© 2020 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 - 019/20 Informationen zur Enteignung und Restitution von Stiftungen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 - 019/20 Seite 2 Informationen zur Enteignung und Restitution von Stiftungen Aktenzeichen: WD 1 - 3000 - 019/20 Abschluss der Arbeit: 15. Juni 2020 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 - 019/20 Seite 3 1. Einleitung Stiftungen stellen in Deutschland eine traditionsreiche Organisationsform dar, deren Ursprung bis in das Mittelalter zurückreicht. Schätzungen zufolge existierten um 1900 über 100.000 Stiftungen , deren Zahl sich sowohl durch wirtschaftliche Entwicklungen als auch durch staatliche Eingriffe massiv reduzierte: „Durch die beiden Weltkriege und die anschließenden Inflationszeiten , die NS-Diktatur sowie in der DDR wurden allerdings viele Stiftungsvermögen aufgezehrt, die betroffenen Stiftungen zusammengelegt, aufgelöst oder verstaatlicht und so die Stiftungen in ihrer Gesamtheit zur Mitte des Jahrhunderts dramatisch reduziert.“1 Nach dem Ende des Nationalsozialismus sowie der DDR setzten jeweils Bestrebungen ein, die auf eine Wiederherstellung früherer Stiftungen abzielten. In diesem Zusammenhang hing es oft vom Einzelfall ab, ob eine Reaktivierung aufgelöster Stiftungen möglich war oder finanzielle Ansprüche durch Entschädigungszahlungen abgegolten wurden.2 2. Stiftungswesen im Nationalsozialismus Obwohl der Kernbereich des Stiftungsrechts, die Regelungen der §§ 80 bis 88 BGB von direkten gesetzgeberischen Maßnahmen verschont blieb, griffen die nationalsozialistischen Behörden auf vielfältige Weise in das Stiftungswesen ein.3 So schuf u.a. eine rassistisch-völkische Auslegung des Gemeinwohlbegriffes in § 87 BGB eine Handhabe, um insbesondere die sogenannten „jüdischen und paritätischen Stiftungen“ zu beseitigen.4 Die rechtliche Grundlage dafür bildete § 66 der 1935 erlassenen Deutschen Gemeindeordnung, der festlegte, dass Stiftungen, die ihren Stiftungszweck nicht mehr erfüllen könnten oder die eine Gefährdung des Gemeinwohls darstellten, aufgelöst werden sollten. Daraus erwuchsen zahlreiche beschränkende und konfiskatorische Einzelmaßnahmen , die von Umbenennungen und Zusammenlegungen über den Ausschluss jüdischer Gremienmitglieder und Destinatäre bis zur förmlichen Auflösung der Stiftungen reichten. Durch Erlass des Reichsministers des Innern über jüdische und paritätische Stiftungen vom 8. Mai 1939 wurde schließlich eine umfassende Regelung getroffen, die die Verfahrensweise im Detail festlegte. Der Erlass machte das Weiterbestehen der Stiftungen von der Vereinbarkeit „mit 1 Christoph Mecking: Facts and Figures: Rechtstatsachen zu Stiftern und Stiftungen in Deutschland. In: Olaf Werner u.a. (Hg.): Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft. 2. Aufl., Berlin 2019, S. 130-166, hier: 137. 2 Vgl. dazu auch die Auskunft des Bundesministeriums der Finanzen, Referat V B 1 an WD 1 vom 27. Mai 2020 im Anhang. 3 Peter Rawert, Andrea Ajzensztejn: Stiftungsrecht im Nationalsozialismus. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der jüdischen und paritätischen Stiftungen. In: Axel Fr. v. Campenhausen u. a. (Hg.): Stiftungen in Europa, Düsseldorf 1998, S. 157-181. 4 Rupert Graf Strachwitz: Die Stiftung – ein Paradox? Zur Legitimität von Stiftungen in einer politischen Ordnung . Stuttgart 2010, S. 143: „Darunter verstand man alle Stiftungen, die entweder von Juden errichtet worden waren, von Juden ganz oder teilweise verwaltet wurden oder deren Zielsetzungen sich ganz oder teilweise Juden zuwandten.“ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 - 019/20 Seite 4 den Grundsätzen der Judenpolitik“ abhängig, d.h. ob die noch bestehende Stiftung „der Förderung der jüdischen Auswanderung oder der Fürsorge“ diente.5 Die Betätigung „mildtätiger jüdischer Stiftungen“ wurde bereits zuvor durch Versagung von Steuervergünstigungen stark eingeschränkt .6 Das Vermögen der meisten noch bestehenden jüdischen Stiftungen, vor allem auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege, wurde spätestens 1939/40 in die Reichsvereinigung der Juden eingegliedert .7 Entsprechend dem Gesetz Nr. 1 der Militärregierung, das „die Auslegung oder Anwendung deutschen Rechtes nach nationalsozialistischen Lehren“ untersagte, wurden die Namens- und Satzungsänderungen der „arisierten“ ursprünglich paritätischen Stiftungen nach dem Ende des NS- Regimes vielfach revidiert.8 Im Kontext der Restitution in Westdeutschland gibt das BMF folgende Auskunft: „In den Bereichen der westalliierten Rückerstattungsregelungen wurden überwiegend die jüdischen Nachfolgeorganisationen als Rechtsnachfolgerinnen der in die Reichsvereinigung der Juden eingegliederten jüdischen Organisationen festgestellt.“9 Deren Ansprüche auf Rückerstattung wurden u.a. im Rahmen von Globalvergleichen mit den Bundesländern reguliert.10 Zu den späteren Rückerstattungen jüdischen Vermögens in Ostdeutschland gibt das BMF folgende Auskunft: „Für das im Beitrittsgebiet, d. h. im Geltungsbereich des Vermögensgesetzes gelegene , NS-verfolgungsbedingt entzogene bewegliche Vermögen der jüdischen Gemeinden, Religionsgemeinschaften , Kultusvereinigungen, der jüdischen Verbände und Vereine, der jüdischen Stiftungen und sonstigen Organisationen und Vereinigungen wurde der Conference on Jewish Material Claims against Germany mit dem Globalentschädigungsvergleich vom 20. Oktober 2009 der Betrag von 16.769.250,00 € (einschl. Zinsen) zugesprochen.“11 5 Erlass des Reichsministers des Innern, 8.5.1939 (VI c 8152/39 – 7105 Allg.), abgedr. bei Andreas Ludwig: „… daß dagegen die Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse vom Genuß der Stiftungsmittel ausschließt.“ Dokumente der Zerstörung. In: Ders./Kurt Schilde (Hg.): Jüdische Wohlfahrtsstiftungen. Initiativen jüdischer Stifterinnen und Stifter zwischen Wohltätigkeit und sozialer Reform. Frankfurt a.M. 2010, S. 253-266, hier: 256-259. 6 Vgl. Erlass des RMJ über Stiftungen vom 11. Juni 1937, Deutsche Justiz, S. 957. 7 Vgl. 10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 4. Juli 1939, RGBl. I, Seite 1097. 8 Aufgrund der Zuständigkeit der Länder bzw. Kommunen liegen hierzu keine umfassenden Zahlen vor. Eine Studie zu Hamburg kommt zu dem Ergebnis, dass der „größte Teil der ‚arisierten‘ Stiftungen […] innerhalb von drei Jahren wieder ihre alten Satzungen und Namen“ hatte. Britta D. Siefken: Jüdische und paritätische Stiftungen im nationalsozialistischen Hamburg. Enteignung und Restitution. Norderstedt 2009, S. 254. 9 Vgl. die Auskunft des BMF (wie Anm. 2); Ernest H. Weismann: Die Nachfolge-Organisationen. In: Friedrich Biella u.a. (Hg.): Das Bundesrückerstattungsgesetz. München 1981, S. 725-799. 10 Vgl. u.a. Constantin Goschler: Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus (1945-1954). München 1992. 11 Vgl. die Auskunft des BMF (wie Anm. 2); Jan-Philipp Spannuth: Rückerstattung Ost. Der Umgang der DDR mit dem „arisierten“ Eigentum der Juden und die Rückerstattung im wiedervereinigten Deutschland. Essen 2007. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 - 019/20 Seite 5 3. Stiftungswesen in der DDR Stiftungen als bürgerliches Rechtsinstitut widersprachen der sozialistischen Ideologie und Gesellschaftsordnung , die größere Vermögensmassen außerhalb des Staates und der sogenannten volkseigenen Betriebe nicht vorsah. Vor diesem Hintergrund wurden viele Stiftungen enteignet oder zu „Volksstiftungen“ zusammengelegt.12 Bereits die Sowjetische Militäradministration begann im Kontext sowohl der Denazifizierung als auch der Bodenreform damit, zahlreiche Stiftungen zu enteignen. Nach der Gründung der DDR 1949 gingen zunächst die Länder gegen die Stiftungen vor. Ab 1952 folgten darauf zentrale Maßnahmen, die schließlich zu zahlreichen Auflösungen führten.13 Lediglich kleinere kirchliche Stiftungen blieben weitgehend unbehelligt. Olaf Werner fasst den rechtlichen Zusammenhang von kontinuierlichen Enteignungen und darauffolgenden Auflösungen folgendermaßen zusammen: „Im Jahr 1953 fand eine allgemeine Einziehung des Vermögens der Stiftungen statt. Ein Vollzug bzw. eine Sanktionierung geschah letztlich durch die Aufhebung des BGB-Stiftungsrechts [1976]. Da die Stiftungen kein Vermögen mehr hatten, waren sie letztlich nicht mehr existent.“14 Aus Sicht des Bundesverbandes deutscher Stiftungen bot die ehemals reiche Stiftungslandschaft Ostdeutschlands 1990 „ein Bild der Zertrümmerung“.15 Ein Projekt des Bundesverbandes identifizierte 2003 etwa 5.300 Altstiftungen.16 Da Artikel 19 des Einigungsvertrages vorsieht, dass bestandskräftige Verwaltungsakte der DDR rechtlich geschützt werden, ist lediglich ein Teil dieser Stiftungen reaktivierungsfähig.17 Nur falls die Auflösung nicht in Einklang mit den seinerzeit geltenden Gesetzen erfolgte und eine Stiftung etwa durch eine unzuständige Behörde aufgelöst wurde, ist diese als bestehend anzusehen und reaktivierungsfähig.18 In diesem Fall sollte darüber hinaus zur Erfüllung des Stiftungszweckes ausreichendes Vermögen vorhanden sein. 12 Vgl. Heiko Denecke: Die Reaktivierung von Alt-Stiftungen. Berlin 2005, S. 10. 13 Vgl. zur Anordnung über die Erfassung von Stiftungen und stiftungsähnlichen Vermögensmassen vom 5. November 1952 und den darauffolgenden Maßnahmen Erco von Dietze: Stiftungen im politischen und gesellschaftlichen Wandel. In: Ders./Claudia Hunsdieck-Nieland: Stiftungen in der Mitte Deutschlands. Bonn 1999, S. 28f. 14 Olaf Werner: Altstiftungen in der DDR. Enteignung – Aufhebung – Fortbestand. In: Ders. u.a. (Hg.): Brücken für die Rechtsvergleichung. Tübingen 1998, S. 117-132, hier: 124. 15 Denecke: Reaktivierung (wie Anm. 11), S. 10. 16 Vgl. ebd., S. 11; Mecking: Facts and Figures (wie Anm. 1), S. 143. 17 Markus Kapischke: Kirchliche Stiftungen in der ehemaligen DDR. In: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 45 (2000), S. 473-504, hier: 495f. 18 Eine weitere Möglichkeit ist es u.a., dass die Stiftung dem Auflösungsbeschluss zuvorkam und ihren Sitz rechtzeitig in die Bundesrepublik verlegte, falls sie dort über Vermögen verfügte. Vgl. dazu Werner: Altstiftungen (wie Anm. 13), S. 132. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 - 019/20 Seite 6 In Sachsen-Anhalt und Thüringen sind die Stiftungsbehörden gesetzlich ermächtigt, selbständig Maßnahmen zur Wiederaufnahme der Tätigkeit nicht aktiver Stiftungen des bürgerlichen Rechts zu ergreifen.19 *** 19 ThürStiftG § 17 Abs. 2; StiftG LSA § 15 Abs. 3. In Sachsen-Anhalt konnten bis 2018 etwa 100 Altstiftungen reaktiviert werden, vgl. Landtag Sachsen-Anhalt, Drucksache 7/3502 „Verwaiste Stiftungen in Sachsen-Anhalt“, online verfügbar unter: https://padoka.landtag.sachsen-anhalt.de/files/drs/wp7/drs/d3502gak.pdf (abgerufen am 15. Juni 2020).