© 2020 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 – 053/20 Vereinbarkeit des neuen § 20 Abs. 6 Satz 5 und 6 EStG mit der Kapitalverkehrsfreiheit aus Art. 63 Abs. 1 AEUV Unionsrechtliche Bewertung der Änderung des § 20 Abs. 6 Satz 5 und 6 EStG durch Art. 5 des Gesetzes zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltung Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 053/20 Seite 2 Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Unterschiedslose Beschränkung 7 3.2.2.1. § 20 Abs. 6 S. 5 EStG (Verluste aus Termingeschäften) 8 3.2.2.2. § 20 Abs. 6 S. 6 EStG (Verluste aus Kapitalvermögen) 8 3.3. Rechtfertigung 9 3.3.1. Schranken der Art. 64 und 65 AEUV 9 3.3.2. Ungeschriebene Schranken der Kapitalverkehrsfreiheit 9 3.3.2.1. Zwingende Gründe des Allgemeininteresses 9 3.3.2.2. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 10 4. Ergebnis 12 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 053/20 Seite 4 1. Fragestellung Der Fachbereich Europa ist um Prüfung gebeten worden, ob die Änderung des § 20 Abs. 6 Satz 5 und 6 EStG durch den Art. 5 des Gesetzes zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltung (GrenzStGestaltG) mit der Kapitalverkehrsfreiheit aus Art. 63 Abs. 1 AEUV vereinbar ist. Im Rahmen dieser Prüfung soll zunächst ein Überblick über die durch den Art. 5 GrenzStGestalt G erfolgten Veränderungen gegeben werden. Im Anschluss daran wird eine Prüfung der Vereinbarkeit der neuen Regelungen mit der Kapitalverkehrsfreiheit aus Art. 63 Abs. 1 AEUV vorgenommen. 2. Überblick Durch den Art. 5 des GrenzStGestaltG wurde der § 20 Abs. 6 EStG um die Sätze 5 und 6 ergänzt. Durch diese erfährt das EStG eine Anpassung, die im Vorfeld bereits im Rahmen des Jahressteuergesetzes (JStG) 2019 angedacht war, die aber aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken letztlich nicht verabschiedet1 und nun in veränderter Form umgesetzt wurde. Ziel der Gesetzesänderung ist ausweislich ihrer Begründung die Beschränkung von Verlusten aus Termingeschäften und dem Verfall wertloser Anlageinstrumente. Auf diese Weise sollen sowohl AnlegerInnen als auch der Fiskus vor hohen Verlusten im Rahmen hochriskanter Kapitalanlagen geschützt werden.2 Zu diesem Zweck schafft der neue § 20 Abs. 6 S. 5 EStG einen speziellen Verlustverrechnungskreislauf . Verluste aus Kapitalvermögen bei Termingeschäften dürfen mithin als Ausnahme zum Grundprinzip, nur noch mit Gewinnen im Sinne des Abs. 2 S. 1 Nr. 3 (Gewinnen aus Kapitalvermögen bei Termingeschäften) und mit Einkünften im Sinne des Abs. 1 Nr. 11, (sog. Stillhalteprämie ) ausgeglichen werden. Die Verlustverrechnung ist außerdem auf eine Höhe von 10.000 Euro p.a. begrenzt. Ein Verlustvortrag ist zwar möglich aber ebenfalls auf die genannten Kapitaleinkunftsarten und 10.000 Euro pro Folgejahr begrenzt. Der neue § 20 Abs. 6 S. 6 EStG regelt zudem, dass auch Verluste aus der Uneinbringlichkeit von Kapitalforderungen, aus der Ausbuchung wertloser Wirtschaftsgüter im Sinne des § 20 Abs. 1 EStG, aus der Übertragung derartiger Wirtschaftsgüter auf einen Dritten sowie Verluste aus dem sonstigen Ausfall solcher Wirtschaftsgüter nur mit Einkünften aus Kapitalvermögen ausgeglichen werden dürfen. Die Verlustverrechnung ist ebenfalls auf 10.000 p.a. beschränkt. 1 Vgl. dazu Jachmann-Michel/Grunow, jM 2019, 471, 473 ff.; BT-Drs. 19/14873 (Beschlussempfehlung Finanzausschuss ). 2BT-Drs. 19/15876,69, abrufbar unter: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/158/1915876.pdf. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 053/20 Seite 5 3. Vereinbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit Fraglich ist, ob die neu eingefügten Sätze 5 und 6 des § 20 Abs. 6 EStG mit der unionsrechtlichen Freiheit des Kapitalverkehrs aus Art. 63 Abs. 1 AEUV vereinbar sind. 3.1. Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit Zunächst müsste die Kapitalverkehrsfreiheit auf den Sachverhalt anwendbar sein. Der räumliche Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit ist nicht auf Mitgliedsstaaten der EU begrenzt und erfasst auch den Kapitalverkehr mit Drittstaaten.3 Auch der persönliche Anwendungsbereich ist daher nicht auf UnionsbürgerInnen begrenzt.4 Fraglich ist allerdings, ob auch der sachliche Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit eröffnet ist. 3.1.1. Kapitalverkehr Regelmäßig wird der Kapitalverkehr aus Art. 63 Abs. 1 AEUV als einseitige, grenzüberschreitende Wertübertragung von Real- oder Geldkapital, die der Kapitalanlage dient umschrieben5. Da eine Vielzahl unterschiedlicher Kapitalverkehrsvorgänge erfasst sein soll, eine allgemeingültige Definition in den Verträgen allerdings fehlt6, ist der Begriff des Kapitalverkehrs auszulegen. Eine Auslegungshilfe bietet insoweit vor allem die nicht abschließende Aufzählung im Anhang I der RL 88/361/EWG (Kapitalverkehrsrichtlinie), in welcher auch Termingeschäfte als Erscheinung des Kapitalverkehrs genannt sind7. Im Falle des Satzes 5 ist der Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit, unter der Prämisse des Vorliegens eines grenzüberschreitenden Sachverhalts mithin eröffnet. Auch der neue Satz 6 des § 20 Abs. 6 EStG hat den Kapitalverkehr zum Regelungsgegenstand. Dieser bezieht sich explizit auf Kapitalforderungen und Wirtschaftsgüter, deren Transfer vom Begriff des Kapitalverkehrs erfasst ist. 3 Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 2 Rn. 60; 4 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, S. 503, Rn. 11. 5 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, S. 502, Rn. 9. 6 Bröhmer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 63 AEUV, Rn. 10; Sedlaczek/Züger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 63 AEUV, Rn. 18; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 63 AEUV, Rn. 126. 7 RICHTLINIE DES RATES vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages (88/361/EWG), ABl. EG 1988, L 178/5. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 053/20 Seite 6 3.1.2. Grenzüberschreitender Sachverhalt Ein Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit setzt grenzüberschreitende Kapitalbewegungen voraus . Bei einem rein inländischen Sachverhalt greift die Kapitalverkehrsfreiheit hingegen nicht8. Aufgrund der hohen Internationalität der Finanzmärkte, insbesondere des Terminmarktes, ist vorliegend von einer Vielzahl grenzüberschreitender Sachverhalte auszugehen. So ist im Falle des § 20 Abs. 6 S. 5 EStG etwa der Abschluss eines Termingeschäfts durch im Inland ansässige private AnlegerInnen, mit einem sich im Ausland befindlichen institutionellen Anbieter als Gegenpartei , denkbar. Bzgl. des Satzes 6 könnte sich der grenzüberschreitende Sachverhalt ebenfalls aus der Ansässigkeit der jeweiligen GeschäftspartnerInnen im Ausland ergeben. 3.2. Beschränkung des Kapitalverkehrs Fraglich ist, ob die Änderungen des § 20 Abs. 6 EStG zu einer Beschränkung des Kapitalverkehrs führen. 3.2.1. Diskriminierung Zunächst könnten die neu eingefügten Sätze 5 und 6 des § 20 Abs. 6 EStG zu einer Diskriminierung führen. Unterschieden wird diesbezüglich zwischen unmittelbaren Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit und sog. mittelbaren Diskriminierungen. Diese knüpfen zwar an anderen Unterscheidungsmerkmalen an, führen aber tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis einer stärkeren Einschränkung des grenzüberschreitenden als des innerstaatlichen Kapitalverkehrs.9 Die Einschränkungen der Verlustverrechnung in § 20 Abs. 6 S. 5 und 6 EStG knüpfen vorliegend nicht an die Herkunft bzw. das Ziel der Kapitalbewegung an. Eine unmittelbare Diskriminierung liegt mithin nicht vor.10 Fraglich ist allerdings, ob die neuen Regelungen als eine mittelbare Diskriminierung zu werten sind. Eine solche liegt vor, wenn die staatliche Maßnahme nicht unmittelbar auf die Herkunft des Kapitals abstellt, sondern etwa an die Herkunft der InhaberInnen, zum Beispiel anhand der Nationalität oder des Wohnortes11. Gemeint sind Vorschriften, die zwar dem Text nach unterschiedslose Anforderungen aufstellen, die aber von ausländischem Kapital regelmäßig nicht oder nur schwerer erfüllt werden können12. Vorliegend ist die Anwendung der Einschränkungen der Sätze 5 und 6 abhängig von der Einkommenssteuerpflichtigkeit der am Kapitalmarkt tätigen privaten AnlegerInnen. Da sich sowohl die höhenmäßige Beschränkung der Verlustverrechnung als auch 8 Berberich, Europarechtliche Kapitalverkehrsfreiheit und deutsches Ernschaftssteuerrecht, Rn. 154. 9 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ress/Ukrow, AEUV Art. 63 Rn. 188. 10 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ress/Ukrow, AEUV Art. 63 Rn. 187. 11 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ress/Ukrow, AEUV Art. 63 Rn. 188. 12 EuGH, Urteil vom 18.06.2020, Rs. C-78/18, Rn. 63. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 053/20 Seite 7 die Einführung des neuen Verlustverrechnungskreislaufs unabhängig vom grenzüberschreitenden Bezug in gleicher Weise auf die Verlustverrechnungsmöglichkeiten der AnlegerInnen auswirken, ist keine mittelbare Diskriminierung ersichtlich. 3.2.2. Unterschiedslose Beschränkung Art. 63. Abs. 1 AEUV verbietet neben mittelbaren und unmittelbaren Diskriminierungen außerdem jede Beschränkung des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und gegenüber anderen Ländern. Erfasst sind mithin auch Regelungen, die unterschiedslos für grenzüberschreitende und innerstaatliche Transaktionen gelten13. In Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit wird vertreten, dass auch unterschiedslose Beschränkungen einen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit darstellen können, soweit diese Maßnahmen geeignet sind, den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr weniger attraktiv zu machen. Damit sei jede Maßnahme erfasst, die den europäischen Kapitalverkehr unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell behindert14. Auch Maßnahmen, die geeignet sind, Gebietsfremde von Investitionen in einen Mitgliedstaat oder die in diesem Mitgliedstaat Ansässigen von Investitionen in andere Staaten abzuhalten wären demnach Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit im Sinne des Art. 63 Abs. 1 AEUV. In einem Vorabentscheidungsverfahren über eine Klage auf Erstattung der italienischen Finanztransaktionssteuer , die eine italienische Zweigniederlassung einer französischen Bank auf Finanztransaktionen mit derivativen Finanzinstrumenten nach italienischem Recht entrichtet hatte, hat Generalanwalt Hogan die Rechtsprechung des EuGH zur Frage des Vorliegens einer Beschränkung ausgelegt. Seiner Ansicht nach sei der Begriff der Beschränkung im Hinblick auf die Einführung von Steuern eng zu verstehen. Dies sei dadurch begründet, dass es in der Natur der Besteuerung liege, dass diese die Ausübung einer der vier mit dem Binnenmarkt verbundenen Freiheiten zwangsläufig weniger attraktiv mache15. Der EuGH gelangte in dem genannten Verfahren schließlich zu der Auffassung, dass „… die Nachteile, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung auf der Ebene der Europäischen Union aus den Besteuerungsbefugnissen der verschiedenen Mitgliedstaaten ergeben können, sofern deren Ausübung nicht diskriminierend ist, keine Beschränkungen der Verkehrsfreiheiten darstellen und dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, ihr eigenes Steuersystem den verschiedenen Steuersystemen der anderen Mitgliedstaaten anzupassen“16. 13 EuGH, Urteil vom06.03.2018, Rs. C-52/16 und C-113/16, Rn. 61. 14 Khan/Eisenhut, HK-UnionsR, AEUV, Art. 63 Rn. 18. 15 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts G. Hogan vom 28.11.2019, Rs. C-565/18, Rn. 35. 16 EuGH, Urteil vom 26.05.2016, Rs. C-48/15, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 053/20 Seite 8 Insbesondere könne die Kapitalverkehrsfreiheit nicht dahingehend verstanden werden, dass ein Mitgliedstaat zur Angleichung seiner Steuervorschriften an die der anderen Mitgliedstaaten verpflichtet sei, da die Entscheidungen, die eine steuerpflichtige Person in Bezug auf eine Auslandinvestition trifft, je nach Fall vor- oder nachteilig sein können17. 3.2.2.1. § 20 Abs. 6 S. 5 EStG (Verluste aus Termingeschäften) Fraglich ist mithin, ob die Regelung des § 20 Abs. 6 S.5 EStG, welche einen speziellen Verlustverrechnungskreislauf für Termingeschäfte etabliert und die Verrechnung zudem auf 10.000 Euro p.a. beschränkt, eine Beschränkung im Sinne des Art. 63 Abs. 1 AEUV darstellt. Im Falle der Besteuerung von Kapitalvermögen aus Termingeschäften sind unterschiedliche Konstellationen denkbar. Eine Beschränkung im Falle von im Ausland ansässigen privaten Anleger Innen, deren Gegenpartei im Inland sitzt, scheidet eine Beschränkung bereits aus dem Grunde aus, dass der Satz 5 auf beschränkt einkommenssteuerpflichte Personen keine Anwendung findet , vgl. § 49 EStG. Im Falle von im Inland einkommenssteuerpflichtigen privaten AnlegerInnen mit Gegenpartei im Ausland, führt die Regelung des Satzes 5 hingegen zu einer Einschränkung der Verlustverrechnungsmöglichkeiten . Da durch die Regelungen die Verlustverrechnung nur noch höhenmäßig und sachlich eingeschränkt möglich ist, handelt es sich um eine Maßnahme, die den Abschluss eines Termingeschäftes (mit einer im Ausland ansässigen Gegenpartei) weniger attraktiv macht. Da die Regelung allerdings - wie dargestellt - gerade keinen diskriminierenden Charakter hat, erscheint nach den Feststellungen des EuGH bereits ihre Einordnung als Beschränkung im Sinne des Art. 63 Abs. 1 AEUV fraglich. 3.2.2.2. § 20 Abs. 6 S. 6 EStG (Verluste aus Kapitalvermögen) Auch im Fall des § 20 Abs. 6 S. 6 EStG ist aufgrund des eingeschränkten Verlustvortrags grundsätzlich von einer weniger attraktiven Ausgangslage als ohne die Regelung auszugehen. Auch hier ist allerdings keine Schlechterstellung im Zusammenhang mit dem Auslandsbezug des jeweiligen Geschäftsabschlusses erkennbar. Da mit dem Generalanwalt Hogan auch der EuGH die Annahme einer Beschränkung letztlich von einem diskriminierenden Moment abhängig macht und aufgrund der steuerlichen Autonomie der Mitgliedstaaten gerade kein Anspruch auf eine umfassende Harmonisierung der Steuersysteme bestehen kann, spricht vorliegend viel dafür, nicht von einer Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit durch die Ergänzung des § 20 Abs. 6 EStG um die Sätze 5 und 6 auszugehen. Wollte man gleichwohl annehmen, die in Frage stehenden steuerlichen Regelungen führten zu einer Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit, stellte sich die Frage, ob die gerechtfertigt ist. 17 EuGH, Urteil vom 30.04.2020, Rs. C-565/18, Rn. 34. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 053/20 Seite 9 3.3. Rechtfertigung Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit können durch die geschriebenen Rechtfertigungsgründe der Art. 64 und 65 AEUV sowie die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt sein. 3.3.1. Schranken der Art. 64 und 65 AEUV Zunächst sehen die Art. 64 und 65 AEUV Ausnahmetatbestände zur Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 Abs. 1 AEUV vor. Art. 64 AEUV lässt Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit in Bezug auf Drittländer im Zusammenhang mit Direktinvestitionen, der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren unberührt, die am 31.12.1993 aufgrund einzelstaatlicher Rechtsvorschriften oder aufgrund von Rechtsvorschriften der Union für den Kapitalverkehr bestanden. Die Einführung neuer steuerlicher Regelungen, wie die des § 20 Abs. 6 S. 5 und 6 EStG, ist hingegen nicht vom Anwendungsbereich des Art. 64 AEUV erfasst. Ferner sieht Art. 65 AEUV verschiedene Ausnahmetatbestände für einzelstaatliche Beschränkungen vor. Gemäß Art. 65 Abs. 1 lit. a) AEUV können Mitgliedsaaten insbesondere die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln. Steuerliche Ungleichbehandlungen sollen im Rahmen von Art. 65 Abs. 1 lit a) AEUV dann keine Beschränkung bewirken, wenn sich die Steuerpflichtigen wegen ihres unterschiedlichen Wohnortes oder Kapitalanlageortes in keiner vergleichbaren Situation befinden. Die Regelungen der neuen Sätze 5 und 6 des § 20 Abs. 6 EStG differenzieren gerade nicht nach dem Wohnort bzw. dem Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen, weshalb sie nicht in den Anwendungsbereich des Art. 65 Abs. 1 lit. a) AEUV fallen. 3.3.2. Ungeschriebene Schranken der Kapitalverkehrsfreiheit Denkbar ist allerdings eine Rechtfertigung unterschiedsloser Beschränkungen aufgrund ungeschriebener Rechtfertigungsgründe. Eine solche Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit kann durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, soweit sie zudem verhältnismäßig ist. 3.3.2.1. Zwingende Gründe des Allgemeininteresses Nimmt man vorliegend entgegen der hier vertretenen Ansicht, das Vorliegen einer unterschiedslosen Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit an, käme als zwingender Grund des Allgemeininteresses die Wahrung der ausgewogenen Aufteilung der Steuerbefugnisse in Betracht. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 053/20 Seite 10 Die ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten ist ein vom EuGH anerkanntes legitimes Ziel18 und Ausdruck der Fiskalhoheit der Mitgliedstaaten. Die Fiskalhoheit beinhaltet das Recht eines Staates, seine Steuerrechtsordnung autonom und unter Berücksichtigung des sog. Symmetrieprinzips zu gestalten19. Das Symmetrieprinzip meint hierbei die spiegelbildliche Berücksichtigung von Gewinnen und Verlusten20. Mit der Anerkennung dieses Rechtfertigungsgrundes trägt der EuGH dem Umstand Rechnung, dass die Mitgliedstaaten für die Erhebung direkter Steuern zuständig sind21 und von dieser Zuständigkeit auch in Bezug auf in ihrem Hoheitsgebiet erzielte Gewinne im Einklang mit dem Territorialitätsgrundsatz Gebrauch machen können. In Betracht käme zudem die zwar vom EuGH noch nicht bestätigte, aber in der Literatur in Bezug auf die Finanztransaktionssteuer vertretene Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses im Hinblick auf die Stabilisierung der Finanzmärkte durch die Verringerung von spekulativem Handel22. 3.3.2.2. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Bei Vorliegen zwingender Gründe des Allgemeinwohls müsste die Beschränkung durch den § 20 Abs. 6 S. 5 und 6 EStG ferner dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen. Dieser verlangt, dass die gegenständliche Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des rechtmäßig verfolgten Ziels zu gewährleisten, ohne über das hierzu Erforderliche hinauszugehen23. In der Gesetzesbegründung24 des GrenzStGestaltG führt der deutsche Gesetzgeber in Bezug auf den Satz 5 vor allem die hohen Risiken für AnlegerInnen bei Termingeschäften als Begründung für deren Regulierung an. So handele es sich bei Termingeschäften durch ihre begrenzte Laufzeit und durch Hebeleffekte um im hohen Maße spekulative Finanzprodukte, die einerseits hohe Gewinne und andererseits den Totalverlust der Anlage zur Folge haben können. Durch die Einführung eines gesonderten Verlustverrechnungskreislaufs für Termingeschäfte und die Beschränkung des Verlustvortrags auf 10.000 p.a., soll das Investitionsvolumen und damit das Risiko für private AnlegerInnen begrenzt werden. 18 EuGH, Urteil vom 23.01.2014, C-164/12, Rn. 27; vgl. auch die Darstellung bei Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim , Das Recht der Europäischen Union, Art. 63 AEUV, Rn. 236 m. w. N. 19 Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 17.10.2019, Rs. C-405/18, Rn. 40. 20 Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 17.10.2019, Rs. C-405/18, Rn. 41. 21 EuGH, Urteil vom 13.12 2005, C-446/03, Rn. 29( und die dort angeführte Rechtsprechung. 22 Mayer, EuZW 2011, 373, 378; vgl. ferner die Ausführungen in der Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 15/13 „Möglichkeiten zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer im Falle des Scheiterns der Verhandlungen bei der Durchführung der Verstärkten Zusammenarbeit“, Seite 22 ff. 23 EuGH, Urteil vom 21.5.2019, Rs. C-235/17, Rn. 59; siehe auch Schlussanträge des Generalanwalts G. Hogan vom 28.11.2019, Rs. C-565/18, Rn. 38. 24 BT-Drs. 19/15876,69, abrufbar unter: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/158/1915876.pdf. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 053/20 Seite 11 Die Erwägungsgründe sind zum einen Ausdruck der Fiskalhoheit der Bundesrepublik, zum anderen dient die Beschränkung der Verlustverrechnung der Stabilisierung der Finanzmärkte durch die Verringerung von spekulativem Handel. Es ist dabei durchaus zu erwarten, dass Termingeschäfte durch die Einführung des Satzes 5 für private AnlegerInnen unattraktiver werden. Da sich die Gesetzesänderung nicht beschränkend auf den nach depotbezogener Verrechnung verbleibenden Saldo, sondern auf die Einzelgeschäftsebene bezieht, verliert der Abschluss entsprechender Geschäfte für private Anleger an Attraktivität . Häufig ergibt sich ein Gewinn im Bereich der vom Begriff der Termingeschäfte erfassten Finanzprodukte erst durch den Abschluss und die Verrechnung einer Vielzahl von erfolgreichen und nicht erfolgreichen Geschäften. Es ist daher wahrscheinlich, dass private AnlegerInnen durch eine Beschränkung der Verrechnungsmöglichkeiten von entsprechenden Geschäften Abstand nehmen und sich so der spekulative Handel am Markt reduzieren lässt. Die Berufung auf die Fiskalhoheit setzt allerdings die Einhaltung des Symmetrieprinzips voraus. Dieses scheint zunächst grundsätzlich gewahrt, da kein völliger Ausschluss der Verlustverrechnung vorliegt und zudem die Möglichkeit eines Verlustvortrags ins Folgejahr besteht. Die Berücksichtigung der Verluste wird folglich nicht generell versagt, die Verlustnutzung wird zeitlich gestreckt und die Verluste werden veranlagungsübergreifend berücksichtigt. Da aber sowohl die Verlustverrechnung im Jahr des Anfalls als auch der Verlustvortrag der Höhe nach auf 10.000 Euro beschränkt sind, könnte das Symmetrieprinzip faktisch dennoch verletzt sein. Durch die höhemäßige Beschränkung könnte es zu einem „Verrechnungsstau“ über mehrere Jahre kommen, der letztlich die steuerliche Berücksichtigung eines Teils der Verluste aus Termingeschäften faktisch unmöglich macht. Ob dieser Umstand allerdings zu einem Verstoß gegen das Symmetrieprinzip führt, ist bisher bisher vom EuGH nicht entschieden worden. Die Maßnahmen müssten zudem erforderlich sein. Es dürfte also kein milderes, gleichgeeignetes Mittel zur Erreichung bzw. Förderung der legitimen Ziele ersichtlich sein. Das Ansetzen einer höheren Grenze für den Verlustvortrag würde vorliegend zwar ein milderes Mittel darstellen, dies wäre allerdings nicht geeignet die Attraktivität der spekulativen Geschäfte für private AnlegerInnen in gleichem Maße zu senken. Auch die Einführung eines von Seiten der AnlegerInnen vorgeschlagenen „Börsen- oder Trading- Führerscheins“, zu dessen Erwerb Interessierte sich zunächst mit den Risiken entsprechender Geschäfte vertraut machen und eine gewisse Eignung nachweisen müssen, könnte ein milderes Mittel darstellen. Da allerdings schon jetzt davon auszugehen ist, dass die Mehrheit der privat an Termingeschäften teilnehmenden Person über umfangreiche Kenntnisse des komplexen Ablaufs und ihrer Risiken verfügen, um diese überhaupt erfolgreich abwickeln zu können, erscheint die Maßnahme nicht in gleicher Weise geeignet. Es ist wahrscheinlich, dass die Einführung einer entsprechenden Eignungsprüfung nicht im gleichen Maße zu einem Abstandnehmen der Anler Innen führt, wie die vorgesehene finanzielle Steuerung. Die Regelungen des § 20 Abs. 6 S. 5 und 6 EStG dürften mithin wohl auch erforderlich sein. Im Ergebnis ist die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen mithin gut begründbar. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 053/20 Seite 12 4. Ergebnis Nach der hier vertretenen Ansicht, ist mangels Schlechterstellung von Sachverhalten mit grenzüberschreitendem Bezug durch die Regelungen der neuen Sätze 5 und 6 des § 20 Abs. 6 EStG, im Ergebnis wohl bereits das Vorliegen einer Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit zu verneinen . Die Änderung des § 20 Abs. 6 EStG durch das GrenzStGestaltG wären demnach als mit der Kapitalverkehrsfreiheit vereinbar anzusehen. Auch im Falle der Annahme einer unterschiedslosen Beschränkung durch die, im Vergleich mit dem nicht in gleicher Weise regulierten Terminmarkt, beschränkte Attraktivität des Abschlusses von Termingeschäften mit Gegenpartei im Ausland, käme die Vereinbarkeitsprüfung wohl zum gleichen Ergebnis. Eine Rechtfertigung der Beschränkung erscheint aufgrund des Vorliegens zwingender Gründe des Allgemeinwohls jedenfalls dem Grunde nach gut begründbar. - Fachbereich Europa -