Deutscher Bundestag Einführung einer Finanztransaktionssteuer allein in einem Mitgliedstaat bzw. im Euro-Währungsgebiet mittels verstärkter Zusammenarbeit Vereinbarkeit mit sekundärem Unionsrecht und der Kapitalverkehrsfreiheit Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 11 – 3000 – 5/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 2 Einführung einer Finanztransaktionssteuer allein in einem Mitgliedstaat bzw. im Euro- Währungsgebiet mittels verstärkter Zusammenarbeit Vereinbarkeit mit sekundärem Unionsrecht und der Kapitalverkehrsfreiheit Aktenzeichen: WD 11 – 3000 – 5/12 Abschluss der Arbeit: 8. Februar 2012 Fachbereich: WD 11: Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 5 2. Einordnung des französischen Vorschlags der Einführung einer Finanztransaktionssteuer 6 3. Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission vom 28. September 2011 7 4. Vereinbarkeit der Erhebung einer Finanztransaktionssteuer allein in einem Mitgliedstaat der EU mit Sekundärrecht 8 4.1. Grundsätzliches Verbot der Erhebung indirekter Steuern (Art. 5 Richtlinie 2008/7/EG) 9 4.2. Einschlägigkeit der Ausnahmen vom generellen Verbot? (Art. 6 Richtlinie 2008/7/EG) 9 4.3. Fazit 11 5. Vereinbarkeit der Erhebung einer Finanztransaktionssteuer allein in einem Mitgliedstaat der EU mit der primärrechtlichen Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 63 Abs. 1 AEUV 12 5.1. Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit 12 5.2. Grenzüberschreitender Sachverhalt 12 5.3. Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit 12 5.4. Rechtfertigung 13 5.4.1. Geschriebener Rechtfertigungsgrund: Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV 13 5.4.2. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe 14 5.4.3. Rechtfertigungsschranken: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 15 5.4.3.1. Geeignetheit 15 5.4.3.2. Ggf. Erforderlichkeit und Angemessenheit 17 5.5. Exkurs: Rechtfertigung einer Besteuerung von Devisentransaktionen 18 5.6. Fazit 18 6. Vereinbarkeit der Erhebung einer Finanztransaktionssteuer nur im Euro-Währungsgebiet mit dem Unionsrecht 20 6.1. Vorliegen der Voraussetzungen der Verstärkten Zusammenarbeit in Bezug auf die Einführung einer Finanztransaktionssteuer (Art. 20 EUV, Art. 326 ff. AEUV) 20 6.1.1. Bestehen einer nicht ausschließlichen Zuständigkeit der Union 20 6.1.2. Ausrichtung auf die Ziele und Interessen der Union 22 6.1.3. Offenheit für alle Mitgliedstaaten 22 6.1.4. Beteiligung von neun Mitgliedstaaten 22 6.1.5. Verstärkte Zusammenarbeit als Ultima Ratio 22 6.1.6. Beachtung des primären und sekundären Unionsrechts (Art. 326 Abs. 1 AEUV) 23 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 4 6.1.6.1. Vereinbarkeit mit der Richtlinie 2008/7/EG 23 6.1.6.2. Vereinbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit 23 6.1.7. Verbot der Beeinträchtigung des Binnenmarkts und des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, der Handelshemmnisse und der Wettbewerbsverzerrungen (Art. 326 Abs. 2 AEUV) 24 6.1.8. Rücksichtnahme auf Nichteilnehmer (Art. 327 S. 1 AEUV) 24 6.1.9. Fazit 24 6.2. Verfahren der Verstärkten Zusammenarbeit 25 6.3. Änderung des Eigenmittelbeschlusses im Wege der Verstärkten Zusammenarbeit? 25 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 5 1. Einleitung Anfang Januar 2012 veröffentlichten französische Medien Berichte, nach denen die französische Regierung in Erwägung ziehe, eine Finanztransaktionssteuer notfalls im Alleingang isoliert in Frankreich einzuführen. Nach Informationen der Tageszeitung „Libération“ könne eine Abgabe auf Finanzgeschäfte noch vor der Ende April beginnenden Präsidentenwahl im Rahmen eines Nachtragshaushalts beschlossen werden.1 Wie eine solche Abgabe ausgestaltet wäre, war anfänglich unklar. Präsident Nicolas Sarkozy hatte anfangs verkündet, notfalls alleine den Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission vom September 2011 für ein gemeinsames Finanztransaktionssteuersystem 2 anzuwenden.3 Da die französische Bankenbranche auf diesen Vorschlag kritisch reagierte, verfolgt die französische Regierung nach aktuellen Presseberichten nun den Ansatz einer deutlich reduzierten Steuer, die im Wesentlichen nur auf Aktien und Anleihen erhoben werden soll; Finanzprodukte wie Derivate und Verbriefungen seien ausgenommen. Es würde sich im Ergebnis eher um eine Börsensteuer nach britischem Vorbild („stamp duty“) handeln .4 Am 29. Januar 2012 konkretisierte Sarkozy in einem Fernsehinterview seine Finanztransaktionssteuerpläne : Ein Steuersatz von 0,1 % soll ab August 2012 auf Aktientransaktionen aller an der Pariser Börse notierten Unternehmen gelten, unabhängig davon, wo der Verkauf stattfindet und unabhängig von der genutzten Plattform.5 Ausgenommen von der Besteuerung sollen Kapitalerhöhungen , Transaktionen innerhalb einer Gruppe, Käufe zur Kurspflege und Aktienleihen sein. Demgegenüber sollen „nackte“ Kreditausfallversicherungen auf Staatsanleihen (Credit Default Swaps [CDS], deren Käufer die zugrundeliegende Anleihe nicht besitzt6) und der Hochfrequenzhandel , bei dem in Sekundenbruchteilen computergestützt Wertpapiere gekauft und verkauft werden, besteuert werden.7 Alle anderen Finanzprodukte wie Devisen und Derivate sind von der 1 S. z. B. Focus Online vom 6.1.2012, „Frankreich will Finanztransaktionssteuer einführen“, online abrufbar unter : http://www.focus.de/finanzen/news/staatsverschuldung/sarkozy-plant-alleingang-frankreich-willfinanztransaktionssteuer -einfuehren_aid_700087.html (letzter Abruf: 7.2.2012). 2 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM(2011) 594 endg., online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2011:0594:FIN:DE:PDF (letzter Abruf: 7.2.2012). 3 Bericht im Handelsblatt vom 23.1.2012, „Berlin und Paris wollen Briten von Transaktionssteuer überzeugen“. 4 Bericht im Handelsblatt vom 23.1.2012, „Berlin und Paris wollen Briten von Transaktionssteuer überzeugen“; Bericht im Handelsblatt vom 30.1.2012, „Wachsende Front gegen die Transaktionssteuer“. 5 Bericht in Financial Times Deutschland Online vom 30.1.2011, „Sarkozy prescht mit Börsensteuer vor“; Bericht im Handelsblatt vom 31.1.2012, „Börsensteuer: Merkel folgt dem französischen Weg nicht“. 6 S. hierzu Institut der Deutschen Wirtschaft Köln, Spekulation – Wichtige Rolle in der Marktwirtschaft, online abrufbar unter: http://www.iwkoeln.de/Publikationen/iwd/Archiv/tabid/122/articleid/30438/Default.aspx (letzter Abruf: 7.2.2012). 7 Bericht im Handelsblatt vom 31.1.2012, „Börsensteuer: Merkel folgt dem französischen Weg nicht“; Zitat des französischen Premierministers Francois Fillon vom 30.1.2012, Bericht auf der Internetseite „toursurlesimpots .com“ vom 31.1.2012, „Entrée en application de la taxe sur les transactions financières prévue le 1er août 2012“, online abrufbar unter: http://www.toutsurlesimpots.com/entree-en-application-de-la-taxe-sur-lestransactions -financieres-prevue-le-1er-aout-2012.html (letzter Abruf: 7.2.2012). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 6 Steuer ausgenommen. Mit dieser Börsensteuer sollen im Jahr 2012 500 Mio. Euro und im Jahr 2013 1 Mrd. Euro erzielt werden.8 2. Einordnung des französischen Vorschlags der Einführung einer Finanztransaktionssteuer Kennzeichen einer Finanztransaktionssteuer ist, dass sie den Handel auf den Finanzplätzen besteuert , also die Transaktion selbst.9 Es existieren verschiedene Modelle einer solchen Steuer.10 Sie unterscheiden sich vor allem danach, welcher sachliche Anwendungsbereich gewählt wird. Bei einer weiten Ausgestaltung würden alle Transaktionen erfasst, d. h. jeder Kauf oder Verkauf von Aktien, Devisen, Derivaten, Wertpapieren, Anleihen oder anderen Finanzprodukten würde besteuert.11 Die Idee einer Finanztransaktionssteuer geht auf den Ökonomen und Nobelpreisträger James Tobin zurück. Nachdem nach dem Zweiten Weltkrieg das Handelsvolumen von Devisentransaktionen stetig zugenommen hatte, und als „spekulativ“ eingestufte Transaktionen für die teilweise hohe Volatilität an den Finanzmärkten und schockartige Kapitalabzüge aus Volkswirtschaften verantwortlich gemacht wurden, schlug Tobin in den 1970er Jahren eine international einheitliche Steuer vor, die beim Umtausch von einer Währung in eine andere anfällt.12 Insbesondere extrem kurzfristige Transaktionen mit minimalen Margen sollten hierdurch unattraktiv gemacht werden.13 Die Idee einer Devisentransaktionssteuer ist bis heute weltweit nicht umgesetzt worden.14 Frankreich und Belgien haben auf nationaler Ebene Gesetze über eine Steuer auf Devisengeschäfte eingeführt , welche allerdings erst in Kraft treten sollen, wenn eine solche Steuer von allen EU- Mitgliedstaaten eingeführt wird.15 Jedoch gibt es Beispiele für bereits geltende Transaktionssteuern auf andere Geschäfte. In Großbritannien existiert z. B. die Stamp Duty Reserve Tax, die den 8 Bericht auf der Internetseite „toursurlesimpots.com“ vom 31.1.2012, a.a.O. 9 S. z. B. Strub, Besteuerung des Finanzsektors auf EU-Ebene, IStR-LB 2011, S. 57; Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (373); DIHK Brüssel, Pressemitteilung vom 13.9.2011, „Finanztransaktionssteuer: EU-Kommission will Umsätze weltweit erfassen“. 10 S. hierzu Steinbach, Wie eine Finanztransaktionssteuer funktionieren kann, Wirtschaftsdienst 2010, S. 814 (815), Fn. 6. 11 Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (373); DIHK Brüssel, Pressemitteilung vom 13.9.2011, „Finanztransaktionssteuer: EU-Kommission will Umsätze weltweit erfassen “. 12 Paul/Neumann, Finanzmarktregulierung: Einführung einer Bankenabgabe und Finanztransaktionssteuer auf deutscher und europäischer Ebene, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Managerkreis, 2011, S. 21. 13 Paul/Neumann, a.a.O., S. 21 f.; Spahn, Zur Durchführbarkeit einer Devisentransaktionssteuer, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, 2002, S. 12. 14 Vgl. Paul/Neumann, a.a.O., S. 22. 15 Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (377); Spahn, Zur Durchführbarkeit einer Devisentransaktionssteuer, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, 2002, S. 11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 7 Handel mit Aktien inländischer Gesellschaften an der Börse betrifft. Der Steuersatz beträgt 0,5 % auf den Kauf von Aktien, jedoch nur, wenn mit der Transaktion ein Wertpapier tatsächlich weiter gereicht wird.16 Genau genommen wird damit nicht der Transfer selbst, sondern die Registrierung des Eigentümerwechsels von Unternehmensanteilen aller in Großbritannien ansässigen Unternehmen besteuert.17 An der Einordnung der Stamp Duty als Form der Transaktionssteuer ändert dies jedoch nichts.18 Von der Steuer ausgenommen sind institutionelle Marktteilnehmer als „Zwischenhändler“. Es werden ferner keine Steuern auf Anleihe- und Rohstoffgeschäfte , auf Devisenmarktgeschäfte und auf den Hochfrequenzhandel erhoben.19 Der französische Vorschlag betrifft nur den Handel mit Wertpapieren von an der französischen Börse notierten Unternehmen. Derivate und Devisen sind ausgenommen. Insoweit ähnelt der französische Vorstoß der britischen Stamp Duty. Im Folgenden wird sowohl bezogen auf den nun konkretisierten französischen Vorschlag als auch allgemein bezogen auf die Einführung einer umfassenderen Finanztransaktionssteuer im Alleingang eines Mitgliedstaats analysiert, ob ein solches Vorgehen mit dem primären und sekundären Unionsrecht vereinbar ist. 3. Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission vom 28. September 2011 Am 28. September 2011 hat die Europäische Kommission (Kommission) einen Richtlinienvorschlag zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf EU-Ebene vorgelegt.20 Der Vorschlag sieht von 2014 an einen Mindeststeuersatz von 0,1 % für den Handel mit Anleihen und Anlagen und von 0,01 % für den Handel mit Derivatprodukten vor. Den Mitgliedstaaten würde es freistehen , höhere Steuersätze anzuwenden. Die Finanztransaktionssteuer hätte einen umfassenden Anwendungsbereich, da Transaktionen mit Finanzinstrumenten aller Art erfasst werden sollen. Ob die Transaktion dabei an der Börse oder außerbörslich stattfindet, ist für die Steuerpflicht unbeachtlich.21 Die wichtigste Ausnahme von der Steuerpflicht stellen Primärmarktgeschäfte dar, d. h. die Erstausgabe von Aktien, Schuldverschreibungen oder Staatsanleihen (Art. 1 Abs. 5 lit. (a) Richtlinienvorschlag). Es soll also nicht die Emission von Wertpapieren, sondern nur der 16 Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 31.1.2012, „Sarkozys Finanzsteuerplan stößt in Berlin auf ein positives Echo“. 17 Paul/Neumann, a.a.O., S. 22. 18 Vgl. Steinbach, Wie eine Finanztransaktionssteuer funktionieren kann, Wirtschaftsdienst 2010, S. 814 (815); Paul/Neumann, a.a.O., S. 22. 19 Bericht in der FAZ vom 31.1.2012, a.a.O. 20 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM (2011) 594, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2011:0594:FIN:DE:PDF (letzter Abruf: 7.2.2012). 21 Verordnungsvorschlag, a.a.O., S. 7. S. zum Anwendungsbereich der Finanztransaktionssteuer auch Vogel, Der EU-Richtlinienvorschlag zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer, IStR 2012, S. 12 (14). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 8 Handel besteuert werden.22 Von der Abgabe ausgenommen sind ferner u.a. Transaktionen der Zentralbanken, laufende Zahlungen für Hypothekendarlehen oder Verbraucherkredite.23 Ziel der EU-Finanztransaktionssteuer ist, wie auch schon von Tobin angestrebt, neben der Erzielung von höheren Einnahmen die Verringerung des spekulativen Handels durch höhere Transaktionskosten . Bei kurzfristigen Spekulationen liegt der Profit umso höher, je größer die Differenz zwischen Ankaufs- und Verkaufspreis ist. Durch die Finanztransaktionssteuer werde diese Differenz geringer. Gerade der Hochfrequenzhandel, bei dem sehr hohe Summen mit nur sehr geringen Gewinnmargen angekauft und verkauft werden, werde dadurch verteuert und vermutlich zurückgehen.24 Personelle Voraussetzung für die Steuer ist, dass mindestens ein Handelspartner seinen Sitz in der EU hat (Ansässigkeitsprinzip). Entscheidend ist also der Sitz des Händlers, nicht der Finanzplatz , an dem die Geschäfte abgewickelt werden. Mit dieser Regelung soll verhindert werden , dass Banken, Fonds und andere Finanzakteure ins EU-Ausland ausweichen, um der Steuer zu entgehen. Der Nachteil dieser Form der Besteuerung ist, dass die Kosten der Steuereintreibung erheblich steigen, wenn man nicht direkt die Transaktion, sondern auf Ebene des Finanzinstituts besteuert. 25 Für die gesamte EU rechnet die Kommission mit Einnahmen von 57 Mrd. Euro pro Jahr.26 4. Vereinbarkeit der Erhebung einer Finanztransaktionssteuer allein in einem Mitgliedstaat der EU mit Sekundärrecht Sofern Sekundärrecht für einen bestimmten Sachbereich einschlägig ist, sind nationale Maßnahmen primär an den sekundären Rechtsakten zu messen.27 Es wird daher im Folgenden untersucht , ob sich ein Verbot der Einführung einer Börsenumsatzsteuer bzw. umfassenderen Finanztransaktionssteuer im nationalen Alleingang aus vorrangigem Sekundärrecht ergibt. In diesem Kontext einschlägig ist die Richtlinie 2008/7/EG betreffend die indirekten Steuern auf die An- 22 Vogel, Der EU-Richtlinienvorschlag zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer, IStR 2012, S. 12 (14). 23 Press Releases, Gemeinsame Regeln für eine Finanztransaktionssteuer – Häufig gestellte Fragen, online abrufbar unter: http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=MEMO/11/640&format=HTML&aged=0&language=de &guiLanguage=de (letzter Abruf: 7.2.2012). 24 Vogel, Der EU-Richtlinienvorschlag zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer, IStR 2012, S. 12 (15). 25 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM (2011) 594, S. 8 f., online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2011:0594:FIN:DE:PDF (letzter Abruf: 7.2.2012). 26 Press Releases, Gemeinsame Regeln für eine Finanztransaktionssteuer – Häufig gestellte Fragen, online abrufbar unter: http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=MEMO/11/640&format=HTML&aged=0&language=de &guiLanguage=de (letzter Abruf: 7.2.2012). 27 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1, 2012, Rdnr. 382; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 7. Auflage 2010, Rdnr. 778. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 9 sammlung von Kapital.28 Nach Erwägungsgrund 3 zielt die Richtlinie darauf, die Rechtsvorschriften über indirekte Steuern auf die Ansammlung von Kapital zu harmonisieren, um so weit wie möglich die Verfälschung von Wettbewerbsbedingungen und die Behinderung des freien Kapitalverkehrs auszuschließen. 4.1. Grundsätzliches Verbot der Erhebung indirekter Steuern (Art. 5 Richtlinie 2008/7/EG) Art. 5 Abs. 2 lit. a) Richtlinie 2008/7/EG verbietet den Mitgliedstaaten grundsätzlich die Erhebung indirekter Steuern „irgendwelcher Art auf die Ausfertigung, die Ausgabe, die Börsenzulassung , das Inverkehrbringen von oder den Handel mit Aktien, Anteilen oder anderen Wertpapieren gleicher Art sowie Zertifikaten derartiger Wertpapiere, ungeachtet der Person des Emittenten “. Darüber hinaus dürfen gemäß Art. 5 Abs. 2 lit. b) Richtlinie 2008/7/EG keine indirekten Steuern auf bestimmte Anleihen einschließlich Renten erhoben werden. Dies könnte auf den ersten Blick so verstanden werden, dass sowohl die Erhebung einer Börsenumsatzsteuer als auch die Erhebung einer umfassenderen Finanztransaktionssteuer, isoliert durch einen Mitgliedstaat, nicht vereinbar mit sekundärem Unionsrecht ist. 4.2. Einschlägigkeit der Ausnahmen vom generellen Verbot? (Art. 6 Richtlinie 2008/7/EG) Art. 6 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 2008/7/EG gestattet jedoch als Ausnahme vom generellen Verbot der Erhebung indirekter Steuern in Art. 5 den Mitgliedstaaten „pauschal oder nicht pauschal erhobene Steuern auf die Übertragung von Wertpapieren“ zu erheben. Damit stellt sich die Frage, ob eine Form der Börsenumsatzsteuer, wie sie nun von Frankreich vorgeschlagen wurde, oder eine umfassendere Finanztransaktionssteuer unter diese Ausnahmeregelung subsumiert werden können. Hierzu werden verschiedene Ansichten vertreten: Der Rechtsanwalt Stefan Maunz hat in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 18. Mai 2010 die Auffassung vertreten, dass Art. 6 Richtlinie 2008/7/EG nur die Besteuerung einer etwaigen Übertragung von Wertpapieren erlaube, jedoch nicht das Anknüpfen an den Kapitalwert einer Transaktion.29 Für diese enge Auslegung des Ausnahmetatbestands beruft er sich auf den insoweit noch weiteren Wortlaut der Vorgängerrichtlinie 69/335/EWG30, die in Art. 12 Abs. 1 lit. a) noch explizit die Einführung einer Börsenumsatzsteuer gestattete. Im Umkehrschluss soll also eine Börsenumsatzsteuer und damit auch eine umfassendere Besteuerung des Kapitalwerts der Transaktion (Finanztransaktionssteuer) heute ausgeschlossen worden sein. 28 Richtlinie 2008/7/EG des Rates vom 12. Februar 2008 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital, Abl. Nr. L 046, S. 11 ff., online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32008L0007:DE:HTML (letzter Abruf: 7.2.2012). 29 Maunz, Das Risiko der Unvereinbarkeit, in Süddeutschen Zeitung vom 18.5.2010, online abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/finanztransaktionssteuer-europaweit-oder-gar-nicht-1.946597-2 (letzter Abruf: 7.2.2012). 30 Richtlinie des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (69/335/EWG), ABl. L 249, S. 25 ff., online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:1969L0335:19850617:DE:PDF (letzter Abruf: 7.2.2012), Art. 12 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie lautete: „In Abweichung von den Artikeln 10 und 11 können die Mitgliedstaaten folgendes erheben: a) pauschal oder nicht pauschal erhobene Börsenumsatzsteuern“. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 10 Gegen diese Argumentation wird von Franz Mayer (Professor an der Universität Bielefeld) und seinem Mitarbeiter Christian Heidfeld in einem Aufsatz aus dem Jahr 2010 eingewandt, dass mit der Neufassung der Richtlinie keine Einschränkung des Ausnahmetatbestands im Hinblick auf die Einführung von Finanztransaktionssteuern intendiert worden sei.31 Die Autoren berufen sich hierfür auf einen Vergleich des Wortlauts der alten Richtlinie 69/335/EWG mit der neuen Richtlinie 2008/7/EG in anderen, genauso verbindlichen Sprachfassungen wie der deutschen. In der englischen Fassung normiert sowohl Art. 6 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 2008/7/EG als auch Art. 12 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 69/335/EWG wortlautgleich als Ausnahmetatbestand vom Verbot der indirekten Besteuerung „duties on the transfer of securities, whether charged at a flat rate or not“.32 Das gleiche gilt für die französische Sprachfassung, nach der in beiden Richtlinienfassungen eine Ausnahme des Verbots der indirekten Besteuerung für „taxes sur la transmission des valeurs mobilières, percures forfaitairement ou non“ enthalten ist.33 Vergleicht man die beiden Richtlinien in anderen Sprachfassungen, so haben die Ausnahmetatbestände des Art. 6 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 2008/7/EG und Art. 12 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 69/335/EWG also einen identischen Wortlaut. Da alle Sprachfassungen des Unionsrechts gleich verbindlich sind, darf für die Auslegung des Inhalts einer Norm auch auf andere Sprachfassungen Rückgriff genommen werden.34 Folglich kann nach Mayer und Heidfeld dem Begriff „Übertragung von Wertpapieren“ in der neuen Richtlinie 2008/7/EG keine andere Bedeutung zukommen als dem Begriff „Börsenumsatzsteuer “ in der alten Richtlinie 69/335/EWG.35 Für diese weite Auslegung des Ausnahmetatbestands durch Mayer und Heidfeld spricht zusätzlich , dass die Begründung des Entwurfs der heutigen Richtlinie 2008/7/EG zu den Ausnahmetatbeständen in Art. 6 ausdrücklich feststellt, dass Art. 6 dem früheren Art. 12 Richtlinie 69/335/EWG entspreche, und dass dieser „abgesehen von einigen redaktionellen Änderungen unverändert“ bliebe.36 Nach der Intention des Unionsgesetzgebers sollte also der Ausnahmetatbestand des Art. 6 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 2008/7/EG nicht bewusst enger gefasst werden. Somit spricht viel dafür, dass auch die neue Richtlinie 2008/7/EG die Erhebung einer Börsenumsatzsteuer durch die Mitgliedstaaten weiterhin gestattet. 31 Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (377). 32 Council Directive 2008/7/EC of 12 February 2008 concerning indirect taxes on the raising of capital, OJ L 46 p. 11, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32008L0007:EN:HTML (letzter Abruf 7.2.2012); Council Directive of 17 July 1969 concerning indirect taxes on the raising of capital (69/335/EEC), OJ L 249, p. 25, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:1969L0335:19850617:EN:PDF (letzter Abruf: 7.2.2012). 33 Directive 2008/7/CE du Conseil du 12 février 2008 concernant les impôts indirects frappant les rassemblements de capitaux, JO L 046, p. 11, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32008L0007:FR:HTML (letzter Abruf: 7.2.2012); Directive du Conseil du 17 juillet 1969 concernant les impôts indirects frappant les rassemblements de capitaux (69/335/CEE), JO L 249, p. 25, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:1969L0335:19850617:FR:PDF (letzter Abruf: 7.2.2012). 34 Ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. z.B. Rs. 29/69, Slg. 1969, 419. 35 Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (377 f.). 36 Vorschlag der Europäischen Kommission vom 4. Dezember 2006 für eine Richtlinie des Rates betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (Neufassung), Ratsdok. 17065/06, S. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 11 Im Ergebnis gehen Mayer und Heidfeld davon aus, dass auch eine umfassendere Finanztransaktionssteuer nicht gegen die Richtlinie 2008/7/EG verstoßen würde. Dabei nehmen sie an, dass die Börsenumsatzsteuer aufgrund des Ausnahmetatbestands des Art. 6 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 2008/7/EG gestattet sei und die Besteuerung von Devisen nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie falle.37 In einem Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen aus dem Jahr 2010 findet sich die Aussage , dass die Vereinbarkeit einer Finanztransaktionssteuer mit der Richtlinie 2008/7/EG im Einzelfall sorgfältig geprüft werden müsse.38 Auch die Kommission geht also offenbar davon aus, dass die Erhebung einer Finanztransaktionssteuer nicht generell ausgeschlossen ist, sondern im Einzelfall geprüft werden muss, welche Geschäfte genau besteuert werden sollen. Das Ziel der Richtlinie 2008/7/EG ist, die Kapitalzuführung zu Kapitalgesellschaften ausschließlich der vereinheitlichten Gesellschaftssteuer zu unterwerfen.39 Die Primärmarktbesteuerung, also eine Besteuerung der Erstemissionen, unterliegt deswegen nach der Richtlinie einem Verbot.40 Mit den Verbotsgründen in Art. 5 Abs. 2 Richtlinie 2008/7/EG sollen darüber hinaus auch die Erhebung anderer indirekter Steuern mit den gleichen Merkmalen wie eine Gesellschaftssteuer oder eine Wertpapiersteuer untersagt werden.41 Unabhängig von der Ausnahme des Art. 6 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 2008/7/EG sind nach Art. 5 Abs. 2 Richtlinie 2008/7/EG deswegen die Besteuerung der Ausgabe von Anteilen oder anderen Wertpapieren gleicher Art sowie Zertifikaten derartiger Wertpapiere, Obligationen – einschließlich Renten – oder anderen handelsfähigen Wertpapieren, die Anleihen betreffen, verboten.42 Mit einer Finanztransaktionssteuer können also keine Steuern – in welcher Variante auch immer – auf Kapitalerhöhungen erhoben werden. Eine solche Besteuerung ist nach dem französischen Vorschlag vermutlich aus diesem Grund auch ausdrücklich ausgenommen. 4.3. Fazit Es sprechen somit gute Gründe dafür, dass der Vorschlag aus Frankreich, so wie er sich bislang aus den Pressemeldungen ergibt – und auch eine umfassendere Finanztransaktionssteuer, die etwa Devisen umfasst – wenn sie bestimmte Geschäfte ausklammert (s. oben) – mit der Richtlinie 2008/7/EG vereinbar ist. 37 Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (378). 38 Europäische Kommission, Commission Staff Working Document – Innovative financing at a global level, SEC(2010) 409 final, S. 27, online abrufbar unter: http://ec.europa.eu/economy_finance/articles/international/documents/innovative_financing_global_level_sec2 010_409en.pdf (letzter Abruf: 7.2.2012). 39 S. Erwägungsgründe 1 bis 3 der Richtlinie 2008/7/EG; s. auch die Erwägungsgründe der Richtlinie 69/335/EWG; hierzu Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der EU, Bd. 1, Loseblatt, Stand: September 2010, Art. 63 AEUV, Rdnr. 331. 40 S. Vogel, Der EU-Richtlinienvorschlag zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer, IStR 2012, S. 12 (14). 41 Letzter Erwägungsgrund der Richtlinie 69/335/EWG; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der EU, Bd. 1, Loseblatt, Stand: September 2010, Art. 63 AEUV, Rdnr. 331. 42 So auch die Begründung des EU-Richtlinien-Vorschlags zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer, a.a.O., S. 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 12 5. Vereinbarkeit der Erhebung einer Finanztransaktionssteuer allein in einem Mitgliedstaat der EU mit der primärrechtlichen Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 63 Abs. 1 AEUV 5.1. Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit Die in Art. 63 Abs. 1 AEUV normierte Kapitalverkehrsfreiheit verbietet alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Staaten. Unter dem Begriff „Kapital“ werden allgemein alle Vermögenswerte verstanden.43 So beschreibt der EuGH den Kapitalverkehr als „Transfer von Vermögenswerten“44 und greift in ständiger Rechtsprechung zur näheren Konkretisierung des Begriffs auf die Kapitalverkehrsrichtlinie 88/36145 zurück. Nach deren enumerativer, aber nicht abschließender Aufzählung46 fallen unter den Begriff Geldkapital, z. B. gesetzliche Zahlungsmittel, Wertpapiere, Kredite und Darlehen , sowie Sachkapital, wie z. B. Immobilien und Unternehmensbeteiligungen.47 Erfasst ist also jede Transaktion zum Zwecke der Anlage oder Investition bzw. der Finanzierung (aus Sicht des Kapitalnachfragers).48 Die Besteuerung des Transfers von Wertpapieren unterfällt damit dem Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit , so dass die Erhebung einer Börsenumsatz- bzw. Finanztransaktionssteuer an der Kapitalverkehrsfreiheit gemessen werden muss. 5.2. Grenzüberschreitender Sachverhalt Die Grundfreiheiten gelangen nur zur Anwendung, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt. Ein grenzüberschreitender Bezug ist hergestellt, wenn sich die in dem Mitgliedstaat angestrebten Regelungen in mehr als nur einem Mitgliedstaat auswirken. Solche grenzüberschreitenden Auswirkungen ergeben sich bei der französischen Initiative insoweit, als dass die Steuer auf Aktientransaktionen aller an der Pariser Börse notierten Unternehmen gelten soll, unabhängig davon, wo der Verkauf stattfindet, und ob Angehörige anderer EU-Mitgliedstaaten beteiligt sind. 5.3. Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit Art. 63 Abs. 1 AEUV verbietet alle Beschränkungen des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und gegenüber dritten Ländern. Der Begriff der Beschränkung in 43 Von Wilmowsky, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundfreiheiten und Grundrechte, 2009, § 12 IV 1 Rdnr. 2. 44 EuGH, verb. Rs. C-358/93 und 416/93, Slg. 1995, I-316, Rdnr. 13. 45 Richtlinie 88/361 des Rates vom 24 Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages, Abl. L 178, S. 5 ff., online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:1988:178:0005:0018:DE:PDF (letzter Abruf: 7.2.2012). 46 EuGH, Rs. C-222/97, Slg. 1999, I-1661, Rdnr. 21; EuGH Rs. C-468/98, Slg. 2001, I-173, Rdnr. 5. 47 Schürmann, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Kommentar, 2010, Art. 63 AEUV, Rdnr. 3; Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 2005, S. 99; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2010, Rdnr. 991; Glaesner, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2009, Art. 56 EGV, Rdnr. 4. 48 Sedlaczek/Züger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 63 AEUV, Rdnr. 20. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 13 Art. 63 Abs. 1 AEUV umfasst sowohl diskriminierende nationale Regelungen als auch solche Maßnahmen, die unterschiedslos für grenzüberschreitende und innerstaatliche Transaktionen gelten.49 Unter Beschränkung wird jede nationale Maßnahme verstanden, die geeignet ist, von der Wahrnehmung der Freiheit abzuschrecken oder grenzüberschreitenden Kapitalverkehr weniger attraktiv zu machen.50 Es sind somit alle nationalen Regelungen unzulässig, die In- und Auslandssachverhalte prima Facie zwar gleich behandeln, aber grenzüberschreitende Betätigungen faktisch gegenüber den innerstaatlichen erschweren.51 Die Einführung der dargestellten Steuer in Frankreich führt zu einer Erhöhung der Kosten aller von an der französischen Börse notierten Unternehmen getätigten Transaktionen. Durch die Einführung dieser Steuer dürften die Transaktionen mit an der französischen Börse notierten Unternehmen insgesamt teurer werden als Transaktionen mit Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten , und hierdurch könnte die Vornahme von Finanztransaktionen mit an der französischen Börse notierten Unternehmen weniger attraktiv werden. Hierin könnte man eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit sehen, jedoch keine Diskriminierung. Im Urteil Sandoz (1999) hat der EuGH es für die Annahme der Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit ausreichen lassen, dass ein Mitgliedstaat für alle in einem Mitgliedstaat ansässigen natürlichen und juristischen Personen eine Steuer für den Abschluss von Darlehensverträgen erhebt, ungeachtet von der Staatsangehörigkeit der Vertragspartner und des Ortes des Abschlusses des Darlehensvertrags. Eine derartige Maßnahme sei „geeignet, diese Gebietsansässigen davon abzuschrecken, bei in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Personen Darlehen aufzunehmen“.52 Eine solche Regelung nehme den Gebietsansässigen eines Mitgliedstaats die Möglichkeit, in den Genuss einer Gebührenfreiheit zu gelangen, die für außerhalb des Staatsgebiets abgeschlossene Darlehensverträge gelten könnte.53 Hierin wurde eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs gesehen. 5.4. Rechtfertigung Eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit kann gleichwohl gerechtfertigt sein. 5.4.1. Geschriebener Rechtfertigungsgrund: Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV Man könnte in diesem Zusammenhang an den geschriebenen Rechtfertigungsgrund des Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV denken. Hiernach ist es den Mitgliedstaaten gestattet, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln. Allerdings ist der Anwendungsbereich dieser Norm durch eine zum Vertrag von Maastricht aufgenommene Erklärung Nr. 7 zu Art. 73d des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) (später Art. 58 EGV, jetzt Art. 65 49 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2009, § 31, Rdnr. 20. 50 Ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. z. B. Rs. C-439/97, Slg. 1999, I-7041, Rdnr. 19; Rs. C-484/93; Slg. 1995, I-3955, Rdnr. 10; Rs. C-222/97, Slg. 1999, I-1661, Rdnr. 26 f.; Rs. C-478/98, Slg. 2000, I-7587, Rdnr. 18 f.; Rs. C- 483/99, Slg. 2002, I-4781, Rdnr. 41; Rs. C-463/00, Slg; 2003, I-4581, Rdnr. 61. 51 Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, 2009, Rdnr. 835. 52 EuGH, Rs. C-439/97, Slg. 1999, I-7041, Rdnr. 19 f. 53 EuGH, Rs. C-439/97, Slg. 1999, I-7041, 1. Leitsatz, 2. Absatz. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 14 AEUV) erheblich eingeschränkt worden: Hiernach gilt das in Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV erwähnte Recht der Mitgliedstaaten, „die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, nur für die einschlägigen Vorschriften (…), die Ende 1993 bestehen“ (sog. Stillhalteerklärung).54 Seit der Beitrittsakte 2003 ist diese Stillhalteklausel auch im Primärrecht verankert.55 Neue Regelungen im Kapital- und Zahlungsverkehr der Mitgliedstaaten, die nach Wohnort oder Anlageort differenzieren , können damit nicht auf Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV gestützt und gerechtfertigt werden .56 Damit erübrigt sich die Frage, ob die Einführung einer Finanztransaktionssteuer etwa nur für an der französischen Börse notierte oder in Frankreich ansässige Unternehmen über Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV gerechtfertigt werden könnte. 5.4.2. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe Richterrechtlich hat der EuGH seit seiner Cassis de Dijon-Entscheidung57 ungeschriebene Rechtfertigungsgründe entwickelt, die „zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls/-interesses“.58 Es handelt sich hierbei um einen nicht abgeschlossenen Kanon.59 Eine Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses kommt grundsätzlich nur bei Maßnahmen in Betracht, „die für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten“60. Die Finanztransaktionssteuer nach dem französischen Vorschlag soll alle an der französischen Börse notierten Unternehmen treffen, so dass eine Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls grundsätzlich in Betracht käme. Der Einführung einer Finanztransaktionssteuer werden im Allgemeinen folgende Ziele zugeschrieben , die sich auch im Richtlinienvorschlag der Kommission für ein Finanztransaktionssteuersystem wiederfinden: Nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise wird erstens häufig das Argument vorgebracht, dass der Finanzsektor an der Finanzierung der Folgen der Finanzund Wirtschaftskrise beteiligt werden solle.61 Als zweites Ziel einer Finanztransaktionssteuer wird dieser ein positiver Effekt auf die Stabilisierung des Finanzmarktes und die Verhinderung 54 ABl. 1992 Nr. C 191/99. 55 Anhang IV der Akte über die Bedingungen des Beitritts von Tschechien, Estland, Zypern, Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Polen, Slowenien und der Slowakei, ABl. 2003 L 236/33 (797). 56 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2010, Rdnr. 1002; Glasner, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2009, Art. 58 EGV, Rdnr. 2. 57 EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, S. 649, Rdnr. 8. 58 Zur Herleitung solcher zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses durch den EuGH vgl. von Wilmowsky , in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2009, § 12 IV 1, Rdnr. 12; Haratsch /Koenig/Pechstein, Europarecht, 2010, Rdnr. 843 ff. 59 Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, 2009, Rdnr. 835. 60 EuGH, Rs. C-302/97, Slg. 1999, I-3099, Rdnr. 40 f.; Rs. C-503/99, Slg. 2002, I-4809, Rdnr. 45. 61 Fischer zu Cramburg, Finanztransaktionssteuer: Europäisches Parlament lässt von der Kommission EU-weite Einführung prüfen, NZG 2010, 460 (460); Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM(2011) 594, S. 2, a.a.O. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 15 zukünftiger Finanzkrisen zugeschrieben.62 Drittens soll sie der Verringerung des spekulativen Handels durch höhere Transaktionskosten dienen.63 Schließlich dient eine Finanztransaktionssteuer zumindest als Nebenziel dazu, die Steuereinnahmen des sie erhebenden Staates zu erhöhen .64 Die Stabilisierung der Finanzmärkte durch Verringerung von spekulativem Handel kann nach hiesiger Einschätzung als ein solches zwingendes Erfordernis angesehen werden.65 Höhere Steuereinnahmen werden aufgrund der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten grundsätzlich ebenfalls als zwingende Gründe des Allgemeinwohlinteresses anerkannt.66 5.4.3. Rechtfertigungsschranken: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Beschränkungen des Kapitalverkehrs sind jedoch auch bei Vorliegen von zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses nur dann zulässig, soweit sie geeignet und erforderlich sind, diesem Ziel zu dienen, und angemessen erscheinen (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit).67 5.4.3.1. Geeignetheit Es ist zuerst die Geeignetheit der Erhebung einer Finanztransaktionssteuer zur Erreichung der oben genannten Ziele zu prüfen: Die Finanztransaktionssteuer ist geeignet, wenn sie für das Erreichen der zwingenden Gründe des Allgemeinwohlinteresses tatsächlich förderlich ist.68 Der EuGH legt hinsichtlich der Geeignetheit einer Maßnahme keine hohen Anforderungen an, sondern gewährt vielmehr den Mitgliedstaaten bei der Einschätzung der Eignung einen Prognosespielraum.69 Verlangt wird allerdings , dass die nationale Regelung das Ziel in kohärenter und systematischer Weise verfolgt.70 62 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM (2011)594, S. 3, a.a.O. 63 Vogel, Der EU-Richtlinienvorschlag zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer, IStR 2012, S. 12 (15). 64 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM (2011) 594, S. 4, a.a.O. 65 So auch Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (378). 66 Pache, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2010, § 10 Rdnr. 224. 67 Vgl. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, Deutsches Steuerrecht (DStR) 2009, S. 1229 (1232); Berberich, Europarechtliche Kapitalverkehrsfreiheit und deutsches Erbschaftsteuerrecht, 2008, S. 188 f. 68 Pache, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2010, § 10 Rdnr. 57. 69 EuGH, Rs. C-293/93, Slg. 1994, I-4249, Rdnr. 22; EuGH, Rs. C-394/97, Slg. 1999, I-3599, Rdnr. 43; EuGH, Rs. C- 208/05, Slg. 2007, I-181, Rdnr. 39. 70 Sedlaczek/Züger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 65 AEUV, Rdnr. 47. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 16 Die Meinungen in Wissenschaft und Politik zur Förderlichkeit einer Finanztransaktionssteuer für das angestrebte Ziel der langfristigen Finanzmarktstabilität gehen weit auseinander. Argumente können an dieser Stelle nur stichwortmäßig wiedergegeben werden. Eine eigene Analyse der ökonomischen Sinnhaftigkeit einer solchen Maßnahme ist nicht Aufgabe dieses Gutachtens. Es sei in diesem Zusammenhang auf die Anhörung von Sachverständigen zur Finanztransaktionssteuer im Finanzausschuss vom 17. Mai 201071, das Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen vom 1. April 201072 und auf die Folgenabschätzung der Kommission für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf Unionsebene73 hingewiesen. Jede Bewertung der Erhebung von Finanztransaktionssteuern auf nationaler Ebene leidet darunter , dass es bei den konkreten Auswirkungen der Steuer auf Preisbildungsprozesse und Allokationswirkungen auf das jeweils gewählte Modell einer Finanztransaktionssteuer ankommt.74 Die Argumentationen von Befürwortern und Gegnern unterscheiden sich jedenfalls in ihren Grundannahmen , die auf alle Formen einer Finanztransaktionssteuer übertragen werden können: Die Befürworter der Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf nationaler Ebene gehen davon aus, dass Kapitalmärkte von einer exzessiven Liquidität aufgrund des Vorherrschens kurzfristig handelnder Spekulanten gekennzeichnet sei.75 Diese Spekulation wirke destabilisierend und sorge dafür, dass sich die Kurse von Finanztiteln von den Fundamentalwerten lösten. Dabei seien nicht Schwankungen der Vermögenspreise in der kurzen Frist, sondern die von übermäßiger Liquidität verursachte Blasenbildung in der mittleren und langen Frist problematisch für die Stabilität.76 Eine Finanztransaktionssteuer habe einen stabilisierenden Effekt, weil sie aufgrund 71 hib-Meldung vom 17.5.2010, „Völlig unterschiedliche Urteile der Sachverständigen zur Finanztransaktionssteuer “. Das Protokoll der Sitzung ist im Intranet abrufbar. 72 Europäische Kommission, Commission Staff Working Document – Innovative financing at a global level, SEC(2010) 409 final, S. 27, online abrufbar unter: http://ec.europa.eu/economy_finance/articles/international/documents/innovative_financing_global_level_sec2 010_409en.pdf (letzter Abruf: 7.2.2012). 73 Europäische Kommission, Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen, Zusammenfassung der Folgenabschätzung , Begleitunterlage zum/zur Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Transaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=SEC:2011:1103:FIN:DE:PDF (letzter Abruf: 7.2.2012). 74 Paul/Neumann, Finanzmarktregulierung: Einführung einer Bankenabgabe und Finanztransaktionssteuer auf deutscher und europäischer Ebene, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Managerkreis, 2011, S. 23. 75 Schulmeister/Schratzenstaller/Picek, A General Financial Transaction Tax – Motives, Revenues, Feasibility and Effects, in: Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO), März 2008, S. 7, online abrufbar unter: http://www.wifo.ac.at/wwa/downloadController/displayDbDoc.htm?item=S_2008_FINANCIAL_TRANSACTIO N_TAX_31819$.PDF (letzter Abruf: 7.2.2012); Paul/Neumann, Finanzmarktregulierung: Einführung einer Bankenabgabe und Finanztransaktionssteuer auf deutscher und europäischer Ebene, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Managerkreis, 2011, S. 23. 76 Paul/Neumann, Finanzmarktregulierung: Einführung einer Bankenabgabe und Finanztransaktionssteuer auf deutscher und europäischer Ebene, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Managerkreis, 2011, S. 23. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 17 der Besteuerung kurzfristiger Spekulationen zu längeren Anlagehorizonten der Investoren beitrüge .77 Die Gegner der Einführung einer Finanztransaktionssteuer halten Spekulation für einen unverzichtbaren Bestandteil der Preisfindungs- und Risikoallokationsprozesse.78 Insbesondere eine hohe Liquidität gewähre schnelle Anpassung hin zu Gleichgewichtspreisen. Würden diese Prozesse durch eine Finanztransaktionssteuer eingeschränkt werden, seien nicht eine höhere Finanzsystemstabilität , sondere höhere Transaktionskosten und unter Umständen sogar eine höhere Volatilität die Folge, die gerade Krisen auslösen könne.79 Auch wird als eine Folge der Einführung einer Finanztransaktionssteuer genannt, dass der Handel vermehrt in dem nicht regulierten außerbörslichen Bereich stattfände, und es dann zu einer Stärkung der Produkte und Märkte komme, die gerade den Ausbruch der Finanzkrise ausgelöst hätten.80 Es zeigt sich also, dass bzgl. der Geeignetheit der Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf nationaler Ebene zur Sicherung der Finanzmarktstabilität in beide Richtungen argumentiert werden kann. Bei entsprechendem kohärenten Vortrag eines Mitgliedstaats würde der EuGH voraussichtlich den Prognosespielraum der Mitgliedstaaten bei der Einschätzung der Eignung anerkennen . Stellt man auf das Ziel der höheren Steuereinnahmen ab, muss man der Maßnahme eine Eignung grundsätzlich zusprechen, jedoch müssten ggf. entstehende Verwaltungskosten für den Einzug der Steuer wohl gegengerechnet werden. 5.4.3.2. Ggf. Erforderlichkeit und Angemessenheit Bejahte man die Geeignetheit der Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf nationaler Ebene , wäre die Erforderlichkeit der Steuer zu prüfen. Diese fehlt, wenn der Zweck mit genauso wirksamen milderem Mittel erfüllt werden kann.81 Für den Zweck der Stabilität des Finanzmarktes durch die Verminderung der Gewinnmargen einiger, die Stabilität gefährdender Handelsformen ist ein milderes Mittel schwer denkbar. Die Einführung einer Steuerbelastung ist jedenfalls das mildere Mittel als ein Verbot der genannten Handelsformen. Schließlich müsste die Maßnahme auch angemessen sein. Zu prüfen ist insoweit die Zweck- Mittel-Relation82. Hierzu müsste eine genaue Analyse der Auswirkungen der Finanztransaktions- 77 Paul/Neumann, Finanzmarktregulierung: Einführung einer Bankenabgabe und Finanztransaktionssteuer auf deutscher und europäischer Ebene, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Managerkreis, 2011, S. 23. 78 Vgl. Habermeier/Kirilenko, Securities Transaction Taxes and Financial Markets, in: IMF Staff Working Papers Vol. 50 2003, S. 165 ff., online abrufbar unter: http://www.imf.org/external/pubs/ft/staffp/2002/00- 00/pdf/haberm.pdf (letzter Abruf: 7.2.2012). In diesem Sinne auch Däke, zitiert in: Redaktion beck-aktuell, BdSt: Finanztransaktionssteuer verstößt gegen Grundsatz der Steuergerechtigkeit. 79 Zusammenfassung nach Paul/Neumann, Finanzmarktregulierung: Einführung einer Bankenabgabe und Finanztransaktionssteuer auf deutscher und europäischer Ebene, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Managerkreis, 2011, S. 23 80 Maunz, Das Risiko der Unvereinbarkeit, in SZ v. 18.5.2010, online abrufbar a.a.O. 81 Pache, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2010, § 10 Rdnr. 57. 82 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1, 2012, Rdnr. 562 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 18 steuer in ihrer konkreten Form erfolgen, die an dieser Stelle nicht vorgenommen werden kann. Es sei an dieser Stelle wiederum auf die oben genannten, teilweise divergierenden Analysen verwiesen . 5.5. Exkurs: Rechtfertigung einer Besteuerung von Devisentransaktionen Der französische Vorschlag sieht keine Besteuerung von Devisentransaktionen vor. Dennoch sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Europäische Kommission in ihrem Arbeitspapier „Innovative financing at a global level“ die Auffassung vertreten hat, dass eine Besteuerung der Nettoposition von Devisengeschäften eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit darstelle, die (wahrscheinlich) nicht gerechtfertigt werden könne.83 Selbst wenn man den Beitrag einer solchen Devisentransaktionssteuer zur Stabilität als zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses anerkenne, könne dieser die Schlechterbehandlung von Transaktionen mit Staaten, die verschiedene Währungen haben, also nicht dem Euro-Währungsgebiet angehören, im Vergleich zu Transaktionen mit Staaten aus dem Euro-Währungsgebiet nicht rechtfertigen.84 Die Kommissionsdienststellen stellen damit darauf ab, dass es sich bei der Besteuerung von Devisentransaktionen nicht bloß um eine Beschränkung, sondern um eine Diskriminierung handelt, die im Gegensatz zu Beschränkungen nur durch geschriebene Rechtfertigungsgründe und nicht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden kann. Als Zusatzargument beruft sich die Kommission darauf, dass eine Besteuerung von Devisentransaktionen jedenfalls unverhältnismäßig sei, da finanzielle Mittel auch alternativ ohne Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit erhoben werden könnten. Mayer und Heidfeld halten den Argumenten der Kommission entgegen, dass eine Besteuerung von Devisentransaktionen nicht unmittelbar an der Staatsangehörigkeit anknüpfe, sondern sich mittelbar daraus ergebe, dass nur einige Mitgliedstaaten den Euro als gemeinsame Währung hätten .85 Eine mittelbare Diskriminierung könne jedoch nach der Rechtsprechung des EuGH für bestimmte Fälle mit zwingenden Gründen des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden. Im Ergebnis könne so auch eine durch eine Besteuerung von Devisentransaktionen verursachte Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit gerechtfertigt werden.86 5.6. Fazit Es sprechen gute Gründe dafür, in der Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf nationaler Ebene eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit zu sehen. Hierbei sei auf die weite Auslegung des Beschränkungstatbestands durch den EuGH im Urteil Sandoz verwiesen. 83 Europäische Kommission, Commission Staff Working Document – Innovative financing at a global level, SEC(2010) 409 final, S. 26, online abrufbar unter: http://ec.europa.eu/economy_finance/articles/international/documents/innovative_financing_global_level_sec2 010_409en.pdf (letzter Abruf: 7.2.2012). 84 Europäische Kommission, Commission Staff Working Document – Innovative financing at a global level, SEC(2010) 409 final, S. 26, online abrufbar a.a.O. 85 Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (378). 86 Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (378). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 19 Bejaht man eine Beschränkung, könnte diese grundsätzlich durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden, zu denen man nach hiesiger Einschätzung auch das Ziel der Stabilisierung der Finanzmärkte durch Verringerung von spekulativem Handel und - aufgrund der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten - das Ziel der Erzielung höherer Steuereinnahmen zählen kann. Jedoch sind aufgrund von zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses begründete Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit nur zulässig, wenn die Beschränkungen verhältnismäßig sind, d. h. geeignet, erforderlich und angemessen. Der EuGH legt hinsichtlich der Geeignetheit einer Maßnahme keine hohen Anforderungen an, sondern gewährt vielmehr den Mitgliedstaaten bei der Einschätzung der Eignung einen Prognosespielraum. Diesen Prognosespielraum würde der EuGH voraussichtlich auch bei der Frage der Eignung der Finanztransaktionssteuer zur Erreichung der Ziele anerkennen. Für die Frage der Angemessenheit der Finanztransaktionssteuer müsste eine genaue Analyse der Auswirkungen der Finanztransaktionssteuer in ihrer gewählten Form erfolgen, die an dieser Stelle nicht vorgenommen werden kann. Hinsichtlich einer etwaigen Besteuerung von Devisentransaktionen hinge die Möglichkeit der Rechtfertigung der Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit davon ab, ob man in der Steuer eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung sehen würde. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 20 6. Vereinbarkeit der Erhebung einer Finanztransaktionssteuer nur im Euro-Währungsgebiet mit dem Unionsrecht Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte Anfang Januar 2012 – wie zuvor schon Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble –, dass sie bereit sei, eine Finanztransaktionssteuer nur in der Euro- Zone einzuführen, wenn der Kommissionsvorschlag für alle 27 EU-Mitgliedstaaten nicht umgesetzt werden könne.87 Rechtlich könnte man hierfür auf das Instrument der Verstärkten Zusammenarbeit gemäß Art. 20 EUV88, Art. 326 bis 329 AEUV zurückgreifen. Die Verstärkte Zusammenarbeit ermöglicht einem Teil der Mitgliedstaaten, in einem bestimmten Sachgebiet die Integration zu beschleunigen, ohne auf andere Mitgliedstaaten warten zu müssen, die entweder noch nicht bereit oder nicht in der Lage sind.89 Vollzogen wird die Verstärkte Zusammenarbeit als Kooperation unter Inanspruchnahme der im EUV bzw. AEUV vorgesehenen Organe, Handlungsinstrumente und Verfahrensvorschriften (Art. 20 Abs. 1 EUV). Maßnahmen im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit sind nur bindend für die beteiligten Staaten.90 6.1. Vorliegen der Voraussetzungen der Verstärkten Zusammenarbeit in Bezug auf die Einführung einer Finanztransaktionssteuer (Art. 20 EUV, Art. 326 ff. AEUV) 6.1.1. Bestehen einer nicht ausschließlichen Zuständigkeit der Union Erste Voraussetzung für die Einrichtung einer Verstärkten Zusammenarbeit ist das Vorliegen einer geeigneten Kompetenzgrundlage der Union in dem entsprechenden Politikbereich. Dieser darf nach Art. 20 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV in kein Sachgebiet fallen, auf dem die EU die ausschließliche Kompetenz hat. Die ausschließlichen Zuständigkeiten der EU sind in Art. 3 AEUV aufgelistet. Der Bereich „Steuern “ dürfte also – wie von Art. 20 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV vorausgesetzt – nicht in der Auflistung ausschließlicher Kompetenzen in Art. 3 AEUV enthalten sein. In Art. 3 AEUV ist die Harmonisierung von Steuervorschriften nicht explizit erwähnt.91 Folglich fällt eine Harmonisierung im Rahmen des Steuerrechts nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der EU. 87 S. z. B. Financial Times Deutschland (FTD) vom 10.1.2012, „Merkel macht London zur Steueroase“. 88 Vertrag über die Europäische Union. 89 Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, 5. Auflage 2010, Art. 20 EUV, Rdnr. 4. 90 König/Haratsch/Pechstein, Europarecht, 7. Auflage 2010, Rdnr. 84. 91 Problematisch für eine Einführung einer Finanztransaktionssteuer könnte Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV sein, welcher der Union die ausschließliche Kompetenz für die Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarktes erforderlichen Wettbewerbsregeln einräumt. Gemeint sind damit jedoch nicht die gesamten Binnenmarktkompetenzen der EU (Art. 113, Art. 114 f. AEUV), sondern nur die Vorschriften über das Wettbewerbsrecht der Art. 101 ff. AEUV. S. Fischer-Lescano/Kommer, Verstärkte Zusammenarbeit in der EU, Internationale Politikanalyse, Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 10, online abrufbar unter: http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/08454.pdf (letzter Abruf : 7.2.2012). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 21 Nichtsdestoweniger bedarf ein Tätigwerden im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit überhaupt einer Kompetenzgrundlage der EU für die Regelung der Finanztransaktionssteuer.92 Die Kommission nennt in ihrem Vorschlag für eine Richtlinie über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem Art. 113 AEUV als Rechtsgrundlage.93 Hiernach kann die EU die indirekten Steuern der Mitgliedstaaten angleichen, soweit diese Harmonisierung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig ist. Die Finanztransaktionssteuer fällt als indirekte Steuer grundsätzlich in den Anwendungsbereich des Art. 113 AEUV.94 Zusätzlich erfordert Art. 113 AEUV, dass eine Harmonisierung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig ist. Diese Voraussetzung wird vom EuGH in seinem Urteil zur Europäischen Genossenschaft (2006) eher eng ausgelegt. Es müsse tatsächlich das Ziel der Angleichung mitgliedstaatlichen Rechts verfolgt werden.95 Hieran könnte in Bezug auf die Harmonisierung der Finanztransaktionssteuersysteme gezweifelt werden, weil – wie oben gesehen – bislang keine unterschiedlichen Systeme von Finanztransaktionssteuern auf mitgliedstaatlicher Ebene bestehen . Der Erlass könnte demnach eher auf Erhebung einer neuen Steuer und weniger auf Harmonisierung unterschiedlicher mitgliedstaatlicher Steuervorschriften zielen. 96 Jedoch erlaubt der EuGH den Rückgriff auf die Harmonisierungskompetenzen, wie Art. 113 AEUV, um der Entstehung von Handelshemmnissen infolge einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vorzubeugen. Doch muss das Entstehen solcher Hemmnisse wahrscheinlich sein und die fragliche Maßnahme ihre Vermeidung bezwecken.97 Da Frankreich angekündigt hat, zum 1. August 2012 eine Form der Finanztransaktionssteuer einzuführen , und Großbritannien mit der Stamp Duty über eine andere Form der Börsenumsatzsteuer verfügt, ließe sich aufgrund dieser jüngsten Entwicklungen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Handelshemmnissen infolge einer heterogenen Entwicklung in den Mitgliedstaaten nach hiesiger Einschätzung bejahen. Kritisch zur Frage der Einschlägigkeit des Art. 113 AEUV als Rechtsgrundlage für eine EU-eigene Finanztransaktionssteuer äußern sich indes Mayer und Heidfeld – jedoch noch vor der in der Einleitung erwähnten Ankündigung Frankreichs.98 Alternativ erwägen sie den Rückgriff auf Art. 352 AEUV (Flexibilitätsklausel), sind jedoch auch diesbezüglich kritisch. 92 Vgl. Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 20 EUV, Rdnr. 11. 93 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM (2011) 594, S. 6, online abrufbar a.a.O. 94 Vgl. Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (374). 95 EuGH, Rs. C-436/03, Slg. 2006, I-3733, Rdnr. 38 – Europäische Genossenschaft. Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (375). 96 Vgl. Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (374). 97 EuGH, Rs. C-436/03, Slg. 2006, I-3733, Rdnr. 39 – Europäische Genossenschaft. 98 Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (374 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 22 6.1.2. Ausrichtung auf die Ziele und Interessen der Union Ziel der Verstärkten Zusammenarbeit muss es nach Art. 20 Abs. 1 UAbs. 2 EUV sein, die Ziele der Union zu fördern, ihre Interessen zu schützen und ihren Integrationsprozess zu stärken. Durch die Einführung einer gemeinsamen Finanztransaktionssteuer in den Staaten des Euro- Währungsgebiets soll verhindert werden, dass diese eigene, zu stark divergierende Regelungen treffen. Die Einführung einer Regelung über die Finanztransaktionssteuer im Wege der Verstärkten Zusammenarbeit würde also zu einer weitergehenden Integration führen, und damit das Entstehen von Handelshemmnissen verhindern. 6.1.3. Offenheit für alle Mitgliedstaaten Art. 20 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 EUV und Art. 328 AEUV setzen für die Begründung einer Verstärkten Zusammenarbeit voraus, dass diese allen übrigen Mitgliedstaaten offen stehen muss, wenn sie die Teilnahmevoraussetzungen erfüllen. 6.1.4. Beteiligung von neun Mitgliedstaaten An einer Verstärkten Zusammenarbeit müssen gemäß Art. 20 Abs. 3 S. 1 EUV mindestens neun Mitgliedstaaten beteiligt sein. Diese Voraussetzung wäre bei der Einführung des Richtlinienvorschlags der Kommission nur im Euro-Währungsgebiet mit derzeit 17 Mitgliedstaaten erfüllt. 6.1.5. Verstärkte Zusammenarbeit als Ultima Ratio Die Verstärkte Zusammenarbeit ist gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 1 EUV nur als letztes Mittel zulässig, wenn der Rat feststellt, dass die mit der Zusammenarbeit angestrebten Ziele von der Union in ihrer Gesamtheit nicht innerhalb eines vertretbaren Zeitraums verwirklicht werden können. Hierbei wird den Mitgliedstaaten ein weiter Spielraum zugestanden; auch die Überprüfung des „vertretbaren Zeitraums“ sei nur beschränkt justiziabel.99 Es wird jedoch gefordert, dass wenigstens ein Versuch einer Einigung über ein konkretes Gesetzgebungsvorhaben unter Beteiligung aller Mitgliedstaaten unternommen worden sein muss.100 Am 28. September 2011 hat die Kommission ihren Richtlinienvorschlag für ein gemeinsames Finanztransaktionssteuersystem gestützt auf Art. 113 AEUV vorgelegt. Damit wurde ein besonderes Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 113 AEUV eingeleitet. Dies setzt die Anhörung des Europäischen Parlaments und einen einstimmigen Beschluss des Rates voraus. Falls ein solcher einstimmiger Beschluss des Rates – etwa aufgrund der ablehnenden Haltung Großbritanniens – in absehbarer Zeit nicht zustande kommt, wäre damit nach einem solchen vergeblichen Einigungsversuch der Rückgriff auf die Verstärkte Zusammenarbeit zulässig. 99 Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 20 EUV, Rdnr. 19; Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 20 EUV, Rdnr. 13. 100 Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 20 EUV, Rdnr. 13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 23 6.1.6. Beachtung des primären und sekundären Unionsrechts (Art. 326 Abs. 1 AEUV) Nach Art. 326 Abs. 1 AEUV muss eine Verstärkte Zusammenarbeit die Verträge und das Recht der Union achten, also das gesamte Primär- und bestehende Sekundärrecht. Die Einführung einer Regelung über die Einführung von Finanztransaktionssteuern im Euro- Währungsgebiet im Wege der Verstärkten Zusammenarbeit muss sich also – wie die Etablierung einer Finanztransaktionssteuer im nationalen Alleingang (s. Ziffern 4 und 5) – sekundärrechtlich an der Richtlinie 2008/7/EG und primärrechtlich an der Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 63 AEUV messen lassen. 6.1.6.1. Vereinbarkeit mit der Richtlinie 2008/7/EG Der Richtlinienvorschlag der Kommission über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem intendiert explizit, die Vereinbarkeit mit der Richtlinie 2008/7/EG herzustellen, indem er die in Art. 5 Abs. 2 Richtlinie 2008/7/EG genannten Ausnahmen (s. Ziffer 4.1.) nicht der Finanztransaktionssteuer unterwirft.101 Zur Vermeidung von Konflikten mit der Richtlinie 2008/7/EG soll diese zusätzlich so geändert werden, dass ein Art. 6a Richtlinie 2008/7/EG geschaffen werden soll, nach dem die Bestimmungen der neuen Finanztransaktionssteuerrichtlinie von der Richtlinie 2008/7/EG unberührt bleiben.102 Die Finanztransaktionssteuerrichtlinie hätte demnach bei verbleibenden Zweifelsfällen Vorrang vor der Richtlinie 2008/7/EG.103 Eine solche Regelung könnte in dem über die Verstärkte Zusammenarbeit zu schaffenden Rechtsrahmen nicht enthalten sein, da ansonsten das sekundäre Unionsrecht entgegen Art. 326 Abs. 1 AEUV tangiert wäre. Die Regelung der Finanztransaktionssteuer mittels Verstärkter Zusammenarbeit müsste deswegen so gestaltet werden, dass jegliche Konflikte mit der Richtlinie 2008/7/EG vermieden werden. 6.1.6.2. Vereinbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit Das im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit gesetzte Recht müsste ferner mit der Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 63 AEUV vereinbar sein. Wie auch beim Vorgehen im nationalen Alleingang argumentiert (s. Ziffer 5), sprechen gute Gründe für die Annahme einer Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit. Hinsichtlich der Frage der Rechtfertigung dieser Beschränkung durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses, insbesondere hinsichtlich der grundsätzlichen Frage der Geeignetheit, werden unterschiedliche Auffassungen vertreten. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der EuGH – in einem Streitfall mit der Frage konfrontiert – den Mitgliedstaaten , die im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit handeln, einen Prognosespielraum zugestehen würde. 101 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM (2011) 594, S. 12, online abrufbar a.a.O. 102 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM (2011) 594, Art. 6a, S. 24, online abrufbar a.a.O. 103 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM (2011) 594, S. 12, online abrufbar a.a.O. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 24 Hinsichtlich der Frage der Zulässigkeit der Besteuerung von Devisentransaktionen sei auf die Ausführungen unter Ziffer 5.5. und insbesondere die kritische Haltung der Kommission hierzu verwiesen. Der Kommissionsvorschlag für ein gemeinsames Finanztransaktionssteuersystem klammert (deswegen) Währungskassatransaktionen vom Anwendungsbereich der Richtlinie aus. Derivatkontrakte auf der Grundlage von Währungstransaktionen unterliegen hingegen der Finanztransaktionssteuer, da es sich hierbei nach Auffassung der Kommission nicht um Währungstransaktionen als solche handelt.104 6.1.7. Verbot der Beeinträchtigung des Binnenmarkts und des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, der Handelshemmnisse und der Wettbewerbsverzerrungen (Art. 326 Abs. 2 AEUV) Nach Art. 326 Abs. 2 S. 1 AEUV darf die Verstärkte Zusammenarbeit erstens weder den Binnenmarkt noch den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt beeinträchtigen. Diese Bestimmung wird in der Literatur als überflüssig eingeschätzt, da sie Selbstverständlichkeiten regele.105 Entstehungsgeschichtlich beruht sie auf einem politischem Zugeständnis an diejenigen Mitgliedstaaten, die besonders von der EU-Struktur- und Kohäsionspolitik profitieren.106 Die Klausel wird so interpretiert, dass sie eine Verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen der EU- Kohäsionspolitik ausschließen soll.107 Die Regelung ist damit für den zu begutachtenden Sachverhalt irrelevant. Schließlich bestimmt Art. 326 Abs. 2 S. 2 AEUV, dass eine Verstärkte Zusammenarbeit weder zu Handelshemmissen führen noch die Wettbewerbsbedingungen verzerren darf. Nach der Prüfung der Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten, hier der Kapitalverkehrsfreiheit, kommt dieser Voraussetzung jedoch ebenfalls keine eigenständige Bedeutung mehr zu.108 6.1.8. Rücksichtnahme auf Nichteilnehmer (Art. 327 S. 1 AEUV) Im Verhältnis zu nicht an der Verstärkten Zusammenarbeit teilnehmenden Staaten normiert Art. 327 AEUV eine gegenseitige Rücksichtnahmepflicht, die zu beachten wäre. 6.1.9. Fazit Es besteht damit nach einem vergeblichen Versuch der Einigung über den Kommissionsvorschlag für die Einführung eines gemeinsamen Finanztransaktionssteuersystems in der gesamten EU die 104 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM (2011) 594, S. 9, online abrufbar a.a.O. 105 Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 326 AEUV, Rdnr. 3. 106 Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 326 AEUV, Rdnr. 3. 107 Fischer-Lescano/Kommer, Verstärkte Zusammenarbeit in der EU, Internationale Politikanalyse, Friedrich-Ebert- Stiftung, S. 11, online abrufbar a.a.O. 108 Fischer-Lescano/Kommer, Verstärkte Zusammenarbeit in der EU, Internationale Politikanalyse, Friedrich-Ebert- Stiftung, S. 11, online abrufbar a.a.O.; vgl. Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 326 AEUV, Rdnr. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 25 Möglichkeit des Aufgreifens des Vorschlags im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets. Materielle Voraussetzung ist jedoch die Vereinbarkeit des dann zu erarbeitenden Rechtsetzungsvorschlags mit dem primären und sekundären Unionsrecht . Bei entsprechender Gestaltung, insbesondere bei Ausklammerung der in Art. 5 Abs. 2 Richtlinie 2008/7/EG genannten Verbotstatbestände für die Einführung indirekter Steuern, wäre eine solche Regelung im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit vereinbar mit dem Sekundärrecht der Union. Hinsichtlich der Frage der Vereinbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 63 AEUV käme es auf die konkrete Ausgestaltung der Finanztransaktionssteuer und die Argumentation der Mitgliedstaaten an. Der EuGH würde den Mitgliedstaaten jedoch voraussichtlich einen entsprechenden Prognosespielraum zugestehen. 6.2. Verfahren der Verstärkten Zusammenarbeit Das Verfahren zur Begründung einer Verstärkten Zusammenarbeit ist in Art. 329 AEUV geregelt. Zunächst muss von den Staaten, die eine Verstärkte Zusammenarbeit beabsichtigen, in einem Ermächtigungsverfahren ein Antrag an die Kommission gestellt werden. Die Kommission kann dann dem Rat einen entsprechenden Vorschlag zur Entscheidung vorlegen; sie ist dazu jedoch nicht verpflichtet. Legt die Kommission einen Vorschlag vor, entscheidet der Rat der EU mit qualifizierter Mehrheit, jedoch nur unter Stimmberechtigung derjenigen Mitgliedstaaten, die an der Verstärkten Zusammenarbeit teilnehmen (Art. 331 AEUV). An den Beratungen können jedoch alle Mitgliedstaaten der EU teilnehmen. Die zur Durchführung der Verstärkten Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte haben die Rechtsnatur und Wirkungsweise, die das Unionsrecht den betreffenden Maßnahmen auch ansonsten zuweist.109 Sie sind unmittelbar anwendbar und haben Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht.110 6.3. Änderung des Eigenmittelbeschlusses im Wege der Verstärkten Zusammenarbeit? Der Vorschlag der Kommission über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem sieht vor, dass die Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer ganz oder teilweise als Eigenmittel in den EU-Haushalt eingestellt werden.111 Hierzu müsste eine entsprechende Grundlage im Eigenmittelrecht der EU bestehen, was bislang nicht der Fall ist. Der Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das Eigenmittelsystem der EU vom 29. Juni 2011 sieht aus diesem Grund eine Finanztransaktionssteuer als potenzielle neue Eigenmittelkategorie für den EU-Haushalt vor.112 Der Vor- 109 König/Haratsch/Pechstein, Europarecht, 7. Auflage 2010, Rdnr. 87. 110 Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 20 EUV, Rdnr. 16. 111 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM(2011) 594, S. 3, 12, online abrufbar a.a.O. Zur Umsetzung dieses Vorhabens hat die Kommission am 9. November 2011 einen Vorschlag für eine Verordnung vorgelegt, in der dargelegt wird, wie die Finanztransaktionssteuer als Quelle für den EU-Haushalt genutzt werden kann. Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der Eigenmittel auf der Grundlage der Finanztransaktionssteuer, KOM(2011) 738 endg., online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2011:0737:FIN:DE:PDF (letzter Abruf: 7.2.2012). 112 Vorschlag für Beschluss des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union (//EG, Euratom), KOM(2011) 510 endg., S. 5, online abrufbar unter: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 Seite 26 schlag für einen neuen Eigenmittelbeschluss ist auf Art. 311 Abs. 3 AEUV gestützt. Gemäß Art. 311 Abs. 3 S. 2 AEUV können in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren neue Kategorien von Eigenmitteln eingeführt werden. In diesem besonderen Gesetzgebungsverfahren sind hohe Verfahrenshürden zu überwinden: Zunächst entscheidet der Rat einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments. Der Beschluss tritt jedoch erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft (Art. 311 Abs. 3 Satz 3 AEUV). In Deutschland erfordert dies den Erlass eines Gesetzes gemäß § 3 Abs. 1 Integrationsverantwortungsgesetz 113 i.V.m. Art. 23 Abs. 1 GG. Würde auch die Änderung des Eigenmittelsystems der EU im Hinblick auf die neue Eigenmittelkategorie „Finanztransaktionssteuer“ scheitern, wäre die weitere Frage aufgeworfen, ob auch die Etablierung einer neuen Eigenmittelkategorie im Verfahren der Verstärkten Zusammenarbeit geschehen könnte. Diese Frage ist zu verneinen, da die Frage der Finanzierung der EU durch Eigenmittel in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fällt.114 Die Finanzierung der EU kann nur von der EU selbst geregelt werden. Das Bestehen einer nicht ausschließlichen Zuständigkeit ist jedoch Voraussetzung für das Zurückgreifen auf das Verfahren der Verstärkten Zusammenarbeit (s. Ziffer 6.1.1.). - Fachbereich Europa - http://ec.europa.eu/budget/library/biblio/documents/fin_fwk1420/proposal_council_own_resources_de.pdf (letzter Abruf: 7.2.2012). 113 Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (Integrationsverantwortungsgesetz – IntVG) vom 22. September 2009, BGBl. I S. 3022, geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 1. Dezember 2009, BGBl. I S. 3822. 114 Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (377).