© 2018 Deutscher Bundestag WD 1 - 3000 - 003/18 Zur parlamentarischen Tradition der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 in den Verhandlungen der Weimarer Nationalversammlung und des Parlamentarischen Rates Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Literatur 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 003/18 Seite 4 1. Einleitung Dieser Ausarbeitung liegt die Frage zugrunde, welche Rolle die Arbeit und das Werk der ersten deutschen Nationalversammlung von 1848/49 in den Verhandlungen der Weimarer Nationalversammlung 1919/20 und des Parlamentarischen Rates 1948/49 spielten. Im Vordergrund stehen deshalb Reden, in denen auf die Frankfurter Verhandlungen Bezug genommen wurde. Hier galt die Frankfurter Paulskirche vielfach als Symbol für die parlamentarische Tradition in der deutschen Geschichte und für das Streben nach „Einheit und Freiheit“.1 Dabei ist allerdings zu betonen , dass die Revolution von 1848/49 und die Paulskirche keine einheitliche Erinnerungstradition begründet haben. Vielmehr setzten bereits unmittelbar nach der Revolution Deutungskämpfe ein, in denen sich die politischen Richtungen gegenseitig für das Scheitern verantwortlich machten . In einem ersten Schritt soll deshalb kurz der Streit um das ‚Erbe von 1848‘ skizziert werden. Daran anschließend sollen verschiedene Stimmen aus dem Kontext der Weimarer Nationalversammlung und des Parlamentarischen Rates vorgestellt werden, die sich mit der Tradition der Paulskirche befassen. 2. Deutungskämpfe und Traditionslinien 1849-1949 Im 19. Jahrhundert zählte die Revolution von 1848/49 nicht zum Kanon der offiziellen staatlichen Gedenkanlässe. Nur die Arbeiterbewegung und ein Teil des liberalen Bürgertums erinnerten in – obrigkeitsstaatlich überwachten – Feiern an die Ereignisse und knüpften daran politische Traditionslinien. Während sich die Liberalen in erster Linie auf die Nationalversammlung und die Reichsverfassung vom 28. März 1849 (FRV) beriefen, rückten die Sozialdemokraten die Barrikadenkämpfe in den Mittelpunkt und erinnerten jährlich am 18. März an die sogenannten „Märzgefallenen “, an deren Gräbern im Berliner Friedrichshain sie Kränze niederlegten. Daneben inszenierte sich der preußische Staat in Monumenten wie der Invalidensäule in Berlin als „Drachentöter “ der Revolution und erinnerte an die Niederschlagung der Revolutionäre im Frühjahr 1849 in Baden und der Pfalz.2 Erst zum 50jährigen Jubiläum ließ sich die Revolution von 1848 zunehmend als Vorgeschichte der Reichsgründung von 1871 aufwerten, wobei dies nur die Leistungen der Paulskirche betraf. Bis zum Ende des Kaiserreichs blieb die Reminiszenz an die Revolution – wie der Historiker Manfred Hettling festgehalten hat – insgesamt eine „verhüllte Erinnerung “.3 Nach dem Ende der Monarchie im Ersten Weltkrieg knüpfte die Weimarer Republik in mehrfacher Hinsicht an 1848 an. Erstens lag es 1919 nahe, die Frankfurter Nationalversammlung zur Vorgängerin der Weimarer Nationalversammlung zu erklären, weil beide in revolutionären Zei- 1 Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Die Paulskirche. In: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte II. München 2001, S. 47-66. 2 Vgl. Hettling, Manfred: Totenkult statt Revolution. 1848 und seine Opfer, Frankfurt 1998. 3 Hettling, Manfred: Nachmärz und Kaiserreich. In: Christof Dipper/Ulrich Speck (Hg): 1848 – Revolution in Deutschland. Frankfurt a.M. 1998, S. 11-24, hier: 11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 003/18 Seite 5 ten nicht nur eine Verfassung ausarbeiten sollten, sondern auch eine neue Reichsregierung einsetzten .4 Der erste Innenminister der Republik Hugo Preuß (DDP) unterstrich diese Verbindung, indem er die Worte zitierte, mit denen Heinrich von Gagern am 18. Mai 1848 das Parlament eröffnet hatte.5 Zweitens betrifft dies einige Verfassungsbestimmungen, die sich an der FRV orientierten , auch wenn – aus rein juristischer Sicht – „echte, genetische Kontinuitäten im Sinne einer direkten Beeinflussung selten anzutreffen [sind].“6 Aus weniger formalistischer Perspektive lässt sich dennoch festhalten: „Es gibt in der Verfassung von 1849 kaum einen Gedanken, der nicht in irgendeiner Form 1871 oder 1919 wiedergekehrt wäre.“7 Am deutlichsten sind die Verbindungen zur Weimarer Reichsverfassung (WRV) dort, wo sich die FRV von der Bismarckschen Reichsverfassung grundlegend unterschied: in den Reichsfarben „Schwarz-Rot-Gold“ sowie im Grundrechtskatalog , der den Mitgliedern zugleich „Vorbild und Mahnung“ war8 – Vorbild in Bezug auf den wegweisenden Inhalt und Mahnung wegen der monatelangen Debatten über einzelne Details. Drittens setzte neben der öffentlichen Erinnerung auch eine staatliche Traditionsbildung ein. So nahmen am 18. Mai 1923 zum ersten Mal Reichsregierung und Vertreter der Länder an den Jubiläumsfeierlichkeiten in der Paulskirche teil, von den Reichstagsfraktionen fehlten lediglich Kommunisten und Deutschnationale.9 In der Festansprache im Römer betonte Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD), dass „uns [im Winter 1918/19] die Arbeit von Weimar zur Frankfurter Paulskirche zurück[führte], zu den Leitgedanken, die einst an dieser Stelle geboren sind.“10 Darüber hinaus beschränkten sich die Anknüpfungspunkte nicht nur auf die Artikel der FRV, sondern auch auf die Parlamentsdebatten. So veröffentlichte der Frankfurter Historiker Veit Valentin 1920 Auszüge daraus zu Themen, die ihm noch immer aktuell schienen: von Freiheit und Parlamentarismus über Einheit und Partikularismus, dem Verhältnis von Staat und Kirche sowie Auswanderung bis zur Abrüstung.11 Auch ließen sich die Anfänge der politischen Parteien bis in das Jahr 1848 zurückverfolgen.12 Zu den häufig zitierten Reden zählten außerdem Arnold Ruges erfolglo- 4 Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden Langewiesche, Dieter: 1848 und 1918 – zwei deutsche Revolutionen . Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung am 4. November 1998. Bonn 1998. 5 Siehe 3.1. 6 Richter, Ludwig: Die Nachwirkungen der Frankfurter Verfassungsdebatten von 1848/49 auf die Beratungen der Nationalversammlung 1919 über die Weimarer Verfassung. In: Heiner Timmermann (Hg.) 1848 – Revolution in Europa. Berlin 1999, S. 441-466, hier: 465. 7 Hans Helfritz 1949, zit. nach: Kühne, Jörg-Detlef: Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, 2., überarb. u. erg. Aufl. Neuwied 1998, S. 64. 8 Vogt, Martin: Weimar und NS-Zeit. In: Christof Dipper/Ulrich Speck (Hg): 1848 – Revolution in Deutschland. Frankfurt a.M. 1998, S. 25-34, hier: 25-28. 9 Siemann, Wolfram: Der Streit der Erben – deutsche Revolutionserinnerungen. In: Ders.: 1848/49 in Deutschland und Europa. Ereignis – Bewältigung – Erinnerung. Paderborn 2006, S. 233-269, hier: 249f. 10 Siehe 3.1. 11 Valentin, Veit: Das Parlament und wir. Leipzig 1920. 12 Bergsträsser, Ludwig: Geschichte der politischen Parteien in Deutschland. München 1921. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 003/18 Seite 6 ser Antrag auf Einberufung eines europäischen Völkerkongresses sowie diejenigen Reden Ludwig Uhlands, die Österreichs Zugehörigkeit zu Deutschland betonten.13 An dieses „großdeutsche “ Element der Revolutionserinnerung knüpften später die Nationalsozialisten an. Von 1933 bis 1945 lag „insgesamt […] mit Blick auf ‚1848‘ die Erinnerungskultur jedoch brach.“14 Die Hundertjahrfeiern 1948 standen dagegen sowohl im Zeichen des Wiederaufbaus als auch der deutschen Teilung. So fanden bereits am 18. März in Ost- und Westberlin getrennte Revolutionsfeiern statt. Zudem boykottierte die SED die „Nationalfeier“ in Frankfurt, die am 18. Mai in der wieder errichteten Paulskirche stattfand.15 Die Veranstaltung wurde in der Öffentlichkeit wie eine „Proklamation der Westbindung in den drei vertretenen Zonen“ wahrgenommen , wobei der Versammlungsort zu einem Symbol der „nationalen Einheit auf demokratischer Grundlage“ stilisiert wurde.16 1948 zeichnete sich somit bereits der erinnerungspolitische Streit ab, in dem die DDR und die Bundesrepublik darum konkurrierten, welcher Staat legitimerweise das ‚Erbe von 1848‘ für sich beanspruchen könne.17 Verglichen mit der Weimarer Nationalversammlung beriefen sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rates 1948/49 seltener explizit auf Vorbilder der Paulskirche, wobei insbesondere die Entscheidungen in Bezug auf die Bundesstaatlichkeit, die Grundrechte und die Verfassungsgerichtsbarkeit als „Traditionsanknüpfungen“ an 1848/1849 gesehen werden.18 Das ist unter anderem auf die unterschiedlichen politischen Umstände zurückzuführen: Erstens basierten die Verhandlungen auf den Vorarbeiten des Sachverständigenkonvents von Herrenchiemsee und waren darüber hinaus an grundsätzliche Vorgaben der Alliierten gebunden. Zweitens sollte das Ergebnis ein provisorisches Grundgesetz darstellen und keine Verfassung für ganz Deutschland. Drittens konzentrierte sich der Parlamentarische Rat insbesondere darauf, die Mängel der WRV zu korrigieren. Damit verbunden erklärte der spätere Bundespräsident Theodor Heuss auch einen unterschiedlichen Habitus: „Das großartig-naive Pathos, das dem Beginn in der Paulskirche 1848 den Klang gab, musste fehlen, als im September 1948 der sogenannte ‚Parlamentarische Rat‘ in 13 Bussenius, Daniel: Der Mythos der Revolution nach dem Sieg des nationalen Mythos. Zur Geschichtspolitik mit der 48er-Revolution in der Ersten Republik Österreich und der Weimarer Republik 1918–1933/34. Dissertation Berlin 2011, S. 450, online verfügbar unter: https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/17302 (abgerufen am 15. Februar 2018). 14 Hachtmann, Rüdiger: Epochenschwelle zur Moderne. Einführung in die Revolution von 1848/49. Tübingen 2002, S. 199. 15 Siemann: Streit (wie Anm. 9), S. 254. 16 Ebd., 258. 17 Ebd.,263f. 18 Boldt, Hans: Die Reichsverfassung vom 28. März 1849. Zur Bestimmung ihres Standortes in der deutschen Verfassungsgeschichte . In: Patrick Bahners/Gerd Roellecke (Hg.): 1848 – Die Erfahrung der Freiheit. Heidelberg 1998, S. 49–70, hier: 67; grundlegend Kühne: Reichsverfassung (wie Anm. 7). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 003/18 Seite 7 der Aula eines Bonner Lehrerseminars zusammentrat – künstlich es zu kopieren wäre ein Krampf gewesen.“19 3. Stimmen aus der Weimarer Nationalversammlung 1919/20 und dem Parlamentarischen Rat 1948/49 3.1. Weimarer Nationalversammlung 1919/20 und Hundertjahrfeier 1923 - Hugo Preuß, Staatssekretär des Innern (DDP):20 „‘Wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland , für das gesamte Reich. Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränität der Nation. Deutschland will eins sein, ein Reich, regiert vom Willen des Volkes unter Mitwirkung aller seiner Gliederungen; diese Mitwirkung auch der Staatsregierungen zu erwirken, liegt mit in dem Beruf dieser Versammlung . Wenn über manches Zweifel besteht: über die Forderung der Einheit ist kein Zweifel; es ist die Forderung der ganzen Nation. Die Einheit will sie, die Einheit wird sie haben.‘ Mit diesen Worten grüßte einst Heinrich von Gagern die erste verfassunggebende Nationalversammlung des deutschen Volkes in der Paulskirche zu Frankfurt. Und wenn Sie in dieser hohen Versammlung heute diese Worte wieder hören, so zweifle ich nicht: Sie empfinden die wundersame Wiederholung der Erscheinungen; angedeutet sind hier die Aufgaben, vor denen wir heute wieder die verfassunggebende Nationalversammlung in Weimar steht […]. Gewiss, bei aller Ähnlichkeit auch die größten Verschiedenheiten. Damals nach einer langen Zeit des Friedens ein aufsteigendes Volk, ein auch wirtschaftlich aufsteigendes Volk, das beseelt war von dem Wunsche, sich das Ideal seines nationalen Zusammenlebens zu schaffen; heute ein Volk nach schweren Kriegsleiden […]. War damals über die Frage, ob es wirklich der Beruf der Nationalversammlung sei, als Trägerin der Souveränität des Volkes von sich aus allein den neuen Zustand schaffend zu gestalten , noch mancher Zweifel möglich […], so steht heute der Beruf dieser Versammlung, die, auf demokratischer Grundlage aufgebaut, den Willen des souveränen Volkes vertritt, wohl außer jedem Zweifel. (Bravo!) Damals ist wesentlich an dem Widerstände der dynastischen Möchte in Deutschland das Werk der Frankfurter Nationalversammlung gescheitert . Solcher Widerstand ist heute durch die Tatsache der Revolution ausgemerzt […]. Damals war das Reich noch ein Traum, das Idealbild nationaler Einheit; heute haben wir das Reich, haben es seit Jahr- zehnten gehabt; und es ist durch die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit nicht aufgelöst, nicht beseitigt; nur seine staatsrechtliche Organisation ist zusammengebrochen und bedarf der Erneuerung.“ - Erich Koch-Weser (DDP):21 „Wir gehen nicht nur von der Bismarckschen Verfassung aus, sondern wir ziehen in erster Linie auch die großen Gedanken wieder heran, die im Jahre 1848 unsere Väter bei der Aufstellung einer Verfassung beseelt haben. (Sehr richtig! bei den Deutschen Demokraten.) [...] Man hat uns in der preußischen Geschichte immer zu lehren gewusst, dass alles dasjenige, was im Jahre 1848 versucht worden wäre, verfehlt gewesen sei, und man hat uns beibringen wollen, dass das ein untauglicher Versuch, und 19 Heuss, Theodor: Ein Vermächtnis. Werk und Erbe von 1848. Stuttgart 1954, S. 243. 20 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 326, S. 12f. 21 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 326, S. 390. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 003/18 Seite 8 dasjenige, was in den Jahren 1866 und 1870 geschaffen worden ist, die Vollendung gewesen sei. Wir sehen heute die Dinge anders, als sie uns die Lehrbücher angeben, wir sehen heute, dass eine große und gerade Linie von 1848 auf 1918 führt, (sehr richtig! bei den Deutschen Demokraten) und wir sehen, dass das gigantische Werk Bismarcks schließlich in seinen letzten Zielen nicht hat ausreifen können.“ - Johann Vogel (SPD):22 „Auf diese Erörterung [der Verfassungsverhandlungen in der Presse] trifft vielfach ein Bild zu, wie es Karl Marx in seinem „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte" gezeichnet hat, wo er nämlich sagt: ‚Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Um- ständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krisen beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienst herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüme, um in dieser ehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.‘ Dieses Bild, verehrte Versammlung, scheint mir nicht nur auf jene zuzutreffen, die, die in der Zwischenzeit ein getretenen Umwälzungen vollständig außer Acht lassend, mit dem Verfassungswerk dort beginnen wollen, wo das Jahr 1848 abgeschlossen hat, sondern auch für jene, die sich für die jetzige deutsche Revolution Kostüm und Sprache aus dem Lande des früheren Zarismus entlehnen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Die gegenwärtige Revolution mit den gleichen Mitteln abzuschließen, sie nicht zum Teil durch andere zu ersetzen, wie mit denen aus dem Jahre 1848, geht schon deshalb nicht an, weil die Ursachen beider Revolutionen ganz verschiedene sind und insbesondere auch ihre Träger. Der Hauptunterschied liegt ganz klar zutage: jene war eine bürgerliche, diese ist eine proletarische Umwälzung. Handelte es sich bei jener um die Befreiung von feudalen und anderen mittelalterlichen Fesseln, um die Aufrichtung der Herrschaft der Bourgeoisie, so geht es bei dieser um die Demokratie in Politik und Wirtschaft und über oder durch die Demokratie zum Sozialismus, also kurz gesagt: um den Befreiungskampf der Arbeiterklasse . (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)” - Konrad Beyerle (BVP):23 „In der Schicksalsstunde des Vaterlandes, deren tiefer Ernst uns durch die Debatte des vergangenen Sonnabend lebendig vor die Augen trat, sollen wir uns zu dem schwierigen Verfassungswerke geistig sammeln. Ich lebe der Hoffnung, dass wir auf der Grundlage des Entwurfs ein gestärktes Reich mit bundesstaatlichem Aufbau erhalten werden. In den Grundrechten des deutschen Volkes, wie sie der Entwurf kodifiziert, leben Goldkörner aus der Paulskirche weiter. Ich möchte sie, das Werk Dahlmanns und Beselers, im Gegensatz zu kritischen Äußerungen der Herren Vorredner [Vogel], nicht 22 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte, Bd. 326. Berlin 1920, S. 458f. 23 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 326, S. 464. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 003/18 Seite 9 missen. Diesem Kapitel von den Grundrechten wohnt ein hoher volkstümlicher Stimmungswert inne. Auch wo sie nur allgemeine Gedanken aussprechen, bilden sie einen Unterbau für die staatsbürgerliche Erziehung unseres Volkes.“ - Friedrich Ebert (SPD), Reichspräsident, 18. Mai 1923 in Frankfurt am Main:24 „In der großen Volksbewegung, die 1848 wie andere Nationen auch die Deutschen erfasste, sollte an dieser Stätte das politische Streben der Besten und Bedeutendsten der Nation, sollte der Volksstaat des einigen freien Deutschlands Verwirklichung finden. Zum ersten Male ging aus allgemeinen Wahlen des ganzen deutschen Volkes eine Vertretung Deutschlands hervor , die Nationalversammlung, ein Parlament von hohem geistigen Schwung, von edelstem Wollen und starkem nationalen Bewusstsein. Dieser ersten Nationalversammlung gelang es, die Grundrechte des deutschen Volkes und die Verfassung des einigen Deutschen Reiches zu schaffen, aber es gelang ihr nicht, das Reich selbst aufzurichten. […] So wurde die Arbeit der Paulskirche nicht Wirklichkeit; sie ist aber ein Denkstein geworden, der weit und sichtbar hineinragt in die weitere Entwicklung des staatlichen Lebens der Nation , in die Zeit der Gründung des Reichs wie in die schweren Zeiten unserer neuesten Geschichte. Denn, als wiederum, 70 Jahre später, im Winter 1918/19 das deutsche Volk gezwungen war, sein Geschick selbst in die Hand zu nehmen, sein Staatwesen in den Nöten der Zeit neu aufzubauen, führte uns die Arbeit von Weimar zur Frankfurter Paulskirche zurück, zu den Leitgedanken, die einst an dieser Stätte geboren sind. So schlingt sich über gute und böse Tage hinüber das Band, das uns von heute mit den Kämpfern der Ersten Nationalversammlung verbindet. Einheit, Freiheit, Vaterland! Diese Worte. Jedes gleich betont und gleich wichtig, waren der Leitstern, unter dem die Paulskirche wirkte. Sie sind auch Kern und Stern des Daseinskampfes, den wir heute an Rhein, Ruhr und Saar zu führen gezwungen sind.“ 3.2 Parlamentarischer Rat 1948/49 - Thomas Dehler (FDP) über einen Vorschlag zur Zusammensetzung der Länderkammer:25 „Wir haben ihn nicht erfunden. Unentwegte Achtundvierziger, die wir sind, haben wir uns gefragt: Wie sind unsere Großväter an diese Frage […] herangegangen, welche Lösung haben sie gefunden. Sie haben sich die gleiche Lösung gegeben wie wir und […] neben das Volkshaus ein Staatenhaus gestellt […]. Diese Lösung von 1849 haben wir aufgenommen . Wir haben zunächst eine herbe Kritik gefunden, sowohl auf der einen Seite des Hauses wie auch in der Öffentlichkeit. […] Man wirft ihm vor, es sei nicht stilgerecht, es würden wesensfremde Elemente in ihm vermengt. […] Wir haben vielleicht die letzte Chance, Herr Kollege Schmid, eine gesunde Demokratie zu schaffen und ich habe das verdammte Gefühl, wir verderben diese Chance. Unsere Großväter waren klüger als die Schöpfer der Weimarer Verfassung. Sie haben nicht so jakobinisch gedacht wie das 20. Jahrhundert. Das ist mir das Entscheidende. Wir wollen nicht stilgerecht sein, um wieder stilgerecht zu sterben, sondern wir wollen etwas Gesundes etwas Standfestes schaffen.“ 24 Ebert, Friedrich: Der Geist von 1848. Zwei Reden bei der Gedenkfeier in Frankfurt am 18. Mai 1923, in: ders.: Schriften, Aufzeichnungen, Reden, Bd. 2, Dresden 1926, 305-307. 25 Plenarsitzung (7. Sitzung, 21. Oktober 1948), Verhandlungen des Parlamentarischen Rates. Stenographischer Bericht 1948/49, S. 88. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 003/18 Seite 10 - Theodor Heuss (FDP) über die Bundesflagge:26 „Sie dürfen aber nicht ganz verkennen, dass dieses Schwarz-Rot-Gold für soundso viel Leute im Dritten Reich auch ein Stück ihres Martyriums bedeutet hat. […] Wir haben die Zäsur erlebt, dass Schwarz-Weiß-Rot durch die Nazis versaut worden ist. Infolgedessen ist hier eine Zäsur entstanden, die psychologisch den Zugang zur Vergangenheit erleichtert. Ich überschätze die Legendenbildung vom Jahre 1848 nicht, obwohl ich mich selber daran beteiligt habe. (Dr. Bergsträsser: An der Legendenbildung?) – Ich habe ein kleines Büchlein darüber geschrieben und habe unendlich viele Reden darüber gehalten. Aber es würde mir nun auch jetzt ein bisschen seltsam erscheinen, nun Irgendetwas Neues zu machen.“ - Albert Finck (CDU) über die Grundrechte:27 „Ich bitte Sie, darin [in den Schriften Kettelers ] einmal nachzulesen, was der Abgeordnete von Ketteler, damals noch nicht Bischof von Mainz, 1848 als Parlamentarier und Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung über das – erschrecken Sie nicht! – Elternrecht gesagt hat. Diese Ausführungen sind wahrhaft lesenswert und beachtenswert. Elternrecht ist nicht etwa, wie Sie, Herr Heuss, im Hauptausschuss vorgetragen und auch hier so nebenbei erwähnt haben, eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, also der Jahre nach 1918, sondern das Elternrecht hat schon damals eine große Rolle gespielt.“ - Ludwig Bergsträsser (SPD) über die Bundesflagge:28 „Wir wollen, dass die Bundesrepublik Deutschland die Flagge führe, die in Weimar gesetzlich festgelegt wurde. Es ist dieselbe , die zum ersten Male vor hundert Jahren durch das Frankfurter Parlament in die deutsche Gesetzgebung einging, es ist dieselbe, die heute über diesem Hause weht. […] [D]ie Tradition von schwarz-rot-gold ist Einheit und Freiheit, oder besser: Einheit in der Freiheit. Diese Flagge soll uns als Symbol dafür gelten, dass die Freiheitsidee, die Idee der persönlichen Freiheit eine der Grundlagen unseres zukünftigen Staates sein soll." 26 Ausschuss für Grundsatzfragen (18. Sitzung, 5. November 1948), Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, Band 5,1: Ausschuß für Grundsatzfragen, bearb. von Ebernard Pikart und Wolfram Werner. Boppard am Rhein 1993, S. 491. 27 Plenarsitzung (10. Sitzung, 8. Mai 1949), Sten. Ber. (wie Anm. 25), S. 221. 28 Plenarsitzung (10. Sitzung, 8. Mai 1949), Sten. Ber. (wie Anm. 25), S. 227. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 003/18 Seite 11 4. Literatur Bergsträsser, Ludwig: Geschichte der politischen Parteien in Deutschland. München 1921. Boldt, Hans: Die Reichsverfassung vom 28. März 1849. Zur Bestimmung ihres Standortes in der deutschen Verfassungsgeschichte. In: Patrick Bahners/Gerd Roellecke (Hg.): 1848 – Die Erfahrung der Freiheit. Heidelberg 1998, S. 49–70. Bussenius, Daniel: Der Mythos der Revolution nach dem Sieg des nationalen Mythos. Zur Geschichtspolitik mit der 48er-Revolution in der Ersten Republik Österreich und der Weimarer Republik 1918–1933/34 450. Dissertation Berlin 2011, online verfügbar unter: https://edoc.hu-berlin .de/handle/18452/17302 (abgerufen am 15. Februar 2018). Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, Band 5,1: Ausschuß für Grundsatzfragen , bearb. von Ebernard Pikart und Wolfram Werner. Boppard am Rhein 1993. Ebert, Friedrich: Der Geist von 1848. Zwei Reden bei der Gedenkfeier in Frankfurt am 18. Mai 1923, in: ders.: Schriften, Aufzeichnungen, Reden, Bd. 2, Dresden 1926, 305-307. Hachtmann, Rüdiger: Epochenschwelle zur Moderne. Einführung in die Revolution von 1848/49. Tübingen 2002. Hettling, Manfred: Nachmärz und Kaiserreich. In: Christof Dipper/Ulrich Speck (Hg): 1848 – Revolution in Deutschland. Frankfurt a.M. 1998, S. 11-24. Hettling, Manfred: Totenkult statt Revolution. 1848 und seine Opfer, Frankfurt 1998. Heuss, Theodor: Ein Vermächtnis. Werk und Erbe von 1848. Stuttgart 1954. Kühne, Jörg-Detlef: Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, 2., überarb. u. erg. Aufl. Neuwied 1998. Langewiesche, Dieter: 1848 und 1918 – zwei deutsche Revolutionen. Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung am 4. November 1998. Bonn 1998. Mommsen, Wolfgang J., Die Paulskirche. In: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte II. München 2001, S. 47-66. Richter, Ludwig: Die Nachwirkungen der Frankfurter Verfassungsdebatten von 1848/49 auf die Beratungen der Nationalversammlung 1919 über die Weimarer Verfassung. In: Heiner Timmermann (Hg.) 1848 – Revolution in Europa. Berlin 1999, S. 441-466. Siemann, Wolfram: Der Streit der Erben – deutsche Revolutionserinnerungen. In: Ders.: 1848/49 in Deutschland und Europa. Ereignis – Bewältigung – Erinnerung. Paderborn 2006, S. 233-269. Valentin, Veit: Das Parlament und wir. Leipzig 1920. Verhandlungen des Parlamentarischen Rates. Stenographischer Bericht 1948/49. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 1 - 3000 - 003/18 Seite 12 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte , Bd. 326. Berlin 1920. Vogt, Martin: Weimar und NS-Zeit. In: Christof Dipper/Ulrich Speck (Hg): 1848 – Revolution in Deutschland. Frankfurt a.M. 1998, S. 25-34. ***