Deutscher Bundestag Antisemitismus-Definitionen und ihre Bedeutung für die Bekämpfung von antisemitischem Denken und die Verfolgung antisemitischer Straftaten Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 1 – 3000/009/13 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 2 Antisemitismus-Definitionen und ihre Bedeutung für die Bekämpfung von antisemitischem Denken und die Verfolgung antisemitischer Straftaten Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 1 – 3000/009/13 Abschluss der Arbeit: 26.02.2013 Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Antisemitismus-Definitionen in der Wissenschaft 4 3. Antisemitismus-Definitionen internationaler Organisationen 6 3.1. EU 7 3.2. OSZE 7 3.2.1. Arbeitsdefinition Antisemitismus 8 3.3. UNO 10 4. Antisemitisches Denken und antisemitische Stereotype 10 4.1. Antijudaismus 10 4.2. Rassenantisemitismus 10 4.3. Jüdische Weltverschwörung 11 4.4. Leugnung und Verharmlosung des Holocaust 11 4.5. Undifferenzierte Kritik Israels 11 5. Antisemitismus im politischen Spektrum der Gesellschaft 12 5.1. Antisemitismus in der politischen Rechten und im Rechtsextremismus 12 5.2. Antisemitismus in der politischen Linken und im Linksradikalismus 13 5.3. Antisemitismus in Protestbewegungen und in Nichtregierungsorganisationen 13 5.4. Antisemitismus im Islam und unter Muslimen 14 6. Antisemitismus im Strafrecht und vor Gericht 14 7. Literaturverzeichnis 16 8. Anhang 18 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 4 1. Einleitung Der im allgemeinen Sprachgebrauch verwendete Begriff "Antisemitismus" ist von seinem Begriffsinhalt her alles andere als eindeutig. Dennoch wird die Vokabel über Jahre hinweg sowohl in der tagespolitischen Auseinandersetzung wie auch in der Wissenschaft verwendet, ohne dass es einen gesellschaftlich akzeptierten Konsens über ihre Bedeutung gibt. Diese Feststellung gilt sowohl für Deutschland als auch international. Der Begriff ist jenem politischen Vokabular zuzurechnen, dessen Deutungshoheit bis in die aktuelle Gegenwart hinein sowohl innerhalb Deutschlands wie auch international besonders umkämpft war und ist und das in der Tagespolitik sehr häufig polemisch verwendet wird. Er zählt zu jenen Begriffen, deren Sprachgebrauch auf die Selbstbezeichnung einer politischen Bewegung zurückgeht1, die inzwischen aber als Fremdbezeichnung für eine Weltanschauung bzw. Geisteshaltung stehen wie z.B. die Begriffe "Faschismus", "Kommunismus" oder "Sozialismus". Die nachfolgende Ausarbeitung beschränkt sich auf die Zusammenfassung der aktuelle Diskussion um den mehr analytisch ausgerichteten Antisemitismus-Begriff in der Wissenschaft sowie den seit 2005 von internationalen politischen Organisationen verwendeten, mehr handlungsorientiert ausgerichteten "Arbeitsbegriff Antisemitismus". Die Ausführungen zur Verwendung im Bereich der Wissenschaft sind vorrangig auf den deutschsprachigen Raum beschränkt und berühren nur am Rande die internationalen Diskussionen und Kontroversen sowie diejenigen in anderen Ländern . Im Anschluss an die Ausführungen zur Entwicklung des Antisemitismusbegriffs werden die zentralen Kennzeichnen einer antisemitischen Weltsicht und von Judenfeindschaft präsentiert und die wichtigsten politischen Kräfte benannt, deren politisches Wirken durch vorurteilsbehaftete antisemitische Ressentiments charakterisiert ist bzw. aus deren Politik sich inhaltliche Anknüpfungspunkte zum Antisemitismus ergeben. Abschließend wird die strafrechtliche Behandlung von Antisemitismus thematisiert 2. Antisemitismus-Definitionen in der Wissenschaft Obwohl der Antisemitismus immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen und Studien war und ist, gibt es auch in der Wissenschaft keine universell akzeptierte, allgemeingültige Definition zu seinem Begriffsinhalt und Begriffsumfang. Selbst das kürzlich erschienene, von Wolfgang Benz, dem langjährigen Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, herausgegebene mehrbändige "Handbuch des Antisemitismus " präsentiert in dem entsprechenden Band "Begriffe, Theorien, Ideologien"2 keinen 1 Zur Entstehungsgeschichte des Begriffs im deutschsprachigen Raum vgl. Rürup, Reinhard; Nipperdey Thomas (1975), Antisemitismus: Entstehung, Funktion und Geschichte eines Begriffs, in: Rürup, Reinhard, Emanzipation und Antisemitismus: Studien zur "Judenfrage" in der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 95-114. 2 Vgl. Benz, Wolfgang (2010), Handbuch des Antisemitismus: Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin [u.a.] : De Gruyter Saur. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 5 eigenständigen Eintrag zum Thema "Antisemitismus", sondern allgemein gehaltene Beiträge zu den Themen "Antisemitismusforschung"3 und "Theorien zum Antisemitismus"4 und ansonsten nur Beiträge zu einzelnen konkreten Ausprägungen von Antisemitismus wie z. B. zu "Antijudaismus ", "Frühantisemitismus", "Linker Antisemitismus", "Moderner Antisemitismus", "Rassenantisemitismus ", "Sekundärer Antisemitismus" oder "Völkischer Antisemitismus". Darin dokumentiert sich die Komplexität des Themas. Die Beschäftigung mit dem Antisemitismus innerhalb der Wissenschaften findet vor allen Dingen innerhalb der Gesellschafts- und Sozialwissenschaften, der Kulturwissenschaften und der Psychologie statt. Dominiert wird sie von der Geschichtswissenschaft . Die bisherigen Theoriebildungen zum Antisemitismus in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen stehen noch recht unvermittelt nebeneinander. Während in den letzten Jahrzehnten eine Vertiefung des Kenntnisstands zu Detailfragen des Antisemitismus erreicht werden konnte, lässt sich dagegen eine gewisse Zurückhaltung bei der Ausarbeitung großer Theorien zum Antisemitismus und bei der Definition von Begriffsinhalt und Begriffsumfang feststellen. Bei seiner Untersuchung zahlreicher der bisher vorgenommenen Begriffsdefinitionen thematisierte der österreichische Historiker und Politikwissenschaftler Georg Christoph Berger Waldenegg5 deren begriffliche Unschärfe und die damit verbundenen Konsequenzen. Prinzipiell kann festgehalten werden, dass der Begriffsinhalt dessen, was unter Antisemitismus zu verstehen ist, sich im Lauf der Jahre ausgeweitet hat. War bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts hinein sein Begriffsumfang auf den religiös motivierten "Antijudaismus" und auf einen biologistisch motivierten "Rassenantisemitismus" beschränkt gewesen, so wird immer mehr auch eine ablehnende bis feindliche Haltung gegenüber Juden im allgemeinen sowie dem Staat Israel als Antisemitismus bezeichnet. Der Historiker Wolfgang Benz hat in seiner 2004 veröffentlichten Abhandlung zum Thema "Was ist Antisemitismus?"6 die religiöse und die rassistische Dimension des Begriffs um einen "sekundären Antisemitismus" und um den "Antizionismus" erweitert. Unter dem sekundären Antisemitismus versteht Benz die Abwehr der Schuld in Zusammenhang mit dem Holocaust durch seine Leugnung oder Relativierung, die nach 1945 zu einem Kernmotiv des Antisemitismus in Deutschland und Österreich geworden ist. Die antizionistischen Artikulationsformen des Antisemitismus in seiner Ausprägung als Antizionismus umfassen für ihn die Ablehnung des Zionismus und der Existenz des Staates Israel durch Nichtjuden. Eine weitergehende Differenzierung von unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus findet sich in einer bei dem an der Fachhochschule des Bundes lehrenden Politologen und Soziologen Armin Pfahl-Traughber im Jahr 2007 vorgenommenen Versuch einer Begriffsdefinition . Um politische Aussagen und Handlungen besser im historischen und inhaltlichen Kontext des Antisemitismus verorten zu können, hat er eine sechs Ideologieformen umfassende Ty- 3 Vgl. Benz, Wolfgang (2010), S.16-21. 4 Vgl. Benz, Wolfgang (2010), S.316-328. 5 Vgl. Berger Waldenegg, Georg Christoph (2003). Antisemitismus: "Eine gefährliche Vokabel"?. Wien u.a.: Böhlau. 6 Vgl. Benz, Wolfgang (2004), Was ist Antisemitismus. München: C.H. Beck, S.19ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 6 pologie des Antisemitismus vorgelegt.7 Mit ihr wird die Definition von Wolfgang Benz aus dem Jahr 2004 um die Facette des "sozialen Antisemitismus" und des "politischen Antisemitismus" ergänzt. Ersterer umfasst eine angenommene oder tatsächlich vorhandene soziale Stellung von Juden in der Gesellschaft als Motiv des Antisemitismus, letzere die Wahrnehmung von Juden als homogene Gruppe und zentrale Gestaltungsmacht in der Weltpolitik. International, aber auch in Deutschland ist in den letzten Jahren in der Wissenschaft eine Ausweitung und Verlagerung im Kontext der Bezugspunkte von Antisemitismus festzustellen.8 Neben seiner Rolle im Nationalsozialismus sind seine Bedeutung im arabisch-islamischen Raum sowie seine Rolle im Nahostkonflikt zum Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen geworden. Die wissenschaftlichen Beiträge zum Thema Antisemitismus sind mehrheitlich dadurch gekennzeichnet , dass sie auf seine theoretische Durchdringung beschränkt bleiben und kaum Rüstzeug zur politisch-praktischen Bekämpfung und Zurückdrängung von Antisemitismus bieten. Lediglich der von der israelischen Historikerin Dina Porat, Professorin für jüdische Geschichte an der Universität von Tel Aviv und Leiterin des Stephen Roth Institute for the Study of Contemporary Antisemitism and Racism, verfasste Teil des äußerst umfangreichen Beitrags zum Thema Antisemitismus in der Encyclopedia Judaica9 enthält für die Beurteilung möglicher antisemitischer Ressentiments in der an der Politik Israels geäußerten Kritik eine Auflistung entsprechender Argumentationsmuster .10 3. Antisemitismus-Definitionen internationaler Organisationen In internationalen Organisationen wie der UNO, der EU oder der OSZE hat die Beschäftigung mit Fragen des Antisemitismus lange Zeit keine größere Rolle gespielt. Das änderte sich jedoch mit der Zunahme antisemitischer Gewalt- und Hasskriminalität im Gefolge der politischen Veränderungen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks sowie dem weltweiten Erstarken eines islamischen , gegen das Existenzrecht des Staates Israel gerichteten Fundamentalismus im Nahen Osten. Als Reaktionen auf einen weltweit zunehmenden Antisemitismus im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert haben insbesondere EU und OSZE versucht, sich dazu zu positionieren.11 Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Antisemitismus-Definitionen innerhalb der Wissenschaft und in den einzelnen Ländern sowie des Anstiegs realer Gewalttaten gegenüber Juden und zunehmen- 7 Pfahl-Traughber, Armin (2007): ideologische Erscheinungsformen des Antisemitismus, in: APuZ, 31/207, S.4- 11. Im Internet abrufbar unter: http://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30321/antisemitismus (Stand: 29.01.2013) 8 Vgl. z.B. Rabinovici, Doran; Speck, Ulrich; Sznaider, Natan, (Hrsg.) (2004): Neuer Antisemitismus?: Eine globale Debatte. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 9 Vgl. Encyclopedia Judaica (2007): 2. Auflage, Bd. 2: Detroit (u.a.): Thomson Gale, S.206-246. 10 Vgl. Encyclopedia Judaica (2007): 2. Auflage, Bd. 2: Detroit (u.a.): Thomson Gale, S.244f. 11 Vgl. hierzu Kübler, Elisabeth (2005), Antisemitismusbekämpfung als gesamteuropäische Herausforderung : eine vergleichende Analyse der Maßnahmen der OSZE und der EUMC, Wien: Lit Verlag. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 7 der verbaler Entgleisungen innerhalb der Kritik an der israelischen Politik waren sie gezwungen, sich darüber zu verständigen, was genau den Antisemitismus der Gegenwart kennzeichnet. Politische Bemühungen, antisemitische Vorfälle zu dokumentieren und zu bekämpfen, erfordern vorab eine Verständigung darüber, welche gesellschaftlichen Erscheinungen eigentlich als antisemitisch zu klassifizieren sind. In den Jahren 2002 bis 2005 haben sich internationale Institutionen darum bemüht, eine mehr praxisorientierte Definition zu erarbeiten. 3.1. EU Innerhalb der Europäischen Union gab es zunächst keine Initiativen und Bemühungen, sich über den Inhalt des Antisemitismus-Begriffs zu verständigen. Er wurde relativ unreflektiert verwendet . In Zusammenhang mit den Bemühungen der bis Anfang 2007 bestehenden, von der Europäischen Union finanzierten Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (European Monitoring Center for Racism and Xenophobia, EUMC), dem Vorläufer der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte ( European Union Agency for Fundamental Rights, FRA), zur Dokumentation und Auswertung antisemitischer Verbrechen und Straftaten in den einzelnen Mitgliedsstaaten traten erstmals unterschiedliche Auffassungen zutage. Auslöser waren die Ergebnisse einer vom EUMC 2002 an das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin (ZfA) vergebenen Auftragsstudie zur Auswertung der bisher zusammengetragenen Daten zu antisemitischen Vorfällen aus 15 EU-Staaten.12 Sie fand nicht die Zustimmung des Auftraggebers , weil einige der darin veröffentlichten Ergebnisse, insbesondere die Feststellung, dass in einigen Ländern der EU muslimische Migranten Träger eines militanten Antisemitismus sind, politisch nicht erwünscht war. Die Studie wurde nicht veröffentlicht und durch eine eigene Studie ersetzt.13 Die Differenzen zwischen der EUMC und dem ZfA betrafen auch die jeweils unterschiedlichen Definitionen von Antisemitismus, denen sich die beiden Einrichtungen verpflichtet fühlten. Meinungsverschiedenheiten gab es insbesondere in der Frage, ab wann die Kritik an der Politik Israels antisemitisch wird. In dieser Kontroverse zeigt sich anschaulich, wie politisch umkämpft eine Definition zum Antisemitismus in der EU war und ist sowie die daraus resultierenden unterschiedlichen Konsequenzen für die Dokumentation antisemitischer Vorfälle sowie die Bekämpfung antisemitischer Ideologien. 3.2. OSZE Im Rahmen der bisherigen multilateralen Maßnahmen zur Bekämpfung des weltweit erstarkenden Antisemitismus kommt der OSZE eine zentrale Rolle zu. Sie hat die ersten internationalen Konferenzen organisiert, die sich auf höchster politischer Ebene ausschließlich mit dem Problem des weltweit erstarkenden Antisemitismus und seiner Bekämpfung beschäftigten. Sie ist auch die 12 Vgl. Bergmann, Werner, Wetzel, Juliane (2003) Manifestations of anti-Semitism in the European Union. First Semester 2002. Synthesis Report on behalf of the EUMC European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia : http://www.jugendpolitikineuropa.de/downloads/4-20-1949/eustudieantisem.pdf (Stand: 05.02.2013). 13 Vgl. European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (2004), Manifestations of Antisemitism in the EU 2002-2003. Based on information by the National Focal Points of the EUMC –RAXEN Information Network: http://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/184-AS-Main-report.pdf (Stand: 05.02.2013). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 8 erste supranationale Organisation, die sich an einer Definition des Antisemitismus-Begriffs versucht hat. Die erste Konferenz fand im Juni 2003 in Wien statt, die zweite im April 2004 in Berlin14 und die dritte im Juni 2005 in Cordoba. Auf der Wiener Konferenz wurde der Antisemitismus als ein Menschenrechtsanliegen klassifiziert und die Forderung nach einer an der Zielsetzung seiner Bekämpfung ausgerichteten Definition von Antisemitismus erhoben. In der auf der Folgekonferenz in Berlin verabschiedeten Berliner Erklärung15wurde die Forderung nach einer allumfassenden , zur Überwachung und Bekämpfung des Antisemitismus brauchbaren Definition erneut aufgegriffen . Zusammen mit der Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (European Monitoring Center for Racism and Xenophobia, EUMC) in Wien, nahm das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE (Office of Democratic Institutions and Human Rights, ODIHR) die Erarbeitung einer Antisemitismus-Definition in Angriff. Zu den Beratungen wurden zahlreiche mit der Sache befasste jüdische Institutionen und Personen hinzugezogen . Das Ergebnis war eine "Arbeitsdefinition Antisemitismus", die im Januar 2005 von der EUMC veröffentlicht und im Juni auf der OSZE-Konferenz in Cordoba bestätigt wurde. 3.2.1. Arbeitsdefinition Antisemitismus Die Arbeitsdefinition zum Antisemitismus16 versteht sich primär als "praktischer Leitfaden" für politisches Handeln. Sie will ein Hilfsmittel sein zur Erkennung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle und für die Erarbeitung und Umsetzung gesetzgeberischer Maßnahmen gegen Antisemitismus . Ihre Kernaussage lautet: "Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und / oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen." Daran anschließend wird explizit darauf hingewiesen, dass auch der als jüdisches Kollektiv verstandene israelische Staat Ziel solcher Angriffe sein kann. Damit umfasst diese Antisemitismus- Definition auch ein Staatsgebilde, geht also weit über den Begriffsinhalt zahlreicher, insbesondere älterer Antisemitismus-Definitionen aus dem Bereich der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften hinaus. 14 Vgl. Weisskirchen, Gert (2004), Die OSZE-Antisemitismuskonferenz in Berlin, in: OSZE-Jahrbuch 2004, S.335- 359. 15 Zum deutschen Wortlaut vgl. http://www.osce.org/de/cio/31434 (Stand: 04.02.2013), zum englischsprachigen Original vgl. http://www.osce.org/cio/31432 (Stand: 04.02.2013). 16 Vgl. die vom beim Berliner Büro des American Jewish Committee (AJC) angesiedelten European Forum on Antisemitismus (EFA) veröffentlichte und in zahlreiche Sprachen übersetzte Arbeitsdefinition Antisemitismus in ihrer deutschen Übersetzung: http://www.european-forum-on-antisemitism.org/working-definition-ofantisemitism /deutsch-german/ (Stand: 28.01.2013) sowie die englischsprachige Originalfassung auf der Homepage der European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) : http://fra.europa.eu/sites/default/files/asworkingdefinition -draft.pdf (Stand: 28.01.2013). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 9 Anschließend werden zu seiner Veranschaulichung zahlreiche konkrete Beispiele für Antisemitismus im öffentlichen Leben und im Zusammenhang mit dem Staat Israel aufgelistet.17 Dabei handelt es sich um eine unvollständige, zu Orientierungszwecken angefertigte Zusammenstellung von Beispielen, die jederzeit ergänzt werden kann. Im nächsten Teil der Definition wird näher konkretisiert, wann und welche antisemitischen Aktionen als Straftaten zu bewerten und welche Straftaten als antisemitisch zu klassifizieren sind: Die Beurteilung einer antisemitischen Aktion als Straftat wird dabei an die Voraussetzung geknüpft , dass eine solche explizit in den Gesetzen der jeweiligen Staaten geregelt sein muss. In Deutschland wäre dies z.B. die Leugnung des Holocaust, die nach Paragraph 130 StGB einen Straftatbestand darstellt. Antisemitisch sind Straftaten nach dieser Definition, wenn angegriffene Personen oder beschädigte Sachen deshalb zum Angriffsobjekt ausgewählt wurden, weil sie jüdisch sind, als jüdisch wahrgenommen oder mit Juden in Verbindung gebracht werden. Abschließend wird näher bestimmt, wann eine gesellschaftliche bzw. staatliche Diskriminierung von Juden antisemitisch ist. Als Kriterium hierfür wird die Verweigerung gesellschaftlicher Entfaltungsmöglichkeiten und staatlicher Leistungen gegenüber Juden angeführt, die anderen Personen zur Verfügung stehen. Im Gegensatz zu den zahlreichen Definitionsversuchen innerhalb der Gesellschafts- und Sozialwissenschaften ist die von OSZE und EUMC vorgelegte Arbeitsdefinition in erster Linie handlungsorientiert . Sie ist weniger an einer theoretischen Durchdringung des Phänomens Antisemitismus interessiert als von politisch-praktischen Zielsetzungen bestimmt. Sie versteht sich als Hilfsmittel zur Erkennung, Identifizierung, Dokumentation, Bekämpfung und strafrechtlichen Verfolgung von Antisemitismus im Alltag der einzelnen Mitgliedsländer. Sie will einen Beitrag leisten zur Sensibilisierung der Gesellschaft für die Wahrnehmung von Antisemitismus mit dem Ziel seiner Zurückdrängung und Überwindung. Damit eignet sie sich sowohl als Grundlage für die Erziehung und Bildung junger Menschen in der Schule wie auch im Bereich der Erwachsenenbildung . Diese Arbeitsdefinition versteht sich weiterhin als eine brauchbare Handreichung für Polizisten, anhand derer sie bei der Ausübung ihrer Tätigkeit besser beurteilen können, ob sie es mit einer antisemitischen Straftat zu tun haben. Sie liefert den mit der Dokumentation antisemitischer Vorfälle betrauten staatlichen Stellen einen Leitfaden zur Klassifizierung von Delikten und Straftaten als antisemitisch. Und sie gibt Juristen ein Werkzeug an die Hand zur gesetzlichen Definition antisemitischer Straftatbestände und deren Verfolgung. Damit unterscheidet sie sich maßgeblich von den akademisch ausgerichteten Antisemitismus-Definitionen. Bei ihr stehen weniger die Entstehung des Antisemitismus und die sich wandelnden Judenbilder im Vordergrund, als vielmehr die konkrete und aktuelle Judenfeindschaft der Gegenwartsgesellschaft sowie aktuelle antisemitisch motivierte Delikte und Straftaten. In diesem Kontext will sie den in der Praxis noch sehr unterschiedlichen Umgang ihrer Mitgliedstaaten gegenüber einem erstarkenden Antisemitismus besser aufeinander abstimmen und koordinieren. Zur Frage der bisherigen politisch-praktischen Umsetzung der Arbeitsdefinition Antisemitismus in den Mitgliedsländern von EU und OSZE liegen bisher noch keine systematischen Ergebnisse vor. Die auf politischer Ebene beschlossene Definition ist im politischen Diskurs innerhalb der 17 Vgl. hierzu den der Ausarbeitung beigefügten Wortlaut der Arbeitsdefinition Antisemitismus im englischen Original und in der deutschsprachigen Übersetzung im Anhang, S.19f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 10 Mitgliedsländer nicht unumstritten geblieben. Die an ihr geäußerte Kritik18 betrifft vor allen Dingen die darin vorgenommene Klassifizierung bestimmter Formen von Kritik an der Politik Israels als antisemitisch. 3.3. UNO Eigenständige Definitionsversuche zum Begriff des Antisemitismus innerhalb der Vereinten Nationen hat es bisher nicht gegeben. Im Juni 2004 veranstaltete die UNO zwar ein Seminar zum Thema mit Kofi Annan als Redner. Seine Aufforderung, die Vereinten Nationen sollten die "Berliner Erklärung" der kurz vorher stattgefundenen OSZE-Konferenz übernehmen, war dort jedoch nicht konsensfähig. In ihrer praktischen Arbeit der letzten Jahre lässt sich aber eine gewisse Nähe zu der von EUMC und ODHIR vorgelegten Arbeitsdefinition des Antisemitismus erkennen. 4. Antisemitisches Denken und antisemitische Stereotype In den nachfolgenden Ausführungen werden, ohne dass ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird, die wichtigsten, aktuell wirksamen antisemitischen Weltbilder und Vorurteile gegenüber Juden und dem Staat Israel dargestellt. 4.1. Antijudaismus Der Antijudaismus als älteste Variante des Antisemitismus entstammt der Geschichte des Christentums und äußert sich in einer pauschalen Judenfeindlichkeit aus religiösen Motiven. Er resultiert aus einer Verabsolutierung der eigenen Religion und spricht den Juden eine eigene biblische Tradition ab. Sie prägte sowohl die katholische als auch die protestantische Kirche und fußt primär auf dem Glauben , dass die Juden die Mörder Jesu Christi seien und, da der Tod Jesu in der christlichen Theologie auch als Prophetenmord gedeutet wird, auch Gottesmörder. Diese religiöse Form des Antisemitismus findet sich heute nur noch in sektiererischen Kreisen christlicher Religionsgemeinschaften. Von der Amtskirche wird sie nicht mehr vertreten.19 Unterschwellig sind die Motive des religiösen Antisemitismus noch bei manchen Mitgliedern der christlichen Kirchen vorhanden. 4.2. Rassenantisemitismus Diese Form der Judenfeindlichkeit umfasst die Ablehnung der Juden aus rassischen Motiven. Sie entstand im 19. Jahrhunderts und bezog sich unter anderem auf die Evolutionstheorie von Charles Darwin. Im Gegensatz zur christlichen Judenfeindschaft, die sich hauptsächlich gegen den Glauben der Juden richtete, argumentierte der Rassenantisemitismus mit der vorgeblichen Minderwertigkeit einer angeblichen „jüdischen Rasse“. In Deutschland hat sich aus diesem rassischen Antisemitismus der eliminatorische Antisemitismus entwickelt, der integraler Bestandteil 18 Zur bisher geäußerten Kritik und deren Zurückweisung vgl. Porat, Dina (2011), The International Working Definition of Antisemitism and Its Detractors, in: Israel Journal of Foreign Affairs, V (2011): 3, S.93-101. Im Internet abrufbar unter: http://www.kantorcenter.tau.ac.il/sites/default/files/DinaPorat5%209_0.pdf (Stand. 29.01.2013). 19 Den Gottesmordvorwurf gegenüber den Juden hat die Katholische Kirche allerdings bis heute nicht zurückgewiesen . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 11 der nationalsozialistischen Ideologie wurde und während der Herrschaft des Nationalsozialismus zum Holocaust führte. Diese Variante des Antisemitismus wird heute nur noch in rechtsextremen Kreisen vertreten. 4.3. Jüdische Weltverschwörung Ein altes, nach wie vor aber aktuelles antisemitisches Stereotyp betrifft die Legende einer jüdischen Weltverschwörung, die derzeit vor allen Dingen im Nahen Osten großen Popularitätszuwachs erfährt. Sie hat ihre historischen Wurzeln in den seit langem als Fälschungen entlarvten "Protokollen der Weisen von Zion", der nach wie vor einflussreichsten Programmschrift antisemitischen Verschwörungsdenkens. In ihrer aktuellen Version präsentiert sie sich in der Anschuldigung , „die Juden“ übten als Individuen oder als Kollektiv eine weltweite Kontrolle von Medien, Wirtschaft, Regierungen und anderen gesellschaftlichen Institutionen bereits aus oder strebten nach einer solchen Kontrolle. In dieser Weltsicht wird die aktuelle Außenpolitik der Vereinigten Staaten in Israel gemacht und werden die Finanzmärkte weltweit von Juden kontrolliert . In diesen Kontext gehört auch eine den Juden unterstellte mangelnde Identifikation mit ihren jeweiligen Heimatländern und der damit einhergehende Vorwurf, sich stärker mit dem Staat Israel oder vorgeblich bestehenden, weltweiten jüdischen Interessen zu identifizieren. 4.4. Leugnung und Verharmlosung des Holocaust Ein weiteres Kennzeichen für antisemitisches Denken stellen bestimmte geschichtsrevisionistische Formen des Umgangs mit dem Holocaust dar. Dabei werden die historische Tatsache des vorsätzlichen Völkermordes an den Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und die mit ihm verbündeten Staaten, sein Ausmaß sowie die Existenz von Gaskammern bestritten und die historischen Quellen hierzu als Fälschungen ausgegeben. Häufig ist dabei von der "Auschwitz-Lüge" die Rede. In einer abgewandelten, besonders im deutschsprachigen Raum verbreiteten Variante dieses antisemitischen Stereotyps wird den Juden ihre eigene Verfolgung und Leidensgeschichte vorgeworfen und ihnen eine Mitschuld an ihrem Schicksal zugeschoben. Gespeist vom Bedürfnis, die nationalsozialistischen Verbrechen zu verdrängen und sich der historischen Verantwortung zu entledigen , werden sie beschuldigt, immer wieder die "Auschwitzkeule" zu schwingen und die Deutschen nicht in Ruhe lassen zu wollen. Den Juden wird dabei unterstellt, den Holocaust zur Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen und zur Finanzierung des israelischen Staatshaushalts zu instrumentalisieren. 4.5. Undifferenzierte Kritik Israels Antisemitisches Denken dokumentiert sich aktuell und weltweit auch in bestimmten Formen der Kritik am Staat Israel bzw. an der Politik der israelischen Regierungen gegenüber den Palästinensern , z.B. durch das Messen mit zweierlei Maß, indem man von Israel ein Verhalten einfordert, das von keinem anderen Staat verlangt wird. Hierzu zählt auch, wenn im Ausland lebende Juden mit politischen Zuspitzungen in Gaza in Verbindung gebracht und kollektiv dafür haftbar gemacht werden oder Israel und seine Politik gegenüber den Palästinensern mit derjenigen des nationalsozialistischen Deutschland gegenüber den Juden verglichen wird. In diesen Kontext gehört weiterhin die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts gegenüber den Juden, z.B. durch die Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 12 Behauptung, bei der Gründung des Staates Israel handele es sich um ein rassistisches Unterfangen . 5. Antisemitismus im politischen Spektrum der Gesellschaft Nach dem Bericht des von der Bundesregierung eingesetzten Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus aus dem Jahr 2011 sind latent antisemitische Einstellungen in der deutschen Gesellschaft nach wie vor verbreitet.20 Seine Erscheinungsformen haben sich jedoch im Laufe der Jahre verändert. Während die traditionellen Stereotypen des religiös und des rassistisch motivierten Antisemitismus an Bedeutung verloren haben, haben der sekundäre Antisemitismus sowie der Antizionismus immer mehr an Einfluss gewonnen. Klischees über Juden sowie antisemitische Stereotype und Wahrnehmungsmuster bestehen nicht nur am Rande, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft.21 Es gibt eine tiefe Verankerung antisemitischer Wahrnehmungsmuster in der Alltagskultur. Was die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der Gesellschaft betrifft, so nimmt Deutschland im Vergleich mit anderen europäischen Ländern eine mittlere Position ein und liegt hinter den westeuropäischen Ländern Frankreich, Großbritannien, Italien und den Niederlanden . Antisemitische Stereotype und Vorurteile finden sich auch unter Repräsentanten des Staates wie z.B. Polizisten und Soldaten. Und auch manche in Deutschland wirkenden Politiker sind davon nicht frei. In Einzelfällen haben sie in den letzten Jahren, wie Wolfgang Benz für den verstorbenen FDP-Bundestagsabgeordneten Jürgen W. Möllemann sowie den ehemaligen CDU- Abgeordneten Martin Hohmann aufgezeigt hat, judenfeindliche Ressentiment propagiert und zu Wahlkampfzwecken parteipolitisch instrumentalisiert.22 Mit der von Hohmann in Neuhof bei Fulda am 3. Oktober 2003 gehaltenen Rede zum Tag der Deutschen Einheit hat nach der Auffassung von Benz erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein Politiker einer demokratischen Partei eine "geschlossene judenfeindliche Argumentation" präsentiert.23 5.1. Antisemitismus in der politischen Rechten und im Rechtsextremismus Als bedeutsamster Träger des Antisemitismus werden im Bericht des von der Bundesregierung eingesetzten Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus aus dem Jahr 2011 nach wie vor rechtsextremistische Organisationen angesehen.24 Bei ihnen sind die ideengeschichtlichen Kon- 20 Vgl. hierzu Teil III: Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft, in: Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, BT-Drs. 17/7700, S.52-142 sowie Schwarz-Friese, Monika; Friesel, Evyatar; Reinharz, Jehuda (Hrsg.) (2010), Aktueller Antisemitismus: Ein Phänomen der Mitte, Berlin [u.a.]: De Gruyter. 21 Vgl. hierzu z.B. die satirisch aufbereiteten Erfahrungen des jüdischen Journalisten und Gründers des „Jewish Theater of New York“ Tuvia Tenenbom während seiner Reise durch Deutschland 2010: Tenenbom, Tuvia (2011 bzw. 2012): I sleep in Hitler's room: An American Jew Visits Germany, New York : Jewish Theatre of New York. bzw. die 2012 erschienene gekürzte und nach Angaben der englischsprachigen Ausgabe zensierten deutschsprachige Ausgabe: Allein unter Deutschen. Eine Entdeckungsreise. Berlin Suhrkamp Verlag. 22 Für die Person Möllemann vgl. Benz (2004), S.146-154, für die Person Hohmann, S.155-173. 23 Benz (2004), S.161. 24 Vgl. Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, BT-Drs. 17/7700, S.12-20. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 13 tinuitäten von früheren Formen und Inhalten des Antisemitismus zu aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus unverkennbar. Judenfeindliche Vorurteile und Stereotype sind in ihrer ganzen Breite vertreten und lassen sich in nahezu allen Bereichen des Rechtsextremismus ausfindig machen. In der Weltanschauung von Rechtsextremisten kommt dem nationalistischen und dem rassistischen Antisemitismus eine zentrale Rolle zu. Sie sehen in den Juden eine ethnisch, kulturell oder sozial nicht zur jeweiligen Nation gehörende Minderheit, die ein gesellschaftlicher Fremdkörper sei. In Deutschland hält sich der gegenwärtige Rechtsextremismus aufgrund des historisch diskreditierten völkischen Antisemitismus jedoch mit einer offenen Propagierung solcher Vorurteile zurück. In seinen Reihen wird der Holocaust geleugnet bzw. relativiert. Das Stereotyp einer vorgeblich jüdischen Weltverschwörung wird in zahlreichen politischen Zusammenhängen und Ereignissen aufgegriffen. Bei der Kommentierung des Nahostkonflikts nehmen Rechtsextremisten eine einseitig antiisraelische und unkritisch propalästinensische Haltung ein. Parteipolitisch organisiert sich der rechtsradikale Antisemitismus aktuell in der aus der Fusion der Deutschen Volksunion (DVU) mit der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) Ende 2011 entstandenen Partei "NPD – Die Volksunion". 5.2. Antisemitismus in der politischen Linken und im Linksradikalismus Antisemitismus existiert nach dem bereits erwähnten Bericht auch im Bereich der politischen Linken und im Linksextremismus.25 In Abgrenzung zu demjenigen in den Reihen der politischen Rechten und dem Rechtsextremismus wird hierzu jedoch festgestellt, dass es "sehr wohl Antisemitismus unter Linksextremisten, aber keinen genuinen linksextremistischen Antisemitismus" gibt.26 Da im Weltbild sowohl der Partei Die Linke wie auch der in unterschiedlichen Formen von Zusammenschlüssen organisierten Anarchisten und Kommunisten die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit von Menschen ohne Bedeutung ist, gibt es unter Linksextremisten keine feststehenden antisemitischen Grundpositionen. In ihren Reihen lässt sich keine Feindschaft gegen Juden als Juden feststellen. Doch trotz einer grundsätzlichen Ablehnung des Antisemitismus finden sich im Rahmen der aus ihren Reihen geäußerten Kapitalismuskritik und in ihrer Kritik an Israel, insbesondere ihrer Kritik der Politik israelischer Regierungen gegenüber den Palästinensern , teilweise antisemitische Stereotype. 5.3. Antisemitismus in Protestbewegungen und in Nichtregierungsorganisationen Zu den in der Öffentlichkeit und in den Medien wiederholt erhobenen Antisemitismusvorwürfen gegenüber der außerparlamentarischen Opposition und Nichtregierungsorganisationen, wie sie teilweise in Zusammenhang mit der Kapitalismuskritik gegenüber der globalisierungskritischen Bewegung und dem Netzwerk Attac erhoben worden sind, kommt der Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus zur der Feststellung, dass dieser Vorwurf zumindest für Deutschland nicht zutrifft.27 25 Vgl. Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, BT-Drs. 17/7700, S.20-27. 26 Vgl. Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, BT-Drs. 17/7700, S.21. 27 Vgl. Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, BT-Drs. 17/7700, S.28-32. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 14 5.4. Antisemitismus im Islam und unter Muslimen In der arabisch-islamischen geprägten Welt, in der Juden und Muslime im Gegensatz zu Europa über Jahrhunderte relativ friedlich miteinander ausgekommen sind und der Antisemitismus lange Zeit keine nennenswerte Rolle gespielt hat28, ist es in Zusammenhang mit der Entstehung des Staates Israel, dem Nahostkonflikt und der Palästinenserfrage zu einer Übernahme zahlreicher der in Europa entstandenen antisemitischen Stereotype gekommen und damit zu einem gewaltigen Anwachsen von Antisemitismus. Für die dortigen gesellschaftlichen und politischen Probleme werden immer wieder die Juden und der Staat Israel verantwortlich gemacht. Mit dem Eingreifen der USA in den zweiten Golfkrieg 1991 hat der Antisemitismus im Nahen Osten einen nochmaligen Aufschwung erfahren. Der Holocaust wird von großen Teilen der dort lebenden Bevölkerung und zahlreichen Politikern arabischer oder islamischer Staaten geleugnet oder zu relativieren versucht. Die Holocaustleugnung ist dort häufig Bestandteil einer von den jeweiligen Regierungen geduldeten oder geförderten antizionistischen Propaganda in den Medien. Mit den 2001 in den Vereinigten Arabischen Emiraten und 2006 im Iran durchgeführten Holocaust-Konferenzen haben die weltweiten Leugner des Holocaust staatlichen Rückhalt erhalten und eine politische Aufwertung erfahren. Für die einen islamischen Fundamentalismus vertretenden Gruppierungen und Staaten sind der Antisemitismus und insbesondere die Leugnung des Holocaust konstitutiver Bestandteil ihrer Weltanschauung. Durch die Zunahme muslimischer Migranten hat in den letzten Jahren ein Reimport antijüdischer Ressentiments in die westlichen Länder und auch nach Deutschland stattgefunden, über deren Umfang und Art bisher jedoch nur unzureichende Erkenntnisse vorliegen.29 6. Antisemitismus im Strafrecht und vor Gericht Auf internationaler Ebene hat es in den letzten Jahren zahlreiche Bemühungen gegeben, bestimmte Formen von Antisemitismus zu Straftatbeständen zu erklären. Eine zentrale Zielsetzung der von der EU bzw. der OSZE verwendeten Arbeitsdefinition Antisemitismus besteht in der Verständigung über die strafrechtliche Beurteilung und Verfolgung von Antisemitismus in den einzelnen Mitgliedsstaaten und deren Angleichung. Ein ähnliches Ziel verfolgt auch der Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vom 28. November 2008.30 Diese Zielsetzung scheint bisher jedoch noch unzureichend umgesetzt. 28 Zur Geschichte der Rezeption des europäischen Antisemitismus im Nahen Osten vgl. Kiefer, Michael (2002). Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften: Der Palästina-Konflikt und der Transfer eines Feindbildes: Düsseldorf: Verlag Verein zur Förderung gleichberechtigter Kommunikation e.V.. 29 Vgl. Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, BT-Drs. 17/7700, S.76-81. 30 Vgl. Amtsblatt der Europäischen Union, 6.12.2008, L 328/55-58, im Internet abrufbar unter. http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2008:328:0055:0058:DE:PDF (Stand: 25.02.2013). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 15 Die Reaktionen der Polizei auf antisemitische Vorfälle wie gegen Juden gerichtete Hass- und Gewaltkriminalität sowie deren Beschimpfung und Beleidigungen als Juden, Schändungen jüdischer Friedhöfe und Gräber sowie Schmierereien an Synagogen und jüdischen Einrichtungen sind häufig noch uneinheitlich. Die strafgesetzlichen Regelungen mancher Mitgliedsstaaten wie z.B. in Belgien, Deutschland31, Frankreich, Liechtenstein, Luxemburg, Österreich, Polen, Portugal , Rumänien, Schweiz, Spanien und Tschechien enthalten bereits konkrete Bestimmungen zu Ahndung antisemitischer Straftaten oder der Leugnung des Holocausts. In manchen Staaten fehlen jedoch noch gesetzliche Regelungen, die eine Strafverfolgung von Hasskriminalität gegenüber Juden bzw. antisemitisch motivierten Straftaten und Verbrechen erlauben. Wo solche existieren, werden sie nicht immer konsequent angewendet. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern werden in Deutschland antisemitische Handlungen und Äußerungen relativ konsequent strafrechtlich verfolgt. Nach den Antworten der Bundesregierung auf die regelmäßigen Anfragen der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag wurden in Deutschland für das Jahr 2012 insgesamt 865 Straftaten mit einem antisemitischen Hintergrund gemeldet.32 31 Im deutschen Strafgesetzbuch ist die strafrechtliche Verfolgung antisemitischer Delikte geregelt in den §§ 130 (Volksverhetzung), 189 (Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener) und 194 (Strafantrag). Zur Entwicklung der strafrechtlichen Verfolgung antisemitischer Delikte in Deutschland vgl. Kalinowsky, Harry H. (1995): Antisemitismus und Strafrecht, in: Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Herausforderung für die Demokratie; eine Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 23. und 24. November 1994 in Berlin, Bonn: Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Abt. Arbeits- und Sozialforschung, S.91-109. Im Internet abrufbar unter: http://library.fes.de/fulltext/asfo/01023006.htm. 32 Zu den genauen Zahlen im ersten Quartal 2012 vgl. BT-Drs. 17/9901, für das zweiten Quartal 2012 vgl. BT-Drs 17/10457, für das dritte Quartal 2012 vgl. BT-Drs. 17/11413 und für das vierte Quartal 2012 vgl. BT-Drs. 17/12329. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 – 3000/009/13 Seite 16 7. Literaturverzeichnis Benz, Wolfgang (2010), Handbuch des Antisemitismus: Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart , Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin [u.a.]: De Gruyter Saur. Benz, Wolfgang (2004), Was ist Antisemitismus?, München: C.H. Beck. Berger Waldenegg, Georg Christoph (2003), Antisemitismus: "Eine gefährliche Vokabel?": Diagnose eines Wortes, Wien [u.a.]: Böhlau Verlag. Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus: Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze, BT-Drs. 17/7700 vom 10.11.2011. 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