle“ und das „Trauertüchle“.14 10 Vgl. Meral Akkent/Gaby Franger: Das Kopftuch. Ein Stückchen Stoff in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt /Main, 1987. S. 85. 11 Vgl. Deutsches Universalwörterbuch; 8., überarbeitete und erweiterte Auflage, Bibliographisches Institut GmbH, Berlin, 2015. (abgerufen von Deutscher Bundestag Bibliothek am 9.11.2017) https://www.munzinger.de/search /document?index=duden-d0&id=D000005142&type=text/html&query.key=WyPWssdd&template=/publikationen /duden/document.jsp#D00000184088 12 Vgl. Meral Akkent/Gaby Franger: Das Kopftuch. Ein Stückchen Stoff in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt /Main, 1987. S 90 13 Ebd. S. 91 14 Ebd. S. 225f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 020/17 Seite 7 Im 20. Jahrhundert ändern sich die Tragegewohnheiten: Bis auf wenige elegante Ausnahmen wie die kopftuchtragenden Schauspielerinnen Grace Kelly oder Audrey Hepburn wird das Umbinden von Tüchern seit den 60er Jahren eher als rückständig oder ländlich betrachtet.15 Bis in den 70er und 80er Jahren tragen Frauen auf dem Dorf vielfach noch eine Kopfbedeckung. Heute gehören die wenigen Kopftuchträgerinnen meist der älteren Generation an. 3. Zur Kulturgeschichte des Kopftuchs in islamischen Traditionen 3.1. Koranische Quellen Im Koran gibt es vier Stellen, auf die meist hingewiesen wird, wenn es um das Tragen eines Kopftuches oder Schleiers geht. Der bekannteste lautet: „Und sag zu den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Blicke senken und ihre Scham hüten, ihren Schmuck nicht offen zeigen, außer dem, was (sonst) sichtbar ist. Und sie sollen ihre Kopftücher auf den Brustschlitz ihres Gewandes schlagen und ihren Schmuck nicht offen zeigen, außer ihren Ehegatten, ihren Vätern, den Vätern ihrer Ehegatten, ihren Söhnen, den Söhnen ihrer Ehegatten, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und den Söhnen ihrer Schwestern, ihren Frauen, denen, die ihre rechte Hand besitzt, den männlichen Gefolgsleuten, die keinen (Geschlechts)trieb (mehr) haben, den Kindern, die auf die Blöße der Frauen (noch) nicht aufmerksam geworden sind.“ 16 Ein weiterer Vers lautet: „O Prophet, sag deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen etwas von ihrem Überwurf über sich herunterziehen. Das ist eher geeignet , dass sie erkannt und so nicht belästigt werden.“17 Die Koranstelle soll zurückgehen auf einen überlieferten Vorfall, nach dem die Frauen des Propheten Mohammed, als sie für einen Toilettengang nachts das Haus verließen, überfallen wurden. Auch in den Hadithen, den überlieferten Aussagen des Propheten, gibt es mehrere Verweise auf das Schleiergebot. Kritiker des Verschleierungsgebots weisen stets darauf hin, dass sich alle vier Koranstellen auf konkrete historische Gegebenheiten beziehen und keinen universellen Charakter hätten.18 3.2. Kopftuch und Schleier im nahöstlichen Raum Der Schleier gehört in vielen Regionen der Arabischen Halbinsel bereits vor der Offenbarung des Korans im 7. Jahrhundert zur Bekleidung der Frau.19 Zu Zeiten Mohammeds tritt er in „eher unscheinbarer Form“ 20 auf, während er erst rund hundert Jahre später zum festen Bestandteil der 15 Vgl. Ingrid Loschek: Accessoires. Symbolik und Geschichte, München 1993. S. 138f. 16 Sure 24 Vers 31. Die anderen Stellen sind Sure 33 Vers 53 und Vers 59, sowie Sure 24 Vers 31. Übersetzung: http://www.islam.de/13827.php?sura=24 17 Sure 33 Vers 59. 18 Vgl. Hilke Jabbarian: Der Schleier in der Religions- und Kulturgeschichte. Eine Untersuchung von seinem Ursprung bis zu den Anfängen der Islamischen Republik, Berlin, 2009. S. 66ff. 19 Susanne Enderwitz: Der Schleier im Islam. In: Feministische Studien. Heft 2, 1983, S. 96. 20 Ebd. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 020/17 Seite 8 weiblichen Kleidung wird. Dabei tritt er in unterschiedlichen Formen auf: Während der beduinische Kopfschleier (quina) eher als Schmuck getragen wird, erfüllt der so genannte Jilbab als Hemd, Schal oder Mantel auch praktische Zwecke. Als eine Art Allzwecktuch fungiert der Khimar, ein Kinn und Brust bedeckender Schal. In der Hochzeit der Abbasiden im frühen 9. Jahrhundert ist der Niquab, der auch das Gesicht bedeckt, ein „unentbehrliches Attribut beim Verlassen des Hauses“21 geworden. Der Schleier gilt zum einen als Kennzeichen der Sittsamkeit der Frau, da sie sich den Blicken der Männer entzieht. Zum anderen unterscheidet sich die verschleierte Frau von den Sklavinnen, die keine Kopfbedeckung tragen dürfen.22 Der Schleier dient jedoch in erster Linie als Instrument zur Trennung der Geschlechter, die mit der Ausbreitung des Islam in den Gebieten rund um die Arabische Halbinsel auf mehr oder weniger bereits bestehende patriarchale gesellschaftliche Verhältnisse stößt. In Persien entwickelt sich mit dem System der „Purdah“ (dt. Vorhang, Schleier) gar ein umfassendes gesellschaftliches System der Segregation, das die Isolierung der Frauen von den Männern versinnbildlicht und Auswirkungen auf das tägliche Leben der Frauen sowie auf ihre rechtlich-soziale Stellung hat.23 Am Ende des 19. Jahrhunderts äußern in Ägypten Gelehrte erstmals Zweifel an der Rechtmäßigkeit des jahrhundertelang selbstverständlich befolgten Schleiergebots. So stellt beispielsweise der ägyptische Soziologe Mansour Fahmi die These auf, dass das Schleiergebot lediglich an die Frauen des Propheten gerichtet gewesen und keineswegs ein allgemeines Gebot sei.24 Anfang der zwanziger Jahres des 20. Jahrhunderts wirft Ägyptens führende Frauenrechtlerin Hoda Scharawi bei ihrer Rückkehr von einem europäischen Frauenkongress ihren Schleier als Symbol einer jahrhundertelangen Unterdrückung ins Meer.25 Es entwickelt sich eine Debatte zwischen einer Gruppe von aus der Oberschicht stammenden Frauenrechtlerinnen, die 1923 den Ägyptischen Frauenverband gründen, mit muslimischen Gelehrten der Kairoer Azhar-Universität . Den Frauen wird vorgeworfen, Handlanger christlicher Missionare und Islamfeinde zu sein. 21 Ebd. S.97. 22 Vgl. Hilke Jabbarian: Der Schleier in der Religions- und Kulturgeschichte. Eine Untersuchung von seinem Ursprung bis zu den Anfängen der Islamischen Republik, Berlin, 2009. S. 63. 23 Die Auswirkungen dieser umfassenden Form der Segregation prägen nach Auffassung von Erika Knabe auch die mentale Verfasstheit der Frauen: „Purdah geht ins Psychische hinein, prägt Selbstwertgefühl, Willensentwicklung und begrenzt den Lebenshorizont, Purdah prägt den Gefühlsausdruck in Mimik und Gesten, Purdah ist die verhüllende unkenntlichmachende Tracht der Frauen, Purdah diktiert die Architektur der Häuser, und Purdah ist so handfest wie die dicken übermannshohen Mauern, die jedes Haus und Grundstück vor Blicken von außen abschirmen. Unter Purdah kann ein Mann seiner Frau verbieten sein Haus überhaupt – selbst zu einem Besuch ihrer Eltern – zu verlassen. Purdah umgrenzt die weibliche Subkultur.“ Vgl. Erika Knabe: Frauenemanzipation in Afghanistan: ein empirischer Beitrag zur Untersuchung von sozio-kulturellem Wandel, Meisenheim 1977, S.136. Zitiert nach Hilke Jabbarian: Der Schleier in der Religions- und Kulturgeschichte, S. 78. 24 Vgl. Susanne Enderwitz: Der Schleier im Islam. In: Feministische Studien. Heft 2, 1983, S. 96. 25 Ebd. S.107. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 020/17 Seite 9 1936 erscheint eine eher zurückhaltende Fatwa zur Schleierfrage: „Danach wurde es stiller um den Schleier, und das Problem schien sich mit der Säkularisierung von selbst zu lösen.“ Mit dem Aufkommen des laizistischen Kemalismus in der Türkei und der Öffnung nach Westen in Persien unter dem Schah kam es im Verhältnis der Geschlechter vielfach zu einer „von oben“ initiierten gesellschaftlichen Veränderung, die zu einer größeren Gleichstellung führen sollte. Die Frage der Verschleierung wurde hierbei zu einem wichtigen Kennzeichen. Dagegen entwickelte sich Widerstand. Die staatlich initiierte „Entschleierung“ wurde teils als Verletzung der persönlichen Integrität und Ausdruck kolonialer Machtausübung verstanden.26 Als es 1979 im Iran zu einem Aufstand gegen den Schah kam, trugen einige der gut ausgebildeten und aktiv an den politischen Veränderungen beteiligten Frauen demonstrativ ihren traditionellen schwarzen Tschador, den sie als „Widerstandsobjekt“ gegen die westliche Dominanz uminterpretierten .27: „So wurde die vom Schah verordnete westliche Kleidung von Teilen der Bevölkerung abgelehnt, als Ausdruck der Zerstörung der eigenen kulturellen Identität, die sich zugunsten einer fremdbestimmten auflösen sollte.“28 Die Hoffnung der Frauen auf gleichberechtigte Beteiligung an der Gesellschaft erfüllte sich nach der iranischen Revolution indes nicht. Heute ist die Lage der iranischen Frauen weitgehend von rechtlicher und gesellschaftlicher Diskriminierung geprägt.29 In Ländern wie Saudi-Arabien, Afghanistan oder Pakistan herrschen heute teils rigide Verschleierungsregeln und-gesetze, die auf der Scharia gründen. So ist die Verschleierung in Saudi-Arabien grundsätzlich vorgeschrieben, da es in Artikel 23 der Verfassung des Landes heißt: Der Staat schützt den islamischen Glauben, wendet die Scharia an, gebietet, was recht ist und verbietet, was verwerflich ist.“30 Die religiösen Gebote der Scharia erlangen so allgemeine Gesetzeskraft. Für Aufsehen sorgte 2002 der Fall von 15 Mädchen in Mekka, die von der Religionspolizei daran gehindert wurden, aus einer brennenden Schule zu entkommen, da die Feuerwehrleute sie unverschleiert hätten sehen können.31 26 Vgl. Vgl. Meral Akkent/Gaby Franger: Das Kopftuch. Ein Stückchen Stoff in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt /Main, 1987. S 179ff. 27 Hilke Jabbarian: Der Schleier in der Religions- und Kulturgeschichte. Eine Untersuchung von seinem Ursprung bis zu den Anfängen der Islamischen Republik, Berlin, 2009, S.90ff. 28 Ebd. S. 89f. 29 Ebd. S.92f. 30 Helen Chaplin: The Legal System. Saudi Arabia: A Country Study. United States Library of Congress, 1992. Vgl. http://countrystudies.us/saudi-arabia/51.htm 31 https://www.berliner-zeitung.de/warum-starben-15-maedchen-in-einer-schule-bei-mekka--das-feuer--der-todund -die-religionspolizei-16458756 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 020/17 Seite 10 4. Die Diskussion um das Kopftuch heute Die Diskussion um das Kopftuch muslimischer Frauen hält an. Kritische Stimmen verweisen darauf , dass das Kopftuch mit religiöser Ehrfurcht nichts zu tun habe, sondern mit der muslimischen Schamkultur.32 In Deutschland gebe es jedoch Gesetze, die Frauen vor Belästigung durch Männer schützten. Die Regelungen der Scharia seien in Deutschland auf die Religionsausübung beschränkt und stünden in Fragen der Gleichberechtigung von Mann und Frau im Gegensatz zum Grundgesetz.33 In Deutschland sollten Frauen gleichberechtigt in der Öffentlichkeit auftreten können . Wenn muslimische Frauen das Kopftuch freiwillig trügen, sei dies zwar ihr Recht. Aber sie müssten sich darüber im Klaren sein, dass sie damit die Botschaft sendeten, sich den Männern unterzuordnen, aus Furcht, sonst belästigt zu werden. Dies sei eine politische Botschaft an die deutsche Gesellschaft. Auf der anderen Seite gibt es Stimmen, die bestreiten, dass das Kopftuch ein Ausdruck von Unterwürfigkeit oder Minderwertigkeit sei.34 Vielmehr gehöre es zu den muslimischen Bekleidungsvorschriften . So verlange beispielsweise die hanafitische Rechtsschule die Bedeckung des Kopfes . Dies sei genauso Teil der Religion wie die täglichen fünf Gebete, die Pilgerfahrt, die Armensteuer und das Fasten im Ramadan. In einem Land, in dem per Grundgesetz die religiöse Freiheit jedes Menschen festgelegt sei, sollte es ausreichen, wenn man sage, dies sei die Glaubenslehre und daran wolle man sich halten. Es stehe niemandem zu, dieses Recht abzuerkennen. Das Jüdische Museum untersuchte 2017 in der Ausstellung „Cherchez la femme. Perücke, Burka, Ordenstracht“ unter anderem die unterschiedliche Bedeutungsebenen, mit denen Muslima in Europa heute das Tragen eines Kopftuches verbinden. Sie reichen von der völligen Ablehnung des Kopftuches als Instrument der Unterdrückung der Frau bis zur Stilisierung des Kopftuches als Ausdruck von Emanzipation.35 5. Literatur Akkent, Meral / Franger, Gaby: Das Kopftuch. Ein Stückchen Stoff in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt/Main, 1987. Amman, Jost: Frauentrachtenbuch. Handkolorierter Faksimiledruck der deutschen Erstausgabe von 1586. Frank-furt/Main 1976 32 Für die Contra-Positionen vgl. exemplarisch die Aussagen von Necla Kelek, Mitglied der Deutschen Islamkonferenz : http://www.deutsche-islam-konferenz.de/DIK/DE/Magazin/SchwerpunktKopftuch/Kelek/kelek-node.html 33 Vgl. Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste WD 3 - 3000 - 406/08 „Scharia und Grundrechte von Frauen in der Bundesrepublik“ vom 24.11.2008. 34 Für die Pro-Positionen vgl. exemplarisch die Aussagen von Erika Theißen, ebenfalls Mitglied der Deutschen Islamkonferenz: http://www.deutsche-islam-konferenz.de/DIK/DE/Magazin/SchwerpunktKopftuch/Theissen /theissen-node.html 35 Vgl. https://www.jmberlin.de/jmb-journal-16-cherchez-la-femme Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 020/17 Seite 11 Berghahn, Sabine / Rostock, Petra: Der Stoff aus dem Konflikte sind Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bielefeld 2009 Enderwitz, Susanne: Der Schleier im Islam. In: Feministische Studien. Heft 2, 1983, S. 85-113. Falke, Jakob: Zur Costumgeschichte des Mittelalters. Die weibliche Kopftracht. In: Mittheilungen der k.k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale, Nr. 1, Wien, 1861. Höglinger, Monika: Verschleierte Lebenswelten. Zur Bedeutung des Kopftuchs für muslimische Frauen. Ethnologische Studie. Wien 2002. Jabbarian, Hilke: Der Schleier in der Religions- und Kulturgeschichte. Eine Untersuchung von seinem Ursprung bis zu den Anfängen der Islamischen Republik, Berlin, 2009. Jeremias, Alfred: Der Schleier von Sumer bis heute. In: Der Alte Orient, Bd. 31, Heft 1/2, Leipzig, 1931. Kühn, Peter: Das Kopftuch im Diskurs der Kulturen, Nordhausen 2008. Lipp, Franz Carl: Goldhaube und Kopftuch. Zur Geschichte und Volkskunde der österreichischen , vornehmlich Linzer Goldhauben und oberösterreichischen Kopftücher, Linz, 1980. Loschek, Ingrid: Accessoires. Symbolik und Geschichte, München 1993 Lugn, Pehr: Die magische Bedeutung der weiblichen Kopfbedeckung im schwedischen Volksglauben . In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, 1920, S. 81-105. Marjanovic, Senada: Burka und Jeans. Einblicke in eine west-östliche Parallelwelt. Wien 2007. Nixdorf, Heide: Europäische Volkstrachten. Berlin 1977. 6. Pressedokumentation (Anhang) ***