© 2019 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 – 011/19 Zu den Internierungs- und Speziallagern der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition in Deutschland Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 2 Zu den Internierungs- und Speziallagern der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition in Deutschland Aktenzeichen: WD 1 - 3000 – 011/19 Abschluss der Arbeit: 16. Mai 2019 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Planungen zur Errichtung von Internierungslagern bei den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition vor dem Mai 1945 6 2.1. Die Planungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens 7 2.2. Die Planungen der Sowjetunion 8 3. Die Internierungspraxis in den Internierungs- und Speziallagern der Alliierten nach dem Kriegsende im Mai 1945 9 3.1. Die Internierungslager in der amerikanischen Besatzungszone 11 3.2. Die Internierungslager in der britischen Besatzungszone 14 3.3. Die Internierungslager in der französischen Besatzungszone 16 3.4. Die Speziallager in der sowjetischen Besatzungszone 17 4. Tabellarische Übersicht zur Anzahl der Internierungslager und zur geschätzten Gesamtzahl der Internierten in den alliierten Internierungs-bzw. Speziallagern zwischen 1945 und 1950 20 5. Literatur 21 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 4 1. Einleitung Die Festnahme und Internierung von mehr als 400.000 Zivilisten durch die Alliierten der Anti- Hitler-Koalition in speziell dafür errichteten Internierungs- bzw. Speziallagern1 nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gehörten zu jenen besatzungspolitischen Maßnahmen, die die endgültige Zerschlagung des Nationalsozialismus in Deutschland gewährleisten sollten.2 Die Internierung ist in der Forschung als „mit Abstand radikalste aller Entnazifizierungsmaßnahmen“3 bezeichnet worden, die von alliierter Seite aus sicherheitspolitischen und moralischen Gründen gerechtfertigt wurde, da die internierten Personen „als gefährlich galten und daher zunächst vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden sollten“4 und ihnen vorgeworfen wurde, „für den Angriffskrieg und die Menschheitsverbrechen des Dritten Reiches politisch in besonderer Weise mitverantwortlich zu sein.“5 Für die Betroffenen bedeutete die präventive Internierung ohne individuelle Anklageerhebung einen mitunter mehrjährigen Lageraufenthalt allein aufgrund der Mitgliedschaft bzw. der Ausübung einer Funktion in der NSDAP oder in anderen nationalsozialistischen Organisationen. „Das Recht, das die Internierung aufgrund des Schuldvorwurfs (Mitgliedschaft in einer NS-Organisation) justiziabel machte, bestand zum Zeitpunkt der Verhaftung 1945 noch nicht. Die Grundlagen hierfür wurden erst 1946 vor dem Nürnberger Internationalen Militärgerichtshof im Rahmen der Organisationsklage überprüft. Nur wenn eine Einstufung als ‚verbrecherische Organisation‘ erfolgte, war der Beweis der Mitschuld an den Verbrechen ihrer Mitglieder gegeben und damit deren Internierung, die in der Regel bis zum Urteil erfolgte, rechtmäßig .“6 1 Der Begriff „Speziallager“ für die in der sowjetischen Besatzungszone ab Mai 1945 errichteten Lager geht auf die russische Bezeichnung „Spezlag“ zurück, die in den sowjetischen Akten für diesen Lagertypus gebraucht wurde. Seit 1990 findet er als wissenschaftlicher Verständigungsbegriff in der Forschung zunehmend Verwendung , da er die Unterschiede und Besonderheiten der Internierungspraxis in der sowjetischen Besatzungszone im Vergleich zu den in den drei westlichen Besatzungszonen errichteten Internierungslagern auch begrifflich kennzeichnet. (Vgl. Gerhard Finn: Die Speziallager der sowjetischen Besatzungsmacht 1945 bis 1950, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Baden-Baden/Frankfurt am Main 1992, Band IV, S. 337-397, hier: S. 360, sowie Bettina Greiner: Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland, Hamburg 2010, S. 460) 2 Vgl. zur Zahl der Internierten in den einzelnen Besatzungszonen die tabellarische Übersicht in Kapitel 4. 3 Kathrin Meyer: Entnazifizierung von Frauen. Die Internierungslager der US-Zone Deutschlands 1945-1952, Berlin 2004, S. 14 4 Ebenda, S. 11 5 Lutz Niethammer: Alliierte Internierungslager in Deutschland nach 1945. Vergleich und offene Fragen, in: Christian Jansen, Lutz Niethammer und Bernd Weisbrod (Hrsg.). Von den Aufgaben der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1995, S. 486 6 Zitat: Kathrin Meyer 2004, a. a. O., S. 18; vgl. hierzu auch Lutz Niethammer 1995, a. a. O., S. 487, der in diesem Zusammenhang von einem „prima-facies-Beweis“ spricht. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 5 Die zunächst nur aufgrund besatzungspolitischer Direktiven der Alliierten erfolgte Internierung und die lange fehlende Rechtsgrundlage hierfür riefen in der zeitgenössischen Debatte der deutschen Gesellschaft zum Teil heftige Kritik hervor.7 In der wissenschaftlichen Forschung standen die Internierungs- bzw. Speziallager der Alliierten lange Zeit nicht im Fokus der Betrachtung. Neben Studien zu den Internierungslagern in den drei westlichen Besatzungszonen liegen seit der teilweisen Öffnung der russischen Archive in den 1990er Jahren inzwischen auch quellenbasierte Untersuchungen zu den Speziallagern in der sowjetischen Besatzungszone vor.8 Keine ausführliche Berücksichtigung findet im Folgenden das Thema „Kriegsverbrecher“, da es inhaltlich mit den von den Alliierten für Zivilpersonen errichteten Internierungslagern nicht in direktem Zusammenhang steht.9 Die in Nürnberg vom Internationalen Militärgerichtshof auf Grundlage des Londoner Statuts10 vom 8. August 1945 angeklagten 24 Hauptkriegsverbrecher11 wurden von 7 Vgl. Andrew H. Beattie: Die alliierte Internierung im besetzten Deutschland. Vergleich der amerikanischen und der sowjetischen Zone, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 62. Jg. (2014), Heft 3, S. 239-256, hier: S. 245- 255; auf deutscher Seite waren verharmlosende und relativierende Vergleiche und die Gleichsetzung der alliierten Internierungs- und Speziallager mit den nationalsozialistischen Konzentrationslagern in den Nachkriegsjahren an der Tagesordnung. (Vgl. hierzu Kathrin Meyer: Die Internierung von NS-Funktionären in der US-Zone Deutschlands, in: Dachauer Hefte. Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager , 19. Jahrgang (2003), Heft 19: Zwischen Befreiung und Verdrängung, S. 24-47, hier: S. 32, Kathrin Meyer 2004, a. a. O., S. 174f., Anm. 7, Andrew H. Beattie 2014, a. a. O., S. 256). Dass diese Vergleiche einer sachlichen Grundlage entbehrten, zeigen die vorhandenen wissenschaftlichen Einordnungen und Abgrenzungen der alliierten Internierungslager von den sonstigen Lagertypen der Epoche. (Vgl. hierzu Lutz Niethammer 1995, a. a. O., S. 487f. sowie Bettina Greiner 2010, a. a. O., S. 459-472) 8 Zu den Internierungslagern in der amerikanischen Besatzungszone: Christa Schick: Die Internierungslager, in: Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, hrsg. von Martin Broszat , Klaus-Dietmar Henke und Hans Woller, München 1988, 1. Auflage, S. 301-325, Christa Horn: Die Internierungs - und Arbeitslager in Bayern 1945 – 1952, Frankfurt am Main 1992, Kathrin Meyer: Entnazifizierung von Frauen. Die Internierungslager der US-Zone Deutschlands 1945-1952, Berlin 2004; zu den Internierungslagern in der britischen Besatzungszone: Heinrich Wember: Umerziehung im Lager. Internierung und Bestrafung von Nationalsozialisten in der britischen Besatzungszone Deutschlands, Essen 1991; zu den Internierungslagern in der französischen Besatzungszone: Rainer Möhler: Entnazifizierung in Rheinland-Pfalz und im Saarland unter französischer Besatzung von 1945 bis 1952, Mainz 1992, Rainer Möhler: Internierung im Rahmen der Entnazifizierungspolitik in der Französischen Besatzungszone, in: Knigge-Tesche, Renate, Reif-Spirek, Peter und Ritscher , Bodo (Hrsg.): Internierungspraxis in Ost- und Westdeutschland nach 1945. Eine Fachtagung. Erfurt 1993, S. 58-68; zu den Speziallagern in der sowjetischen Besatzungszone: Alexander von Plato: Zur Geschichte des sowjetischen Speziallagersystems in Deutschland. Einführung, in: Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, hrsg. von Sergej Mironeko, Lutz Niethammer und Alexander von Plato, Berlin 1998, Bd. 1: Studien und Berichte, S. 19-76, Ralf Possekel: Einleitung. Sowjetische Lagerpolitik in Deutschland, in: Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, hrsg. von Sergej Mironeko, Lutz Niethammer und Alexander von Plato, Berlin 1998, Bd. 2: Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik, S. 15-110, Bettina Greiner: Verdrängter Terror . Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland, Hamburg 2010 9 Mutmaßliche Kriegsverbrecher hatten insofern eine gesonderte Stellung, da sie im Gegensatz zu den internierten Zivilpersonen von den Alliierten aufgrund konkreter Tatvorwürfe verhaftet und festgehalten wurden. 10 Das Londoner Statut bildete wiederum die materiell-rechtliche Basis für das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945, das die Rechtsgrundlage für die Prozesse gegen weitere Kriegsverbrecher bildete. 11 Angeklagt und zum Tode verurteilt wurden u. a. „Reichsmarschall“ Hermann Göring, der „NS-Chefideologe“ Alfred Rosenberg, der ehemalige Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop und der ehemalige Reichsinnenminister Wilhelm Frick. Zu langjährigen bzw. lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden u. a. der „Stellvertreter des Führers“ Rudolf Heß, „Reichsjugendführer“ Baldur von Schirach und Rüstungsminister Albert Speer. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 6 den Alliierten vor Prozessbeginn in verschiedenen Sondergefängnissen und nicht in den Internierungslagern für Zivilpersonen untergebracht.12 2. Planungen zur Errichtung von Internierungslagern bei den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition vor dem Mai 1945 Die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition hatten sich im Laufe des Zweiten Weltkrieges zwar auf einige gemeinsame Ziele wie die bedingungslose Kapitulation Deutschlands, die Beseitigung der Nationalsozialistischen Partei, der nationalsozialistischen Organisationen, Einrichtungen und Gesetze sowie die Bestrafung der Verantwortlichen der nationalsozialistischen Diktatur geeinigt, sie trafen aber im Rahmen der alliierten Kriegskonferenzen und anderer gebildeter gemeinsamer Gremien keine Beschlüsse über die konkrete Besatzungspolitik nach Beendigung des Krieges.13 Dies trifft auch auf die hier betrachtete Internierungsplanung und -praxis zu. In einem internen russischen Entwurf einer Kapitulationserklärung tauchte im Februar 1944 zwar der Vorschlag auf, Angehörige von Gestapo und SA nach Kriegsende zu internieren. In die offiziellen Beratungen im Rahmen der im Oktober 1943 gebildeten interalliierten European Advisory Commission (EAC) wurde jedoch nur eine Kurzfassung eingebracht, in der der Internierungsvorschlag nicht enthalten war.14 Ein im März 1945 in die EAC eingebrachter amerikanischer Direktiven-Entwurf für die Behandlung Deutschlands enthielt ebenfalls nur eine ebenso knappe wie unbestimmte politische Grundaussage zur Arrestpolitik.15 Da die Planungen zur Internierung von als gefährlich erachteten Zivilisten in Deutschland sowie die ab Mai 1945 praktizierte Internierungspolitik primär von politischen Direktiven der jeweiligen Besatzungsmächte geprägt waren, werden diese im Folgenden separat skizziert. 12 Für die Hauptkriegsverbrecher wurde zunächst im belgischen Spa ein Verhörlager mit dem Codenamen „Ashcan “ eingerichtet, das später in den luxemburgischen Kurort Mondorf-les-Bains verlegt wurde (vgl. hierzu Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2012, S. 332ff., Heinrich Wember 1991, a. a. O., S. 27 sowie den Spiegel-Artikel „Hotel der Kriegsverbrecher“, abrufbar unter https://www.spiegel.de/einestages /ns-elite-in-gefangenschaft-hotel-der-kriegsverbrecher-a-948559.html). Weitere mutmaßliche Kriegsverbrecher , zu denen auch die Wachmannschaften der Konzentrationslager zählten, wurden aus Mangeln an Unterbringungsmöglichkeiten zwar entgegen ursprünglicher Planungen nicht in eigenen Lagern, sondern in der britischen und amerikanischen Besatzungszone in den Internierungscamps für Zivilisten inhaftiert, wo sie räumlich separiert in gesonderten Lagerbereichen auf ihre Prozesse warteten. (Vgl. Wember 1991, a. a. O., S. 25, Kathrin Meyer 2003, a. a. O., S. 29) 13 Heinrich Wember 1991, a. a. O., S. 13 14 Vgl. hierzu Ralf Possekel 1998, S. 24-30 15 „Kriegsverbrecher und alle, die an der Planung und Durchführung von Nazi-Vorhaben, die zu Greueltaten oder Kriegsverbrechen geführt haben, teilgenommen haben, werden verhaftet, vor Gericht gestellt und bestraft. Nazi- Führer und einflußreiche Unterstützer der Nazis und alle anderen Personen, die der Besatzung oder ihren Zielen gefährlich werden könnten, werden verhaftet und interniert.“ (Zitiert nach: Lutz Niethammer: Alliierte Internierungslager in Deutschland nach 1945. Ein Vergleich und offene Fragen, in: Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, hrsg. von Sergej Mironeko, Lutz Niethammer und Alexander von Plato, Berlin 1998, Band 1: Studien und Berichte, S. 101) Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 7 2.1. Die Planungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens Erste Überlegungen zur Errichtung von Internierungslagern entstanden bereits Anfang 1943.16 Vertreter der britischen und amerikanischen Militärführungen verständigten sich im März 1943 darauf, in Zukunft ein großes Kriegsgefangenlager nur für die Internierung von Zivilisten zu nutzen , die als Gefahr für die Angehörige der eigenen Streitkräfte angesehen wurden.17 Bei der amerikanischen Zielsetzung einer gründlichen „Säuberung“ des deutschen Volkes von nationalsozialistischen Elementen ging es neben der Beseitigung der Ideologie des Nationalsozialismus zunächst primär um den Schutz der Einrichtungen der Besatzungsmacht, da die Angst vor der Bildung einer nationalsozialistischen Untergrundbewegung und sogenannter Werwolf-Kommandos bei Briten und Amerikanern in den ersten Monaten der Besatzungsherrschaft sehr stark ausgeprägt war. Daher war man entschlossen, zumindest für eine gewisse Zeit den Einfluss tatsächlicher oder mutmaßlicher Träger der nationalsozialistischen Weltanschauung und sonstiger als gefährlich erachteter Personen rigoros auszuschalten und dabei auch Verhaftungen in großer Anzahl ohne individuellen Tatverdacht vorzunehmen.18 Bereits im Jahr 1944 wurden innerhalb des gemeinsamen Supreme Headquarters Allied Expenditionary Forces (SHAEF) erste Direktiven entworfen, die neben der Verhaftung der nationalsozialistischen Führungsriege die Internierung von drei Personengruppen vorsahen: „1. Personen, deren Rang in der NSDAP oder in einer NS-Organisation den begründeten Verdacht nahe legte, dass sie schuldigen Aktivisten (für die verbrecherischen Ziele des Nationalsozialismus ) waren, von denen Widerstand zu erwarten sei. (…) 2. Personen, gegen die kein solcher Formalverdacht bestand, von denen jedoch trotzdem eine Gefährdung der Sicherheit zu befürchten war: so genannte security threats bzw. security suspects. 3. Personen, an denen die Abteilung für die Verfolgung von Kriegsverbrechen in der Militärregierung interessiert war. Diese Gruppe sollte von den anderen Internierten abgesondert werden.“19 Die Verhaftungsdirektiven wurden in den folgenden Monaten weiter konkretisiert und fanden Eingang in das „Handbook für Military Government“. Sie regelten insbesondere den sogenannten Automatischen Arrest, der die Verhaftung von Amtsträgern der NSDAP, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände bis hinab zum Ortsgruppenleiter, aller Mitglieder der SS, Führer der Waffen-SS, der höheren Führer der SA und der Polizei, aller Angehörigen der politischen Polizei, der Gestapo und des SD, führender Ministerial- und anderer hoher politischer Beamter, aller höheren Offiziere und der Beamten der deutschen Verwaltungen in den besetzten Ländern, aller 16 Frankreich erhielt erst im Jahr 1945 von den Regierungen der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion den Status als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges zuerkannt und war daher an den Internierungsplanungen der Westalliierten während des Zweiten Weltkrieges nicht beteiligt. 17 Kathrin Meyer 2004, a. a. O., S. 35f. 18 Christa Schick, 1988, a. a. O., S. 301f. 19 Kathrin Meyer 2003, a. a. O., S. 26 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 8 Generalstabsoffiziere und der Richter und Ankläger des Volksgerichtshofes vorsah.20 „Die Einführung des Automatischen Arrests beruhte auf der grundsätzlichen Überlegung, dass bereits ein bestimmter Funktionärsrang in einer NS-Organisation einen ausreichenden Verdacht des aktiven Beitrages für die verbrecherischen Ziele des Nationalsozialismus begründete“21, hat Kathrin Meyer in ihrer Studie über die Internierungslager in der amerikanischen Besatzungszone hervorgehoben . Obgleich das Handbuch nur als Leitlinie für die Verhaftungsaktionen in der Anfangszeit der Besetzung gedacht war, blieb es für die Amerikaner die Grundlage für die Internierung bis zur Änderung des Automatischen Arrests im Jahr 1947 und seiner Aufhebung im April 1948. Das Handbuch wurde auch von Briten und Franzosen als Vorlage für die Durchführung von Verhaftungen in ihren Besatzungszonen benutzt.22 2.2. Die Planungen der Sowjetunion Ein wesentliches Kennzeichen der sowjetischen Politik gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung war das Fehlen von langfristigen Planungen. Insgesamt seien die Zwangsmaßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht stark durch „situative Zweckmäßigkeitserwägungen“ bestimmt gewesen, wie Bettina Greiner in ihrer Studie über die sowjetischen Speziallager betont hat.23 Unmittelbar nachdem die Rote Armee Ende 1944 auf das Gebiet des Deutschen Reiches vorstieß, erließ die sowjetische Regierung mit dem Befehl „Über Maßnahmen zur Säuberung des Hinterlandes der Roten Armee von feindlichen Elementen“ Nr. 0016 vom 11. Januar 1945 des Volkskommissars für innere Angelegenheiten der UdSSR (NKVD) eine erste Direktive, die die Grundlage für die folgende Verhaftungs- und Internierungspraxis bildete.24 Der sehr vage gehaltene Befehl sah „die Ermittlung und Inhaftierung von Spionen und Diversanten der deutschen Geheimdienste , von Terroristen, von Mitgliedern faschistischer Organisationen und Gruppen von Banditen und Aufständischen“ vor, die durch den sowjetischen Geheimdienst durchgeführt werden sollten.25 Während zunächst vorgesehen war, die verhafteten Personen als Arbeitskräfte zwangsweise in die Sowjetunion zu verbringen, wurde diese Direktive durch den Befehl Nr. 00315 vom 18. April 1945 abgeändert. Die zuvor beim Vormarsch der Roten Armee in Osteuropa gegenüber 20 Kathrin Meyer 2004, a. a. O., S. 37-39 21 Zitat: Ebenda: S. 39f. 22 Ebenda, S. 39 23 Bettina Greiner 2010, a. a. O., S. 50 und S. 463 24 Abgedruckt in: Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, hrsg. von Sergej Mironeko, Lutz Niethammer und Alexander von Plato, Berlin 1998, Band. 2: Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik, S. 142- 146 25 Zitat: Ebenda, S. 144; vgl. auch Alexander von Plato 1998, a. a. O., S. 24f. sowie Bettina Greiner 2010, a. a. O., S. 52-55 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 9 „Reichs- und Volksdeutschen“ und zunächst auch in den deutschen Ostgebieten praktizierte „Mobilisierungspraxis“ von Arbeitskräften in die Sowjetunion wurde damit eingestellt.26 Der Befehl Nr. 00315 vom 18. April 1945 umriss auch die Verhaftungsanweisungen präziser als bisher. Festgenommen und in Speziallager eingewiesen werden sollten: „a) Spione, Diversanten, Terroristen deutscher Geheimdienste; b) Angehörige aller Organisationen und Gruppen, die von der deutschen Führung und den Geheimdienten des Gegners zur Zersetzungsarbeit im Hinterland der Roten Armee zurückgelassen wurden; c) Betreiber illegaler Funkstationen, Waffenlager und illegaler Druckereien (…); d) aktive Mitglieder der nationalsozialistischen Partei; e) Führer der faschistischen Jugendorganisationen auf Gebiets-, Stadt- und Kreisebene; f) Mitarbeiter von Gestapo, ‚SD‘ und anderen Straforganen; g) Leiter von Gebiets-, Stadt- und Kreisverwaltungen sowie Zeitungs- und Zeitschriftenredakteure und Autoren antisowjetischer Veröffentlichungen.“27 Auf der Grundlage dieses Befehls nahmen die sowjetischen Sicherheitsorgane in den folgenden Monaten Verhaftungen vor und internierten die Festgenommenen ab Mai 1945 in eigens errichteten Speziallagern in der sowjetischen Besatzungszone, die der Abteilung Speziallager des NKVD in Deutschland unterstand. 3. Die Internierungspraxis in den Internierungs- und Speziallagern der Alliierten nach dem Kriegsende im Mai 1945 Nachdem es in der Planungsphase seitens der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition keine gemeinsame Abstimmung über den Kreis der zu verhaftenden und internierenden Deutschen gegeben hatte, so änderte sich dies auch nach dem Kriegsende am 8. Mai 1945 nicht grundlegend. Allerdings fand der Begriff „Internierung“, der bei den Beschlüssen der Konferenz von Jalta zu den Nachkriegsplanungen für Deutschland im Februar 1945 noch keine Rolle gespielt hatte, im Protokoll der Konferenz von Potsdam vom 2. August 1945 erstmals Erwähnung. Dort hieß es im Absatz über die politischen Grundsätze: 26 Vgl. Alexander von Plato 1998, a. a. O., S. 21-25 sowie Bettina Greiner 2010, a. a. O., S. 49-55; warum die sowjetische Führung plötzlich von der Mobilisierungspraxis Abstand nahm und eine Neubestimmung der Haftpraxis vornahm, konnte von der Forschung bisher nicht abschließend geklärt werden. (Vgl. Bettina Greiner 2010, a. a. O., S. 58f.) 27 Befehl des Volkskommissars für Inneres Nr. 00315 „Zur teilweisen Abänderung des Befehls des NKVD der UdSSR Nr. 0016 vom 11. Januar 1945, abgedruckt in: Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, hrsg. von Sergej Mironeko, Lutz Niethammer und Alexander von Plato, Berlin 1998, Band. 2: Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik, S. 178-180, Zitat: S. 178 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 10 „5. (…) Nazistische Parteiführer, einflußreiche Nazianhänger und die Leiter der nazistischen Ämter und Organisationen und alle anderen Personen, die für die Besetzung und ihre Ziele gefährlich sind, sind zu verhaften und zu internieren.“28 Damit war jedoch nur in sehr allgemeiner Form beschrieben und nachvollzogen worden, was die alliierten Besatzungsmächte in unterschiedlicher Form zum Teil bereits seit Anfang 1945 in ihrer jeweiligen Besatzungszone praktizierten: „Gemäß der Potsdamer Vereinbarung galten Internierungslager als Instrument einer Straf- und Entnazifizierungspolitik, das gleichzeitig der Verwahrung von Personen(-Gruppen) diente, die von den Besetzungsmächten als Sicherheitsrisiken eingeschätzt wurden.“29 Vereinbarungen darüber, was mit den Internierten im Anschluss geschehen sollte, enthielt das Abschlussdokument der Potsdamer Konferenz hingegen nicht.30 Eine nachträgliche Legitimation für die bis dahin praktizierte Internierungspolitik schuf die Direktive Nr. 38 des Alliierten Kontrollrats vom 12. Oktober 1946, die im Nachgang zum Urteilsspruch des Nürnberger Internationalen Militärgerichtshofs gegen die Hauptkriegsverbrecher vom 1. Oktober 1946 erging und drei Zwecke erfüllen sollte: „a) die Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten, Militaristen und Industriellen, welche das nationalsozialistische Regime gefördert und gestützt haben; b) die vollständige und endgültige Vernichtung des Nationalsozialismus und des Militarismus durch Gefangensetzung oder Tätigkeitsbeschränkung von bedeutenden Teilnehmern oder Anhängern dieser Lehren; c) die Internierung von Deutschen, welche, ohne bestimmter Verbrechen schuldig zu sein, als für die Ziele der Alliierten gefährlich zu betrachten sind, sowie die Kontrolle und Überwachung von Deutschen, die möglicherweise gefährlich werden können.“31 Um eine einheitliche Behandlung in den verschiedenen Besatzungszonen zu gewährleisten, sollten gemäß Abschnitt II der Kontrollratsdirektive Nr. 38 „zur gerechten Beurteilung der Verantwortlichkeit und zur Heranziehung zu Sühnemaßnahmen“ fünf Gruppen mit unterschiedlichen Belastungsgraden definiert werden: „1. Hauptschuldige; 2. Belastete (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer); 3. Minderbelastete (Bewährungsgruppe); 4. Mitläufer; 5. Entlastete (Personen der vorstehenden Gruppen, welche vor einer Spruchkammer nachweisen können, daß sie nicht schuldig sind).“32 Diese Einteilung nach Belastungsgraden, die auf Initiative der Amerikaner zurückging und in deren Besatzungszone bereits praktiziert wurde,33 sollten eine gemeinsame 28 Zitiert nach Heinrich Wember 1991, a. a. O., S. 14 29 Zitat: Bettina Greiner, 2010, a. a. O., S. 66f. 30 Heinrich Wember 1991, a. a. O., S. 14 31 Kontrollratsdirektive Nr. 38 „Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen und Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen“ vom 12. Oktober 1946, Abschnitt I, abrufbar unter http://www.verfassungen.de/de45-49/verf45-i.htm 32 Ebenda, Abschnitt II, Artikel I 33 Siehe hierzu Kapitel 3.1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 11 Grundlage für die Entnazifizierung im Allgemeinen und die Bestrafung der in den Internierungslagern festgehaltenen Personen im Besonderen bilden. Da die Umsetzung der Kontrollratsinitiative jedoch den vier Besetzungsmächten oblag, unterschied sich die Internierungspraxis in den vier Besetzungszonen zum Teil erheblich. 3.1. Die Internierungslager in der amerikanischen Besatzungszone Zwischen 1945 und 1950 bestanden in der amerikanischen Besatzungszone 37 Internierungslager sowie zwei Internierten-Gefängnisse und sieben Internierten-Krankenhäuser.34 „Sie existierten nicht alle geleichzeitig, manche Lager bestanden konstant, andere mit Unterbrechungen, wieder andere nur für weniger Wochen“, hat Kathrin Meyer in ihrer Studie über die Internierungslager in der US-Zone hervorgehoben.35 Zur Unterbringung der Internierten nutzten die Amerikaner in ihrer Besatzungszone ehemalige Konzentrationslager und deren Außenlager sowie ehemalige Kriegsgefangenenlager.36 Kathrin Meyers Angaben zufolge lassen sich bei den Internierungslagern in der amerikanischen Zone vier zeitliche Phasen unterscheiden: Die erste Phase von Mai bis Dezember 1945 sei gekennzeichnet gewesen durch einen raschen Lageraufbau, um möglichst viele Internierte unterzubringen . Nachdem zu Beginn des Jahres 1946 die Höchstzahl der Internierten in der amerikanischen Zone erreicht gewesen sei, sei es in der zweiten Phase zwischen Anfang 1946 bis zur Übergabe an deutsche Verantwortliche im Herbst 1946 um eine Konzentration und Konsolidierung der Internierungslager gegangen, deren Anzahl durch Zusammenlegungen verringert wurde. In der dritten Phase zwischen Oktober 1946 und Mai 1947 habe die Übergabe der Internierungslager an die deutschen Landesministerien für Politische Befreiung im Fokus gestanden. Im Zuge der Vorbereitungen der Verantwortungsübernahme seien die deutschen Stellen vor allem mit dem Aufbau der Spruchkammern beschäftigt gewesen, vor denen die Internierten in der Folgezeit abgeurteilt wurden. Mit den ersten Verfahren der Lagerspruchkammern im Sommer 1947 habe die letzte Phase der Internierungslager begonnen. Nachdem im April 1948 der Abschluss der Entnazifizierung und das rasche Ende der Internierung beschlossen worden seien, sei die Zahl der Internierten durch die folgenden umfangreichen Entlassungen drastisch gesunken, sodass nur noch drei Internierungslager und ein Internierten-Krankenhaus bestehen blieben. Ende 1950 schloss schließlich auch das letzte Lager.37 34 Kathrin Meyer 2004, a. a. O., S. 69; eine Liste der Internierungslager in der amerikanischen Besatzungszone ist online abrufbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/Internierungslager sowie im Anhang des Buches von Kathrin Meyer 2004, a. a. O., S. 265ff. 35 Kathrin Meyer 2004, a. a. O., S. 69 36 Christa Schick 1988, a. a. O., S. 304 37 Kathrin Meyer 2004, a. a. O., S. 69f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 12 Bis November 1946 wurden vom amerikanischen Counter Intelligence Corps 170.000 Personen aufgrund der in Kapitel 2.1. genannten Direktiven verhaftet und in den amerikanischen Internierungslagern festgesetzt,38 wobei aufgrund parallel erfolgender Entlassungen nie mehr als 140.000 Internierte gleichzeitig festgehalten wurden.39 Die große Zahl der Inhaftierten stellte die amerikanischen Lagerleitungen vor erhebliche Probleme, sodass bereits im Herbst 1945 erste Überlegungen entstanden, minderbelastete Personen, die kein Sicherheitsrisiko darstellten, zu entlassen. Da jedoch zunächst nur ein sehr eingeschränkter Kreis der Internierten Überprüfungsanträge bei den eingerichteten „Security Review Boards“ einreichen konnten, blieben die Entlassungszahlen zunächst gering.40 Eine wichtige Rückwirkung auf die Internierungspolitik in der amerikanischen Besatzungszone hatte das „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" vom 5. März 1946.41 Das „Befreiungsgesetz", das die Entnazifizierung in der US-Zone regelte, sah eine Einstufung nach fünf Belastungsstufen vor: Hauptschuldige (Gruppe I), Belastete (Gruppe II), Minderbelastete (Gruppe III), Mitläufer (Gruppe IV), Entlastete bzw. vom Gesetz nicht Betroffene (Gruppe V).42 Das Befreiungsgesetz schrieb außerdem vor, dass die Ministerien für Politische Befreiung der deutschen Länderregierungen in der amerikanischen Besatzungszone Spruchkammern zur individuellen Beurteilung der gesamten erwachsenen Bevölkerung einzurichten hatten. In einer die Internierten betreffenden ergänzenden Regelung des Gesetzes vom April 1946 wurde festgelegt, dass die Ministerien zudem eigene Spruchkammern zur Aburteilung der Internierten in den Lagern einzurichten hatten. Sowohl Spruchkammern als auch Lagerspruchkammern waren Laiengerichte , die Verfahren unter deutscher Verantwortung durchführten und die sich aus einem Vorsitzenden , einem stellvertretenden Vorsitzenden, drei bis sechs Beisitzern und einem Öffentlichen Kläger zusammensetzten, wobei nur der Anklagevertreter Jurist sein musste. Grundlage für 38 Als exponierte Repräsentanten des untergegangenen NS-Systems wurden u. a. interniert der ehemalige Reichsfinanzminister Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk und der ehemalige Chefkommentator des Reichsrundfunks , Hans Fritzsche, im Internierungslager Nürnberg-Langwasser sowie der ehemalige Gauleiter von Tirol, Franz Hofer, im Internierungslager Dachau. (Christa Schick 1988, a. a. O., S. 306 und S. 316) 39 Kathrin Meyer 2004, a. a. O., S. 98; für festgenommene mutmaßliche Kriegsverbrecher sollten ursprünglich spezielle Lager errichtet werden, sie wurden schließlich aber – separiert von den anderen Internierten – in zwei Internierungslagern in der amerikanischen Zone untergebracht; eines davon war das ehemalige Konzentrationslager Dachau, das bis 1948 sowohl als Internierungslager für Zivilsten als auch als Lager für mutmaßliche Kriegsverbrecher mit jeweils abgetrennten Bereichen genutzt wurde. (Vgl. Kathrin Meyer 2003, a. a. O., S. 29ff.) 40 Kathrin Meyer 2004, a. a. O., S.61ff.; Christa Schick 1988, a. a. O., S. 310f. 41 Vgl. zur Entstehung und zu den Auswirkungen des Befreiungsgesetzes die Studie von Lutz Niethammer: Entnazifizierung in Bayern. Säuberung und Rehabilitierung unter amerikanischer Besatzung, Frankfurt am Main 1972 42 Vgl. Kathrin Meyer 2004, a. a. O., S. 204 sowie Christa Horn 1990, a. a. O., S. 74-76 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 13 die Verfahren vor den Spruchkammern war ein Meldebogen, auf dem alle Deutschen über 18 Jahren – einschließlich der Internierten – detaillierte Angaben über ihre berufliche und politische Vergangenheit machen mussten.43 Nachdem mit dem Befreiungsgesetz bereits die Entnazifizierung den Deutschen überlassen worden war, wurde im Herbst 1946 auch die Leitung der Internierungslager in der amerikanischen Besatzungszone an die deutschen Befreiungsministerien übertragen.44 Sie erfolgte ab Oktober 1946 in mehreren Etappen. Kriegsverbrecher und Zeugen für Kriegsverbrecherprozesse blieben hingegen unter amerikanischer Obhut. Auch Internierte, die laut dem Nürnberger Urteilsspruch „verbrecherischen Organisationen“ angehört hatten, sollten zunächst nicht unter das Befreiungsgesetz fallen und somit nicht den deutschen Spruchkammerverfahren unterliegen. Die am schwersten Belasteten von ihnen wurden von der Abteilung für Kriegsverbrechen der amerikanischen Militärregierung aussortiert und vor gesonderten Gerichten abgeurteilt. Nur die weniger schwer belasteten dieser Gruppe wurde den deutschen Verantwortlichen zur Aburteilung vor den Lagerspruchkammern übergeben, wobei sich die Amerikaner eine genaue Kontrolle und eine Rücknahme der Entscheidung vorbehielten.45 Ab dem Jahr 1947 leerten sich die Internierungslager zusehends, da viele Internierte von den Lagerspruchkammern als minderbelastete Personen in die Gruppen III bis V eingestuft und entlassen wurden. Im Zuge des sich verschärfenden Kalten Krieges drängte die amerikanische Militärregierung seit Anfang 1948 die Landesregierungen in ihrer Besatzungszone dazu, die Entnazifizierung abzuschließen. Sie verzichtete fortan darauf, Überprüfungen von Entscheidungen der Lagerspruchkammern vorzunehmen und stimmte der Entlassung von allen Belasteten der Gruppe II zu. Von da an wurden in den Internierungslagern nur noch diejenigen festgehalten, die rechtmäßig zu Arbeitslagerstrafen verurteilt worden waren und diejenigen, bei denen der öffentliche Kläger Flucht-oder Verdunklungsgefahr befürchtete. Daraufhin sank die Zahl der Internierten in der amerikanischen Besatzungszone ab April 1948 schlagartig.46 43 Kathrin Meyer 2004, a. a. O., S. 204; diejenigen, die in Gruppe I oder II eingestuft und daher als besonders aktive Nationalsozialisten angesehen wurden, konnten durch die Spruchkammern nach Anhören von Be- und Entlastungszeugen und nach Abwägung der vorgelegten Beweise für eine gewisse Zeit in eigens eingerichtete Arbeitslager eingewiesen werden, in denen sie Sühne durch unbezahlte Arbeit beim Wiederaufbau leisten sollten. (Christa Schick 1988, a. a. O., S. 311) 44 Vgl. hierzu Kathrin Meyer 2004, a. a. O, S. 86-91; die Übergabe der Verantwortung für die Internierungslager an die Deutschen stellte eine Besonderheit in der amerikanischen Besatzungszone dar, die in der britischen, französischen und sowjetischen Besatzungszone keine Entsprechung fand. 45 Kathrin Meyer 2003, a. a. O., S. 38f. 46 Kathrin Meyer 2004, a. a. O., S. 246 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 14 3.2. Die Internierungslager in der britischen Besatzungszone In die Zivil-Internierungslager (Civil Internment Camps) der britischen Besatzungszone wurden im Zeitraum zwischen Mai 1945 und Juni 1949 insgesamt rund 91.000 Personen eingewiesen,47 von denen der überwiegende Teil aufgrund der oben bereits skizzierten Kriterien des Automatischen Arrests inhaftiert wurde.48 Dabei handelte es sich primär um Personen „der mittleren Ebene der NS-Funktionäre, also all jener, denen keine persönliche Straftat vorgeworfen werden konnte, die aber wesentlich dazu beigetragen haben, durch ihre Position und Tätigkeit den NS- Staat am Leben und die Kriegsmaschinerie bis zur totalen Niederlage in Gang zu halten, und ohne deren Mitarbeit der Terrorapparat zusammengebrochen wäre.“49 Hinzu kamen 2.000 Personen , die der britischen Besatzungsverwaltung aus nicht genau spezifizierten Gründen als sogenannte security suspects gefährlich vorkamen,50 sowie rund 4.000 mutmaßliche Kriegsverbrecher, die – aus Mangeln an alternativen Unterbringungsmöglichkeiten und separiert von den übrigen Internierten – in den Internierungslagern auf ihren Prozess warteten.51 Bei Letzteren handelte es sich überwiegend um Angehörige von KZ-Wachmannschaften, von denen man annahm, dass sie sich einer persönlichen Straftat schuldig gemacht hatten.52 In der britischen Besatzungszone entstanden insgesamt neun Internierungslager.53 Hierfür wurden ehemalige deutsche Kriegsgefangenenlager (Sandbostel, Westertimke, Fallingbostel, Recklinghausen , Hemer), ein Fabrikgebäude (Neumünster), eine ehemalige Garnison der Waffen-SS (Staumühle) sowie zwei ehemalige NS-Konzentrationslager (Esterwegen und Neuengamme) genutzt .54 Im Gegensatz zu den Internierungslagern in der amerikanischen Zone wurden die Leitung der britischen Camps, an deren Spitze jeweils ein britischer Lagerkommandant stand, während der ganzen Zeit ihres Bestehens nicht in deutsche Verantwortung übergeben.55 Kennzeichnend für die britische Besatzungszone war, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen 47 Zu den bekannteren Zivilpersonen in den britischen Internierungslagern zählten u. u. der ehemalige Vorsitzende der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), Alfred Hugenberg, der im Jahr 1933 kurzzeitig als Reichswirtschaftsminister in Hitlers Kabinett fungierte, der Industrielle Hugo Hermann Sinnes sowie der Bankier und SS- Brigadeführer Kurt Freiherr von Schröder. (Vgl. Heinrich Wember 1991, a. a. O., S. 247, 147 und 309) 48 Ebenda, S. 7 49 Ebenda, S. 8 50 Ebenda, S. 38 51 Ebenda, S. 28f. 52 Täter, die in Deutschland an Ausländern Verbrechen begangenen hatten, wurden ab Ende 1945 vor britischen Militärtribunale gestellt; Täter, die in Deutschland Straftaten gegen Deutsche verübt hatten, mussten sich vor deutschen Schwurgerichten verantworten. (Vgl. ebenda, S. 30f.) 53 Hinzu kamen mit der Zivilinternierten-Siedlung Adelheide bei Delmenhorst und dem Militärischen Verhörzentrum Bad Nenndorf zwei weitere Internierungsstätten in der britischen Besatzungszone. (Vgl. ebenda, S. 85-87) 54 Detaillierte Informationen zu den einzelnen Internierungslagern in der britischen Zone finden sich in der Studie von Heinrich Wember. (Ebenda, S. 55-84) 55 Ebenda, S. 52 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 15 Entnazifizierung, Internierung und Kriegsverbrecherprozessen gab. Es waren verschiedene Stellen zuständig, die unabhängig voneinander arbeiteten.56 Allein innerhalb des ersten Jahres der Besetzung internierten die Briten rund 71.000 Personen, von denen bis Mai 1946 bereits mehr als 25.000 Internierte wieder entlassen wurden, nachdem die Kategorien des Automatischen Arrests im September 1945 und März 1946 zwei Mal gelockert wurden.57 In den Folgemonaten nahmen die Entlassungszahlen jedoch zunächst deutlich ab, da vor Verkündung des Urteils im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess im Oktober 1946 unklar war, wer entlassen werden sollte und wer nicht. Denn der Nürnberger Urteilsspruch beinhaltete nicht nur die Einzelurteile gegen die angeklagten Hauptkriegsverbrecher, sondern erklärte auch das Politische Korps der NSDAP, die Gestapo, den SD und alle Gliederungen der SS einschließlich der Waffen-SS zu verbrecherischen Organisationen. Auf Grundlage der daraufhin erlassenen Direktive Nr. 38 „Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen und die Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen“ des Alliierten Kontrollrats vom 12. Oktober 1946 wurde auch in der britischen Besatzungszone „zur gerechten Beurteilung der Verantwortlichkeit und zur Heranziehung zu Sühnemaßnahme“ eine Einteilung in fünf Gruppen (Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer, Entlastete) vorgenommen.58 Ab 1947 wurden in der Nähe der Internierungslager der britischen Zone Spruchgerichte eröffnet, bei denen es sich um deutsche Strafgerichte mit nicht nationalsozialistisch belasten deutschen Richtern und nicht um Entnazifizierungsausschüsse handelte.59 Sie hatten die Aufgabe, sogenannte Organisationsverbrechen zu verfolgen und jene Internierte in der britischen Zone abzuurteilen , die einer jener vier vom Nürnberger Militärtribunal im Oktober 1946 als verbrecherisch erklärten Organisationen angehört und dort eine bestimmte Funktion bekleidet hatten.60 Die 56 Für die Festnahme von Internierten war in der britischen Zone die Abteilung für militärische Sicherheit, das Counter Intelligence Corps, verantwortlich, für die Verhaftung von Kriegsverbrechern wurde spezielle „War Crimes investigation teams“ gebildet und die Entnazifizierung lag in den Händen der Public Safety Branch. (Ebenda, S. 24, Anm. 48) 57 Ebenda, S. 38 und S. 47-49 58 Ebenda, S. 152-154; wer als Belasteter (Aktivist, Militarist, Nutznießer) der Kategorie II eingestuft wurde, oblag in der britischen Zone den Berufungsausschüssen (Review Boards). Obwohl ihnen keine persönliche Straftat vorgeworfen wurde, galten sie als eine „Gefahr für die Sache der Alliierten“ und sollten bis zu zehn Jahren in einem Gefängnis oder Lager der Alliierten interniert werden können (vgl. ebenda, S. 153). De facto wurden von den Review Boards nur rund 550 Internierte als Belastete der Kategorie II eingestuft, die in der Zivilinternierten- Siedlung Adelheide weiter langfristig interniert bleiben sollten. Im Laufe des Jahres 1948 wurde bei ihnen jedoch die Belastungsstufe herabgestuft, sodass letztlich alle entlassen wurden. (Ebenda, S. 236) 59 Zu Entwicklung und Aufbau der Spruchgerichte sowie zu deren Urteilspraxis vgl. ebenda, S. 276-354; nach ihrer Entlassung mussten sich die von einem Spruchgericht zu einer Strafe Verurteilten – ebenso wie alle anderen Internierten – zusätzlich vor dem Entnazifizierungsausschuss ihres Heimatortes verantworten. Insofern gab es in der britischen Zone eine klare Trennung zwischen Internierung, Strafverfolgung und Entnazifizierung. (Ebenda, S. 24) 60 Strafbar gemacht hatten sich diejenigen, die freiwillig nach dem 1. September 1939 Mitglied der als verbrecherisch erklärten Organisation geworden oder geblieben waren, obwohl sie von deren verbrecherischen Charakter Kenntnis hatten. (Ebenda, S. 276) Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 16 Spruchgerichte führten in den Jahren 1947 und 1948 insgesamt 24.200 Verfahren durch, von denen 5.000 Fälle bereits durch die Anklagebehörden oder die Spruchgerichte eingestellt wurden. In 19.200 Fällen wurden Strafen ausgesprochen, deren große Mehrzahl ganz oder teilweise mit der Internierungshaft als abgegolten erklärt wurde. Lediglich 900 Internierte mussten noch eine zusätzliche, zumeist nur wenige Monate währende Haftstrafe antreten. Im Februar 1949 saßen nur noch 139 Spruchgerichts-Verurteilte ihre Reststrafe ab.61 3.3. Die Internierungslager in der französischen Besatzungszone Die zur französischen Besatzungszone gehörenden linksrheinischen Gebiete sowie die dortigen Internierungslager wurden erst im Sommer 1945 von den amerikanischen an die französischen Besatzungsbehörden übergeben. Sie unterstanden der Sûreté, der Sicherheitspolizei der französischen Besatzungsverwaltung.62 In der französischen Besatzungszone existierten insgesamt 12 Internierungslager : das Lager Balingen in Südwürttemberg-Hohenzollern, die Lager Lahr-Dinglingen , Bühl-Altschweier und Freiburg-Betzenhausen in Baden, die Lager Idar-Oberstein, Landau, Wörth, Diez-Freiendiez und Trier-Petrisberg in Rheinland-Pfalz sowie die Lager Binsenthal, Theley und Saarbrücken-Befreiungsfeld im Saarland. Die ab 1947 verstärkt erfolgenden Freilassungen von Internierten führten zur Schließung mehrerer Lager und zur Zusammenlegung der Internierten in den Lagern Balingen, Freiburg, Trier und Theley.63 Im Zeitraum von 1945 bis 1949 wurden insgesamt rund 21.500 Deutsche in die Internierungslager in der französischen Besatzungszone eingewiesen,64 von denen bis Mitte 1947 über 13.000 Internierte wieder entlassen wurden. Da gleichzeitig neue Verhaftungen vorgenommen wurden, reduzierte sich die Gesamtzahl bis zu diesem Zeitpunkt auf 8.500 Personen.65 Die französischen Internierungsdirektiven orientierten sich zunächst im Wesentlichen an den bereits genannten Internierungsdirektiven des SHAEF-Handbooks. Die im Laufe des Jahres 1945 vollzogenen verschärften Internierungsregeln der Amerikaner, die den automatischen Arrest zusätzlich auf weitere Funktionsträger der NSDAP und weiterer nationalsozialistischer Organisationen ausdehnte, wurde von französischer Seite nicht nachvollzogen. Militärgerichte, die sogenannten Commissions de Triage aus Vertretern der Sicherheitspolizei, der Justizdirektion und 61 Ebenda, S. 289f.; auch wenn die Spruchgerichte – wie Heinrich Wember betont – „juristisch einwandfreie Arbeit geleistet“ hätten, fällt sein Urteil über die Arbeit und Wirkung der Spruchgerichte angesichts überwiegend überaus milder Urteile eher kritisch aus: „Die Funktion Abschreckung konnte die Spruchgerichtsbarkeit nicht ausreichend erfüllen, auch wenn dadurch erstmals der Straftatbestand des Organisationsverbrechens in die deutsche Rechtsprechung eingeführt wurde. Es war kaum ein potentieller Täter damit abzuschrecken, daß in einer von vier Besatzungszonen die Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation unter bestimmten Bedingungen strafbar gewesen war, in den anderen dagegen nicht.“ (Zitate: ebenda, S. 356) 62 Rainer Möhler 1993, a. a. O., S. 63 63 Ebenda, S. 62 64 Zu den bekannteren Internierten zählen u. a. der ehemalige badische Gauleiter Robert Wagner sowie der Saarbrücker Oberbürgermeister Fritz Schwitzgebel. (Ebenda, S. 63) 65 Ebenda, S. 64 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 17 des kommandierenden Generals, überprüften die Internierten und konnten Entlassungen veranlassen .66 Eine neue Phase der Internierungspolitik setzte nach dem Urteilsspruch im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und der Veröffentlichung der Kontrollratsinitiative Nr. 38 vom Oktober 1946 ein, in der das Korps der Politischen Leiter der NSDAP, die Gestapo, der SD und die SS zu „verbrecherischen Organisationen“ erklärt wurden. Die Kontrollratsinitiative bildete die rechtliche Grundlage für die Internierung und die Entnazifizierung in der französischen Besatzungszone in den beiden Folgejahren. Die verbliebenen 9.700 Internierten wurden einer Überprüfung unterzogen, wobei Mitglieder verbrecherischer Organisationen generell als Hautschuldige und Schuldige, die übrigen Internierten je nach formaler politsicher Belastung eingestuft wurden.67 Während sich die Erstgenannten, ca. 4.500 Personen, einem unter deutscher Verantwortung stehenden und französischer Kontrolle unterliegenden Spruchkammerverfahren unterziehen mussten , wurden die minderbelasteten Internierten in den folgenden Monaten sukzessive entlassen. Diese mussten sich allerdings – wie in der britischen Zone – anschließend in ihrem Heimatort vor einem Entnazifizierungsausschuss verantworten. Die letzten Spruchkammerverfahren zogen sich bis 1949 hin, da es den Spruchkammern zum einen an politischer, öffentlicher und gesellschaftlicher Unterstützung von deutscher Seite mangelte und zum anderen die französische Militärregierung häufig Einspruch gegen aus ihrer Sicht zu milde Spruchkammerurteile einlegte, wie Rainer Möhler in seiner Untersuchung hervorgehoben hat. Die Auflösung des letzten Internierungslagers in der französischen Besatzungszone erfolgte daher erst Ende 1949.68 3.4. Die Speziallager in der sowjetischen Besatzungszone Die sowjetischen Besatzungsbehörden errichteten ab Mai 1945 insgesamt zehn sogenannte Speziallager auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone und nutzten dabei – wie auch die westlichen Alliierten in ihren Besatzungszonen – teilweise ehemalige nationalsozialistische Kriegsgefangenen - und Konzentrationslager. Es entstanden das Speziallager Nr. 1 in Mühlberg, das Speziallager Nr. 2 in Buchenwald, das Speziallager Nr. 3 in Berlin-Hohenschönhausen, das Speziallager Nr. 4 in Bautzen, das Speziallager Nr. 5 in Ketschendorf, das Speziallager Nr. 6 in Jamlitz, das Speziallager Nr. 7 in Sachsenhausen, die Speziallager Nr. 8 und 10 in Torgau sowie das Speziallager Nr. 9 in Fünfeichen.69 Vom Mai 1945 bis Anfang 1950 wurden in den zehn Speziallagern nach gegenwärtigem Kenntnisstand insgesamt rund 154.000 deutsche Zivilsten interniert,70 von 66 Ebenda, S. 63f. 67 Ebenda, S. 65 68 Ebenda, S. 65f. 69 Vgl. zu den Gründungs- und Auflösungsdaten sowie zu den Häftlingszahlen der einzelnen Speziallager, Alexander von Plato 1998, a. a. O., S. 32 sowie Bettina Greiner 2010, a. a. O., S. 11-13; zu allen zehn Speziallagern liegen inzwischen Einzelstudien vor. (Vgl. hierzu die Aufsätze in Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, a. a. O., Band 1, S. 279-456) 70 Zu den Internierten gehörten neben Funktionären der NSDAP auch die Schauspieler Heinrich George und Gustaf Gründgens, der Schriftsteller Walter Kempowski sowie Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus wie Ulrich Freiherr von Sell, Justus Delbrück und Horst von Einsiedel. (Vgl. Bettina Greiner 2010, a. a. O., S. 9) Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 18 denen fast jeder Dritte die Internierungszeit aufgrund der völlig unzureichenden Versorgung nicht überlebt hat.71 Ein Spezifikum der sowjetischen Speziallager war, dass dort zwei Häftlingsgruppen festgehalten wurden. Zum einen wurden dort Personen aufgrund des bereits genannten Befehls Nr. 00315 vom 18. April 1945 ohne Verfahren und Urteil über Jahre interniert, zum anderen wurden in den Speziallagern sogenannte SMT-Verurteilte festgehalten, die von sowjetischen Militärtribunalen (SMT) zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren.72 Hingegen wurden Offiziers- und Mannschaftsdienstgrade von „Volkssturm“, SS, SA wie auch das Personal von Konzentrationslagern , Militärkommandanturen und Militärstaatsanwaltschaften nicht in die Speziallager, sondern in Kriegsgefangenenlager des NKVD in der Sowjetunion eingewiesen.73 Insgesamt war daher der Belastungsgrad der Internierten in den Speziallagern der sowjetischen Besatzungszone geringer als in den Internierungslagern in den drei westlichen Zonen. Knapp die Hälfte der Internierten in den Speziallagern waren „kleine Parteigenossen“, einfache Mitglieder der NSDAP, z. B. Blockund Zellenleiter.74 In den Speziallagern in der sowjetischen Besatzungszone wurden – im Gegensatz zu den Internierungslagern in den drei westlichen Besatzungszonen – während der gesamten Zeit ihres Bestehens nur in wenigen Fällen Überprüfungen der Internierten durchgeführt und diese auch keiner individuellen strafrechtlichen Verfolgung zugeführt, wie Bettina Greiner in ihrer Studie herausgearbeitet hat: „Die Frage, wer welche Funktion während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft bekleidet und wer sich wann welcher Verbrechen schuldig gemacht hatte, sollte auch während der Internierung keine Bedeutung erlangen. (…) Ein ‚operatives‘ Interesse, das in einer individuellen Schuldfeststellung hätte resultieren können, die in den westlichen Internierungslagern die Grundlage von Entlassungen oder Verurteilungen bildete, bestand nicht. Die Internierung folgte vielmehr ordnungspolitischen Maximen, die primär auf das Sicherheitsinteresse der Siegermacht abgestellt war.“75 Als der sowjetische Ministerrat im Juli 1948 die Entlassung von 71 Alexander von Plato 1998, a. a. O., S. 53f.; vor allem aufgrund dieser sehr hohen Mortalitätsrate verbietet sich – trotz gewisser Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die summarische Verhaftungspraxis, die sich in allen vier Besatzungszonen an Formalbelastungen organisatorischer und beruflicher Art sowie an den ausgedehnten Sicherheitsbedürfnissen der Besatzungsmächte orientierte – eine Gleichsetzung der Speziallager der sowjetischen Besatzungszone mit den Internierungslagern der drei westlichen Besatzungszonen, in denen die Mortalität nicht höher lag als außerhalb. (Vgl. Lutz Niethammer 1998, a. a. O., S. 104f.) 72 Die Militärtribunale hatten die Aufgabe, Verbrechen gegen die Sowjetunion aus der Kriegszeit sowie gegen die sowjetische Besatzungsmacht zu ahnden. (Vgl. Klaus-Dieter Müller: Verbrechensahndung und Besatzungspolitik . Zur Rolle und Bedeutung der Todesurteile durch Sowjetische Militärtribunale, in: Todesurteile sowjetischer Militärtribunale gegen Deutsch (1944-1947). Eine historisch-biographische Studie, hrsg. von Andreas Weigelt, Klaus-Dieter-Müller, Thomas Schaarschmidt und Mike Schmeitzner, Göttingen 2015, S. 15-62, hier S. 25) 73 Vgl. Befehl des Volkskommissars für Inneres Nr. 00315 „Zur teilweisen Abänderung des Befehls des NKVD der UdSSR Nr. 0016 vom 11. Januar 1945, abgedruckt in: Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, a. a. O., Band. 2, S. 178 74 Bettina Greiner 2010, a. a. O., S. 29 sowie Marcel Boldorf: Brüche oder Kontinuität?. Von der Entnazifizierung zur Stalinisierung in der SBZ/DDR (1945-1952), in: Historische Zeitschrift, Band 289 (2009), S. 287-323, hier: S. 291f. 75 Bettina Greiner 2010, a. a. O., S. 80 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 19 rund 28.000 Internierten der Speziallager beschloss, beruht dieser Entschluss im Gegensatz zu den Westalliierten nicht auf einer Feststellung von in die Zeit des Nationalsozialismus zurückverweisenden Belastungsgraden gemäß der Direktive Nr. 38 des Alliierten Kontrollrates vom Oktober 1946, sondern war Ausdruck „situativer Zweckmäßigkeitserwägungen, die nicht zuletzt von den sowjetischen Stabilisierungsbemühungen um die Position der SED geprägt waren“.76 Die auf Grundlage von Urteilen der sowjetischen Militärtribunale in den Speziallagern Festgehaltenen stellten ab 1948 die Mehrheit unter den Internierten.77 Von den 18.000 dokumentierten Urteilen der sowjetischen Militärtribunale, die zwischen 1945 und Ende 1949 gefällt wurden, entfiel nur ein Fünftel auf Straftaten, die mit Tatvorwürfen aus der Zeit des Nationalsozialismus zu tun hatten. Unter diesen waren viele Angehörige der „Flakhelfer-Generation“, denen „Werwolf“- Aktivitäten zur Last gelegt wurden und die mit zum Teil drakonischen Strafen belegt wurden.78 Die deutliche Mehrheit der SMT-Verurteilten wurde hingegen – auf Grundlage sehr dehnbarer Bestimmungen des sowjetischen Strafgesetzbuches – wegen Verbrechen gegen die Besatzungsmacht wie Spionage, antisowjetische Agitation, illegale Gruppenbildung, Sabotage, Waffenbesitz oder Raub sozialistischen Eigentums verurteilt.79 Anfang 1950 wurden die drei letzten verbliebenen Speziallager aufgelöst,80 deren Anzahl nach den ersten größeren Entlassungen von 1948 von zehn auf drei reduziert worden war. Von den SMT-Verurteilten, die bis dahin von Entlassungen ausgenommen blieben, kamen 5.400 frei, mehr als 10.000 wurden dem ostdeutschen Strafvollzug unterstellt.81 Von den aufgrund des Befehls Nr. 00315 vom 18. April 1945 ohne Urteil Internierten wurden im Jahr 1950 10.000 Personen in die Freiheit entlassen, fast 500 weitere wurden in die Sowjetunion deportiert und 3.500 der DDR- Justiz überstellt.82 Letztere wurden von der ostdeutschen Justiz im Rahmen der Waldheim Prozesse in rechtsstaatswidrigen, zum Teil unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Schnellverfahren zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.83 76 Ebenda, S. 83 77 Lutz Niethammer 1998, a. a. O., S. 104; die Forschung geht davon aus, dass zwischen 1945 und 1955 rund 35.000 deutsche Zivilisten von sowjetischen Militärtribunalen zu oft langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. (Bettina Greiner 2010, a. a. O., S. 91) 78 Bettina Greiner 2010, a. a. O., S.90-93 79 Ebenda, S. 90 80 Es handelte sich um die Speziallager Sachsenhausen, Buchenwald und Bautzen. 81 Bettina Greiner 2010, a. a. O., S. 15 82 Ebenda, S. 14 83 Vgl. hierzu Wolfgang Eisert: Die Waldheimer Prozesse. Der stalinistische Terror 1950. Ein dunkles Kapitel der DDR-Justiz, München 1993 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 20 4. Tabellarische Übersicht zur Anzahl der Internierungslager und zur geschätzten Gesamtzahl der Internierten in den alliierten Internierungs-bzw. Speziallagern zwischen 1945 und 195084 Anzahl der Internierungslager Zahl der Internierten Amerikanische Besatzungszone 37 ca. 170.000 Britische Besatzungszone 9 ca. 91.000 Französische Besatzungszone 12 ca. 21.000 Sowjetische Besatzungszone 10 ca. 154.000 84 Zahlenangaben für die amerikanische Besatzungszone bei Kathrin Meyer 2004, a. a. O., S. 69 und S. 98, für die britische Besatzungszone bei Heinrich Wember 1991, a. a. O., S. 7 und S. 50f., für die französische Besatzungszone bei Rainer Möhler, 1993, a. a. O., S. 62 und 64, für die sowjetische Besatzungszone bei Alexander von Plato 1998, a. a. O., S. 32 und 53f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 1 - 3000 – 011/19 Seite 21 5. Literatur Beattie, Andrew H. (2014): Die alliierte Internierung im besetzten Deutschland. Vergleich der amerikanischen und der sowjetischen Zone, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 62. Jg. (2014), Heft 3, S. 239-256 Boldorf, Marcel (2009): Brüche oder Kontinuität?. Von der Entnazifizierung zur Stalinisierung in der SBZ/DDR (1945-1952), in: Historische Zeitschrift, Band 289 (2009), S. 287-323 Conze, Eckart, Frei, Norbert, Hayes, Peter, Zimmermann, Moshe (2012): Das Amt und die Vergangenheit . Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2012 Eisert, Wolfgang (1993): Die Waldheimer Prozesse. Der stalinistische Terror 1950. Ein dunkles Kapitel der DDR-Justiz, München 1993 Finn, Gerhard (1992): Die Speziallager der sowjetischen Besatzungsmacht 1945 bis 1950, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Baden-Baden/Frankfurt am Main 1992, Band IV, S. 337-397 Greiner, Bettina (2010): Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland, Hamburg, 2010 Horn, Christa (1992): Die Internierungs- und Arbeitslager in Bayern 1945 – 1952, Frankfurt am Main 1992 Knigge-Tesche, Renate, Reif-Spirek, Peter und Ritscher, Bodo (Hrsg.) (1993): Internierungspraxis in Ost- und Westdeutschland nach 1945. Eine Fachtagung. Erfurt 1993 Meyer, Kathrin (2003): Die Internierung von NS-Funktionären in der US-Zone Deutschlands, in: Dachauer Hefte. Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager , 19. Jahrgang (2003), Heft 19: Zwischen Befreiung und Verdrängung, S. 24-47 Meyer, Kathrin (2004): Entnazifizierung von Frauen. 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