© 2021 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 - 015/21 Zur Zahl der Todesopfer aufgrund politischer Verfolgung in der DDR Ausgewählte Aspekte Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 015/21 Seite 2 Zur Zahl der Todesopfer aufgrund politischer Verfolgung in der DDR Ausgewählte Aspekte Aktenzeichen: WD 1 - 3000 - 015/21 Abschluss der Arbeit: 9. Juni 2021 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte, Politik Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 015/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Forschungsstand 4 3. Bisherige Ergebnisse 5 3.1. Todesopfer an der innerdeutschen Grenze 5 3.2. In Haft Umgekommene 5 3.3. Opfer der Todesstrafe 6 3.4. Opfer politischer Morde 6 4. Fazit 7 5. Anhang 1: Ausgewählte Biographien von Todesopfern aus Gera, Weimar, Erfurt und Greiz 7 6. Anhang 2: Auszüge aus dem Buch: Ansgar Borbe, Die Zahl der Opfer des SED-Regimes. Erfurt, 2010 7 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 015/21 Seite 4 1. Vorbemerkung Die folgende Dokumentation befasst sich laut Auftrag mit dem derzeitigen Forschungsstand zur Zahl der Todesopfer aufgrund politischer Verfolgung von 1949 bis 1989 in der DDR. Dabei soll das Augenmerk auftragsgemäß vor allem auf Opfer aus dem heutigen1 Thüringen liegen.2 2. Forschungsstand Mehr als dreißig Jahre nach dem Ende der DDR ist ihre Historisierung und damit ihre wissenschaftliche Erforschung im vollen Gange. Dabei ist das Ausmaß der Folgen des SED-Regimes bislang keineswegs vollständig vermessen. Der Historiker Ansgar Borbe beklagte in seinem bereits 2010 erschienenen Buch „Die Zahl der Opfer des SED-Regimes“, dass bisher keine Gesamtanalyse darüber vorliege, „wie vielen Menschen während der gut 40-jährigen Existenz der DDR politisch motiviertes Unrecht und Leid zugefügt wurde. (…) Denn auf Grund der ungesicherten Faktenlage lassen sich viele Zahlen entweder gar nicht oder aber nur sehr ungenau ermitteln. Ein weiteres Problem ist in dem Umstand zu sehen, dass die bestehenden Zahlen häufig nach politischen Interessen gefärbt scheinen“.3 In jüngster Zeit hat das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Landschaften der Verfolgung“ begonnen , eine Datenbank zu errichten, in der möglichst alle Opfer politischer Verfolgung in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) und der DDR verzeichnet werden sollen. „Auf dieser Grundlage soll es möglich sein, erstmals umfassende Aussagen zur Gesamtzahl der Betroffenen zu treffen und sie in sozialen und kulturellen Kontexten zu verorten. Zudem widmen sich mehrere Teilprojekte dem individuellen und kollektiven Umgang mit Repression, der zunehmenden Verrechtlichung von Herrschaft in der DDR sowie der Erforschung von Spätfolgen der Hafterfahrungen.“4 Ergebnisse zur Gesamtzahl der Opfer liegen derzeit jedoch noch nicht vor. 1 Das heutige Bundesland Thüringen wurde nach der Wiedervereinigung 1990 aus den drei DDR-Bezirken Erfurt, Gera und Suhl sowie einigen angrenzenden Gebieten wiedergegründet. 2 Ausgeklammert wird laut Auftrag die Zeit der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) von 1945-1949. In dieser Zeit „verlief die Strafverfolgung in Ostdeutschland im Spannungsfeld zwischen politischer ‚Säuberung‘ und willkürlichem Terror, zwischen der Ahndung von NS-Verbrechen und der Sowjetisierung Ostdeutschlands, zwischen Geheimhaltung und Propaganda im Ost-West-Konflikt. Bis heute ist dieses unübersichtliche Kapitel der ostdeutschen Nachkriegsgeschichte in der Öffentlichkeit wenig bekannt“. Dies gilt auch für die Zahl der Todesopfer aufgrund von Willkür und Terror. Vgl. Jörg Echternkamp: Die Ahndung von NS- und Kriegsverbrechen in der SBZ/DDR. Bundeszentrale für politische Bildung, 2015. https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte /der-zweite-weltkrieg/211771/die-ahndung-von-ns-und-kriegsverbrechen-in-der-sbz-ddr (zuletzt abgerufen am 1. Juni 2021) 3 Ansgar Borbe: Die Zahl der Opfer des SED-Regimes. Erfurt, 2010, S. 5. 4 Das Projekt wird vom Ministerium für Bildung und Forschung gefördert und von Prof. Jörg Barberowski geleitet. https://landschaften-verfolgung.de/ (zuletzt abgerufen am 31. Mai 2021) Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 015/21 Seite 5 3. Bisherige Ergebnisse 3.1. Todesopfer an der innerdeutschen Grenze Eine 2017 erschienene Studie des „Forschungsverbundes SED-Staat“ der Freien Universität Berlin zählte insgesamt 327 Opfer des SED-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze, darunter 83 thüringische Todesopfer.5 Diese Zahlen wurden später unter anderem von der Bundesregierung teilweise in Zweifel gezogen. 6 Ältere Forschungsarbeiten gehen von insgesamt 270 bis zu 1.303 Todesopfern an der innerdeutschen Grenze aus.7 Der Grund für die teils erheblich abweichenden Zahlen liegt unter anderem in der Schwierigkeit der Definition der Opferkategorien. So stellt sich beispielweise die Frage, ob auch Grenzsoldaten, die sich ihrem Dienst durch Suizide entzogen, zu den „Grenztoten“ gehören . Oder ob umgekommene Flüchtlinge, die ohne Fremdeinwirkung gestorben sind, mitzuzählen sind: „Eine besondere definitorische Schwierigkeit zeigt sich besonders im Hinblick auf Todesopfer , welche bei dem Versuch, die DDR über den Seeweg zu verlassen, umkamen. Sie ergibt sich aus der Frage, ob als Todesopfer auch diejenigen gelten, die ohne Fremdeinwirkung der Grenzsicherungsorgane ihr Leben ließen. Doch auch hier muss argumentiert werden, dass vor dem Fluchtversuch die Staatsmachtorgane willkürlich, aktiv und nachhaltig in die Biografie der jeweiligen Flüchtlinge eingegriffen haben mussten. Seien es auch ‚nur‘ Menschenrechtsverletzungen gewesen. Die Menschen brauchten einen Grund, damit sie ihr Leben riskierten, um ihr Vaterland zu verlassen.“8 3.2. In Haft Umgekommene Auch für die Zahl der in der Haft umgekommenen Menschen gibt es lediglich Schätzungen, die von einigen Hundert bis zu 2.500 reichen.9 „Es ist schwierig, im Nachhinein natürliche Todesfälle von fahrlässig oder mutwillig herbeigeführten zu unterscheiden. Jedoch ist auf Grund von 5 Da in dem oben genannten Handbuch biografische Angaben gemacht wurden, hat WD 1 eine nach besten Wissen und Gewissen durchgeführte Zählung durchgeführt, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Gezählt wurden aus Todesopfer aus Thüringen und Fälle, die sich auf dem Gebiet des heutigen Thüringen ereigneten . 6 Klaus Schroeder/Jochen Staadt (Hrsg.): Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949–1989. Ein biografisches Handbuch. Frankfurt am Main, 2017. Kurz nach Erscheinen kam Kritik an der Studie auf, unter anderem weil sie auch Todesopfer vor dem Bau der Mauer in Berlin am 13. August 1961 und weiterer Sperranlagen an der innerdeutschen Grenze mitzählt. Staatsministerin Monika Grütters äußerte sich am 9. April 2019 zu dieser Debatte: „Fragwürdig ist die Einbeziehung der an der innerdeutschen Grenze Getöteten vor 1961, weil vor der endgültigen Abriegelung der Sperranlagen auch Schmuggel oder blanker Hunger die Gründe sein konnten, die Zonen- und spätere DDR-Grenze zu überqueren“. Vgl. https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte /deutschlandarchiv/295024/todesopfer-des-ddr-grenzregimes-eine-andere-sicht 7 Vgl. Ansgar Borbe: Die Zahl der Opfer des SED-Regimes. Erfurt, 2010, S. 32ff. 8 Ebd., S. 32f. 9 Vgl. ebd., S. 21f. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 015/21 Seite 6 Augenzeugenberichten und dem aktuellen Kenntnisstand über die Haftbedingungen davon auszugehen , dass für einen Großteil der in Haft verstorbenen allein der Gewahrsein als Ursache geltend gemacht werden kann. Zu den bereits oben genannten Haftbedingungen können in diesem Zusammenhang Folter und auch gezielte Tötungen als auslösende Faktoren genannt werden.“10 Eine Untersuchung über zu Tode gekommene Häftlinge aus Thüringen liegt bislang nicht vor. 3.3. Opfer der Todesstrafe In der DDR galt von 1949 bis 1983 die Todesstrafe, das letzte Todesurteil wurde 1981 vollstreckt. Laut Ansgar Borbe wurden in dieser Zeit 206 Todesurteile vollstreckt, „die in der Mehrzahl ‚gewöhnlichen ‘ kriminellen Delikten geschuldet waren“.11 Für die Zahl vollstreckter Todesurteile für politisch Verfolgte gehen die Schätzungen von 52 bis 72 Opfern aus.12 Eine Untersuchung über politisch verfolgte Opfer der Todesstrafe aus Thüringen liegt bislang nicht vor. 3.4. Opfer politischer Morde Zu den Opfern politischer Morde gehören Tötungen, die ohne richterliches Urteil erfolgten. „So gab es neben dem offiziellen Töten von Staatsfeinden ‚durch Erschießen, Erdrosseln, Ertränken etc.‘ auch eine politisch motivierte ‚aktive und passive Tötung Frühgeborener sowie die Ermordung von Staatsfeinden in Krankenhäusern. Zudem ist eine Reihe von Mordversuchen gegen Dissidenten , Fluchthelfer, Überläufer und ähnliche DDR-Gegner bekannt, welche die Stasi im Westen begangen hat.“13 Insgesamt liegen zu allen oben genannten Morddelikten „keine gesicherten Zahlen vor, jedoch wird von 50 Morden bzw. Mordversuchen durch das MfS ausgegangen“.14 Auch hier liegen keine gesonderten Erkenntnisse über thüringische Opfer vor. 10 Ebd., S. 22. 11 Ebd., S. 23. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 24. 14 Ebd., S. 25. Zu den schätzungsweise 50 bis 125 Toten der Aufstände vom 17. Juni 1953 heißt es, sie würden hier nicht hinzugezählt werden, da sie „1. direkt aus den politischen Reaktionen der sowjetischen Besatzungsmacht (resultierten), 2. sind die Opfer, welche von der kasernierten Volkspolizei getötet wurden, nur schwer von denen der Sowjets zu trennen und 3. waren vermutlich ca. 40 befehlsverweigernde Rotarmisten unter den Toten“. Ebd. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 015/21 Seite 7 4. Fazit Bisher liegt keine genaue Zahl der Todesopfer des SED-Regimes in der DDR vor. Es gibt lediglich Schätzungen und teils umstrittene Einzeluntersuchungen. Schätzungen reichen in einer von Ansgar Borbe verfassten Übersicht von einigen Hundert bis zu etwa 4.000 Toten. Die große Spanne zeige, „dass sich zwar in etwa die Anzahl der Opfer der ehemaligen DDR angeben ließe, jedoch nur in einer sehr unzureichenden Weise“.15 Dies gilt umso mehr für die Opfer aus Thüringen. Das kürzlich begonnene Forschungsprojekt „Landschaften der Verfolgung“ möchte diesem Forschungsdesiderat begegnen. Eine erste Publikation liegt vor, jedoch noch keine neuen erhobenen Daten.16 5. Anhang 1: Ausgewählte Biographien von Todesopfern aus Gera, Weimar, Erfurt und Greiz17 6. Anhang 2: Auszüge aus dem Buch: Ansgar Borbe, Die Zahl der Opfer des SED-Regimes. Erfurt, 2010 15 Ebd. 16 Vgl. Jörg Baberowski/Robert Kindler/Stefan Donth (Hrsg.): Disziplinieren und Strafen. Dimensionen politischer Repression in der DDR. Frankfurt, 2021. 17 Die Biografien stammen aus: Klaus Schroeder/Jochen Staadt (Hrsg.): Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949–1989. Ein biografisches Handbuch. Frankfurt am Main, 2017. Die Zusammenstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Opfer aus Altenburger Land waren im Handbuch nicht aufgeführt.