© 2021 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 - 018/21 Einzelfragen zum Oberbefehlshaber der kaiserlichen „Schutztruppe“ in „Deutsch-Südwestafrika“ Lothar von Trotha Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 018/21 Seite 2 Einzelfragen zum Oberbefehlshaber der kaiserlichen „Schutztruppe“ in „Deutsch- Südwestafrika“ Lothar von Trotha Aktenzeichen: WD 1 - 3000 - 018/21 Abschluss der Arbeit: 20. Juli 2021 (zugleich Abrufdatum der zitierten Internetadressen) Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 018/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Die Berufung Lothar von Trothas zum Oberbefehlshaber der kaiserlichen „Schutztruppe“ in „Deutsch- Südwestafrika“ und der Erlass seiner „Proklamation an das Volk der Herero“ 4 3. Die Bewertung von Lothar von Trothas Proklamation an die Herero in der Literatur 5 4. Die Reaktionen des Chefs des Generalstabes Alfred von Schlieffen und des Reichskanzlers Bernhard von Bülow auf die Proklamation Lothar von Trothas 7 5. Musste sich Lothar von Trotha für sein Vorgehen gegen die Herero einer Anklage stellen? 12 6. Literatur 13 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 018/21 Seite 4 1. Vorbemerkung Diese Ausarbeitung befasst sich mit dem Oberbefehlshaber der kaiserlichen „Schutztruppe“ in „Deutsch-Südwestafrika“ Lothar von Trotha, seiner „Proklamation an das Volk der Herero“ vom 2. Oktober 1904, den Reaktionen von Reichskanzler Bernhard von Bülow und vom Chef des Generalstabes Alfred von Schlieffen auf dessen Aufruf in Berlin sowie mit der Frage, ob sich Lothar von Trotha wegen seiner Vorgehensweise gegen die Herero einer Anklage vor Gericht stellen musste. 2. Die Berufung Lothar von Trothas zum Oberbefehlshaber der kaiserlichen „Schutztruppe“ in „Deutsch-Südwestafrika“ und der Erlass seiner „Proklamation an das Volk der Herero“ Lothar von Trotha wurde am 3. Mai 1904 – gegen den Widerstand des Reichskanzlers Bernhard von Bülow und des Leiters der Kolonialabteilung Oscar Stübel – zum Oberbefehlshaber der kaiserlichen „Schutztruppe“ in „Deutsch-Südwestafrika“ ernannt. Er war dem Kaiser direkt unterstellt und erhielt seine Weisungen durch den Chef des Generalstabes Alfred von Schlieffen.1 Kaiser Wilhelm II. hatte bereits Anfang Februar 1904 die militärische Gesamtleitung in „Deutsch- Südwestafrika“ an von Schlieffen übertragen.2 Diese Intervention von höchster Stelle zeigte, dass es „in Südwestafrika längst nicht mehr um die Niederwerfung eines ‚Eingeborenenaufstandes‘, sondern um die Führung eines veritablen Krieges“ ging.3 Grund für die Berufung von Trothas war die Unzufriedenheit mit der aus Sicht des Generalstabes als zu konziliant angesehenen Kriegsführung des amtierenden Gouverneurs und Kommandierenden der „Schutztruppe“ Theodor von Leutwein und die Ungeduld darüber, dass die Herero, die sich im Januar 1904 gegen die Kolonialherren erhoben hatten, trotz der andauernden Truppen- und Materialtransporte aus Deutschland noch immer nicht militärisch besiegt waren.4 Generalleutnant von Trotha, der bereits am Boxerkrieg 1900/01 in China teilgenommen hatte und in Ostafrika stationiert gewesen war, eilte der Ruf eines Militärs voraus, der auch vor radikalen Lösungen nicht zurückschreckte.5 Noch an Bord des Schiffes, das ihn nach Südwestafrika brachte, erklärte von Trotha den Kriegszustand für das gesamte „Schutzgebiet“, wodurch die oberste vollziehende Gewalt gemäß Artikel 68 der Reichsverfassung auf ihn übertragen wurde: „Damit fiel ihm die Entscheidungsgewalt nicht nur 1 Daniel Karch: Entgrenzte Gewalt in der kolonialen Peripherie. Die Kolonialkriege in „Deutsch-Südwestafrika und die „Sioux Wars“ in den nordamerikanischen Plains, Stuttgart 2019, S. 135 2 Damit hatte Kaiser Wilhelm II. die Leitung zugleich der für das Schutzgebiet zuständigen Kolonialabteilung entzogen , die dem Auswärtigen Amt zwar zugeordnet, aber dem Reichskanzler direkt unterstellt war. (Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts , Berlin 2010, S. 83; Jonas Kreienbaum: „Ein trauriges Fiasko“. Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika, 1900-1908, Hamburg 2015, S. 63) 3 Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen, a. a. O., S. 83 4 Ebenda, S. 83 5 Ebenda, S. 89; in seinem Schreiben vom 4.11.1904 betonte von Trotha gegenüber von Leutwein, er habe vom Kaiser bei seiner Ernennung zum Kommandeur keine Instruktionen oder Direktiven erhalten. Der Kaiser habe ihm nur gesagt, er erwarte, dass er „mit allen Mitteln den Aufstand“ niederschlage. (Zitiert nach: Horst Drechsler : Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus (1884–1915), Berlin (O) 1966, S. 180) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 018/21 Seite 5 in militärischen, sondern auch in politischen Belangen zu. Leutwein war, obwohl er noch bis Ende November 1904 im Amt des Gouverneurs verblieb, faktisch entmachtet und nur noch mit Verwaltungsaufgaben betraut. Bis zu Trothas Ablösung im November 1905 stand Deutsch-Südwestafrika damit unter einer Militärdiktatur, nominell geführt von Generalstabschef Schlieffen in Berlin, faktisch aber vom Oberbefehlshaber in der Kolonie, Lothar von Trotha.“6 Von Trothas Plan, die Herero in einer Entscheidungsschlacht am Waterberg einzukesseln und vernichtend zu schlagen, scheiterte im August 1904. Zwar gelang es den deutschen Truppen, die Herero zu schlagen, doch konnten diese aus dem Kessel ausbrechen und in die Omaheke-Wüste fliehen. Von Trotha ordnete die Verfolgung der Herero an, die jedoch Ende September 1904 aufgrund der vollständigen Erschöpfung der deutschen Truppen abgebrochen wurde. Daraufhin ließ von Trotha die Omaheke von seinen Truppen abriegeln und erließ am 2. Oktober 1904 die „Proklamation an das Volk der Herero“, die alle Herero – Männer, Frauen und Kinder – zum Verlassen der deutschen Kolonie aufforderte.7 Wer dem nicht Folge leisten wollte, drohte er in seinem Aufruf unmissverständlich Gewalt an: „Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen.“8 3. Die Bewertung von Lothar von Trothas Proklamation an die Herero in der Literatur In den Gesamtdarstellungen des Kolonialkrieges in „Deutsch-Südwestafrika“ nimmt die Bewertung von Lothar von Trothas „Proklamation an das Volk der Herero“ vom 2. Oktober 1904 eine zentrale Rolle ein.9 Während von Trothas Aufruf in einem Teil der wissenschaftlichen Literatur 6 Jonas Kreienbaum (2015): „Ein trauriges Fiasko“, a. a. O., S. 63 7 Ebenda, S. 64-69; Daniel Karch: Entgrenzte Gewalt in der kolonialen Peripherie, a. a. O., S. 145 8 Zitiert nach: Günter Spraul: Der „Völkermord” an den Herero. Untersuchungen zu einer neuen Kontinuitätsthese . In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 12 (1988), S. 713-739, hier: S. 728; in einem erklärenden Tagesbefehl wurden die deutschen Soldaten angewiesen, über die Köpfe von Frauen und Kinder hinwegzuschießen , um sie zum Laufen zu bringen. Laut Susanne Kuß bedeutete „das Zurücktreiben der Herero in die Omaheke nichts anderes als deren sicheren Tod.“ (Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen , a. a. O., S. 94; Daniel Karch: Entgrenzte Gewalt in der kolonialen Peripherie, a. a. O., S. 145) 9 Zu Lothar von Trotha liegt bisher keine umfassende wissenschaftliche Biografie vor. Ihr Fehlen stellt gerade im Zusammenhang mit der von ihm als Oberbefehlshaber der kaiserlichen „Schutztruppe“ in „Deutsch-Südwestafrika “ in den Jahren 1904 und 1905 befehligten Niederschlagung der Aufstände der Herero und Nama ein „schmerzliches Desiderat“ dar, betont Daniel Karch in seiner Studie „Entgrenzte Gewalt in der kolonialen Peripherie “, a. a. O., S. 134, Anm. 254. Es liegt lediglich ein biografischer Aufsatz vor: Christoph Kamissek: „Ich kenne genug Stämme in Afrika“. Lothar von Trotha – eine imperiale Biographie im Offizierskorps des deutschen Kaiserreiches. In: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), S. 67-93. Darüber hinaus gibt es einige knappe Lexika-Artikel: Artikel „Trotha, Lothar von“. In: Deutsches Kolonial-Lexikon, hrsg. von Heinrich Schnee, Leipzig 1920, Bd. 3, S. 543f., abrufbar unter http://www.ub.bildarchiv-dkg.uni-frankfurt.de/Bildprojekt/Lexikon /Standardframeseite.php; Wikipedia-Artikel „Lothar von Trotha“, abrufbar unter https://de.wikipedia .org/wiki/Lothar_von_Trotha; Jürgen Zimmerer: „Trotha, Adrian Dietrich Lothar von“. In: Neue Deutsche Biographie 26 (2016), S. 455-456, abrufbar unter https://www.deutsche-biographie.de/pnd117636908.html Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 018/21 Seite 6 als „Schießbefehl“10, „Vernichtungsproklamation“11 bzw. „Genozid-Befehl“12 bezeichnet wird, in dem einige Forscher den Auftakt zum systematischen Völkermord an den Herero und Nama sehen 13 sowie Parallelen und Kontinuitäten zu den nationalsozialistischen Verbrechen hervorheben ,14 werten andere Wissenschaftler den Operationsbefehl als eine „Art ‚psychologischer Kriegsführung ‘“15 oder als Ausdruck einer zeitgenössischen Rhetorik verbunden mit dem Hinweis, dass mit dem Quellenbegriff „vernichten“ nicht die physische Vernichtung des gesamten Volkes, sondern – formuliert „in der europäischen Generalstabssprache jener Zeit“ – „die Brechung der militärischen Widerstandkraft der Herero“ gemeint gewesen sei.16 Andere Forscher werten die Proklamation auch als „Eingeständnis des Scheiterns einer militärischen Mission, das Trotha durch eine mörderische Drohung“ zu kaschieren versucht habe17 oder werfen die Frage auf, ob und „wie die ‚Proklamation‘ bis zu ihrer Aufhebung von den deutschen Soldaten in die Praxis umgesetzt worden ist.“18 Teilweise wird von Trothas Proklamation auch in größere gesellschaftliche Zusammenhänge eingeordnet . Laut Isabel Hull hatte der deutsche „Vergeltungsfeldzug“ gegen die Herero seine Ursprünge weniger in rassistischen Mordplanungen als in militärischen Maximen des preußischen Generalstabs, deren Übertragung auf den kolonialen Kontext in den schrankenlosen Massenmord 10 Bartholomäus Grill: Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte , München 2019, S. 170 11 Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen, a. a. O., S. 93 12 Dominik Schaller: „Ich glaube, dass die Nation als solches vernichtet werden muss“: Kolonialkrieg und Völkermord in „Deutsch-Südwestafrika“. In: Journal of Genocide Reserach, Vol. 4 (2004), S. 395-430, hier: S. 398; Horst Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, 7. Aktualisierte und erweiterte Auflage, Paderborn 2018, S. 133 13 Horst Drechsler: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft, a. a. O., S. 184ff. 14 Jürgen Zimmerer: Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika. Der erste deutsche Genozid. In: Jürgen Zimmerer /Joachim Zeller (Hrsg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen Berlin 2003, S. 45-63; zur Kritik an der Kontinuitätsthese vgl. u. a. Günter Spraul: Der „Völkermord ” an den Herero. Untersuchungen zu einer neuen Kontinuitätsthese. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Bd. 12 (1988), S. 713-739; Robert Gerwarth und Stephan Malinowski: Der Holocaust als „kolonialer Genozid“? Europäische Gewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg. In: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 33 (2007), S. 439-466; Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen, a. a. O., S. 25-31 15 Gert Sudholt: Die deutsche Eingeborenenpolitik in Südwestafrika. Von den Anfängen bis 1904, Hildesheim 1975, S. 189 16 Ebenda. S. 184; ähnlich argumentieren auch Brigitte Lau: Ungewisse Gewissheiten. Der Herero-Deutsche Krieg von 1904, Windhoek 1989, abrufbar unter https://www.traditionsverband.de/download/pdf/Ungewisse_Gewissheiten .pdf; Heinrich R. Schneider-Waterberg: Der Wahrheit eine Gasse. Beiträge zum Hererokrieg in Deutschsüdwestafrika 1904-1907, Teil 1 & 2, Swakopmund 2014, 5. Auflage. S. 187, Anm. 7; Karla Poewe: The Namibian Herero: A History of the Psychosocial Disintegration and Survival, Lewiston/New York/Queenstown 1985 17 Bartholomäus Grill: Wir Herrenmenschen, a. a. O., S. 170 18 Günter Spraul: Der „Völkermord” an den Herero, a. a. O., S. 724 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 018/21 Seite 7 geführt habe.19 Christoph Kamissek betont in einem Aufsatz, von Trotha sei nicht mit einer bereits feststehenden Vernichtungsabsicht nach Südwestafrika gekommen. Trotzdem habe seine vorangegangene imperiale Karriere sein Vorgehen in Südwestafrika in mehrerlei Hinsicht beeinflusst : „Deutsche Offiziere, die sich wie er im Rahmen ihrer Karrieren regelmäßig zwischen der Metropole und verschiedenen imperialen und kolonialen Räumen bewegten, hatten bereits vor dem Erwerb von eigenen überseeischen Kolonien in den inneren Peripherien und europäischen Kriegen des Deutschen Kaiserreiches Erfahrungen mit Aufstandsbekämpfungen, Kleinkriegen und Besatzungssituationen gesammelt, die Deutungsmöglichkeiten und Reaktionsweisen für spätere Herausforderungen in Afrika und Asien bereitstellten.“20 4. Die Reaktionen des Chefs des Generalstabes Alfred von Schlieffen und des Reichskanzlers Bernhard von Bülow auf die Proklamation Lothar von Trothas Von Trothas Kriegsführung, und sein kompromissloses Vorgehen gegen die Herero stießen vor Ort beim noch amtierenden Gouverneur Theodor von Leutwein sowie bei den Missionskirchen rasch auf Kritik.21 Die politische und militärische Führung in Berlin reagierte erst nach mehreren Wochen auf die Proklamation von Trothas, was in der Forschung die Frage aufgeworfen hat, ob Reichskanzler von Bülow und der Chef des Generalstabes von Schlieffen von Trothas rigoroses Vorgehen gegen die Herero zumindest teilweise unterstützte und deckte.22 Laut Jonas Kreienbaum lasse sich die späte Intervention Berlins, die die radikale „Vernichtungspolitik“ im Schutzgebiert erst ermöglicht habe, nur bedingt als Zustimmung zu von Trothas Kurs interpretieren. Entscheidend seien die langen Kommunikationswege zwischen Kolonie und Metropole gewesen, die von Trotha einen großen Handlungsspielraum eröffnet hätten. Obwohl er bereits unmittelbar nach dem Erlass seiner Proklamation an die Herero den Generalstab über deren Inhalt informiert habe, habe von Schlieffen das auf den 4. Oktober 1904 datierte, aber vermutlich nur auf dem Seeweg versandte und nicht vorab telegrafisch übermittelte Schreiben23 wahrscheinlich erst Mitte 19 Isabel Hull: Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca and London 2005, S. 5-90 20 Christoph Kamissek: „Ich kenne genug Stämme in Afrika“. Lothar von Trotha – eine imperiale Biographie im Offizierskorps des deutschen Kaiserreiches, a. a. O., S. 90ff., Zitat: S. 93. Eine Übersicht über die wissenschaftlichen Interpretationen zum Krieg gegen die Herero und Nama und zur Proklamation von Trothas gibt die Studie von Christiane Bürger: Deutsche Kolonialgeschichte(n). Der Genozid in Namibia und die Geschichtsschreibung der DDR und BRD, Bielefeld 2017, S. 143ff., S. 191ff. und S. 258ff. 21 Daniel Karch: Entgrenzte Gewalt in der kolonialen Peripherie, a. a. O., S. 146f.; Jonas Kreienbaum (2015): „Ein trauriges Fiasko“, a. a. O., S. 70 22 Dieser Ansicht vertritt insbesondere Horst Drechsler: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft, a. a. O., S. 167ff. 23 Hierin rechtfertigte von Trotha sein kompromissloses Vorgehen gegen die Herero offensiv: „Es fragt sich für mich nur, wie ist der Krieg mit den Herero zu beendigen. Die Ansichten darüber, bei dem Gouverneur und einigen ‚alten Afrikanern‘ einerseits und mir andererseits gehen gänzlich auseinander. Erstere wollten schon lange verhandeln und bezeichnen die Nation der Herero als notwendiges Arbeitsmaterial für die zukünftige Verwendung des Landes. Ich bin gänzlich anderer Ansicht. Ich glaube, dass die Nation als solche vernichtet werden muss“. (Zitiert nach: Daniel Karch: Entgrenzte Gewalt in der kolonialen Peripherie, a. a. O., S. 146) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 018/21 Seite 8 November in Berlin erreicht. Insofern habe von Schlieffen von Trotha voraussichtlich nur einige Tage, nicht aber – wie in der Literatur teilweise angenommen24 – zwei Monate gedeckt.25 Inhaltlich teilte von Schlieffen von Trothas rigorose Vorgehensweise gegen die Herero weitgehend , wie auch aus seinem Schreiben vom 23. November 1904 an Bernhard von Bülow deutlich wird, mit dem er den Reichskanzler über von Trothas Proklamation informierte. Von Schlieffen vermied hierin eine klare Distanzierung von der von Trotha praktizierten Gewaltpolitik, sondern plädierte eher aus taktischen Gründen für eine Abkehr: „Daß er [von Trotha] die ganze Nation vernichten oder aus dem Land treiben will, darin kann man ihm beistimmen. Ein Zusammenleben der Schwarzen mit den Weißen wird nach dem, was vorgegangen ist, sehr schwierig sein, wenn nicht erstere dauernd in einem Zustand der Zwangsarbeit, also einer Art Sklaverei, erhalten werden. Der entbrannte Rassenkampf ist nur durch die Vernichtung oder vollständige Knechtung einer Partei abzuschließen.“ Die Absicht von Trothas billige er. Da dieser jedoch nicht die Macht habe, diese durchzuführen, bleibe kaum etwas anderes übrig, „als zu versuchen, die Hereros zur Übergabe zu veranlassen. Das wird erschwert durch die Proklamation des Generals v. Trotha, der jeden Herero erschießen lassen will. Wenn durch eine neue Proklamation den Hereros , welche sich unseren Truppen stellen, das Leben zugesagt wird, so werden sie der neuen Zusage kaum trauen wollen. Es muß indes versucht werden.“26 Nachdem Reichskanzler von Bülow am 23. November 1904 durch von Schlieffens Schreiben von Trothas Proklamation erfuhr, handelte er umgehend. Am Folgetag empfahl er in einem Schreiben an Kaiser Wilhelm II. eine Rücknahme des Befehls mit der Begründung, dass er den Prinzipien des Christentums und der Menschlichkeit widerspreche, wirtschaftlich sinnlos sei, da die Arbeitskraft der Hereros benötigt werde, und dem deutschen Ansehen unter den zivilisierten Nationen schade.27 Kaiser Wilhelm II. folgte der Empfehlung des Reichskanzlers28 und ließ von Trotha am 9. Dezember 1904 durch den Generalstab anweisen, „seine Proklamation zurückzunehmen und den Herero, ‚mit Ausnahme von den unmittelbar Schuldigen und den Rädelsführern‘, Gnade 24 Günter Spraul: Der „Völkermord” an den Herero, a. a. O., S. 719 25 Jonas Kreienbaum (2015): „Ein trauriges Fiasko“, a. a. O., S. 72-74 26 Generaloberst von Schlieffen an Reichskanzler von Bülow, 23.11.1904, zitiert nach: Günter Spraul: Der „Völkermord ” an den Herero, a. a. O., S. 727f. 27 Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen, a. a. O., S. 95 28 In seinen Erinnerungen weist Reichskanzler Bernhard von Bülow darauf hin, der Kaiser sei hinsichtlich seiner Empfehlung zur Aufhebung des Befehls in Erregung geraten und aufgebraust. Man habe sich in nicht freundlicher Stimmung voneinander getrennt. Nach einigen Stunden habe er einen Brief vom Kaiser erhalten, indem er ihm mitgeteilt habe, er füge sich seinen Vorstellungen. (Bernhard Fürst von Bülow: Denkwürdigkeiten, Zweiter Band: Von der Marokko-Krise bis zum Abschied, Berlin 1930, S. 21) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 018/21 Seite 9 zu erweisen“.29 Zudem wurde er angewiesen, auf die von der Rheinischen Missionsgesellschaft angebotenen „guten Dienste“ zurückzugreifen, um die Herero zur Aufgabe zu bewegen.30 Mit der Aufhebung des „Vernichtungsbefehls“ einher ging die Anweisung von Reichskanzler von Bülow an Generalleutnant von Trotha vom 11. Dezember 1904, „Konzentrationslager für die einstweilige Unterbringung & Unterhaltung der Reste des Herero-Volkes“ 31 einzurichten. Die Gefangenenlager in „Deutsch-Südwestafrika“ dienten laut Susanne Kuß „sowohl der Internierung von einheimischen Soldaten als auch von Frauen, Kindern und Alten, um zu verhindern, dass diese künftig als Semikombattanten agieren können. (…) Die Gefangenen, die nicht im Lazarett untergebracht waren, konnten jederzeit (…) zur Zwangsarbeit herangezogen werden. Sie wurden Privatleuten, Firmen, Farmern, dem Militär oder den Eisenbahngesellschaften auf Anfrage zur Verfügung gestellt und trugen mit ihrer Arbeitskraft dazu bei, die Kolonie ökonomisch nutzbar zu machen und nach den Vorstellungen der Kolonialherren zu gestalten.“32 Aufgrund der hohen Mortalitätsrate unter den Internierten33 wird die Einrichtung der Gefangenlager von einigen Wissenschaftlern als Fortführung der Vernichtungspolitik Lothar von Trothas interpretiert,34 andere verneinen hingegen einen Plan zur systematischen Vernichtung der Herero und Nama in den Lagern.35 So betont Jonas Kreienbaum, dass die Lager mit der „Bestrafung“, 29 Zitiert nach: Daniel Karch: Entgrenzte Gewalt in der kolonialen Peripherie, a. a. O., S. 150 30 Helmut Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894-1914, Hamburg 1968, S. 207f.; Udo Kaulich: Die Geschichte der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (1884-1914). Eine Gesamtdarstellung , Frankfurt am Main 2001, S. 255 31 Telegramm Reichskanzler von Bülow an General von Trotha, 11.12.1904, zitiert nach: Jonas Kreienbaum: „Vernichtungslager “ in Deutsch-Südwestafrika? Zur Funktion der Konzentrationslager im Herero- und Nama-Krieg (1904-1908). In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 58 (2010), S. 1014-1026, Zitat: S. 1014. In einem weiteren Schreiben vom Januar 1905 wies Reichskanzler von Bülow von Trotha an, „die sich ergebenden Herero an verschiedenen Plätzen des Landes in Konzentrationslagern unterzubringen (…) und dort unter Bewachung zur Arbeit zu zwingen“. (Reichskanzler von Bülow an Generalleutnant von Trotha, 13.01.1905, zitiert nach: Daniel Karch: Gewalt in der kolonialen Peripherie, a. a. O., S. 153) 32 Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen, a. a. O., S.97 33 Von den in den Gefangenenlagern internierten etwa 15.000 Herero und 2.000 Nama starben zwischen Oktober 1904 und März 1907 fast 7.700 Personen, was rund 45 Prozent der Gefangenen entspricht. (Ebenda, S.100) 34 Jürgen Zimmerer: Kriegsgefangene im Kolonialkrieg. Der Krieg gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904-1907). In: Rüdiger Overmans (Hrsg.): In der Hand des Feindes. Kriegsgefangene von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg, Köln 1999, S. 277-294, hier: S. 292; Joachim Zeller: Ombepera i koza – Die Kälte tötet mich“. Zur Geschichte des Konzentrationslagers in Swakopmund (1904-1908). In: Jürgen Zimmerer/ Joachim Zeller (Hrsg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen , Berlin 2004, S. 64-79, hier: S. 76 35 Jonas Kreienbaum (2010): „Vernichtungslager“ in Deutsch-Südwestafrika?, a. a. O., S. 1017; Matthias Häussler: Zwischen Vernichtung und Pardon: Die Konzentrationslager in „Deutsch-Südwestafrika“ (1904-1908). In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013), S. 601-620; Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen , a. a. O., S. 97 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 018/21 Seite 10 „Pazifizierung“ und „Heranziehung bzw. Erziehung zur Arbeit“ drei der Vernichtung entgegengesetzte Funktionen erfüllen sollten.36 Obwohl von Trotha der aus Berlin angewiesenen politischen Kurskorrektur in der Frage der Behandlung der Herero nur widerwillig Folge leistete,37 beließ ihn der Generalstab auch nach dem 9. Dezember 1904 weiter im Amt, da er für die Bekämpfung der Nama benötigt wurde, die sich im Oktober 1904 gegen die deutschen Kolonialherren erhoben hatten.38 In diesem Zusammenhang erließ von Trotha am 22. April 1905 eine zweite, dieses Mal an die Nama gerichtete Proklamation , die diese zur Aufgabe zwingen sollte. Sie unterschied sich von dem an die Herero gerichteten Aufruf dadurch, dass Personen, die sich freiwillig stellten und ihre Waffen abgaben, das Leben geschenkt erhalten sollten, sofern sie nicht seit Beginn des Aufstandes Weiße getötet oder den Befehl dazu gegeben hatten. Für den Fall, dass die Nama der Proklamation nicht folgen sollten , wurde ihnen mit Beschuss gedroht, bis alle vernichtet seien.39 Da dieser zweite Aufruf schnell im Reich bekannt wurde und zur öffentlichen Kritik der SPD im Reichstag führte, musste 36 Jonas Kreienbaum (2015): „Ein trauriges Fiasko“, a. a. O., S. 120-145; Kreienbaum erklärt die hohe Todesrate damit, „dass sich die Kolonialmacht schlicht nicht für die Gefangenen, geschweige denn für ihr Wohl interessierte . Das führte dazu, dass bei jeder Entscheidung, bei der das Wohl der Internierten gegen die Interessen der Kolonialmacht stand, zugunsten Letzterer entschieden wurde. (Jonas Kreienbaum (2010): „Vernichtungslager“ in Deutsch-Südwestafrika?, a. a. O., S. 1020) 37 Helmut Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894-1914, a. a. O., S. 207-209; Udo Kaulich: Die Geschichte der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, a. a. O., S. 255-257; Häussler weist darauf hin, dass von Trotha „die unliebsamen Befehle zwar ausführte, aber gleichzeitig nichts unversucht ließ, sie ad absurdum zu führen.“ Bezeichnend sei die Auseinandersetzung um die Kettenhaft gewesen: „Wenn Trotha den sich ergebenden Herero schon Pardon gewähren lassen musste, wollte er sie zumindest in Ketten legen lassen, was Bülow freilich ablehnte, weil diese Maßnahme dazu angetan schien, den Kerngedanken des neuen Kurses, das Gros der Herero zur freiwilligen Übergabe zu bewegen, zu unterminieren (was dem General nur recht gewesen wäre). Dies galt auch für die fortgesetzte Jagd auf Herero, die mit derartiger Brutalität betrieben wurde, dass die Herero den Deutschen und ihren Versprechungen eher noch weniger trauten als bisher und sich die ‚Fronten‘ nur weiter verhärteten.“ (Matthias Häussler: Der Genozid an den Herero. Krieg, Emotion und extreme Gewalt in „Deutsch-Südwestafrika“, Weilerswist 2018, S. 288f.). 38 Dass von Trotha trotz des verordneten Kurswechsels noch fast ein Jahr im Amt blieb, hat laut Häussler auch damit zu tun, dass sich sehr bald gezeigt habe, dass dieser keinesfalls so radikal ausfiel, wie von Trotha zunächst angenommen habe. Durch „uneindeutige Signale aus der Metropole, vor allem von Seiten des Generalstabes “ sei der Kurswechsel aufgeweicht worden. In einem Telegramm vom 12. Dezember 1904 habe von Schlieffen von Trotha gegenüber klargestellt, dass die neuen Befehle keineswegs bedeuteten, dass es „verboten“ sei, „auf Hereros zu schießen“. Sollten diese keine Anstalten machen, den „Weg der Gnade zu bestreiten“ seien sie wie bisher nach Kriegsrecht zu behandeln. Durch diese Aufweichungen „ermöglichte Schlieffen es Trotha das Kommando zu behalten und gleichzeitig sein Gesicht zu wahren.“ (Ebenda, S. 289 und 312) 39 Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen, a. a. O., S. 95 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 018/21 Seite 11 von Trotha diese zweite Proklamation auf Anweisung von Reichskanzler von Bülow umgehend zurücknehmen.40 Im November 1905 wurde von Trotha als Oberkommandierender der kaiserlichen „Schutztruppe “ in „Deutsch-Südwestafrika“ abberufen, da es ihm auch nach fast einem Jahr nicht gelungen war, den Widerstand der Nama zu brechen und man in Berlin unzufrieden mit dem Verlauf des Krieges war.41 In der wissenschaftlichen Literatur wird teilweise darauf hingewiesen, dass von Trothas Ansehen nach seiner Rückkehr nach Deutschland bei Kaiser und Reichskanzler beschädigt gewesen sei und er bei ihnen in Ungnade gefallen sei. So sei er zwar mit dem Orden „Pour le Mérite“ ausgezeichnet worden, habe diesen aber nicht persönlich vom Kaiser überreicht bekommen.42 Öffentlich verteidigte allerdings Reichskanzler von Bülow von Trotha auch nach dessen Abberufung als Oberbefehlshaber der „Schutztruppe“ ausdrücklich gegen Kritik aus der SPD-Reichstagsfraktion . In einer Debatte am 9. Dezember 1905 erklärte er im Reichstag, von Trotha habe „in einem langwierigen und schwierigen Feldzuge persönliche Bravour, Energie, Umsicht, alle Eigenschaften eines tüchtigen, eines hervorragenden Führers an den Tag gelegt“. „Mit vollem Recht“ trage er deshalb die höchste militärische Auszeichnung, die Preußen zu vergeben habe, den Orden Pour le Mérite. Beim Erlass der Proklamation habe sich der General „in erster Linie“ von „militärischen Gesichtspunkten“ leiten lassen, die „ihm die äußerste Strenge gegenüber den Hereros als notwendig“ erscheinen ließen. Er habe zudem die Proklamation „durch einen gleichzeitig an die Truppen erlassenen Befehl wesentlich abgemildert“. Trotzdem sei, sobald die Proklamation „hier“ bekannt geworden sei, „der General telegrafisch angewiesen worden, die Hereros mit Ausnahme der unmittelbar Schuldigen nicht zurückzuweisen und für ihre Unterbringung die guten Dienste der Mission anzunehmen.“43 40 Daniel Karch: Entgrenzte Gewalt in der kolonialen Peripherie, a. a. O., S. 157. In der Reichstagsdebatte vom 25. Mai 1905 hatte der SPD-Reichstagsabgeordnete Georg Ledebour nach Bekanntwerden des Nama-Erlasses den Kolonialdirektor ersucht, von Trotha „unverzüglich“ abzuberufen: „Ein Mann, der in so schreiender Weise gegen die gesamte Auffassung des deutschen Volkes in bezug auf Kriegführung verstößt, und der in so schreiender Weise den Anordnungen, die ihm von der Reichsregierung zuteil geworden sind, zuwiderhandelt, darf unmöglich an seinem Platze bleiben, wenn die Kolonialverwaltung wirklich ihr Wort wahr machen will.“ (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, XI. Legislaturperiode, I. Session 1903/1905, Achter Band, S. 6159) Der Direktor der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, Oscar Stübel, verwies in seiner Erwiderung darauf, bisher auch nur „aus den über Kapstadt gekommenen Privatnachrichten Kenntnis von dieser Proklamation“ erhalten zu haben. (Ebenda, S. 6161) 41 Daniel Karch: Entgrenzte Gewalt in der kolonialen Peripherie, a. a. O., S. 157; Jonas Kreienbaum (2015): „Ein trauriges Fiasko“, a. a. O., S. 82 42 Günter Spraul: Der „Völkermord” an den Herero, a. a. O., S. 720; Jürgen Zimmerer: „Trotha, Adrian Dietrich Lothar von“. In: Neue Deutsche Biographie 26 (2016), S. 455-456, abrufbar unter https://www.deutsche-biographie .de/pnd117636908.html 43 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, XI. Legislaturperiode, II. Session 1905/1906, Erster Band, S. 193 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 018/21 Seite 12 5. Musste sich Lothar von Trotha für sein Vorgehen gegen die Herero einer Anklage stellen? In der Literatur finden sich nur zwei sehr knappe, nicht näher belegte Hinweise auf eine etwaige gerichtliche Anklage gegen Lothar von Trotha wegen seines Verhaltens als Oberbefehlshaber der kaiserlichen „Schutztruppe“ in „Deutsch-Südwestafrika“. In einem Vortrag bei einer Veranstaltung der AfD-Bundestagsfraktion erklärte der amerikanische Politologe Bruce Gilley am 11. Dezember 2019: „Die ganze Brutalität des Vernichtungsfeldzuges gegen die Herero wurde einzig durch von Trothas Befehl verursacht. Er wurde danach abberufen, angeklagt, verurteilt und seine Politik widerrufen.“44 In Gilleys aktueller Veröffentlichung fehlt hingegen der Hinweis auf eine etwaige Anklage. Hier heißt es lediglich: „Das Ausmaß der Gewaltausübung durch von Trotha war der Bedrohung nicht angemessen. Er wurde gerügt, abberufen und seine Politik beendet .“45 Der zweite Hinweis findet sich in einem Aufsatz von Hermann Hiery und Horst Gründer und lautet : „Nach Bekanntwerden der Trothaschen Kriegsführung und Vernichtungspolitik in Deutschland gab es scharfe Proteste von Linksliberalen, Zentrum und Sozialdemokraten; letztere wollten den General sogar vor ein Kriegsgericht stellen.“46 Dafür, dass von Trotha wegen seines Vorgehens in „Deutsch-Südwestafrika“ tatsächlich in einem Gerichtsverfahren förmlich angeklagt worden wäre und sich vor einem zivilen oder einem Kriegsgericht verantworten musste, konnte in der wissenschaftlichen Literatur kein Beleg gefunden werden und – genau betrachtet – behauptet dies weder Gilley in seinem Vortrag noch tun dies Günder und Hiery in ihrem Aufsatz explizit. In der Forschung wurde hingegen herausgearbeitet , dass die Art der Kriegsführung gegen die Herero im Allgemeinen schon seit Anfang 1904 aufgrund von Berichten von Soldaten und Missionaren in der Kritik insbesondere der SPD- Reichstagsfraktion und der sozialdemokratischen Presse stand.47 Als im Mai 1905 zunächst die Nama-Proklamation und im weiteren Verlauf des Jahres auch der Wortlaut der Herero-Proklamation im Reich bekannt wurden, geriet auch Trothas Vorgehen als Oberbefehlshaber der „Schutztruppe “ in den Fokus der Kritik der SPD-Reichstagsfraktion. Nachdem der SPD-Reichstagsabge- 44 Zitiert nach der gekürzten verschriftlichten Fassung des Vortrages, die auf der Internetseite von „Info-Direkt. Das Medium für Patrioten“ mit der Überschrift „Deutscher Kolonialismus: Mehr Segen als Fluch?“ veröffentlicht ist, abrufbar unter https://www.info-direkt.eu/2020/04/04/deutscher-kolonialismus-mehr-segen-als-fluch/ (dort auch die Fettung). Zu den umstrittenen Thesen Gilleys und dem Vortrag, vgl. auch die Berichterstattung in den Medien: Oliver Georgi: Danke für die Unterdrückung! Die AfD und die Kolonialzeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.2019; Anna Schneider: Schamhafter Versuch der AfD, den Kolonialismus zu rehabilitieren . In: Neue Zürcher Zeitung, 12.12.2019; Alexander Graf: Der deutsche Kolonialismus als Erfolgsgeschichte. Vortrag im Reichstag. In: Junge Freiheit, 12.12.2019 45 Bruce Gilley: Verteidigung des deutschen Kolonialismus, Lüdinghausen 2021, 2. Auflage, S. 45 46 Hermann J. Hiery und Horst Gründer: Deutschland und sein koloniales Erbe – Versuch einer Bewertung. In: Horst Gründer, Hermann Hiery (Hrsg.): Die Deutschen und ihre Kolonien. Ein Überblick, Berlin 2017, S. 317- 325, Zitat: S. 321 47 Vgl. hierzu ausführlich Frank Oliver Sobich: „Schwarze Bestien, rote Gefahr“. Rassismus und Antisozialismus im deutschen Kaiserreich, Frankfurt/New York 2006, S. 72ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 018/21 Seite 13 ordnete Georg Ledebour in der Reichstagsdebatte vom 25. Mai 1905 mit Blick auf die Nama-Proklamation eine unverzügliche Abberufung von Trothas verlangt hatte,48 nannte er in seiner Reichstagsrede vom 2. Dezember 1905 die Herero-Proklamation und das darin geforderte Zurücktreiben von Herero-Frauen und -Kindern in die Omaheke-Wüste eine „ungeheuerliche Infamie“49, für die sowohl von Trotha als auch Reichskanzler von Bülow eigentlich auf die „Anklagebank“ und „vor den Richterstuhl des deutschen Volkes und den Richterstuhl der Geschichte“ gehörten: „Im Deutschen Reiche werden heutigen Tages die Herren ja nicht wirklich auf die Anklagebank kommen vor Richtern, die über sie urteilen. Sie bekommen einen Orden, oder der Herr Fürst v. Bülow erhält jetzt den Herzogtitel, und Herr General v. Trotha, der sich großer Gönnerschaft in den höchsten Kreisen erfreuen soll, bekommt vielleicht auch noch etwas Ähnliches. Aber die beiden Herren, die bisher bewiesen haben, daß sie die deutsche Ehre in der Kriegsführung gegenüber barbarischen Stämmen nicht richtig haben zu wahren wissen, gehören allerdings auf die Anklagebank, vor den Richterstuhl des deutschen Volkes und den Richterstuhl der Geschichte, und was sie auch sagen mögen: das deutsche Volk und die Geschichte werden sie schuldig sprechen .“50 6. Literatur Artikel „Trotha, Lothar“. In: Deutsches Kolonial-Lexikon, hrsg. von Heinrich Schnee, Leipzig 1920, Bd. 3, S. 543f., abrufbar unter http://www.ub.bildarchiv-dkg.uni-frankfurt.de/Bildprojekt /Lexikon/Standardframeseite.php Bley, Helmut: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894-1914, Hamburg 1968 Bülow, Bernhard Fürst von: Denkwürdigkeiten, Zweiter Band: Von der Marokko-Krise bis zum Abschied, Berlin 1930 Bürger, Christiane: Deutsche Kolonialgeschichte(n). Der Genozid in Namibia und die Geschichtsschreibung der DDR und BRD, Bielefeld 2017 Drechsler, Horst: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus (1884–1915), Berlin (O) 1966 48 Siehe Fußnote 40 49 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, XI. Legislaturperiode, II. Session 1905/1906, Erster Band, S. 91 50 Ebenda, S. 92; in der Literatur und in den Reichstagsprotokollen konnte eine explizite Forderung seitens eines Mitglieds der SPD-Reichstagsfraktion, von Trotha vor ein Kriegsgericht zu stellen, nicht gefunden werden. Da auch Hiery und Gründer ihren Hinweis nicht belegt haben, muss offen bleiben, ob sie die oben zitierte Stelle aus der Reichstagsrede von Ledebour so interpretiert haben oder ob eine solche explizite Forderung an anderer Stelle existiert. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 018/21 Seite 14 Gerwarth, Robert und Malinowski, Stephan: Der Holocaust als „kolonialer Genozid“? Europäische Gewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg. In: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 33 (2007), S. 439-466 Gilley, Bruce: „Deutscher Kolonialismus: Mehr Segen als Fluch?“, Vortrag bei einer Veranstaltung der AfD-Bundestagsfraktion am 11. Dezember 2019, veröffentlicht in „Info-Direkt. Das Medium für Patrioten“, abrufbar unter https://www.info-direkt.eu/2020/04/04/deutscher-kolonialismus -mehr-segen-als-fluch/ Gilley, Bruce: Verteidigung des deutschen Kolonialismus, Lüdinghausen 2021, 2. Auflage Grill, Bartholomäus: Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte, München 2019 Gründer, Horst: Geschichte der deutschen Kolonien, 7. aktualisierte und erweiterte Auflage, Paderborn 2018 Häussler, Matthias: Zwischen Vernichtung und Pardon: Die Konzentrationslager in „Deutsch- Südwestafrika“ (1904-1908). In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013), S. 601-620 Häussler, Matthias: Der Genozid an den Herero. Krieg, Emotion und extreme Gewalt in „Deutsch- Südwestafrika“, Weilerswist 2018 Hiery, Hermann J. und Gründer, Horst: Deutschland und sein koloniales Erbe – Versuch einer Bewertung . In: Horst Gründer, Hermann Hiery (Hrsg.): Die Deutschen und ihre Kolonien. Ein Überblick , Berlin 2017, S. 317-325 Hull, Isabel: Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany , Ithaca and London 2005 Kamissek, Christoph: „Ich kenne genug Stämme in Afrika“. Lothar von Trotha – eine imperiale Biographie im Offizierskorps des deutschen Kaiserreiches. In: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), S. 67-93 Karch, Daniel: Entgrenzte Gewalt in der kolonialen Peripherie. Die Kolonialkriege in „Deutsch- Südwestafrika“ und die „Sioux Wars“ in den nordamerikanischen Plains, Stuttgart 2019 Kaulich, Udo: Die Geschichte der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (1884-1914). Eine Gesamtdarstellung, Frankfurt am Main 2001 Kreienbaum, Jonas: „Vernichtungslager“ in Deutsch-Südwestafrika? Zur Funktion der Konzentrationslager im Herero- und Nama-Krieg (1904-1908). In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 58 (2010), S. 1014-1026 Kreienbaum, Jonas: „Ein trauriges Fiasko“. Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika, 1900-1908, Hamburg 2015 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 018/21 Seite 15 Kuß, Susanne: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010 Lau, Brigitte: Ungewisse Gewissheiten. Der Herero-Deutsche Krieg von 1904, Windhoek 1989, abrufbar unter https://www.traditionsverband.de/download/pdf/Ungewisse_Gewissheiten.pdf Poewe, Karla: The Namibian Herero: A History of the Psychosocial Disintegration and Survival, Lewiston/New York/Queenstown 1985 Schaller, Dominik: „Ich glaube, dass die Nation als solches vernichtet werden muss“: Kolonialkrieg und Völkermord in „Deutsch-Südwestafrika“. In: Journal of Genocide Reserach, Vol. 4 (2004), S. 395-430 Schneider-Waterberg, Heinrich R.: Der Wahrheit eine Gasse. Beiträge zum Hererokrieg in Deutschsüdwestafrika 1904-1907, Teil 1 & 2, Swakopmund 2014, 5. Auflage Sobich, Frank Oliver: „Schwarze Bestien, rote Gefahr“. Rassismus und Antisozialismus im deutschen Kaiserreich, Frankfurt/New York 2006 Spraul, Günter: Der „Völkermord” an den Herero. Untersuchungen zu einer neuen Kontinuitätsthese . In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 12 (1988), S. 713-739 Sudholt, Gert: Die deutsche Eingeborenenpolitik in Südwestafrika. Von den Anfängen bis 1904, Hildesheim 1975 Wikipedia-Artikel „Lothar von Trotha“, abrufbar unter https://de.wikipedia .org/wiki/Lothar_von_Trotha Zeller, Joachim: Ombepera i koza – Die Kälte tötet mich“. Ombepera i koza – Die Kälte tötet mich“. Zur Geschichte des Konzentrationslagers in Swakopmund (1904-1908). In: Jürgen Zimmerer /Joachim Zeller (Hrsg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2004, S. 64-79 Zimmerer, Jürgen: Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika. Der erste deutsche Genozid. In: Jürgen Zimmerer/Joachim Zeller (Hrsg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2003, S. 45-63 Zimmerer, Jürgen: Kriegsgefangene im Kolonialkrieg. Der Krieg gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904-1907). In: Rüdiger Overmans (Hrsg.): In der Hand des Feindes. Kriegsgefangene von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg, Köln 1999, S. 277-294 Zimmerer, Jürgen: „Trotha, Adrian Dietrich Lothar von“. In: Neue Deutsche Biographie 26 (2016), S. 455-456, abrufbar unter https://www.deutsche-biographie.de/pnd117636908.html ***