© 2018 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 39/18 Hilfsmittelbeschaffung nach § 127 SGB V und europäisches Vergaberecht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 39/18 Seite 2 Hilfsmittelbeschaffung nach § 127 SGB V und europäisches Vergaberecht Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 39/18 Abschluss der Arbeit: 20. April 2018 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 39/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Zur Vereinbarkeit von § 127 Abs. 2, 2a SGB V mit europäischem Vergaberecht 4 2.1. Das Urteil des EuGH zum Open-house-Modell nach § 130a Abs. 8 S. 1 SGB V 6 2.2. Zur Übertragung des EuGH-Urteils auf Hilfsmittelverträge nach § 127 Abs. 2, 2a SGB V 8 2.2.1. Allgemeine Erwägungen hinsichtlich der Übertragbarkeit 8 2.2.2. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der betreffenden Konstellationen 9 2.3. Fazit 11 3. Zum Wahlrecht der Krankenkassen zwischen Verträgen nach § 127 Abs. 1 und § 127 Abs. 2, 2a SGB V 12 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 39/18 Seite 4 1. Fragestellung Der Fachbereich wird um die Beantwortung zweier Fragen im Zusammenhang mit § 127 SGB V ersucht. Diese Vorschrift regelt, auf welche Art und Weise Krankenkassen mit Leistungserbringern welche Arten von Verträgen über die Versorgung von Versicherten mit Hilfsmittel schließen können. Die erste Frage bezieht sich auf Verträge nach § 127 Abs. 2, 2a SGB V, die ohne vorherige Ausschreibung im Sinne des europäischen Vergaberechts geschlossen werden können. Es soll untersucht werden, ob und ggf. inwieweit die Freistellung dieser Vertragskonstellation vom Vergaberecht mit den unionsrechtlichen Vorgaben hierzu vereinbar ist (2.). Die zweite Frage bezieht sich auf das Verhältnis zwischen der Hilfsmittelbesorgung im Wege ausschreibungspflichtiger Verträge nach § 127 Abs. 1 SGB V und der ausschreibungsfreien Variante gemäß § 127 Abs. 2, 2a SGB V (3.). Bezug genommen wird in diesem Zusammenhang auf zwei bereits erstellte Ausarbeitungen, die ähnliche Fragestellungen zum Gegenstand haben und auf die zum Teil verwiesen wird.1 2. Zur Vereinbarkeit von § 127 Abs. 2, 2a SGB V mit europäischem Vergaberecht Werden keine Verträge im Wege der Ausschreibung nach § 127 Abs. 1 SGB V geschlossen, sieht § 127 Abs. 2 S. 1 SGB V vor, dass Krankenkassen Verträge mit Leistungserbringern über die Einzelheiten der Versorgung mit Hilfsmitteln sowie weitere damit zusammenhängende Gesichtspunkte schließen.2 Nach § 127 Abs. 2 S. 3 u. 4 SGB V ist die Absicht über den Abschluss derartiger Verträge „in geeigneter Weise öffentlich bekannt zu machen“ und andere Leistungserbringer sind auf Nachfrage über den Inhalt der so geschlossenen Verträge „unverzüglich zu informieren“. § 127 Abs. 2a S. 1 SGB V sieht schließlich vor, das andere Leistungserbringer diesen Verträgen zu den gleichen Bedingungen als Vertragspartner beitreten können. 1 Es handelt sich zum einen um den Sachstand „Zur Zulässigkeit von Open-House-Verträgen mit Leistungserbringern in der Hilfsmittelversorgung“ vom 26. Juni 2017, WD 9 – 3000 – 25/17, und zum anderen um die Kurzinformation „Verträge nach dem sog. Open-house-Modell und Unionsrecht“ vom 26. Juni 2017, PE 6 – 3000 – 33/17. 2 Siehe den vollen Wortlaut unter https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__127.html (letztmaliger Abruf am 20.04.18). § 127 Abs. 2 S. 2 SGB V sieht vor, dass § 127 Abs. 1 S. 2 u. 3 SGB V entsprechend gelten. Die hierdurch einbezogenen Vorgaben beziehen sich auf Anforderungen an die Leistungsbeschreibung (S. 2) sowie bezüglich der Qualität der Versorgung und Produkte (S. 3). Beide Aspekte sind vorliegend nicht von Bedeutung. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 39/18 Seite 5 Ob diese Vertragskonstellation mit dem europäischen Vergaberecht bzw. mit der Freistellung von diesem vereinbar ist, wird im Schrifttum unterschiedlich beurteilt.3 Entgegengesetzte Auffassungen bestanden in dieser Frage auch zwischen der Vergabekammer des Bundes und dem nach früherer Rechtslage als Rechtsmittelinstanz zuständigen Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen .4 Eine Entscheidung europäischer Gerichte zu dieser Frage liegt bisher nicht vor. Soweit von einer Unionsrechtskonformität ausgegangen wird, begründet man dies mit dem Beitrittsrecht anderer Leistungserbringer nach § 127 Abs. 2a SGB V.5 Zum Teil wird auch auf die daraus folgende Konsequenz verwiesen, wonach es an einer Auswahlentscheidung der Krankenkassen und damit Exklusivität der durch Zuschlag ermittelten Vertragsbeziehung fehle.6 Auf das Fehlen einer Auswahlentscheidung auf Seiten der Krankenkassen rekurriert auch die Kommission in einem Schreiben vom 11. Juni 2009. In Antwort auf eine Beschwerde u. a. zur damaligen Neuregelung des § 127 SGB V gelangt sie zu dem Ergebnis, dass derartige Verträge aus diesem Grund „nicht dem Vergaberecht [unterfallen].“7 Allerdings weist die Kommission anschließend einschränkend darauf hin, dass „Hinweise für eine bestehende europarechtswidrige Verwaltungspraxis der gesetzlichen Krankassen im Hilfsmittelbereich […] derzeit nicht [vorliegen .]“.8 Im Jahre 2016 entschied der EuGH zu einer anderen Vertragskonstellation im Gesundheitswesen, den sog. Rabattverträgen bzw. dem Open-house-Modell im Bereich der Arzneimittelversorgung nach § 130a Abs. 8 S. 1 SGB V, dass ein öffentlicher Auftrag im Sinne des europäischen Vergaberechts nicht vorliegt, da es an der Auswahlentscheidung fehle.9 Dessen ungeachtet verwies der 3 Siehe hierzu ausführlich Vilaclara, Kooperative Kostensteuerung in der Versorgung mit medizinischen Hilfsmitteln , 2015, S. 140 ff., mit zahlreichen Nachweisen. Vgl. ferner Nolte, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht , § 127 SGB V (74. Ergslfg. 2012), Rn. 9; Göttschkes, Beschaffung von Hilfsmitteln durch die gesetzliche Krankenversicherung – Zur Unvereinbarkeit des § 127 SGB V mit dem unionsrechtlichen Vergaberecht , 2011. 4 Vgl. Beschluss der Vergabekammer des Bundes (Bundeskartellamt Bonn) v. 12.11.2009 – VK 3-193/09, abrufbar unter juris; Beschluss des LSG Nordrhein-Westfalen v. 14.4.2010 – L 21 KR 69/09 SFB, VergabeR 2010, S. 1026 ff. Siehe hierzu die Ausführungen bei Vilaclara (Fn. 3), S. 142 ff. 5 So etwa Butzer, in: Becker/Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 127 SGB V, Rn. 40, 16. 6 Dies betont bspw. Nolte, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 127 SGB V (74. Ergslfg. 2012), Rn. 9. 7 Zitiert nach Stelzer, Müssen gesetzliche Krank- und Pflegekassen Lieferaufträge über Hilfs- und Pflegehilfsmittel oberhalb des Schwellenwertes europaweit öffentlich ausschreiben? WzS 2009, S. 336 (339 f.). 8 Stelzer, aaO. 9 EuGH, Urt. v. 2.06.2016, Rs. C-410/14 (Dr. Falk Pharma/DAK-Gesundheit), online abrufbar unter Angabe der Rechtssachennummer auf http://curia.europa.eu/juris/recherche.jsf?language=de (letztmaliger Abruf am 20.04.18), Rn. 32-42. Vgl. hierzu auch die Kurzinformation von PE 6 (Fn. 1). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 39/18 Seite 6 Gerichtshof hinsichtlich der Ausgestaltung derartiger Verfahren auf die Beachtung gewisser, sich aus den Grundfreiheiten des Unionsrechts ergebender Vorgaben.10 Zwar steht etwa das Bundesversicherungsamt auf dem Standpunkt, dass das diesem Urteil als Streitgegenstand zugrunde liegende Open-house-Modell „aufgrund der eindeutigen Entscheidung des Gesetzgebers in § 127 SGB V im Bereich der Hilfsmittelversorgung nicht anwendbar [ist].“11 Gleichwohl verweist es auf die Vergabefreiheit der Verträge nach § 127 Abs. 2, 2a SGB V, beruft sich hierbei aber nicht auf das EuGH-Urteil, sondern allein auf die Entscheidung des Bundesgesetzgebers , wonach „Versorgungsverträge im sogenannten ‚sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis‘ nicht ausgeschrieben werden müssen.“12 Mit Blick auf den Umstand, dass der EuGH zu seinem Ergebnis auf Grundlage einer Auslegung des Begriffs des öffentlichen Auftrags im Sinne der (damals geltenden) Vergaberichtlinie13 gelangt ist, dürfte das Urteil bzw. die dort vorgenommene Auslegung jedoch auch für die hier gestellte Frage relevant sein, inwieweit Verträge nach § 127 Abs. 2, 2a SGB V diesem Begriff unterfallen oder eben (auch) nicht als öffentliche Aufträge in Sinne der Vergaberichtlinie anzusehen sind. Aus diesem Grund werden das Urteil des EuGH und seine tragenden Gründe kurz dargestellt (2.1.). Im Anschluss wird erörtert, inwieweit sich die dortigen Aussagen zur Vergaberechtsfreiheit auf die hier im Raum stehende Konstellation der Hilfsmittelverträge übertragen lassen (2.2.). Andere Entscheidungen des EuGH aus diesem Bereich, denen sich zu der hier relevanten Konstellation Auslegungshinweise entnehmen lassen, sind nicht ersichtlich. 2.1. Das Urteil des EuGH zum Open-house-Modell nach § 130a Abs. 8 S. 1 SGB V Nach § 130a Abs. 8 SGB V können die Krankenkassen mit pharmazeutischen Unternehmern für eine Laufzeit von zwei Jahren Rabatte für die zu ihren Lasten abgegebenen Arzneimittel vereinbaren .14 In der Praxis erfolgt dies durch einseitige und vor allem nicht verhandelbare Vertrags- und Preisvorgaben von Seiten der Krankenkassen. Zu den so vorgegebenen Bedingungen steht die Teilnahme an derartigen Verträgen allen interessierten pharmazeutischen Unternehmern während der gesamten Laufzeit der Rabattverträge offen. Eine Auswahlentscheidung und damit eine 10 EuGH, Urt. v. 2.06.2016, Rs. C-410/14 (Dr. Falk Pharma/DAK-Gesundheit), Rn. 43-47. 11 Bundesversicherungsamt, Rundschreiben vom 20. Juli 2017, Az. 211 – 5417.1 – 1077/2010, online abrufbar unter https://www.bundesversicherungsamt.de/fileadmin/redaktion/Krankenversicherung/Rundschreiben /20170721_Rundschreiben_Hilfsmittel_127_SGB_V.pdf (letztmaliger Abruf am 20.04.18), S. 4 f. Zu diesem Ergebnis gelangt auch der Sachstand von WD 9, S. 18. 12 Bundesversicherungsamt, Rundschreiben (Fn. 11), S. 5, unter Verweis auf BT-Drs. 18/7086, S. 13. 13 Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl.EU 2004 Nr. L 134/114, letzte konsolidierte Fassung online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02004L0018-20160101&qid=1524149893232&from=DE (letztmaliger Abruf am 20.04.18). Vgl. EuGH, Urt. v. 2.06.2016, Rs. C-410/14 (Dr. Falk Pharma/DAK-Gesundheit), Rn. 32 ff. 14 Vgl. hierzu und den nachfolgenden Sätzen den Sachstand von WD 9 (Fn. 1), S. 4 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 39/18 Seite 7 Begrenzung des Teilnehmerkreises erfolgt nicht. Mit Blick auf diesen Umstand spricht man auch vom „Open-house-Modell“ oder vom „Zulassungsverfahren“15. Der EuGH sah dieses Vertragssystem im Ergebnis nicht als öffentlichen Auftrag im Sinne der damals geltenden Vergaberechtsrichtlinie an.16 Ausgangspunkt seiner Begründung war der Zweck der betreffenden Richtlinie. Dieser besteht seiner Ansicht nach darin, „die Gefahr einer Bevorzugung einheimischer Bieter oder Bewerber bei der Auftragsvergabe durch öffentliche Auftraggeber auszuschließen […].“17 Diese Gefahr bestehe vor allem im Zusammenhang mit der Auswahlentscheidung , die ein öffentlicher Auftraggeber zu treffen habe, und der sich aus dem Zuschlag ergebenden Ausschließlichkeit für den ausgewählten Wirtschaftsteilnehmer.18 Fehle es an der Auswahlentscheidung , weil eine öffentliche Einrichtung anstrebe, mit jedem Wirtschaftsteilnehmer Verträge schließen zu wollen, der die betreffende Leistung „zu den von ihr vorgegebenen Bedingungen anbieten wolle“, so habe dies zur Folge, dass „das Tätigwerden dieses öffentlichen Auftraggebers nicht den präzisen Regeln der Richtlinie 2004/18 unterworfen werden muss, um zu verhindern, dass er bei der Auftragsvergabe inländische Wirtschaftsteilnehmer bevorzugt.“19 Vor diesem Hintergrund gelangt der EuGH zu der Feststellung, dass „die Auswahl eines Angebots und somit eines Auftragnehmers […] daher ein Element [darstellt], das […] mit dem Begriff „öffentlicher Auftrag“ im Sinne [der Vergaberichtlinie] untrennbar verbunden ist.“20 Zu Bekräftigung seiner Feststellung verweist der EuGH anschließend auf den zum Zeitpunkt der Entscheidung zwar schon geltenden, aber noch nicht anwendbaren Art. 1 Abs. 2 der neuen Vergaberichtlinie21, in welchem der Begriff „Auftragsvergabe“ definiert wird.22 Zu den dortigen Begriffsmerkmalen gehört u. a., dass der öffentliche Auftraggeber den Wirtschaftsteilnehmer auswählt , von dem er die ausgeschriebenen Leistungen erwerben wird. Sodann geht der Gerichtshof noch auf einen Umstand des Open-house-Modells ein, der dieses von Rahmenvereinbarungen im Sinne der Vergaberichtlinie unterscheidet. Dieser Umstand bestehe darin, das Rabattverträge nach dem genannten Modell während der gesamten Laufzeit allen 15 Vgl. etwa Neun, Vergaberechtsfreiheit des „Open-House-Modells“ – Zulassungssysteme ohne Bieterauswahl, NZBau 2016, S. 681 ff.; Hansen/Heilig, Beschaffung von Arzneimitteln durch die Krankenkassen im vergaberechtsfreien Zulassungsverfahren, NZS 2017, S. 290 ff. 16 EuGH, Urt. v. 2.06.2016, Rs. C-410/14 (Dr. Falk Pharma/DAK-Gesundheit), Rn. 42. 17 EuGH, Urt. v. 2.06.2016, Rs. C-410/14 (Dr. Falk Pharma/DAK-Gesundheit), Rn. 35. 18 EuGH, Urt. v. 2.06.2016, Rs. C-410/14 (Dr. Falk Pharma/DAK-Gesundheit), Rn. 36. 19 EuGH, Urt. v. 2.06.2016, Rs. C-410/14 (Dr. Falk Pharma/DAK-Gesundheit), Rn. 37. 20 EuGH, Urt. v. 2.06.2016, Rs. C-410/14 (Dr. Falk Pharma/DAK-Gesundheit), Rn. 38. 21 Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG, ABl.EU 2014 Nr. L 94/65, letzte konsolidierte Fassung online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02014L0024- 20180101&qid=1524150060564&from=DE (letztmaliger Abruf am 20.04.18). 22 EuGH, Urt. v. 2.06.2016, Rs. C-410/14 (Dr. Falk Pharma/DAK-Gesundheit), Rn. 40. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 39/18 Seite 8 an ihm interessierten Wirtschaftsteilnehmern offen stünden und nicht nur – wie bei Rahmenvereinbarungen – während der anfänglichen Interessensbekundungsphase.23 Obgleich der EuGH vor diesem Hintergrund zu dem Ergebnis gelangt, dass die betreffenden Rabattverträge keine öffentlichen Aufträge im Sinne der Vergaberichtlinie sind, unterwirft er die Ausgestaltung und Durchführung entsprechender Verfahren für den Fall, dass der Vertragsgegenstand ein „eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse aufweist“, den vor allem aus den Grundfreiheiten folgenden „Grundsätzen der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung der Wirtschaftsteilnehmer sowie dem sich daraus ergebenden Transparenzgebot.“24 2.2. Zur Übertragung des EuGH-Urteils auf Hilfsmittelverträge nach § 127 Abs. 2, 2a SGB V Bevor eine mögliche Übertragung dieses EuGH-Urteils auf Hilfsmittelverträge nach § 127 Abs. 2, 2a SGB V erörtert wird, ist kurz allgemein auf Möglichkeiten und Grenzen der Übertragung von Begründungserwägungen derartiger Urteile auf andere Sachverhaltskonstellationen einzugehen. 2.2.1. Allgemeine Erwägungen hinsichtlich der Übertragbarkeit Bei der erwähnten EuGH-Entscheidung handelt es sich um ein Auslegungsurteil im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 1 Buchst. b Var. 2 AEUV („Auslegung der Handlungen der Organe“). Dieses bindet unmittelbar nur die im nationalen Ausgangsverfahren entscheidenden mitgliedstaatlichen Gerichte.25 Eine solche Bindung für andere Konstellationen und andere Verfahren („erga omnes“) besteht nicht.26 Allerdings ist die in einem solchen Urteil durch den EuGH vorgenommene Auslegung der betreffenden Unionsrechtsvorschriften – hier vor allem des öffentlichen Auftragsbegriffs der Vergaberichtlinie – als solche allgemein verbindlich und insoweit auch für andere Konstellation und Verfahren maßgeblich. Man spricht insoweit von einer „eingeschränkten erga-omnes-Wirkung“.27 Dessen ungeachtet ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Auslegung von Unionsrecht in einem Vorabentscheidungsurteil immer im Hinblick auf einen konkreten Fall erfolgt. Weisen andere Konstellationen Unterschiede auf, kann nicht ausgeschlossen werden, dass der EuGH die einschlägigen Vorschriften insoweit in anderer Weise auslegen und zu anderen Ergebnissen gelan- 23 EuGH, Urt. v. 2.06.2016, Rs. C-410/14 (Dr. Falk Pharma/DAK-Gesundheit), Rn. 41. 24 EuGH, Urt. v. 2.06.2016, Rs. C-410/14 (Dr. Falk Pharma/DAK-Gesundheit), Rn. 43 ff, insb. 47. 25 Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV, Rn. 49, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung . 26 Anders hingegen für Vorlageentscheidungen, in denen der EuGH über die Gültigkeit von sekundärem Unionsrecht zu entscheiden hat, vgl. Art. 267 Abs. 1 Buchst. b Var. 2 AEUV. Siehe dazu Wegener, in: Calliess/Ruffert (Fn. 25), Rn. 50. 27 Vgl. etwa Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 234 AEUV (50. Ergzlfg. 2013), Rn. 104. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 39/18 Seite 9 gen würde. Hieraus folgt, dass die Erörterung der rechtlichen Auswirkungen eines Auslegungsurteils für andere Fälle immer durch ein Moment der rechtlichen Prognose gekennzeichnet ist. Eine abschließende Beurteilung ist daher in der Regel nicht möglich. 2.2.2. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der betreffenden Konstellationen Vor diesem Hintergrund stellt sich für eine Übertragung des EuGH-Urteils zum Open-house-Modell auf Hilfsmittelverträge vor allem die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den jeweiligen Ausgangskonstellationen. Wendet man sich zuerst den Gemeinsamkeiten zu, so ist zunächst auf das Beitrittsrecht zu verweisen , dass gemäß § 127 Abs. 2a SGB V auch bei Hilfsmittelverträgen besteht und – mit Blick auf die offene Formulierung der Vorschrift – für die gesamte Vertragsdauer in Anspruch genommen werden kann. Hieraus folgt sodann die zweite Gemeinsamkeit, nämlich die fehlende Auswahlentscheidung auf Seiten der Krankenkassen, was den Kreis der endgültigen Vertragspartner angeht, und damit das Fehlen der sich aus einem Zuschlag ergebenden Exklusivität der Vertragsbeziehung . Diesen Gemeinsamkeiten stehen die folgenden Unterschiede gegenüber: Der erste bezieht sich auf das Verfahren, dass dem Vertragsschluss nach § 127 Abs. 2 SGB V zugrunde liegt. Obgleich der Wortlaut dieser Vorschrift keine ausdrücklichen Aussagen hierzu enthält, erfolgt dies nach allgemeiner Ansicht im Wege der Verhandlungen28 und nicht – wie beim Open-house-Modell – durch Annahme nicht verhandelbarer Vertragsbedingungen, die von den Krankenkassen einseitig vorgegeben werden. Entsprechend werden Verträge nach § 127 Abs. 2 SGB V im Schrifttum auch als „Verhandlungsverträge“ bezeichnet.29 Nach Ansicht des Bundesversicherungsamtes entscheiden die Krankenkassen nach pflichtgemäßem Ermessen über die Art der Verhandlungen.30 Der zweite Unterschied folgt aus der Art und Weise, wie das Verfahren letztlich ausgestaltet ist bzw. werden kann und welche Konsequenzen sich daraus für die Auswahl der Wirtschaftsteilnehmer ergeben: Eingeleitet werden die Verhandlungen durch die in § 127 Abs. 2 S. 3 SGB V vorgegebene öffentliche Bekanntmachung einer entsprechenden Vertragsabsicht seitens der Krankenkassen .31 Im Schrifttum findet sich in diesem Zusammenhang der Hinweis, wonach die Krankenkassen jedoch auch schon häufig davor Kontakt zu Leistungserbringern aufnehmen, „um Sondierungsgespräche zu führen, nötige Informationen für die Vorbereitung der Verträge zu sammeln und eine Vorstellung von den preislichen Gestaltungsspielräumen zu erhalten.“32 28 Vgl. etwa die Rechtsauffassung des Bundesversicherungsamtes, Rundschreiben (Fn. 11), S. 3 f. Vgl. auch den Sachstand von WD 9 (Fn. 1), S. 13 ff., mit weiten Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum sowie rechtshistorischen und systematischen Argumenten. 29 Siehe Vilaclara (Fn. 3), S. 100 ff., 138 ff.; Butzer, in: Becker/Kingreen (Fn. 5), § 127 SGB V, Rn. 32. 30 Bundesversicherungsamt, Rundschreiben (Fn. 11), S. 4; vgl. auch Vilaclara (Fn. 3), S. 147. 31 Vgl. Vilaclara (Fn. 3), S. 147. Siehe auch Bundesversicherungsamt, Rundschreiben (Fn. 11), S. 4. 32 So Vilaclara (Fn. 3), S. 147. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 39/18 Seite 10 Ist die Bekanntmachung erfolgt, sind die Krankenkassen nach Ansicht des Bundesversicherungsamtes verpflichtet, „die Vertragsangebote der Leistungserbringer ernsthaft zu prüfen.“33 Die Angebote müssen von den Krankenkassen „entgegengenommen, geprüft und schriftlich oder mündlich angenommen bzw. abgelehnt werden. Kommt es nicht zu einem Vertragsschluss, sollte seitens der Krankenkasse schriftlich dokumentiert werden, aus welchen Gründen das Vertragsangebot abgelehnt wurde.“34 Denn es bestehe kein „Anspruch auf Vertragsabschluss durch die Krankenkasse zu den [von den Leistungserbringern] benannten (Preis-)Konditionen […].“35 Allerdings sei „ein Ausschluss von Leistungserbringern von Vertragsverhandlungen durch die Krankenkassen ohne sachlichen Grund […] rechtswidrig.“36 Auch wenn die Möglichkeit, einen Vertragsschluss abzulehnen oder gar einen (sachlich begründeten ) Ausschluss von den Vertragsverhandlungen vorzunehmen, das nachträgliche Beitrittsrecht zu einem bestehenden Hilfsmittelvertrag unberührt lässt,37 folgt gerade aus diesen beiden Optionen, dass eine gewisse Auswahlentscheidung im Rahmen des § 127 Abs. 2 SGB V seitens der Krankenkassen getroffen werden kann. Sie führt wegen des Beitrittsrechts zwar nicht zur Exklusivität der Vertragsbeziehungen. Die Auswahl entscheidet jedoch über die Vertragsbedingungen , zu denen dann ein Beitritt anderer Leistungserbringer erst möglich ist. Zu diesen anderen Leistungserbringern können dann auch solche gehören, mit denen die Krankenkassen keinen Vertrag im Wege der Verhandlung schließen wollten. Liegt eine in dieser Hinsicht bestehende Auswahlentscheidung dem Verfahren nach § 127 Abs. 2 SGB V zugrunde, so stellt sich ferner die Frage, inwieweit sie Raum lässt für eine Bevorzugung inländischer Wirtschaftsteilnehmer, deren Vermeidung nach Ansicht des EuGH Zweck der Vergaberichtlinie sei.38 Insbesondere mit Blick auf die schon vor einer Bekanntmachung offensichtlich übliche Praxis Sondierungsgespräche zu führen, aber auch wegen der anschließenden Möglichkeit, über die Verhandlungen die für das Beitrittsrecht dann maßgeblichen Vertragsbedingungen festzulegen, erscheint das Bestehen einer Gefahr der Bevorzugung inländischer Hilfsmittelhersteller im Vorfeld des Vertragsschlusses und damit auch hinsichtlich der für den Beitritt maßgeblichen Vertragsbedingungen zumindest nicht ausgeschlossen. 33 Bundesversicherungsamt, Rundschreiben (Fn. 11), S. 3. 34 Bundesversicherungsamt, Rundschreiben (Fn. 11), S. 4. 35 Bundesversicherungsamt, Rundschreiben (Fn. 11), S. 3 (Hervorhebung im Original), unter Verweis auf BSG, Urt. v. 10.03.2010, Az.: B 3 KR 26/08 R, Rn. 21. 36 Bundesversicherungsamt, Rundschreiben (Fn. 11), S. 3 (Hervorhebung im Original). 37 Vgl. Bundesversicherungsamt, Rundschreiben (Fn. 11), S. 3. 38 EuGH, Urt. v. 2.06.2016, Rs. C-410/14 (Dr. Falk Pharma/DAK-Gesundheit), Rn. 35. Siehe dazu auch oben unter 2.1., S. 6 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 39/18 Seite 11 2.3. Fazit Die aufgezeigten Unterschiede bezüglich des Verfahrens (Verhandlung statt einseitige Vorgabe) und der Verfahrensfolgen (auf Vertragsbedingungen begrenzte Auswahlentscheidung statt keinerlei Auswahl) stehen in jedem Fall einer pauschalen Übertragung des EuGH-Urteils zum Openhouse -Modell auf Hilfsmittelverträge im Sinne des § 127 Abs. 2 SGB V entgegen. Ob das Beitrittsrecht nach § 127 Abs. 2a SGB V und die sich daraus ergebende fehlende Exklusivität hinsichtlich der Vertragsbeziehungen die genannten Unterschiede dergestalt aufwiegen, dass der EuGH auch im Hinblick auf Verträge nach § 127 Abs. 2 SGB V zu einer Verneinung des öffentlichen Auftragsbegriffs im Sinne der Vergaberichtlinie gelangen würde, erscheint aus Sicht der Verfassers fraglich. Denn die beiden genannten Gesichtspunkte können eine Bevorzugung inländischer Leistungserbringer zumindest hinsichtlich der Festlegung der Vertragsbedingungen nicht ausschließen. Im Ergebnis in die gleiche Richtung weisen auch Stimmen im Schrifttum, die sich mit den Konsequenzen des EuGH-Urteils auf andere Konstellationen beschäftigen. Wolle man bei einer Vergabefreiheit bleiben, müssten Verhandlungen mit Wirtschaftsteilnehmern in jedem Fall unterbleiben , weil bereits hierin eine gewisse Auswahlentscheidung liege.39 Auf das mit der Zulassung von Verhandlungen bestehende Problem verwies auch das OLG Düsseldorf in einer Entscheidung aus dem Jahre 2012, in der diese Frage aber nicht entscheidungserheblich gewesen ist. Es führte insoweit aus: „Des Weiteren stellte es bereits einen – Diskriminierung ermöglichenden – Wettbewerbsvorteil von Unternehmen dar, wenn nur eines von ihnen auf den Inhalt des Vertrags Einfluss nehmen kann und Dritten nur die Wahl zwischen dem Vertragsbeitritt zu dem von einem anderen zu dessen Bedingungen bereits ausgehandelten Vertrag oder dem Verzicht auf die Teilnahme bleibt.“40 Eine abschließende Entscheidung zu der Frage, ob die Vergaberechtsfreiheit der Verträge nach § 127 Abs. 2, 2a SGB V aus diesem Grund unionsrechtlich unzulässig ist, lässt sich dem EuGH- Urteil mit Blick auf die gleichwohl bestehenden Gemeinsamkeiten in den Ausgangskonstellationen (Beitrittsrecht und fehlende Exklusivität der Vertragsbeziehung) jedoch nicht entnehmen. Entscheidend dürfte sein, ob die Vergabefreiheit mangels Vorliegen eines öffentlichen Auftrags im Sinne der Vergaberichtlinie das Fehlen jeglicher Auswahlentscheidung auf Seiten des Auftraggebers voraussetzt oder nur einer solchen, die zur Exklusivität der anschließenden Vertragsbeziehung führt. Letzteres kann nämlich bereits mit einem (anschließenden) Beitrittsrecht gewährleistet werden, ohne das auf Verhandlungen mit interessierten Hilfsmittelerbringern vor dem Vertragsschluss verzichtet werden kann. Eine endgültige Antwort auf diese Frage kann nur durch eine weitere Entscheidung des EuGH gegeben werden. 39 So etwa Portner/Rechten, Das Open-House-Modell – Möglichkeiten für eine praxisgerechte Verfahrensausgestaltung , NZBau 2017, S. 587 (589 ff.). 40 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11. 1. 2012, Az.: VII-Verg 57/11, NZBau 2012, 315 (317). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 39/18 Seite 12 3. Zum Wahlrecht der Krankenkassen zwischen Verträgen nach § 127 Abs. 1 und § 127 Abs. 2, 2a SGB V Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Hilfsmittelbesorgung im Wege ausschreibungspflichtiger Verträge nach § 127 Abs. 1 SGB V und der ausschreibungsfreien Variante gemäß § 127 Abs. 2, 2a SGB V stellt sich im Lichte der obigen Ausführungen nur, soweit die derzeitige Vergaberechtsfreiheit mit Unionsrecht vereinbar ist. Wäre hiervon auszugehen, so ist nicht ersichtlich, dass die Wahlmöglichkeit, die der Gesetzgeber den Krankenkassen bei der Hilfsmittelversorgung eingeräumt, unions(-vergabe-)rechtlich problematisch wäre. Denn es lässt sich der Rechtsprechung des EuGH entnehmen, dass das Unionsrecht nicht vorschreibt, dass Beschaffungen zwingend in Form öffentlicher Aufträge im Sinne des Vergaberechts durchzuführen sind, wenn rechtmäßige Alternativen bestehen, die diesem nicht unterliegen.41 Hieraus folgt, dass es den Krankenkassen im Rahmen des § 127 SGB V – ungeachtet etwaiger nationaler Vorgaben zur Wahl des einen oder anderen Verfahrens – frei stünde, welcher Vertragskonstellation sie sich bei der Beschaffung von Hilfsmitteln bedienen, soweit sie die daran bestehenden Anforderungen einhalten, also entweder in Bezug auf das Vergaberecht im Fall des § 127 Abs. 1 SGB V oder in Bezug auf eine Vergaberechtsfreiheit im Fall des § 127 Abs. 2, 2a SGB V. – Fachbereich Europa – 41 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.09.2009, Rs. C-206/08 (WAZV Gotha), Rn. 44, zum Verhältnis von Dienstleistungsvertrag und Dienstleistungskonzession, wobei letztere zum damaligen Zeitpunkt nicht von den einschlägigen Vergaberichtlinien erfasst wurde. Siehe zu diesem Verständnis der Rechtsprechung auch EuGH auch OLG Düsseldorf , Beschl. v. 11. 1. 2012, Az.: VII-Verg 57/11, NZBau 2012, S. 315 (317).