DOKUMENTATION Thema: Europäische Verfassungsentwürfe seit 1945 Fachbereich XII Europa Verfasser/in: Abschluss der Arbeit: 15. Dezember 2005 Reg.-Nr.: WF XII - 268/05 Ausarbeitungen von Angehörigen der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung des einzelnen Verfassers und der Fachbereichsleitung. Die Ausarbeitungen sind dazu bestimmt, das Mitglied des Deutschen Bundestages, das sie in Auftrag gegeben hat, bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - 2 - Inhaltsverzeichnis Seite 1. Vorbemerkung.......................................................................................... 3 2. Vorläufer: Verfassungsentwürfe während des Zweiten Weltkrieges ....... 3 3. Verfassungsentwürfe nach 1945............................................................... 4 3.1. Hertensteiner Programm (Europäische Föderalisten), September 1946 .. 4 3.2. Entwurf einer föderalen Verfassung der Vereinigten Staaten von Europa (François de Menthon), Juni 1948 ............................................................ 4 3.3. Vorentwurf einer europäischen Verfassung (Union Europäischer Föderalisten – UEF), 11. November 1948 ................................................ 5 3.4. Entwurf einer europäischen Bundesverfassung, 6. Mai 1951 .................. 5 3.5. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS – Montanunion), 1952.................................................................................. 6 3.6. Entwurf eines Vertrages über die Satzung der Europäischen Gemeinschaft (Entwurf der ad hoc Versammlung der EGKS), 10. März 1953........................................................................................................... 6 3.7. Römische Verträge (Sechs Gründungsstaaten), 25. März 1957............... 7 3.8. Entwurf von Max Imboden, 1963............................................................. 7 3.9. *Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union (Europäisches Parlament, „Spinelli-Entwurf“), 14. Februar 1984 ........... 8 3.10. Einheitliche Europäische Akte, 1986/1987 .............................................. 8 3.11. Der Verfassungsvertrag der Gemeinschaft der Vereinigten Europäischen Staaten – Ein realistischer Entwurf (Franz Cromme), 1987 ..................... 9 3.12. Vertrag von Maastricht (Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften), 1992 ............................................................................. 9 3.13. *Bericht über die Verfassung der Europäischen Union (Institutioneller Ausschuss des Europäischen Parlaments, „Herman-Bericht“), 10. Februar 1994......................................................................................................... 10 3.14. Vertrag von Amsterdam (15 Mitgliedstaaten), 1997.............................. 10 3.15. Ein Basisvertrag für die Europäische Union, Studie zur Neuordnung der Verträge (Europäisches Hochschulinstitut, Robert Schuman Centre for Advanced Studies), 15. Mai 2000........................................................... 11 3.16. Ein Grundvertrag für die Europäische Union, Entwurf zur „Zweiteilung der Verträge“ (Bertelsmann Forschungsgruppe Politik), Mai 2000 ....... 11 3.17. Vertrag von Nizza (15 Mitgliedstaaten), 26. Februar 2001.................... 11 3.18. Begleitend zum Verfassungskonvent vorgestellte Privatentwürfe......... 12 3.19. *Ausblick: Ein Vertrag zur Reform des Vertrags von Nizza (Bertelsmann Stiftung, Centrum für angewandte Politikforschung), 2005................... 12 4. Literatur .................................................................................................. 13 - 3 - 1. Vorbemerkung Nachstehend soll ein Überblick über ausgewählte Verfassungsentwürfe seit 1945 gegeben werden. Er stellt neben den wichtigsten, wegweisenden Entwürfen europäischer Organisationen auch einige private Entwürfe vor. Dabei soll auf die bekannten Gemeinschaftsverträge und deren Fortentwicklung – die im weiteren Sinne auch Verfassungsentwürfe darstellen – nur ganz kurz eingegangen werden. Auch die an anderer Stelle bereits umfassend analysierte unmittelbare Vorgeschichte des Europäischen Verfassungsvertrages , der am 29. Oktober 2004 unterzeichnet wurde1, soll hier nicht noch einmal nachgezeichnet werden2. Die allerwichtigsten Entwürfe sind mit einem * gekennzeichnet. Zur vertiefenden Befassung sind einige der ausgewählten Entwürfe und ein Überblicksaufsatz als Anlagen beigefügt. 2. Vorläufer: Verfassungsentwürfe während des Zweiten Weltkrieges Da die Verfassungsidee unauflöslich mit der der Frage der Einigung Europas verbunden ist, gab es Vorläufer einer Verfassungsdiskussion schon seit dem ausgehenden Mittelalter 3. Unmittelbaren Einfluss auf die Nachkriegsdebatte hatten allerdings erst die im 20. Jahrhundert vorgestellten Entwürfe. Wichtig sind hier vor allem die während der Kriegsjahre 1939 – 1945 von Mitgliedern der Widerstands- und der Europabewegung formulierten Studien und Manifeste, unter denen sich auch einige Verfassungsentwürfe befanden . Zu ihnen gehörten beispielsweise Altiero Spinellis Flugschrift „Gli Stati Uniti d’Europa e le varie tendenze politiche“ vom Oktober 1941, der Entwurf der Europa-Union zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Europa von 1942 und der Verfassungsentwurf für die „United States of Europe“, der im Rahmen der Paneuropa-Konferenz in New York 1944 vorgestellt wurde.4 1 Text und Stand der Ratifizierung abrufbar unter http://europa.eu.int/constitution/index_de.htm [Stand: 14.12.2004]. 2 Dazu z. B. Streinz / Ohler / Herrmann (2005), § 2, S. 12 ff. Deutscher Bundestag (2002a). 3 Überblick bei Streinz / Ohler / Herrman (2005), S. 1 ff. 4 Texte mit kurzer Einführung bei Schäfer (2001). 3. Verfassungsentwürfe nach 1945 3.1. Hertensteiner Programm (Europäische Föderalisten), September 1946 Vertreter aus zwölf europäischen Ländern5 und den USA einigten sich auf einer Konferenz vom 14.-21. September 1946 in Bern und Hertenstein auf den Zusammenschluss aller europäischen Einigungsbewegungen in einer „Aktion Europa-Union“.6 Das Aktionsprogramm hatte zwölf Punkte, die sich zuvorderst mit dem Schutz der Menschenrechte befassten und eine klare Ablehnung der faschistischen Ideologien und des nationalen Protektionismus signalisierten. Sämtliche in diesem Dokument geforderten Punkte (u. a. föderativer Charakter der Union, keine neue Weltmacht, gemeinschaftliches Gericht zur Streitschlichtung, Anerkennung von Grund- und Freiheitsrechten, Wahrung der nationalen Eigenarten) fanden sich später in den Gemeinschaftsverträgen bzw. im Unionsvertrag wieder. (Abdruck bei Schäfer 2001 II.14) 3.2. Entwurf einer föderalen Verfassung der Vereinigten Staaten von Europa (François de Menthon), Juni 1948 Vor dem Hintergrund des in Den Haag vom 7. bis 10. Mai 1948 unter der Präsidentschaft von Winston Churchill veranstalteten „Europa-Kongresses“ erreichte die Diskussion um die europäische Einigung eine neue Intensität. Der französische Christdemokrat und Verfassungsbeauftragte der „Europäischen Parlamentarier-Union“ François de Menthon erarbeitete einen Entwurf für eine Versammlung von Abgeordneten der nationalen Parlamente in Interlaken im September 1948, der erstmals eindeutige Regeln für die doppelte Konstituierung (Völker und Staaten) einer europäischen Föderation enthielt. Menthon umriss Organe der Föderation, wie z.B. ein Europäisches Parlament, das sich aus einer Abgeordnetenkammer (Vertreter der nationalen Parlamente) sowie aus einem Staatenrat (2 Vertreter der Mitgliedstaaten) zusammensetzen sollte. Daneben würden ein Exekutivrat und ein Oberster Gerichtshof eingesetzt, wobei aus den Reihen des ersteren jeweils für ein Jahr der Präsident der Föderation gewählt werden sollte. Fachministerien ergänzten den Föderationsapparat. Die Föderation sollte die Zuständigkeit für die Sicherheit und Außenpolitik besitzen (die NATO entstand erst 1949/50) ebenso wie die alleinige Regulierungskompetenz zur Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsgebiets und der „Vereinheitlichung der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten“. Der Entwurf enthielt aber keine detaillierten Regelungen hinsichtlich der Abgrenzung der Kompetenzen von Föderation und Mitgliedstaaten. – Entwurf beigefügt als Anlage 1. Entnommen aus: Loth 2002, S. 49 ff. – 5 Belgien, England, Frankreich, Griechenland, Holland, Italien, Liechtenstein, Polen, Österreich, Schweiz, Spanien, Ungarn. 6 Am 17.12.1946 erfolgte dann der Zusammenschluss zur „Union Européenne des Fédéralistes“. - 5 - 3.3. Vorentwurf einer europäischen Verfassung (Union Europäischer Föderalisten – UEF), 11. November 1948 Auf ihrem zweiten Kongress in Rom erarbeitete die UEF einen Vorentwurf einer europäischen Verfassung. Der Entwurf eines einheitlichen europäischen Bundesstaates enthielt weit reichende Regelungen hinsichtlich Zuständigkeitsverlagerung, Gewaltenteilung, Rechtsangleichung und der Vereinheitlichung der Wirtschaft. Eine Besonderheit war, dass der Entwurf ein 3-Kammer-System aus Unterhaus (direkt gewählte Abgeordnete), Staatenkammer (bestimmt durch nationale Parlamente) und Wirtschafts- und Sozialkammer vorsah. Den nationalen Regierungen wurde im Rahmen der Ausgestaltung der Föderationsorganisation also keine entscheidungserhebliche Rolle zugewiesen. Der auf Vorschlag der drei Kammern vom Obersten Gerichtshof gewählte Präsident sollte einen Kanzler ernennen, der vom Parlament bestätigt werden musste. Der Entwurf enthielt eine Charta der Grundrechte, die über dem Verfassungsgesetz stehen sollte und die politische, wirtschaftliche und soziale Rechte von Einzelpersonen, Gruppen von Einzelpersonen und Körperschaften definierte. Der Entwurf betonte zwar das Subsidiaritätsprinzip, es mangelte ihm aber wiederum an einer klaren Abgrenzung der Kompetenzen von europäischem Bundesstaat und Mitgliedstaaten. Vorgesehen war, dass sich einzelne Staaten zu engeren Gemeinschaften zusammenschließen konnten. – Entwurf beigefügt als Anlage 2. Entnommen aus: Loth 2002, S. 55 ff. – 3.4. Entwurf einer europäischen Bundesverfassung, 6. Mai 1951 72 Mitglieder der Beratenden Versammlung des Europarates fanden sich unter dem Vorsitz des Präsidenten der Paneuropa Bewegung Graf Coudenhove-Kalergi im Februar 1951 in Basel zusammen, um ein „Verfassungskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa “ ins Leben zu rufen. Diese Kommission formulierte im Mai desselben Jahres in Straßburg einen sehr knappen (18 Artikel) Vor- und Rahmenentwurf einer europäischen Bundesverfassung (Grundsätze, Befugnisse, Bundesbehörden, Verfassungsrevisionen). Hauptaugenmerk des Dokuments war der Bereich der Kompetenzen bzw. Kompetenzverteilung . Grundlage war das Subsidiaritätsprinzip. Die Mitgliedstaaten sollten geneu festgelegte Kompetenzen an den Bund übertragen. Als Bundesorgane waren Bundesparlament und Senat (Legislative), Bundesregierung („Bundesrat“) und Bundesgericht vorgesehen . (Abdruck bei Schäfer 2001 II.20) - 6 - 3.5. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS – Montanunion ), 1952 1952 erschien eine unmittelbare politische Integration aufgrund zu großer nationaler Gegensätze noch nicht möglich. Stattdessen unterzeichnete man am 18. April 1951 den – in erster Linie als enge wirtschaftliche Kooperation geschaffenen – EGKS-Vertrag und hoffte, dass dies „automatisch“ auch die engere politische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten mit sich bringen würde. Dieser Gedanke ist auch in der Organisation der EGKS enthalten, die eine Versammlung (d.h. ein Parlament), eine Hohe Behörde, den Gerichtshof und den Ministerrat vorsieht. Bemerkenswert ist, dass in Art. 21 EGKSV bereits eine Direktwahl der Delegierten zur Versammlung vorgesehen war. Die gegenseitige Abhängigkeit und Überwachung der Organe soll schon eine rechtstaatliche Legitimation gewährleisten . Der EGKS-Vertrag kann als erste „Vertragsverfassung“ bezeichnet werden, die konkrete und wirksame Schritte in Richtung einer gemeinsamen politischen Union einleitete. Er lief am 23. Juli 2002 aus. 3.6. Entwurf eines Vertrages über die Satzung der Europäischen Gemeinschaft (Entwurf der ad hoc Versammlung der EGKS), 10. März 1953 Im Zusammenhang mit den Plänen zur Errichtung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft beschlossen die sechs Außenminister der Montanunion auf Anregung von Jean Monnet (Präsident der Hohen Behörde der Montanunion) und Paul-Henri Spaak (Vorsitzender der europäischen Beratenden Versammlung des Europarates) eine aus den parlamentarischen Mitgliedern der EGKS und einigen Mitgliedern der Beratenden Versammlung des Europarates zusammengesetzte „ad hoc“-Versammlung zu beauftragen, einen Vertragsentwurf für eine Europäische Politische Gemeinschaft zu erarbeiten. Diese „verstärkte“ Versammlung der EGKS bildete einen Verfassungsausschuss, der einen Vertragsentwurf ausarbeitete. Diesen Entwurf legte die Versammlung am 9. März 1953 vor. Er wurde vom Rat der sechs Außenminister der EGKS am 10. März gebilligt. Der Entwurf wies der Europäischen Gemeinschaft jene Kompetenzen zu, die auch in den Zuständigkeitsbereich der EGKS und der geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft fielen. Daneben konnten durch das einstimmige Votum eines „Rates der nationalen Minister“ weitere Maßnahmen zur Schaffung eines Gemeinsamen Marktes ergriffen werden . Der Entwurf sah zwar eine Stärkung der parlamentarischen Vertretungen (Völkerkammer aus direkt gewählten Abgeordneten, Senat aus Vertretern der nationalen Parlamente ) gegenüber dem „Exekutivrat“ vor, dies ging allerdings einher mit einer strikten Kontrolle der Handlungen der Gemeinschaft durch die nationalen Regierungen (über den Rat der nationalen Minister). - 7 - Der Entwurf scheiterte letztlich an der Bindung der Europäischen Politischen Gemeinschaft an die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, die vom französischen Parlament am 30. August 1954 abgelehnt wurde. (Abdruck bei Schäfer 2001 II.23.b) 3.7. Römische Verträge (Sechs Gründungsstaaten), 25. März 1957 Die von der Regierungskonferenz der sechs Gründungsstaaten (Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande) unter dem Vorsitz von Paul-Henri Spaak verfassten Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) betrafen – anders als bei der EGKS – die gesamte Volkswirtschaft der Mitgliedstaaten. Die Römischen Verträge übernahmen im Wesentlichen die institutionelle Gestaltung der EGKS und sahen einen Rat, eine Kommission und ein Parlament vor. Dabei war der Rat zunächst praktisch als alleiniger Gesetzgeber der Gemeinschaft konzipiert.7 Schon damals wurde daher ein Defizit an Handlungsfähigkeit (Einstimmigkeit im Rat) und eine Defizit an parlamentarischer Kontrolle konstatiert. (Abdruck bei Schäfer 2001 II.24.b) 3.8. Entwurf von Max Imboden, 1963 Imboden hielt den „funktionalen“ Ansatz der EWG, bei dem die Einheit letztlich durch gemeinschaftliche Ausübung von Funktionen erreicht werden soll, für unzulänglich. In Anlehnung an die Verfassungen der USA, der Schweiz und das deutsche Grundgesetz wollte Imboden versuchen, „den noch schwer fassbaren konkreten funktionellen Inhalten ein festes politisches Gefäß zu geben.“ Diese Ordnung sollte der Gemeinschaft „über situationsbedingte Erfolge und Misserfolge hinaus innere und äußere Beständigkeit sichern .“8 Er sah die Organe „Rat“ (als Regierung), „Europäische Versammlung“ – bestehend aus Abgeordnetenhaus (Volkswahl) und Senat (Länderkammer) – sowie einen Gerichtshof vor. Art. 18 gewährleistete Grundrechte und in Artikel 22-25 ist ausdrücklich eine Friedenspflicht der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten und Dritten enthalten . (Abdruck bei Schäfer 2001 II.26) 7 Im Einzelnen z. B. Loth (2002), 16 ff. 8 Zitat nach Streinz / Ohler / Herrman (2005), S.4. - 8 - 3.9. *Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union (Europäisches Parlament, „Spinelli-Entwurf“), 14. Februar 1984 Die Unzufriedenheit mit der Strukturierung der Institutionen und Mechanismen der EWG führte in den 70er Jahren zu verschiedenen Bestrebungen, diese Unzulänglichkeiten auszubessern , und gipfelte 1984 schließlich in diesem maßgeblich von Altiero Spinelli erarbeiteten Entwurf. Der von einer überfraktionellen Plattform des Europäischen Parlaments (EP) überarbeitete Entwurf wurde schließlich am 14. Februar 1984 vom Plenum des EP als Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union verabschiedet. Der Entwurf ging von der bestehenden Rechtsordnung der Gemeinschaften aus. Die Union sollte die bestehenden Gemeinschaften durch eine weitere umfassen und einbinden (Schäfer 2001). Sie sollte Rechtspersönlichkeit erhalten. Hinsichtlich der Zuständigkeitszuweisungen ging der Entwurf – bis auf die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion – grundsätzlich nicht über den in den bereits bestehenden Verträgen vorgegebenen Rahmen hinaus. Der Entwurf sah das Subsidiaritätsprinzip vor. Die Integration sollte abgestuft, phasenweise weitergehen. Der Europäische Rat sollte – ohne neue Verträge und Ratifikationen – die Möglichkeit haben, weitere Politikbereiche in den Bereich der „gemeinsamen Aktion“ überzuleiten. Eine entscheidende institutionelle Änderung sah er für die Rolle des Ministerrats vor: Anstelle seiner bisherigen „Zwitterrolle“ sollte dieser nunmehr als „Rat der Union“ Legislativorgan werden und sich dabei die Legislativgewalt mit dem Parlament teilen (Zweikammer-Prinzip). Der institutionalisierte „Europäische Rat“ sollte die Zuständigkeit für den Bereich der Zusammenarbeit, die Kompetenzzuweisung an Organe und die Bestellung des Kommissionspräsidenten besitzen. Die Kommission wurde zum alleinigen Exekutivorgan, sie musste vom Parlament bestätigt werden. Ein qualifiziertes Misstrauensvotum war vorgesehen. Die qualitativ prägendste Modifikation stellte die weitgehende Durchsetzung der Abstimmung mit absoluter oder qualifizierter Mehrheit in den vergemeinschafteten Bereichen dar, die das Vetorecht der nationalen Regierungen fast vollständig ersetzte. Schließlich war schon ein Beitritt der Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention – neben einer eigenen Grundrechteerklärung – vorgesehen. Der Entwurf hatte deutlichen Einfluss auf die Einheitliche Europäische Akte und auch noch auf die Verträge von Maastricht und Amsterdam. – Entwurf beigefügt als Anlage 3. Entnommen aus: ABl. EG Nr. C 77/33 – 3.10. Einheitliche Europäische Akte, 1986/1987 - 9 - Aus den sich an diesen Entwurf anschließenden Diskussionen ging 1986/1987 die Einheitliche Europäische Akte (EEA) hervor, die die Europäische Union vorbereitete. Eine Union wird bereits als Ziel in der Präambel genannt. Einige wesentliche Änderungen der Gemeinschaftsverträge bestanden in einer Verankerung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit und des Europäischen Rates, einer Änderung des Beschlussverfahrens des Rates für den Binnenmarkt, der Einführung neue Aufgaben in den Bereichen Umweltschutz , Forschung und Technologie. Allerdings wurden andere Ziele noch nicht erreicht: Auf das Einstimmigkeitsprinzip wurde noch nicht vollständig verzichtet und die erweiterten Rechte des EP machten dieses noch nicht zu einem „klassischen“ Parlament. Die zwölf damaligen Mitgliedstaaten unterzeichneten die EEA 1986; am 1. Juli 1987 trat sie in Kraft. (Abdruck bei Schäfer 2001 II.30). 3.11. Der Verfassungsvertrag der Gemeinschaft der Vereinigten Europäischen Staaten – Ein realistischer Entwurf (Franz Cromme), 1987 Der auf Eigeninitiative Crommes zurückgehende Entwurf basiert auf den bestehenden Gemeinschaftsverträgen, auf dem sog. „Spinelli-Entwurf“ (s.o.) und der Einheitlichen Europäische Akte. Er legt Schwerpunkte auf die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten und eine präzise Festelegung der Kompetenzen der Organe. Er erweitert zwar die Befugnisse des Europäischen Parlaments (im Vergleich zum Stand der Gemeinschaftsverträge von 1987) wesentlich, normiert aber trotzdem den Rat als zentrales und entscheidungswesentliches Gemeinschaftsorgan. Die systematische Gliederung wurde für eine zukünftige Europäische Verfassung als vorbildlich gewertet. (Abdruck bei Schäfer 2001 II.31) 3.12. Vertrag von Maastricht (Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften ), 1992 Der Vertrag brachte die Gründung der Europäischen Union – nicht als supranationale Konstruktion mit eigener Rechtspersönlichkeit, sondern als völkerrechtliche Einrichtung, der die Mitgliedstaaten der Gemeinschaften angehören. Er wird durch das bekannte „Säulenmodell “ veranschaulicht: Die erste, supranational geprägte Säule beinhaltet die Gemeinschaftsverträge , während die zweite und dritte Säule völkerrechtlich ausgerichtet sind. (Abdruck BGBl. Nr. 47 v. 30.12.1992, S. 1254 ff. und bei Schäfer 2001 II.34a). - 10 - 3.13. *Bericht über die Verfassung der Europäischen Union (Institutioneller Ausschuss des Europäischen Parlaments, „Herman-Bericht“), 10. Februar 1994 Benannt nach dem Berichterstatter des Institutionellen Ausschusses des EP, Fernand Herman , sah der Entwurf eine föderale Staatenunion als parlamentarischen Bundesstaat nach deutschem Muster vor. Er orientierte sich in 47 Artikeln an der bestehenden Unionsrechtsordnung und bestätigte grundsätzlich die Kompetenzverteilung zwischen Rat, Kommission und Europäischem Rat. Ein eigener Teil fügte darüber hinaus noch Grundund Menschenrechte hinzu. Wesentliche Änderungen stellten die Zuweisung der Kompetenz -Kompetenz an die Union und die Einschränkung des Subsidiaritäts- sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar. Die Stellung des EP wurde aufgewertet und der Rat verlor seine Stellung als Souverän. Die Unionsrechtsordnung wurde klar gegliedert in Verfassungsgesetz, Organgesetz, ordentliches Gesetz. Der Rat beschließt mit der einfachen oder qualifizierten Mehrheit der Stimmen, wobei auch die Bevölkerungszahl berücksichtigt wird (jeweils doppelte Mehrheit). Unter einfacher Mehrheit sollte die Mehrheit der Staaten verstanden werden, wenn diese die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren . Die qualifizierte Mehrheit sollten zwei Drittel der Staaten bilden, wenn diese zwei Drittel der Bevölkerung vertreten. Schließlich war auch noch eine doppelt qualifizierte Mehrheit vorgesehen. Die Kommission behielt ihr Initiativrecht. Der Europäische Gerichtshof sollte für das gesamte Unionsrecht und auch die Grund- und Menschenrechte zuständig sein. Der Bericht wurde vom Plenum des EP am 10. Februar 1994 allen Interessierten zur weiteren Beratung und Arbeit an einer gemeinsamen Europäischen Verfassung vorgelegt. – Entwurf beigefügt als Anlage 4. Entnommen aus: Deutscher Bundestag 2002b – 3.14. Vertrag von Amsterdam (15 Mitgliedstaaten), 1997 Diese Revision der Gemeinschaftsverträge führte die stufenweise Integration der Unionsbürger weiter voran. Der Amsterdamer Vertrag wurde am 2. Oktober 1997 unterzeichnet und trat nach Abschluss der Ratifizierungsverfahren in den Mitgliedstaaten am 1. Mai 1999 in Kraft. Eine wesentliche Neuerung war die Verankerung des „Europas der mehreren Geschwindigkeiten“, d. h. eine Regelung über die Flexibilität der Union. Sie ermöglicht eine individuelle engere Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten unter genannten Voraussetzungen und unter Nutzung der gemeinschaftlichen Organe und Verfahren . (Abdruck bei Schäfer 2001 II.37) - 11 - 3.15. Ein Basisvertrag für die Europäische Union, Studie zur Neuordnung der Verträge (Europäisches Hochschulinstitut, Robert Schuman Centre for Advanced Studies), 15. Mai 2000 Die Kommission beauftragte eine europäische Forschungsgruppe mit der Ausarbeitung eines Entwurfs, der den Vertrag über die Gründung der Europäischen Union ersetzen könnte. Der Inhalt der bestehenden Verträge sollte weitgehend erhalten bleiben und nur zusammengefasst bzw. neu gruppiert werden. Den Unionsbürgern sollte das Primärrecht in vereinfachter und gestraffter Form zugänglich gemacht werden. Der Vorschlag sah eine Zweiteilung vor, wobei der erste Teil grundsätzliche Bestimmungen (d.h. eine „Staatsverfassung“) und der zweite Teil die Ausführungsregelungen enthielt. Die Kommission beabsichtigte, mit dem Basisvertrag ein Symbol für die Einheit Europas und die Integration zu schaffen, das – im Sinne einer „Verfassung“ – mit einer noch auszuarbeitenden Grundrechtecharta eine Einheit bilden sollte. (Abdruck in Deutscher Bundestag 2002b) 3.16. Ein Grundvertrag für die Europäische Union, Entwurf zur „Zweiteilung der Verträge“ (Bertelsmann Forschungsgruppe Politik), Mai 2000 Diesen Vorschlag aufgreifend, kürzte und vereinfachte die Bertelsmann Forschungsgruppe Politik den Basisvertrag und veröffentlichte im Mai 2000 ihren Entwurf eines Grundvertrages für die Europäische Union. Der Text entspricht in seinem einfachen Aufbau eher der Forderung nach einem übersichtlichen und für den Bürger verständlichen Grundsatzvertrag. – Entwurf beigefügt als Anlage 5. Entnommen aus: Deutscher Bundestag 2002b – 3.17. Vertrag von Nizza (15 Mitgliedstaaten), 26. Februar 2001 Mit dem Vertrag von Nizza (Inkrafttreten am 1. Februar 2003) bereitete sich die Union auf die Aufnahme der damaligen zwölf Beitrittskandidaten vor. Er sollte somit die Integrationsfähigkeit während der kommenden Erweiterungsphasen stärken. Der Vertrag enthält wesentliche Änderungen der Gemeinschaftsverträge und des Unionsvertrags, vor allem die Größe der Kommission, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit, die Stimmenwägung und Abstimmungsverfahren betreffend. - 12 - 3.18. Begleitend zum Verfassungskonvent vorgestellte Privatentwürfe Begleitend zum seit Februar 2002 tagenden „Konvent zur Zukunft Europas“9 erarbeiteten verschiedene Politiker und Juristen eingehende Verfassungsentwürfe. In dem beigefügten Artikel werden die wichtigsten vorgestellt und analysiert. – Artikel beigefügt als Anlage 6: Häberle, Peter, Die Herausforderungen des europäischen Juristen vor den Aufgaben unserer Verfassungs-Zukunft: 16 Entwürfe auf dem Prüfstand, in: Die Öffentliche Verwaltung 11/2003, S. 429 – 3.19. *Ausblick: Ein Vertrag zur Reform des Vertrags von Nizza (Bertelsmann Stiftung, Centrum für angewandte Politikforschung), 2005 Die Bertelsmann Stiftung versuchte 2005 zusammen mit dem Centrum für angewandte Politikforschung in München, anstelle des „umfangreichen und emphatisch ‚Verfassung’ genannten Textes“ einen bescheidener dimensionierten ‚Vertrag’ zu entwerfen, der alles enthalte, was die Handlungsfähigkeit der Union verbessere. Nach Ansicht der Autoren würden damit die wesentlichen Fortschritte der Verfassung im Hinblick auf Handlungsfähigkeit , Demokratie und Transparenz nicht in Frage gestellt. Damit solle der Kern auch im Falle eines Scheiterns der Ratifizierung gesichert werden. Wesentliche Bestimmungen in vier Bereichen sollten „gerettet“ werden: die institutionellen Reformen, die Weiterentwicklung der Abstimmungsverfahren, die ‚Instrumente differenzierter Integration’ (also erweiterte Möglichkeiten engerer Gruppen-Zusammenarbeit) sowie Strukturbestimmungen wie die Charta der Grundrechte, die Abgrenzung der Zuständigkeiten oder den Weg zu künftigen Änderungen des Primärrechts.10 – Entwurf beigefügt als Anlage 7. Entnommen: http://www.cap-lmu.de/publikationen /2005/vertrag.php [Stand: 14.12.2005] – Berlin, den 15. Dezember 2005 - Fachbereich Europa - 9 Zur Vorgeschichte des Verfassungsvertrages: Streinz / Ohler / Hermann (2005), S. 13 ff. 10 Pries, Den harten Kern retten. Bertelsmann Stiftung und C·A·P entwickeln eine Option, um Handlungsfähigkeit der EU zu sichern. Frankfurter Rundschau v. 18.06.2005. 4. Literatur Deutscher Bundestag (2002a), Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Der Weg zum EU-Verfassungskonvent. Berichte und Dokumentationen mit einer Einleitung von Michael Fuchs, Sylvia Hartleif und Vesna Popovic. Berlin (Zur Sache 5/2005). Deutscher Bundestag (2002b), Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Sekretariat –. Verfassungsentwürfe für die Europäische Union (Texte und Materialien, Band 35). Berlin. Loth, Wilfried (2002): Entwürfe einer Europäischen Verfassung: eine historische Bilanz . Bonn: Europa Union Verlag. Schäfer, Anton (Hrsg.) (2001): Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union, Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. Dornbirn: BSA Verlag. Streinz, Rudolf / Ohler, Christoph / Herrmann, Christoph (2005): Die neue Verfassung für Europa. Einführung mit Synopse, München: Beck.