Deutscher Bundestag Das erste Eisenbahnpaket der Europäischen Union Sachstand Wissenschaftliche Dienste WD 11 – 3000 – 60/11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 60/11 Seite 2 Das erste Eisenbahnpaket der Europäischen Union Aktenzeichen: WD 11 – 3000 – 60/11 Abschluss der Arbeit: 6. Mai 2011 Fachbereich: WD 11: Name des Fachbereichs Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 60/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. In der Klageschrift der Kommission angesprochene Umsetzungsdefizite 7 2.1. Trennung zwischen der Erbringung von Verkehrsleistungen und dem Betrieb der Eisenbahninfrastruktur 7 2.1.1. Relevante Normen 9 2.1.2. Umsetzung der Normen in nationales Recht 9 2.1.3. Rechtliche Würdigung der Kommission 9 2.1.4. Rechtliche Würdigung der Bundesrepublik Deutschland 9 2.1.5. Eigene Bewertung 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 60/11 Seite 4 1. Einleitung Der Eisenbahnsektor in Europa ist historisch durch Monopolunternehmen gekennzeichnet. Die staatlichen Eisenbahnunternehmen betrieben sowohl die Eisenbahnnetze als auch den Verkehr auf der Schiene. Anders als andere Netzindustrien, wie beispielsweise die Bereiche Telekommunikation oder Energie, war der Eisenbahnsektor lange nur sehr eingeschränkt Gegenstand einer Marktöffnung durch das Europarecht gewesen.1 Anfang der neunzehnhundertneunziger (1990er) Jahre unternahm die EU mit der Richtlinie 91/440/EWG2 einen ersten Schritt zur Liberalisierung des Eisenbahnsektors in Europa und begleitet diese Marktöffnung durch die regulatorischen Vorschriften der Richtlinien 95/18/EG3 und 95/19/EG4. So gewährte die Richtlinie 91/440/EWG Eisenbahnunternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat ein Zugangsrecht zur Infrastruktur der übrigen Mitgliedstaaten zu angemessenen Bedingungen für das Erbringen von Verkehrsleistungen im grenzüberschreitenden kombinierten Güterverkehr5. Die Mitgliedstaaten setzten dieses europarechtlich geforderte Minimum einer Marktöffnung in der Folgezeit um. Häufig blieb es aber bei einem Minimum und damit bei der Monopolstellung der jeweiligen staatlichen Eisenbahnunternehmen. Nur wenig Mitgliedstaaten, wie beispielsweise Großbritannien, trieben die Liberalisierung intensiv voran. Der europarechtliche Rahmen für grenzüberschreitende Eisenbahnverkehrsleistungen wurde zudem von den Eisenbahnunternehmen kaum genutzt. Hierfür dürfte insbesondere der relativ hohe administrative Aufwand verantwortlich gewesen sein, den die Wahrnehmung der begrenzten Zugangsrechte nach der Richtlinie 91/440/EWG erfordert hätte. Hinzu kam, dass die einzelnen nationalen Eisenbahnsysteme auch in technischer Hinsicht, beispielsweise bei Spurweite, Strom- oder Signalsystemen große Unterschiede aufwiesen.6 1 Maier, Martina; Dopheide, Jan Hendrik (2003): Europäischer Schienengüterverkehr nach dem Ersten EU-Eisenbahnpaket : Freie Bahn für alle?. Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, 2003, S. 456. 2 Richtlinie 91/440/EWG des Rates v. 29. 7. 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft, ABlEG Nr. L 237 v. 24. 8. 1991, S. 25. 3 Richtlinie 95/18/EG des Rates v. 19. 6. 1995 über die Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen, ABlEG Nr. L 143 v. 27. 6. 1995, S. 74. 4 Richtlinie 95/19/EG des Rates v. 19. 6. 1995 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Berechnung von Wegeentgelten, ABlEG Nr. L 143 v. 27. 6. 1995. S. 78. 5 Vgl. Artikel 10 Abs. 2 Richtlinie 91/440/EWG. Unter kombiniertem Güterverkehr versteht man den Transport eines Gutes, der zum Teil auf der Straße, zum Teil auf der Schiene erfolgt. 6 Maier, Martina; Dopheide, Jan Hendrik (2003): Europäischer Schienengüterverkehr nach dem Ersten EU-Eisenbahnpaket : Freie Bahn für alle?. Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, 2003, S. 456. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 60/11 Seite 5 Die rechtlich unterschiedlich stark für den Wettbewerb geöffneten Eisenbahnverkehrsmärkte in den Mitgliedstaaten und die faktische Zersplitterung des europäischen Eisenbahnraums bildeten den Ausgangspunkt für weitere Harmonisierungsbestrebungen der EU. In ihrem Weißbuch vom 30. Juli 1996: Eine Strategie zur Revitalisierung der Eisenbahn in der Gemeinschaft 7 beschrieb die Europäischen Kommission die Eisenbahn in Europa als im Niedergang begriffen. Um Anschluss an die Entwicklung des Marktes mit zunehmend preiswertem Flugverkehr zu finden, hielt es die Kommission für notwendig, die Sanierung der finanziellen Situation der Eisenbahn, die Gewährleistung des freien Zugangs zu allen Verkehrsdiensten sowie die Bereitstellung öffentlicher Verkehrsdienste, die Förderung der Integration der staatlichen Systeme und die Berücksichtigung sozialer Aspekte voranzutreiben. Die regulatorischen Vorschriften zur Umsetzung dieser Strategien in das Europarecht folgten in Form dreier „Eisenbahnpakete“, die jeweils ein Bündel von Legislativakten darstellten. Der Fokus des Ersten Eisenbahnpakets („Eisenbahninfrastrukturpaket“)8, das am 26. Februar 2001 verabschiedet wurde, lag in der diskriminierungsfreien Öffnung der Infrastruktureinrichtungen, insbesondere der Schienentrassen, für den internationalen Güterverkehr. Hierfür wurde die bestehende Liberalisierungsrichtlinie 91/440/EWG in entscheidenden Punkten verschärft. Die wesentliche Neuerung bestand darin, dass ab 15. März 2003 alle europäischen Eisenbahnverkehrsunternehmen für jede Form grenzüberschreitender Güterbeförderung Zugang zu einem besonders definierten „transeuropäischen Schienengüternetz“ erhielten, das auch den Schienenzugang zu Terminals und Häfen einschloss. Nach Ablauf einer maximalen Übergangsfrist von sieben Jahren erfolgte eine Erstreckung des Infrastrukturnutzungsrechts im grenzüberschreitenden Güterverkehr auf das gesamte europäische Schienennetz. Die Zugangsrechte sollten zu „angemessenen“, nicht diskriminierenden Bedingungen eingeräumt werden.9 Das Zweite und Dritte Eisenbahnpaket folgten einem weiteren Weißbuch der Europäischen Kommission vom 12. September 2001 (Verkehrsweißbuch)10, in dem sie dem Schienenverkehr eine Schlüsselrolle bei der Sicherung nachhaltiger Mobilität in einer wachsenden Wirtschaft zuwies 7 Online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:1996:0421:FIN:DE:PDF [Stand: 04.05.2011]. 8 Das Erste Eisenbahnpaket umfasst die RL 2001/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 2. 2001 zur Änderung der RL 91/440/EG des Rates zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft, ABl. 2001 Nr. L 75/1, die RL 2001/14/EG über die Zuweisung von Fahrwegkapazitäten und die Erhebung von Nutzungsentgelten, ABl. 2001 Nr. L 75/29 und die RL 2001/13/EG zur Änderung der RL 95/18/EG über die Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen, ABl. 2001 Nr. L 75/26. 9 Jung, Christian H. A., in Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 4. Auflage , München, 2011, Art. 91, Rdnr. 9 ff. 10 Europäische Kommission (2001): Weißbuch: Die europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft. KOM(2001) 370 endgültig, Online abrufbar unter http://ec.europa.eu/transport/white_paper /documents/doc/lb_com_2001_0370_de.pdf [Stand: 04.05.2011]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 60/11 Seite 6 und sich daher zum Ziel setzte, dem stetigen Rückgang dieses Verkehrsträgers an der Gesamtverkehrsleistung in der EU Einhalt zu gebieten. Das Zweite Eisenbahnpaket11 wurde am 29. April 2004 verabschiedet und beschäftigte sich analog zum ersten Paket allein mit dem Schienengüterverkehr . Primäres Ziel war die Beschleunigung und Ausweitung des Marktzugangs für grenzüberschreitenden Gütertransport auf der Schiene. Daneben wurden die Sicherheitsvorschriften harmonisiert und in ihrer Durchsetzung verbessert, die Interoperabilität sowohl des konventionellen als auch des Hochgeschwindigkeitsbahnsystems stärker vorangetrieben und auf das gesamte geöffnete Schienennetz ausgeweitet, sowie schließlich die Überwachung der Sicherheitsstandards und der Interoperabilität der neu gegründeten „Europäischen Eisenbahnagentur“ überantwortet.12 Das Dritte Eisenbahnpaket13 vom 23. Oktober 2007 dehnte den für den Güterverkehr mittlerweile erreichten Zugangsanspruch aller Eisenbahnverkehrsunternehmen auf den grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr innerhalb der EU aus. Dies wurde den Mitgliedstaaten als verbindliches Ziel bis zum 1. Januar 2010 aufgegeben und sollte die eingeleitete Liberalisierung und die Herstellung eines integrierten europäischen Schienenverkehrsraum gewährleisten.14 Über die abstrakte Zielvorgabe hinaus beschäftigt sich das Paket insbesondere mit den wesentlichen Voraussetzungen für die Öffnung dieses Marktes: Trassenzugang, Zugang zu sonstiger Eisenbahninfrastruktur , diskriminierungsfreie Infrastrukturnutzungspreise und Gewährleistung bestimmter Mindestqualitätsstandards. Trotz dieser drei Eisenbahnpakete sieht die Europäische Kommission den einheitlichen europäischen Eisenbahnraum bisher nicht als verwirklicht an. Am 17. September 2010 veröffentlichte 11 Das Zweite Eisenbahnpaket umfasst die RL 2004/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Änderung der RL 91/440/EWG des Rates zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft , ABl. 2004 Nr. L 220/58, die RL 2004/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Änderung der RL 96/48/EG des Rates über die Interoperabilität des transeuropäischen Hochgeschwindigkeitsbahnsystems und der RL 2001/16/EG des Europäschen Parlaments und des Rates über die Interoperabilität des konventionellen transeuropäischen Eisenbahnsystems, ABl. 2004 Nr. L 220/40, die RL 2004/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 über Eisenbahnsicherheit in der Union und zur Änderung der RL 95/18/EG des Rates über die Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen und der RL 2001/14/EG über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung, ABl. 2004 Nr. L 220/16 sowie die VO (EG) Nr. 881/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Errichtung einer Europäischen Eisenbahnagentur, ABl. 2004 Nr. L 220/3. 12 Jung, Christian H. A., in Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 4. Auflage , München, 2011, Art. 91, Rdnr. 13 f. 13 Das Dritte Eisenbahnpaket besteht aus der VO (EG) Nr. 1370/2007 über die Beauftragung und Finanzierung öffentlicher Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße, der VO (EG) Nr. 1371/2007 zur Stärkung der Rechte der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, der RL 2007/58/EG zur Öffnung des Markts für grenzüberschreitenden Personenverkehrsdienste sowie der RL 2007/59/EG über die Zertifizierung von Triebfahrzeugführern. 14 Vgl. Art. 1 Nr. 8 Abs. 3 a RL 2007/58/EG, ABl. 2007 Nr. L 315/44. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 60/11 Seite 7 sie eine weitere Mitteilung über die Entwicklung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums .15 In der Mitteilung stellt die Kommission ihre künftige Strategie dar. Es soll insbesondere eine leistungsfähige Schieneninfrastruktur in der EU aufgebaut, ein offener Eisenbahnmarkt geschaffen , administrative und technische Hindernisse überwunden und gleiche Bedingungen für den Wettbewerb mit anderen Verkehrsträgern gewährleistet werden. Parallel zur neuen Strategie evaluiert die Europäische Kommission fortlaufend die Umsetzung der regulatorischen Vorschriften der bisherigen Eisenbahnpakete. So legte die Kommission im Mai 2007 den Mitgliedstaaten im Rahmen einer Evaluierung zum Ersten Eisenbahnpaket einen Fragebogen zur Bewertung der rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen für den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur vor. Diesen beantwortete unter anderem auch die Bundesrepublik Deutschland. Dabei wurden aus Sicht der Kommission Probleme bei der Umsetzung der regulatorischen Vorschriften in Deutschland deutlich, die sie zur Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik am 26. Juni 2008 veranlassten. Nachdem die Bedenken im Vorverfahren nicht ausgeräumt werden konnten, erhob die Europäische Kommission Klage gegen Deutschland vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH).16 Nachfolgend werden die Positionen der Europäischen Kommission und der Bundesregierung in diesem Vertragsverletzungsverfahren zusammenfassend dargestellt. Als Grundlage dient die Klageschrift der Kommission. Anschließend werden die Argumente beider Parteien einer juristischen Bewertung unterzogen, ohne dabei jedoch dem EuGH bzw. dem Ausgang des Verfahrens vorgreifen zu wollen. 2. In der Klageschrift der Kommission angesprochene Umsetzungsdefizite 2.1. Trennung zwischen der Erbringung von Verkehrsleistungen und dem Betrieb der Eisenbahninfrastruktur Die Kommission wirft Deutschland in ihrer Klageschrift zunächst vor, gegen unionsrechtliche Bestimmungen verstoßen zu haben, die auf eine Trennung zwischen der Erbringung der Verkehrsleistungen und dem Betrieb der Eisenbahninfrastruktur abzielen. So seien entgegen Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440/EWG wesentliche Funktionen eines Infrastrukturbetreibers einer Stelle (Unternehmen) übertragen worden, das zwar rechtlich unabhängig ist, aber Teil einer Hol- 15 Online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2010:0474:FIN:DE:PDF [Stand: 04.05.2011]. 16 Die Klageschrift der Europäischen Kommission wurde dem Deutschen Bundestag (Referat PA 1) nachrichtlich vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie zugeleitet. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 60/11 Seite 8 ding sei, zu der Unternehmen gehörten, die Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen. Weiter wurden keine ausreichenden Schutzvorkehrungen getroffen, die eine wirtschaftliche Unabhängigkeit des Infrastrukturbetreibers von dem Eisenbahnverkehrsunternehmen sicherstellen könnten.17 Deutschland bestreitet einen Verstoß gegen Unionsrecht. 2.1.1. Wesentliche Bestimmungen des Unionsrechts Maßgebliches Unionsrecht der Kommission sind insbesondere Art. 6 Abs. 1-3 und Anhang II der Richtlinie 91/440/EWG18 sowie Art. 4 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14/EG. Art. 6 Abs. 1-3 der Richtlinie 91/440/EWG lauten: (1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass getrennte Gewinn- und Verlustrechnungen und Bilanzen für die Erbringung von Verkehrsleistungen durch Eisenbahnunternehmen einerseits und für den Betrieb der Infrastruktur andererseits erstellt und veröffentlicht werden. Öffentliche Gelder zugunsten eines dieser beiden Tätigkeitsbereiche dürfen nicht auf den anderen übertragen werden. Dieses Verbot muss auch in der Rechnungsführung der beiden Geschäftsbereiche zum Ausdruck kommen. (2) Die Mitgliedstaaten können ferner vorsehen, dass diese beiden Tätigkeiten in organisatorisch voneinander getrennten Unternehmensbereichen innerhalb desselben Unternehmens ausgeübt werden oder dass eine getrennte Einrichtung den Betrieb der Infrastruktur übernimmt. (3) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Funktionen nach Anhang II, die für einen gerechten und nichtdiskriminierenden Zugang zur Infrastruktur ausschlaggebend sind, an Stellen oder Unternehmen übertragen werden, die selbst keine Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen. Ungeachtet der Organisationsstrukturen ist der Nachweis zu erbringen, dass dieses Ziel erreicht worden ist. Die Mitgliedstaaten können jedoch Eisenbahnunternehmen oder jeder anderen Stelle die Erhebung von Entgelten und die Verantwortung für die Verwaltung der Eisenbahninfrastruktur übertragen, wozu Investitionen, Wartung und Finanzierung gehören. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14/EG lautet: Ist der Betreiber der Infrastruktur rechtlich, organisatorisch oder in seinen Entscheidungen nicht von Eisenbahnunternehmen unabhängig, so werden die in diesem Kapitel dargelegten Aufgaben – außer der Erhebung von Entgelten – von einer entgelterhebenden Stelle wahrgenommen, die rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen von Eisenbahnunternehmen unabhängig ist. 17 Vgl. Klageschrift der Kommission, Rn. 11-13. 18 Richtlinie 91/440/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft , online abrufbar unter (konsolidierte Fassung) http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=CONSLEG:1991L0440:20100412:DE:PDF (Stand: 6.5.11); Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2001:075:0029:0046:DE:PDF (Stand: 6.5.11). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 60/11 Seite 9 Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14/EG lautet: Ist der Betreiber der Infrastruktur rechtlich, organisatorisch oder in seinen Entscheidungen nicht von Eisenbahnunternehmen unabhängig, so werden die in Absatz 1 genannten und in diesem Kapitel im weiteren dargelegten Aufgaben von einer entgelterhebenden Stelle wahrgenommen, die rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen von Eisenbahnunternehmen unabhängig ist. 2.1.2. Umsetzung der Normen in deutsches Recht Das Erste Eisenbahnpaket wurde durch das „Dritte Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften vom 27. April 2005“ in nationales Recht umgesetzt19. Das Gesetz trat am 30. April 2005 in Kraft. Richtlinien aus dem ersten Eisenbahnpaket zielen auf den gleichen und nicht diskriminierenden Zugang zur Schieneninfrastruktur für alle Unternehmen und auf die Förderung eines wettbewerbsorientierten , dynamischen und transparenten Eisenbahnmarktes in Europa. 2.1.3. Relevante Normen des Unionsrechts Art. 6 Abs. 3 RL 91/440/EWG ist nach Auffassung der KOM so auszulegen, dass ein mit den wesentlichen Funktionen betraute Unternehmen nur dann in derselben Holding organisiert sein darf, wenn es von diesen nicht nur rechtlich, sondern auch nachweislich wirtschaftlich getrennt ist (Nr. 25). 2.1.4. Umsetzung der Normen in nationales Recht 2.1.5. Rechtliche Würdigung der Kommission Umsetzungskatalog: unabhängige Aufsichtsbehörde und Beschwerdemöglichkeit (1), 2.1.6. Rechtliche Würdigung der Bundesrepublik Deutschland Holding-Struktur. Ablehnung der Prüfungskriterien. 19 Drittes Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften vom 27. April 2005, BGBl. I Nr. 24, S. 1138- 1148. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 60/11 Seite 10 2.1.7. Eigene Bewertung 3. Möglichkeit der Einleitung eines weiteren Vertragsverletzungsverfahrens Das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV ist das wichtigste Instrument der Europäischen Kommission, der ihr nach Art. 17 Abs. 1 EUV zukommenden Aufgabe gerecht zu werden , für die einheitliche Beachtung und Durchsetzung des Europarechts Sorge zu tragen. Es eröffnet der Kommission die Möglichkeit, gegen objektive Verletzungen des Europarechts durch die Mitgliedstaaten einzuschreiten und auf die Herstellung eines vertragskonformen Zustandes zu dringen.20 In formeller Hinsicht umfasst das Vertragsverletzungsverfahren insgesamt vier Abschnitte: Das außergerichtliche Vorverfahren besteht aus dem einleitenden Mahnschreiben der Kommission und der hierzu vom betroffenen Mitgliedstaat vorgebrachten Verteidigung, sowie der Versendung der mit Gründen versehenen Stellungnahme. Dem Vorverfahren folgt das gerichtliche Verfahren, sofern keine gütliche Einigung im Vorverfahren erzielt werden konnte, das aus der Klage vor dem Gerichtshof sowie dem Urteil des Gerichtshofes besteht. Die Verfahrensleitung im gesamten Vorverfahren obliegt der Kommission.21 Der EuGH geht in ständiger Rechtssprechung davon aus, dass Art. 258 AEUV die Kommission nicht verpflichtet, ein Verfahren nach dieser Vorschrift einzuleiten, sondern dass sie insoweit über ein Ermessen verfügt. Das Ermessen der Kommission folgert der Gerichtshof zum einen aus Sinn und Zweck des Art. 258 AEUV, der ausschließlich die Kommission zur Überwachung mitgliedstaatlicher Vertragsverstöße berechtigt. Zum anderen verweist er darauf, dass Art. 258 1. Unterabsatz AEUV die Einleitung eines Aufsichtsverfahrens ausdrücklich von der Auffassung der Kommission abhängig macht.22 Entschließt sich die Kommission zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen einen Mitgliedstaat, eröffnet sie dieses durch das Mahnschreiben. Das Mahnschreiben dient insbesondere der Eingrenzung des Rechtsstreits bzw. Festlegung des Streitgegenstandes und soll dem Mitgliedstaat der zur Stellungnahme aufgefordert wird, die notwendigen Angaben zur Vorbereitung 20 Borchardt, Klaus Dieter, in Dauses (Hrsg.), Handbuch desEU-Wirtschaftsrechts, 27. Ergänzungslieferung, München , 2011, P. I. Direkte Klagen, Rdnr. 10. 21 Gaitanides, Charlotte, in von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage, Baden -Baden, 2003, EGV Art. 226, Rdnr. 14. 22 Karpenstein, Ulrich, in Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, 40. Ergänzungslieferung , München, 2009, EGV Art. 226, Rdnr. 34. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 60/11 Seite 11 seiner Verteidigung an die Hand geben und es ihm ermöglichen, die Angelegenheit zu bereinigen , bevor der Gerichtshof angerufen wird.23 Der Streitgegenstand wird durch das Mahnschreiben verbindlich festgelegt und darf grundsätzlich weder durch die begründete Stellungnahme noch durch die Klageerhebung erweitert werden . Vom Begriff des Streitgegenstandes umfasst dabei sowohl den vorgetragenen Sachverhalt als auch die von der Kommission getroffenen rechtlichen Schlussfolgerungen und Rügen. Nur im Falle geringfügiger inhaltlicher Korrekturen oder im Falle einer Gesetzesänderung während des Vertragsverletzungsverfahrens bei der die gerügte Regelung seitens des Mitgliedstaates durch eine neue in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gleichgelagerte Regelung ersetzt worden ist, ist die Einleitung eines neuen Vertragsverletzungsverfahrens nicht erforderlich.24 Jede andere Erweiterung des Verfahrens auf zusätzliche Tatbestände bedarf dagegen eines neuen Mahnschreibens und damit eines weiteren Vertragsverletzungsverfahrens. Die parallele Existenz mehrerer Vertragsverletzungsverfahren zu einem Rechts- bzw. Themenkomplex ist somit nicht ausgeschlossen. - Fachbereich Europa - 23 EuGH Rs. C-230/99, Kom/Frankreich, Slg. 2001, I-1169, Rdnr. 31. 24 Karpenstein, Ulrich, in Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, 40. Ergänzungslieferung , München, 2009, EGV Art. 226, Rdnr. 40 ff.