© 2020 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 - 014/20 Frühkindliche Sozialisation und Extremismus Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 014/20 Seite 2 Frühkindliche Sozialisation und Extremismus Aktenzeichen: WD 1 - 3000 - 014/20 Abschluss der Arbeit: 2. Juli 2020 (zugleich Abrufdatum der zitierten Internetadressen) Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 014/20 Seite 3 1. Vorbemerkung Frühkindliche Erfahrungen beeinflussen den weiteren Entwicklungsweg eines Menschen nachhaltig , wobei sich positive wie negative Effekte bis ins Erwachsenenalter nachweisen lassen.1 Unumstritten ist es, dass die Bedingungen des Aufwachsens und die Erfahrungen in Familie, Schule und Freundeskreis die Handlungs- und Orientierungsweisen von Kindern und Jugendlichen prägen . Hieran setzt insbesondere die Sozialisationsforschung an, die die Bedingungen untersucht, unter denen sich insbesondere extremistische Einstellungen entwickeln. Im Zusammenhang mit rechtsextremistischen Gewalttätern lag der Fokus der Präventions- und Interventionsbemühungen lange auf den Phasen der Pubertät und der Adoleszenz, während erst später auch der Bereich der frühkindlichen Sozialisation in den Blick rückte.2 Dabei untersuchte bereits Sigmund Freud einen möglichen Zusammenhang von frühen Prägungen und späterem deviantem Verhalten, wobei insbesondere die Arbeiten der „Frankfurter Schule“ um Theodor W. Adorno zur „autoritären Persönlichkeit“ diese Überlegungen in den politischen Kontext übertragen haben.3 Die politische Sozialisationsforschung folgte dabei bestimmten Konjunkturen, wie der Leiter der der Fachgruppe „Politische Sozialisation und Demokratieförderung“ am Deutschen Jugendinstitut , Dr. Björn Milbradt, bestätigt: „Schaut man sich die Forschungslage und den Verlauf von Publikationstätigkeiten an, dann wird deutlich, dass politische Sozialisationsforschung ihre Hochphase einmal in den späten 70er Jahren, dann in den Neunzigern und frühen 2000er Jahren hatte und seitdem tendenziell ein Schattendasein fristet. Erst in den letzten Jahren ist mit den verschiedenen gesellschaftlichen Konflikten um Polarisierung und Radikalisierung ein stärkeres Interesse zu beobachten, das sich aber bisher kaum in entsprechenden Studien niederschlägt. In der in meiner Fachgruppe angesiedelten Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention konzipieren wir derzeit qualitative und quantitative Studien, die zumindest über einen Zeitraum von mehreren Jahren einen Längsschnitt beinhalten.“4 In der aktuellen Debatte wird dieser komplexe Zusammenhang mitunter auf Schlagwörter wie „Politische Bildung beginnt auf dem Wickeltisch“ zugespitzt und gewalttätiges Verhalten oder politische Einstellungen primär aus frühkindlichen Erfahrungen abgeleitet.5 Die sozialwissenschaftliche Forschung betont dagegen den besonderen Stellenwert der frühkindlichen Sozialisation für die weiteren Entwicklungspfade, ohne andere Faktoren und Stufen der Sozialisierung zu marginalisieren. So sieht etwa der Erziehungswissenschaftler Peter Rieker in einer einseitigen Fokussierung auf Kindergarten und Vorschule „das Risiko einer verkürzten Sichtweise“: „Zunächst 1 Vgl. Leopoldina: Frühkindliche Sozialisation. Biologische, psychologische, linguistische, soziologische und ökonomische Perspektiven, Kurzfassung der Stellungnahme, Juli 2014, S. 1, online verfügbar unter: https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2014_Stellungnahme_Sozialisation_KURZ_web.pdf. 2 Rieker, Peter: Rechtsextremismus: Prävention und Intervention. Weinheim-München 2009, S. 23. 3 Vgl. u.a. Oesterreich, Detlef: Flucht in die Sicherheit. Zur Theorie des Autoritarismus und der autoritären Reaktion . Opladen 1996, S. 25-28. 4 E-Mail von Dr. Björn Milbradt an WD 1, 2. Juli 2020. 5 Vgl. u.a. Renz-Polster, Herbert: Erziehung prägt Gesinnung. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können. München 2019, S. 111 sowie die beigefügte Pressedokumentation. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 014/20 Seite 4 ist in Rechnung zu stellen, dass diese Einrichtungen in ein komplexes Geflecht gesellschaftlicher Bezüge eingebunden sind. Sie haben es mit Kindern zu tun, die durch ihre Familien bereits umfassend geprägt sind und fortlaufend weiter durch diese geprägt werden. […] Darüber hinaus stellen Kindergarten und Grundschule vergleichsweise frühe Glieder einer fortlaufenden Kette institutioneller Bezüge dar, durch die Kinder später als Jugendliche und junge Erwachsene weiter geprägt werden […] Hinzu kommen informelle Kontakte zu Freund/inn/en, Partner/innen oder Cliquen . Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Anregungen und Einflüsse des Kindergartens und der Grundschule durch spätere Erfahrungen modifiziert oder überdeckt werden. […] Insofern können die in Kindergarten und Grundschule realisierten Angebote, die im Zentrum dieser Betrachtung stehen, auch nur einzelne Bausteine in komplexen Zusammenhängen darstellen .“6 Zudem existieren zwar in Hinblick auf die Sozialisation rechtsextremistischer Straftäter einschlägige Studien, es mangelt jedoch für die Phänomenbereiche Islamistischer Extremismus und Linksextremismus an vergleichbaren Forschungsbefunden.7 Darüber hinaus steht die empirische Bestätigung für eine Übertragbarkeit der vorliegenden Erkenntnisse auf die anderen Bereiche bislang noch aus.8 Aus Sicht von Björn Milbradt besteht ein deutlicher Forschungsbedarf für eine langfristige empirische Forschung zur politischen Sozialisation, wobei methodologische Einschränkungen zu beachten seien: „Studien, die solche Zusammenhänge kausal nachweisen können, sind äußerst voraussetzungsreich , extrem schwer zu konzipieren geschweige denn, über solch lange Zeiträume durchzuführen, Stichwort ist hier beispielsweise die sogenannte Panelmoralität. Und gleichzeitig muss man deutlich Einschränkungen machen in Bezug auf die prinzipielle Möglichkeit der Ermittlung von Kausalitäten: in Bezug auf menschliches Verhalten sind diese selten eindimensional und natürlich überhaupt nicht im Sinne naturwissenschaftlicher Kausalitätsverständnisse zu interpretieren. Sollten sich über Zeiträume von teilweise Jahrzehnten tatsächlich einmal empirische , statistische Kausalitäten nachweisen lassen, so würde sich wiederum die Frage stellen, was ich eigentlich weiß, wenn ich beispielsweise weiß, dass der Zusammenhang zwischen einem Kitabesuch für drei Jahre und der späteren Übernahme von extremistischen Positionen r=0,2 ist. Nötig ist hier meiner Ansicht nach insbesondere eine verstehende, multimethodische Sozialforschung , die reflexiv angelegt ist und damit helfen kann, eine empirisch fundierte und theoretisch informierte Vorstellung von der komplexen sozialen Wirklichkeit zu geben.9 6 Rieker, Peter: Soziales Lernen in Kindergarten und Grundschule als Prävention von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit – Ansätze, Bedingungen und Ergebnisse. In: Peter Rieker (Hrsg.): Der frühe Vogel fängt den Wurm!? Soziales Lernen und Prävention von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Kindergarten und Grundschule. Halle a.d.S. 2004, S. 97–113, hier: 110f. 7 Vgl. mit Fokus auf Rechtsextremismus und islamistischen Extremismus u.a. Glaser, Michaela: Was ist übertragbar ? Was ist spezifisch? Rechtsextremismus und islamistischer Extremismus im Jugendalter und Schlussfolgerungen für die pädagogische Arbeit. In: Bpb-Infodienst: Radikalisierungsprävention, online verfügbar unter: http://www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/239365/rechtsextremismus-und-islamistischer -extremismus-im-jugendalter?p=all. 8 Vgl. Herding, Maruta: Forschungslandschaft und zentrale Befunde zu radikalem Islam im Jugendalter. In: Dies. (Hg.): Radikaler Islam im Jugendalter. Erscheinungsformen, Ursachen und Kontexte. Halle a.d.S. 2013, S. 21-39, hier: S. 27. 9 E-Mail von Dr. Björn Milbradt an WD 1, 2. Juli 2020. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 014/20 Seite 5 In diesem Kontext unterstützt die Bundesregierung u.a. im Programm „Demokratie leben! – Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“ seit August 2016 acht Modellprojekte zu Antidiskriminierung und Frühprävention im Vorschulalter.10 Das Themenfeld orientiert sich nicht an einem einzelnen Element der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, sondern ist als Handlungsfeld im Bereich der Elementarbildung konzipiert, wobei der Fokus auf der Sensibilisierung der pädagogischen Fachkräfte im Umgang mit Diversität und Diskriminierung liegt.11 Insbesondere hinsichtlich der Frühprävention werden mehrere Herausforderungen und Probleme diskutiert, die von einer nur eingeschränkt möglichen Erfolgsvalidierung über umstrittene Risikoeinschätzungen bis zur Stigmatisierung einzelner Kinder reichen.12 Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass sich die Handlungslogiken von Frühprävention und politischer Bildung deutlich unterscheiden.13 Neben diesen Initiativen des Familienministeriums sieht auch das Bundesamt für Verfassungsschutz hinsichtlich einer möglichen (früh-)kindlichen jihadistischen Sozialisation „nicht nur die Sicherheitsbehörden, sondern insbesondere Einrichtungen mit einem pädagogischen Auftrag gefordert.“14 Die vorliegende Dokumentation umfasst mehrere Studien, die sich mit dem Zusammenhang von frühkindlicher Prägung und Extremismus auseinandersetzen. Diese erläutern die Grundzüge der politischen Sozialisationsforschung, die Ansätze der Autoritarismusforschung sowie Konzepte der demokratischen Erziehung und der Prävention im Vorschulalter. Darüber hinaus ist eine Pressedokumentation beigefügt. 2. Dokumentation Büttner, Christian/Magdalena Kladzinski: Demokratie in Familie und Kindergarten. Konzepte zu Partizipation und Interessenkonflikten. In: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch Politische Bildung. Schwalbach ³2005, S. 171-183. Kleeberg-Niepage, Andrea: Zur Entstehung von Rechtsextremismus im Jugendalter – oder : Lässt sich richtiges politisches Denken lernen. In: Journal für Psychologie 20 (2012) 2 10 Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung 2016, S. 14, online verfügbar unter: https://www.bmfsfj.de/blob/109002/5278d578ff8c59a19d4bef9fe4c034d8/strategie-der-bundesregierung -zur-extremismuspraevention-und-demokratiefoerderung-data.pdf. 11 Brand, Alina u.a.: Abschlussbericht 2019. Wissenschaftliche Begleitung der Modellprojekte zu GMF und Demokratiestärkung . Programmevaluation „Demokratie leben!“. Halle a.d.S. 2020, S. 65f., online verfügbar unter: https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/DemokratieLeben/Abschlussbericht_2019_MP_D.pdf. 12 Vgl. Rieker: Rechtsextremismus (wie Anm. 2), S. 47f.; vgl. zur Komplexität der damit verbundenen Voraussetzungen und Herausforderungen auch die beigefügte Auskunft des Leiters der Fachgruppe „Politische Sozialisation und Demokratieförderung“ (am Deutschen Jugendinstitut) an WD 1, 28. Juni 2020. 13 Vgl. Milbradt, Björn u.a.: (Sozial)-pädagogische Praxis im Handlungsfeld Radikalisierungsprävention – Handlungslogik , Präventionsstufen und Ansätze. In: Claudia Heinzelmann, Erich Marks (Hg.): Prävention und Demokratieförderung . Gutachterliche Stellungnahme für den 24. Deutschen Präventionstag am 20. und 21. Mai 2019 in Berlin. Mönchengladbach 2019, S. 141-179, hier: 141. 14 Neue Jihad-Generation? Dynamiken in der jihadistischen Sozialisation in Deutschland, Schlaglicht des BfV April 2018, online verfügbar unter: https://www.verfassungsschutz.de/de/aktuelles/schlaglicht/schlaglicht-2018- 04-neue-jihad-generation. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1 - 3000 - 014/20 Seite 6 Leopoldina: Frühkindliche Sozialisation. Biologische, psychologische, linguistische, soziologische und ökonomische Perspektiven, Stellungnahme Juli 2014 Milbradt: (Sozial)-pädagogische Praxis Rieker: Rechtsextremismus, S. 26-48 Rippl Susanne u.a.: Die autoritäre Persönlichkeit: Konzept, Kritik und neuere Forschungsansätze . In: Dies. (Hg.): Autoritarismus. Kontroversen und Ansätze der aktuellen Autoritarismusforschung. Opladen 2000, S. 13-30 Stärck, Alexander: Ist das Hautfarbe? Elementarpädagogische Präventionsmaßnahmen gegen Vorurteile und Diskriminierung bei Kindern. Opladen 2019, S. 13-38; 357-365 Wahl, Klaus (Hg.): Skinheads, Neonazis, Mitläufer. Täterstudien und Prävention. Opladen 2003, S. 90-125. Pressedokumentation ***