Deutscher Bundestag Dossier: Bilaterale Finanzhilfen für Griechenland, Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus , Garantien für Irland, Staateninsolvenz , Austritt aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion , permanenter Krisenbewältigungsmechanismus Aus europarechtlicher und europapolitischer Sicht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 11 – 3000 – 265/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 2 Dossier: Bilaterale Finanzhilfen für Griechenland, Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus , Garantien für Irland, Staateninsolvenz, Austritt aus der dritten Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion, permanenter Krisenbewältigungsmechanismus Aus europarechtlicher und europapolitischer Sicht Aktenzeichen: WD 11 – 3000 – 265/10 Abschluss der Arbeit: 14. Dezember 2010 Fachbereich: WD 11: Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 6 2. Bilaterale Finanzhilfen für Griechenland 6 2.1. Überblick über den Diskussionsstand bei Implementierung der Maßnahme 8 2.1.1. Auffassungen zur Reichweite der No-Bail-Out-Klausel 9 2.1.1.1. Überwiegende Auffassung in der Literatur: Ausschluss von Hilfsleistungen 10 2.1.1.2. Andere Auffassung: Keine Anwendung des Artikel 125 AEUV auf Kredite 12 2.1.1.3. Auffassung der Bundesregierung: Regelungslücke im Primärrecht 13 2.1.2. Keine Gewährung finanziellen Beistands auf der Grundlage von Artikel 122 Absatz 2 AEUV 13 2.2. Weiterführung der Diskussion nach Implementierung der Maßnahme 14 2.2.1. Neue Argumente der Befürworter 14 2.2.2. Neue Argumente der Gegner 15 3. Der Europäische Finanzstabilisierungsmechanismus 16 3.1. Diskussionsstand bei Implementierung der Maßnahme im Mai 2010 17 3.1.1. Erster Pfeiler: Finanzieller Beistand der Union in Form eines Darlehens oder einer Kreditlinie 17 3.1.1.1. Tatbestandliche Voraussetzung: Außergewöhnliches Ereignis, das sich der Kontrolle eines Mitgliedstaates entzieht 18 3.1.1.2. Ist die Ermächtigung der Kommission zur Aufnahme von Anleihen auf den Kapitalmärkten oder bei Finanzinstituten in der Finanzstabilisierungsverordnung von der Rechtsgrundlage des Artikel 122 Absatz 2 AEUV gedeckt? 19 3.1.1.2.1. Befürwortende Ansicht 20 3.1.1.2.2. Verneinende Ansicht 21 3.1.1.2.3. Bisheriges Vorgehen des Unionsgesetzgebers 21 3.1.1.2.4. Fazit 23 3.1.2. Zweiter Pfeiler: Errichtung einer Zweckgesellschaft durch die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets 23 3.1.2.1. Das Modell der Zweckgesellschaft 23 3.1.2.2. Vereinbarkeit mit Artikel 125 AEUV 23 3.1.2.2.1. Überwiegende Auffassung in der Literatur: Ausschluss von Hilfsleistungen 24 3.1.2.2.2. Andere Auffassung: Keine Anwendung des Artikel 125 AEUV auf Kredite 26 3.1.2.2.3. Auffassung der Bundesregierung: Regelungslücke im Primärrecht 27 3.2. Weiterführung der juristischen Diskussion nach Implementierung der Maßnahmen 28 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 4 4. Finanzieller Beistand für Irland 31 4.1. Voraussetzungen für die Gewährung finanzieller Unterstützung durch den ESFM 31 4.2. Voraussetzung für die Gewährung finanzieller Unterstützung durch die EFSF 32 4.3. Wirtschaftliche Situation in Irland 33 5. In Rechtswissenschaft und Politik diskutierte Möglichkeiten des Ausscheidens eines Mitgliedstaats aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion 35 5.1. Hintergrund: Die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion 35 5.2. Hintergrund: Teilnahme an der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion – die Konvergenzkriterien 38 5.3. Diskussionsstand über die Möglichkeiten des Ausscheidens eines Teilnehmerstaats aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion vor Implementierung der Rettungsmaßnahmen 40 5.3.1. Diskutierte Modelle für eine einvernehmliches Ausscheiden 41 5.3.1.1. Modell 1: Ausscheiden aus der Europäischen Union und erneuter Beitritt 41 5.3.1.2. Modell 2: Ausscheiden aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion 42 5.3.2. Diskutierte Modelle für einen Ausschluss eines Teilnehmerstaates 43 5.3.2.1. Modell 3: Ausschluss als ultimative Sanktion im Defizitverfahren 44 5.3.2.2. Modell 4: Ausschluss als Sanktion für eine Verletzung vertraglicher Verpflichtungen und Werte 46 5.3.2.2.1. Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 EUV 46 5.3.2.2.2. Rechtsfolge des Art. 7 Abs. 3 EUV 47 5.3.2.2.3. Mögliche Änderung des Art. 7 EUV 47 5.3.2.3. Modell 4: Völlig neue Ausschlussnorm 48 5.3.2.4. Vereinbarkeit einer Ausschlussbestimmung mit den grundlegenden Verträgen der EU 48 5.4. Weiterführung der Diskussion nach Implementierung der Rettungsmaßnahmen 49 5.4.1. Stimmen, die sich für den Ausschluss eines Mitgliedstaats aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion aussprechen 49 5.4.2. Stimmen, die sich dagegen aussprechen 50 6. Vorschläge für ein Staateninsolvenzverfahren und die Einführung eines permanenter Krisenmechanismus 52 6.1. Vorschläge in Wissenschaft und Politik zur Einführung eines Insolvenzverfahrens für Staaten 52 6.1.1. Vorschlag von Paulus 52 6.1.2. Vorschlag von Fuest, Hellwig, Sinn und Franz 53 6.1.3. Vorschlag von Gros und Mayer 55 6.1.4. Vorschlag des Bundeswirtschaftsministers laut Medienberichten 55 6.1.5. Arbeitspapier der Bundesministerien der Finanzen und Justiz laut Bericht des Spiegels 56 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 5 6.1.6. Empfehlung der Stiftung Wissenschaft und Politik für ein Insolvenzrecht für Staaten 57 6.2. Vorschläge für die Schaffung eines permanenten Krisenmechanismus 59 6.2.1. Erklärung der Euro-Gruppe vom 28. November 2010 59 6.2.2. Vorschlag des Instituts für Wirtschaftsforschung 60 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 6 1. Einleitung Das vorliegende Dossier gibt einen Überblick über die europarechtliche und europapolitische Diskussion zu den Themenkomplexen „Bilaterale Finanzhilfen für Griechenland“, „Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus“ und „Garantien für Irland“ (Ziffer 1 bis 3). Dabei wird unterschieden zwischen dem Diskussionsstand in Rechtswissenschaft und Politik bei Implementierung der Maßnahmen und der Weiterführung der Diskussion danach. Des Weiteren werden in Rechtswissenschaft und Politik diskutierte Möglichkeiten des Ausscheidens eines Mitgliedstaats aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion und der Einführung eines Staateninsolvenzverfahrens bzw. eines permanenten Krisenbewältigungsmechanismus in der Europäischen Union vorgestellt (Ziffer 5 und 6). 2. Bilaterale Finanzhilfen für Griechenland1 Mit ihrer Erklärung vom 25. März 2010 sicherten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets der griechischen Regierung zu, sie in ihren Bemühungen zur Bewältigung der Staatsverschuldungskrise zu unterstützen und zur Sicherung der finanziellen Stabilität im gesamten Euro-Währungsgebiet bei Bedarf entschieden und koordiniert zu handeln. Sie unterstrichen ihre Bereitschaft zu koordinierten bilateralen Darlehen im Rahmen eines Maßnahmenpaketes , das durch die Mitglieder der Euro-Gruppe und den Internationalen Währungsfonds (IWF) finanziert werden soll.2 Auf der Grundlage dieser Erklärung fassten die Finanzminister der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets am 11. April 2010 einen Beschluss zur inhaltlichen Ausgestaltung und konkreten Umsetzung dieses Unterstützungsmechanismus’ zugunsten Griechenlands. Im Kern sieht dieser die Gewährung von Finanzhilfen in Form bilateraler Kredite durch die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets vor, die durch die Europäische Kommission (Kommission) gebündelt und koordiniert sowie durch Finanzhilfen des IWF ergänzt werden sollen. Die Mitgliedstaaten , die sich am Unterstützungsmechanismus beteiligen, wurden aufgefordert, auf nationaler Ebene die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um das Hilfspaket rasch realisieren zu können.3 Nach Abschluss der Verhandlungen zwischen der Europäischen Kommission (Kommission), der Europäischen Zentralbank (EZB), dem IWF und der griechischen Regierung über das griechische Stabilisierungsprogramm einigten sich die Finanzminister der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets am 2. Mai 2010 über den Gesamtrahmen der finanziellen Ausstattung des über drei Jahre laufenden Hilfspakets zugunsten Griechenlands. Dieser umfasst ein Kreditvolumen von ins- 1 Die Ausführungen zu Ziffer 2 basieren im Wesentlichen auf dem hierzu aktualisierten Infobrief von Rohleder /Zehnpfund/Sinn, Bilaterale Finanzhilfen für Griechenland, Vereinbarkeit mit Artikel 125 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, WD 11 – 3000 – 103/10, online abrufbar unter: http://www.bundestag .btg/ButagVerw/Abteilungen/W/Ausarbeitungen/Einzelpublikationen/Ablage/2010/Bilaterale_Finan _1273039033.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 2 Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets vom 25. März 2010, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/113566.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 3 Statement on the support to Greece by Euro area Members States, 11. April 2010, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ec/113686.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 7 gesamt 110 Mrd. Euro, das in Höhe von 80 Mrd. Euro durch die Staaten der Euro-Gruppe aufgebracht wird; weitere 30 Mrd. Euro stellt der IWF zur Verfügung.4 Der auf Deutschland entfallende Anteil an dem in Form bilateraler Kredite zu gewährenden Hilfspaket für Griechenland beträgt für den gesamten Zeitraum 22,4 Mrd. Euro. Um die erforderlichen Maßnahmen auf nationaler Ebene zu treffen, verabschiedete der Deutsche Bundestag am 7. Mai 2010 das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen zum Erhalt der für die Finanzstabilität in der Währungsunion erforderlichen Zahlungsfähigkeit der Hellenischen Republik (Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz – WFStG)5. Hiernach soll der auf Deutschland anfallende Anteil an den Hilfsmaßnahmen von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) ausgereicht werden, die durch eine Garantie des Bundes abgesichert wird. Gegen das Gesetz haben mehrere Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben und zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt . Die Beschwerdeführer sehen sich in ihren Rechten aus Artikeln 38 Abs. 1, 2 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG verletzt. Mit Beschluss vom 7. Mai 2010 hat das Bundesverfassungsgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen, dabei jedoch lediglich eine Nachteilsabwägung vorgenommen, d. h. es hat die Nachteile abgewogen, die eintreten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstehen würden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, in der Hauptsache aber der Erfolgt zu versagen wäre.6 Die Diskussion über Möglichkeiten der Finanzhilfe zugunsten von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), deren öffentliche Haushalte von extremen Defiziten gekennzeichnet sind oder die sich sogar der Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit gegenüber sehen, wird geführt, seit die Kommission zu Beginn des Jahres 2009 mit den Vorbereitungen für ein Defizitverfahren7 gegen Griechenland begann. Die Bandbreite der in dieser Diskussion erörterten Modelle finanzieller Unterstützung reicht dabei von direkten oder indirekten Finanzhilfen der EU, der EZB oder der Europäischen Investitionsbank (EIB) bis hin zu gemeinsamen oder bilateral ausgestalteten Hilfen der anderen Mitgliedstaaten.8 Die Debatte war und ist zugleich auch von warnenden Stimmen geprägt, die 4 Statement by the Eurogroup, 2. Mai 2010, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs /cms_data/docs/pressdata/en/misc/114130.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 5 BGBl. I S. 537. 6 BVerfG, Beschluss vom 7. Mai 2010, 2 BvR 987/10, NJW 2010, S. 1586. 7 Verfahren wegen übermäßigen öffentlichen Defizits gemäß Art. 104 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (nunmehr Art. 126 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV). 8 Zu den intensiv diskutierten Formen der finanziellen Unterstützung von Mitgliedstaaten gehörte auch die Begebung gemeinsamer Anleihen durch die Staaten der Euro-Zone (sog. Eurobonds), mit denen das Problem der durch Risikoprämien für seine Staatsanleihen verteuerten Kapitalaufnahme eines hoch verschuldeten Mitgliedstaats gemildert werden sollte. Durch die der Konstruktion zugrunde liegende gesamtschuldnerische Haftung aller Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes sollte die gute Bonität von beispielsweise Deutschland, Österreich und Finnland auf andere Euro-Staaten mit schlechteren Bonitätsbewertungen (rating) abstrahlen. In der Folge wurde auf die Reduzierung der an das rating gekoppelten Risikoaufschläge (spreads) gesetzt, was sich als erheblicher Zinsvorteil im Vergleich zum status quo für Staaten wie z.B. Irland, Griechenland, Spanien oder Portugal auswirken würde. Mit ähnlich indirektem Wirkungsmechanismus setzen auch Vorschläge an, nach denen Euro-Staaten mit guter Bonität für Staatsanleihen solcher Mitgliedstaaten garantieren. Vgl. „EIB könnte Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 8 der Verweigerung finanzieller Unterstützung und der Betonung der Eigenverantwortung jedes Mitgliedstaates für die Sanierung seiner Staatsfinanzen nach dem Regelungsrahmen des Stabilitätsund Wachstumspaktes (SWP)9 den deutlichen Vorzug geben. Die Mitgliedstaaten unterlägen der besonderen Haushaltsdisziplin des SWP, die sie zu einer verantwortlichen Haushalts- und Wirtschaftspolitik zwinge. Diese würde aber ad absurdum geführt, wenn die Folgen unverantwortlichen Handelns nicht zu angemessenen – zumeist politisch schmerzhaften – Anpassungsprozessen führten sondern zu Hilfsmaßnahmen, die diesen Anpassungsdruck verminderten und negative Signalwirkung im Sinne eines moral hazard für andere Staaten hätten. Das im Unterstützungsmechanismus10 vorgesehene Hilfspaket zugunsten Griechenlands fußt ebenso wenig wie die zu seiner Realisierung in jedem Mitgliedstaat des Euro-Währungsgebiets nach nationalem Recht zu erlassenden Regelungen zur Gewährung des bilateralen Kredits zugunsten des griechischen Partners auf einer Ermächtigungsnorm in den grundlegenden Verträgen der EU. Beide unterliegen aber den Grenzen, die die Bestimmungen dieser Verträge Formen finanzieller Hilfen setzen, insbesondere den Grenzen des als „No-Bail-Out-Klausel“ bekannten Art. 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). In der rechtswissenschaftlichen und politischen Debatte wurde und wird immer noch über die Reichweite und normative Strenge der Bestimmungen des Art. 125 AEUV gestritten; Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) liegen nicht vor. Es wird nachfolgend zunächst ein Überblick über die im Mai 2010 eingenommenen Positionen gegeben . Anschließend wird auf die Weiterführung der Diskussion nach der Implementierung der Maßnahme eingegangen. 2.1. Überblick über den Diskussionsstand bei Implementierung der Maßnahme Die „No-Bail-Out-Klausel“ des Art. 125 AEUV gehört wie auch die Artikel 123 und 124 AEUV zu den Regeln in den grundlegenden Verträgen der EU, mit denen die Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten sichergestellt werden soll. Während einerseits Defizit- und Verschuldungsobergrenzen sowie Sanktionen für den Fall ihrer Nichteinhaltung explizit geregelt sind (Art. 126 AEUV), zielen die Artikel 123 bis 125 AEUV andererseits darauf ab, alle Mitgliedstaaten der EU bei der Eurobonds aufnehmen – im Notfall“, Handelsblatt vom 23. Februar 2009, „Den Griechen rennt die Zeit davon“, Financial Times Deutschland vom 22. Januar 2010. 9 Der ursprünglich als völkerrechtlicher Vertrag („Pakt“) zwischen den Mitgliedstaaten der EU konzipierte und schließlich sekundärrechtlich kodifizierte SWP besteht formal aus der Entschließung des Europäischen Rates vom 17. Juni 1997 und den Verordnungen des Rates (EG) 1466/977 sowie (EG) 1467/978, die beide zum 1. Januar 1999 in Kraft traten. Beide Verordnungen wurden mit Erlass der Verordnungen des Rates (EG) Nr. 1055/059 sowie (EG) Nr. 1056/0510 am 27. Juni 2005 mit Wirkung vom 27. Juli 2005 geändert. Im SWP wurden die im EGV vorgesehenen Überwachungs- und Sanktionsmechanismen (Koordinierung der Wirtschaftspolitik und Defizitverfahren) präzisiert. 10 Allerdings ist die Verknüpfung der bilateralen Finanzhilfen mit den Konditionen des mit Griechenland ausgehandelten Stabilisierungsprogramms gestützt auf Art. 136 i.V.m. Art. 126 Abs. 9 AEUV. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 9 Kreditfinanzierung ihrer Haushalte privaten Kreditnehmern gleichzustellen und den Mechanismen der Finanzmärkte zu unterwerfen.11 Im Kern liegt der Regelungsabsicht, den Staat bei seiner Kreditaufnahme wie jeden anderen Kreditnehmer den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen, die ökonomische Logik zugrunde, dass der Staat, dessen Schuldtitel an den Finanzmärkten von potentiellen Zeichnern als problematisch angesehen wird, mit ansteigenden Kreditkosten konfrontiert wird. Die von steigenden Zinsen auf die Staatsschuld ausgehende Signalwirkung soll einen ökonomischen Anreiz geben, ausufernder Staatsverschuldung zu begegnen. Die Bestimmungen der Artikel 123 bis 125 AEUV ergänzen sich zu einem Dreiklang insoweit, als sie alle möglichen Wege der Umgehung ihrer Regelungsabsicht, den Staat bei der Kreditfinanzierung an die Finanzmärkte zu verweisen, versperren. So wird einerseits eine erzwungene Finanzierung zu konzessionären Bedingungen über die EZB bzw. die nationalen Zentralbanken (Art. 123 AEUV) und über Finanzinstitute (Art. 124 AEUV) unterbunden; Art. 125 AEUV soll andererseits ein "moral hazard"-Verhalten des betroffenen Staates in der Frage seiner Staatsverschuldung verhindern, weil er zur Behebung der Folgen mangelnder Budgetdisziplin nicht darauf zählen kann, dass ihm die EU oder die anderen Mitgliedstaaten durch Übernahme der Haftung oder den Eintritt in seine Verbindlichkeiten zu Hilfe kommen. Das übergeordnete Ziel des Regelungsgeflechts ist die Sicherung der Stabilität der Währungsunion , die unmittelbar von der Stabilität der Staatshaushalte ihrer Mitglieder abhängt.12 2.1.1. Auffassungen zur Reichweite der No-Bail-Out-Klausel13 Art. 125 Abs. 1 S. 1 AEUV sieht einen Haftungsausschluss der Union für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen vor. Gemäß Art. 125 Abs. 1 S. 2 AEUV haftet auch ein Mitgliedstaat nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens14. Dieser Haftungsausschluss ist ab Beginn der zweiten Stufe der Währungsunion, d. h. seit dem 1. Januar 1994, in Kraft (als Art. 103 EGV in der Fassung des Vertrags von Amsterdam bzw. als Art. 104b EGV in der Fassung des Vertrags von Maastricht). Die Norm ist ohne weitere innerstaatliche Umsetzung unmittelbar anwendbar.15 11 Gnan, in: von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 101, Rdnr. 2 ff. 12 Vgl. Morgenthaler, Der Euro – zwischen Integrationsdynamik und Geldwertstabilität, Juristische Schulung (JuS), 1997, S. 674 (681). 13 Der Begriff „bail-out“ bedeutet auf Deutsch so viel wie „Rettungsaktion“ (in Form finanzieller Hilfen). 14 Der Ausschluss in Art. 125 Abs. 1 S. 2, 2. Halbsatz AEUV gilt nur für einzelne, konkrete Vorhaben, die entweder von zwei oder mehr Mitgliedstaaten bzw. Mitgliedstaaten und Union gemeinsam getragen werden, und nur für wechselseitige Garantien im Sinne von Bürgschaften bzw. gesamtschuldnerischer Haftung. Beispiele bilden das Kanaltunnelprojekt von Großbritannien und Frankreich, s. Kempen, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 103, Rdnr. 6. 15 Kempen, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 103, Rdnr. 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 10 Nach Art. 125 Abs. 2 AEUV kann der Rat erforderlichenfalls auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die Definitionen für die Anwendung der in den Artikeln 123 und 124 sowie in diesem Artikel (= Art. 125 AEUV) vorgesehenen Verbote näher bestimmen . Auf der Grundlage des Art. 125 Abs. 2 AEUV wurde die Verordnung (EG) Nr. 3603/9316 erlassen, die einzelne Tatbestandsmerkmale konkretisiert. Die hier relevanten Tatbestandsmerkmale „haften“ und „eintreten für Verbindlichkeiten“ werden jedoch nicht definiert. Die Norm des Art. 125 Abs. 1 AEUV ist insoweit eindeutig, als dass keine Beistandspflicht der Mitgliedstaaten füreinander besteht.17 Fraglich ist jedoch, ob die No-Bail-Out-Klausel ein bilaterales, letztlich „freiwilliges“ Eintreten für die Schulden eines Mitgliedstaats – wie es nun vorgesehen ist – verbietet.18 Über diese Frage wird in Politik, Wissenschaft und Medien diskutiert. 2.1.1.1. Überwiegende Auffassung in der Literatur: Ausschluss von Hilfsleistungen Überwiegend wird in der deutschen Literatur vertreten, dass jegliche Form des finanziellen Eintretens der Mitgliedstaaten für Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats durch die Norm des Art. 125 Abs. 1 S. 2 AEUV ausgeschlossen sei.19 Ob hierunter auch die Gewährung von Krediten zu fassen ist, wird dabei jedoch nicht ausdrücklich erörtert. 16 Verordnung (EG) Nr. 3603/93 des Rates vom 13. Dezember 1993 zur Festlegung der Begriffsbestimmungen für die Anwendung der in Artikel 104 und Artikel 104b Absatz 1 des Vertrages vorgesehenen Verbote, ABl. 1993 L 332/1. 17 Frenz/Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei drohendem Staatsbankrott?, Europäisches Wirtschafts - und Steuerrecht (EWS) 2010, S. 65 (67). 18 Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble erklärte am 21. April 2010 in einer öffentlichen Sitzung des Ausschusses für die Angelegenheiten der EU des Bundestages, dass es sich bei den bislang in Erwägung gezogenen gepoolten Krediten um freiwillige Hilfen und nicht um eine Haftung der Mitgliedstaaten handele, die die Verträge im Rahmen des bail-out-Verbots untersagten. Heute im Bundestag (hib) vom 22. April 2010, online abrufbar unter: http://www.bundestag.de/presse/hib/2010_04/2010_124/01.html (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 19 Vgl. die Kommentarliteratur zur Vorgängernorm des Art. 103 EGV: Gnan, in: Von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 23; Bandilla, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II, Stand: Januar 2000, Art. 103, Rdnr. 3; Kempen, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 103, Rdnr. 5; Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 103, Rdnr. 3; Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 3. Auflage 2007, Art. 103, Rdnr. 3; zur inhaltsgleichen Vorschrift im Verfassungsvertrag: Rodi, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-183, Rdnr. 4. Studien aus jüngster Zeit: Jeck/Van Roosebeke, Rechtsbruch durch Bail-out-Darlehen, Zu den Beschlüssen der Finanzminister der Euro-Staaten vom 11. April und vom 16. April 2010, Studie des Centrums für Europäische Politik (cep) vom 19. April 2010, S. 6 mit Hinweisen auf ältere Studien, online abrufbar unter: http://www.cep.eu/fileadmin/user_upload/Weitere_Themen/CEP_Analyse_Rechtsbruch_durch_Bail-out.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); Seidel, Der Euro – Schutzschild oder Falle, Working Paper B 01/2010 des Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI), S. 3 f, online abrufbar unter: http://www.zei.de/download /zei_wp/B10-01.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); Kerber, Währungsunion mit Finanzausgleich? Eine Klarstellung zur Legalität von Finanzhilfen für Finanznotstandsstaaten der Eurozone, S. 5 ff, online abrufbar unter: http://www.europolis-online.org/index.php?id=35&tx_ttnews[tt_news]=27&tx_ttnews[back- Pid]=2&cHash=3398022d80 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); vgl. Frenz/Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei drohendem Staatsbankrott?, EWS 2010, S. 65 (67); Schwarzer/Dullien, Policy options for Greece – an evaluation, Working Paper FG 1, 2010/01, März 2010 der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), S. 3, Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 11 Diese Auffassung stützt sich im Wesentlichen auf folgende Argumente: Erstens wird auf den Wortlaut des Art. 125 Abs. 2 AEUV sowie die auf dieser Grundlage erlassene Verordnung (EG) Nr. 3603/03 verwiesen. Sowohl Art. 125 Abs. 2 AEUV als auch die Verordnung sprechen von den in Art. 125 Abs. 1 AEUV vorgesehenen „Verboten“. Dies lege das Verständnis nah, dass finanzielle Hilfsleistungen tatsächlich verboten seien20 und nicht nur eine Beistandsverpflichtung ausgeschlossen wird.21 Zweitens wird der Sinn und Zweck des Art. 125 Abs. 1 AEUV angeführt: Art. 125 AEUV soll nach der Denkschrift zum Vertrag von Maastricht die Eigenverantwortung jedes einzelnen Mitgliedstaates für seine Staatsverschuldung sichern.22 Art. 125 AEUV ist neben dem Verbot der monetären Finanzierung gemäß Art. 123 AEUV und dem Verbot des bevorrechtigten Zugangs des öffentlichen Sektors zu Finanzinstituten nach Art. 124 AEUV der dritte Grundsatz, der das Gebot zu disziplinierter Haushaltsführung nach Art. 126 AEUV abstützen soll.23 Art. 125 AEUV bezweckt nach der Literatur konkret, die Mitgliedstaaten auch hinsichtlich der Bewertung ihrer Bonität gleich den privaten Kreditnehmern den Kapitalmärkten auszusetzen.24 Dies bedeute, dass der Staat bei steigender Verschuldung wie jeder andere Kreditnehmer mit steigenden Grenzkosten der Kreditaufnahme konfrontiert sein muss. 25 Könnte ein Staat sich darauf verlassen, dass die Union oder die anderen Mitgliedstaaten in finanziellen Schwierigkeiten hülfen – etwa, um eine mögliche Finanzkrise in der Währungsunion insgesamt zu vermeiden – oder aus Solidaritätsüberlegungen – würde der Zwang zu einer soliden Finanzgebarung ausgehöhlt werden.26 online abrufbar unter: http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=6919 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 20 Frenz/Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei drohendem Staatsbankrott, EWS 2010, S. 65 (67). 21 Der Wortlaut wird jedoch auch in die entgegengesetzte Richtung ausgelegt und allein Art. 125 Abs. 1 AEUV betrachtet : So sei anders als nach Art. 123 und Art. 124 AEUV nach Art. 125 Abs. 1 AEUV nichts ausdrücklich „verboten “. Vgl. Pernice, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. März 2010, „Rettung statt Rausschmiss“. Dies könnte dafür herangezogen werden, in Art. 125 Abs. 1 AEUV kein Verbot einer „freiwilligen“ Unterstützung zu sehen. 22 Denkschrift zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union, BR-Drs. 500/92, S. 90. Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Norm: Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, Mannheim 1997, S. 341 ff.; Gnan, in: Von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 9 ff. 23 Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 103, Rdnr. 1; Gnan, in: Von der Groeben /Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 2. 24 Häde, Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2009, S. 399 (402). 25 Gnan, in: Von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 2; Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 103, Rdnr. 1. 26 Gnan, in: Von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 4; Bandilla, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II, Stand: Januar 2000, Art. 103, Rdnr. 1 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 12 Drittens wird ein systematisches Argument erwogen. So wird ein Vergleich zur Möglichkeit des Beistands bei Zahlungsbilanzkrisen für Mitgliedstaaten, die nicht der Euro-Zone angehören gezogen : Da es in Artikeln 143 und 144 AEUV für solche Staaten ausdrückliche Regelungen zum Beistand bei Zahlungsbilanzkrisen gebe, jedoch nicht für Mitgliedstaaten mit Zugehörigkeit zum Euro-Währungsgebiet27, liege es nahe, dass eine entsprechende Regelung bestünde, falls ein Beistandsrecht zwischen Mitgliedstaaten mit Euro-Währung möglich sein sollte.28 Gleichwohl wird von einigen Autoren in diesem Zusammenhang auch auf die praktischen Probleme eines derart strengen Ausschlusses jeder Hilfsleistung hingewiesen: Eine solch weitgehende Regelung sei im Ernstfall kaum durchsetzbar, da eine Art Solidarhaftung für hochverschuldete Länder wohl unvermeidbar wäre.29 So sei es kaum vorstellbar, dass die Union die Insolvenz eines Mitgliedstaats und alle damit verbundenen Folgen gerade für die Währungsunion hinnehmen würde.30 Die Pflicht zur Solidarität sei auch in Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUV als zentrale Zielbestimmung auf Unionsebene verankert.31 2.1.1.2. Andere Auffassung: Keine Anwendung des Artikel 125 AEUV auf Kredite Schon vor der Krise Griechenlands wurde in der Literatur die Auffassung vertreten, dass die Gewährung eines Kredits nicht unter Art. 125 Abs. 1 S. 2 AEUV zu subsumieren sei. Denn bei der Gewährung eines Kredits erfolge kein Eintritt in bestehende Schuldverhältnisse.32 Darüber hinaus seien derartige Finanzhilfen an eine „Konditionalität“ zu knüpfen.33 Bei den Zahlungsbilanzhilfen nach Artikeln 143 und 144 AEUV wird die „Konditionalität“ durch die Verknüpfung der schrittweisen Auszahlung des Darlehens (in sog. Tranchen) mit der Erfüllung vorgegebener wirtschafts - und haushaltspolitischer Ziele durch den Empfängerstaat hergestellt.34 Eine solche Konditionalität ist im Falle der geplanten bilateralen Kredite zu Gunsten Griechenlands ebenfalls vorgesehen. 27 Artikel 143 und 144 AEUV gelten nur für einen „Mitgliedstaat, für den eine Ausnahmeregelung gilt“. Gem. Art. 139 Abs. 1 AEUV sind „Mitgliedstaaten, für die eine Ausnahmeregelung gilt“ solche Mitgliedstaaten, für die der Rat nicht beschlossen hat, dass sie die erforderlichen Voraussetzungen für die Einführung des Euros erfüllen. 28 Frenz/Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei drohendem Staatsbankrott, EWS 2010, S. 65 (67). 29 Auf diese Kritik weisen hin: Rodi, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-183, Rdnr. 1; Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 103, Rdnr. 4; Gnan, in: von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 5 mit weiteren Nachweisen . 30 Häde, in: Calliess/Ruffert, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 3. Auflage 2007, Art. 103, Rdnr. 9. 31 Frenz/Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei drohendem Staatsbankrott, EWS 2010, S. 65 (67). 32 Gnan, in: Von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 28. 33 Gnan, in: Von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 28. 34 Art. 5 i.V.m. Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 332/2002 des Rates vom 18. Februar 2002 zur Einführung einer Fazilität des mittelfristigen finanziellen Beistands zur Stützung der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten, online Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 13 Diese Argumentationslinie wird auch vom Präsidenten der Eurogruppe, Jean-Claude Juncker, vertreten: Beistandskredite seien kein Bail-Out, weil sie ja zurückgezahlt würden.35 Auch der Präsident der EZB Jean-Claude Trichet vertritt die Auffassung, dass Kredite keine Transferzahlungen seien, die unter das Bail-Out-Verbot fielen. Denn Kredite hätten Kosten und seien an strikte Bedingungen geknüpft.36 Als Gegenargument wird angeführt, dass der Kreditgeber wiederum doch während der Laufzeit des Kredits das Risiko trage.37 2.1.1.3. Auffassung der Bundesregierung: Regelungslücke im Primärrecht Des Weiteren wird vertreten, dass es auf unionsrechtlicher Ebene allgemein an institutionellen Regelungen für den Fall eines Staatsbankrotts fehle.38 Die Bundesregierung schließt daraus, dass eine Regelungslücke im Primärrecht bestehe und folgert daraus, dass Art. 125 Abs. 1 S. 2 AEUV der Gewährung koordinierter bilateraler Hilfen als ultima ratio - in Form von Krediten zu nichtkonzessionären Bedingungen - nicht entgegensteht.39 2.1.2. Keine Gewährung finanziellen Beistands auf der Grundlage von Artikel 122 Absatz 2 AEUV Grundlage für einen finanziellen Beistand zugunsten aller Mitgliedstaaten und damit auch der Staaten, die an der dritten Stufe der WWU teilnehmen und somit an der gemeinsamen Währung beteiligt sind, bildet Art. 122 Abs. 2 AEUV. Danach kann der Rat auf Vorschlag der Kommission beschließen, einem Mitgliedstaat, der aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2002:053:0001:0003:DE:PDF (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Vgl. auch Bandilla, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II, Stand: Oktober 2006, Art. 100, Rdnr. 12. 35 Vgl. das Interview mit Jean-Claude Juncker im Deutschlandradio vom 12. April 2010, Wortlaut online abrufbar unter: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1161122/ (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. März 2010, „EU einigt sich auf Notfallplan“, online abrufbar unter : http://www.faz.net/s/Rub3ADB8A210E754E748F42960CC7349BDF/Doc~E76AAD959580147B2BA071EA9981F 3485~ATpl~Ecommon~Scontent.html (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 36 Reuters, Trichet - Zähle bei Stabilitätspakt-Reform auf Deutschland, Artikel vom 29. April 2010, online abrufbar unter: http://de.reuters.com/article/topNews/idDEBEE63S0LA20100429 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); Reuters, Künftiger EZB-Vize hat nichts gegen Griechenland-Kredite, online abrufbar unter: http://de.reuters .com/article/economicsNews/idDEBEE62M0CL20100323 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 37 Nienhaus, „Bereit zum Bailout“, Finanz und Wirtschaft vom 14. April 2010, online abrufbar unter: http://epaper.fuw.ch/files/epaper /publications/fw/fw14042010/pdf/fw_fw14042010_Frontseite_001_front.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 38 Vgl. hierzu Fuest , Stabile fiskalpolitische Institutionen für die Europäische Währungsunion, Wirtschaftsdienst, X/1993, S. 539, 544 f; Konrad, Schuldenkrise in der Europäischen Union, Wirtschaftsdienst 2010/3; kritisch: Gnan, in: Von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 5 f. 39 Vgl. zu dieser Argumentation bezogen auf den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus Ziffer 3.1.2.2.3, S. 27. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 14 Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist, einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren. Träger des finanziellen Beistandes ist nach den Festlegungen des Art. 122 Abs. 2 AEUV ausschließlich die EU.40 Art. 122 AEUV kommt damit als Rechtsgrundlage für bilaterale Kredite der Mitgliedstaaten an Griechenland nicht in Betracht. 2.2. Weiterführung der Diskussion nach Implementierung der Maßnahme Nach Implementierung der Maßnahme finden sich sowohl Stimmen in juristischen Fachkreisen, die sich für die unionsrechtliche Zulässigkeit des „Unterstützungspakets für Griechenland“ aussprechen , jedoch überwiegend solche, die sich dagegen aussprechen: 2.2.1. Neue Argumente der Befürworter Herrmann stellt sich in einem neueren Aufsatz auf den Standpunkt, dass Art. 125 Abs. 1 AEUV kein generelles Verbot einer freiwilligen Hilfeleistung der Mitgliedstaaten füreinander beinhalte. Primär verbiete Art. 125 Abs. 1 AEUV nur den Eintritt in die Schuldbeziehung zwischen Mitgliedstaat und seinem Gläubiger. Eine direkte Gewährung eines eigenständigen Kredits an einen Mitgliedstaat stelle bereits begrifflich keinen Eintritt in dessen Verbindlichkeit dar, sondern begründe neue, eigenständige Verbindlichkeiten.41 Das Unionsrecht kenne auch kein generelles Umgehungsverbot. Auch das Effektivitätsprinzip des Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV, wonach die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten, beinhalte kein solches Verbot, zumal die Erreichung der Ziele der Union nach Art. 3 EUV, namentlich der soziale und territoriale Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, aber auch die Preisstabilität und die Existenz des Euro insgesamt – durch bilaterale Kredite nicht gefährdet, sondern wohl eher gefördert würden.42 Herrmann beruft sich zusätzlich auf den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV), wonach die EU nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig wird, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Hierauf lasse sich die Vermutung stützen, dass den Mitgliedstaaten ein nicht eindeutig verbotenes Verhalten erlaubt sein müsse.43 Schließlich zieht der Autor auch die Entstehungsgeschichte der Norm heran: Der AEUV unterscheide in den Artikeln 122 bis 126 40 Vgl. hierzu Häde, Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2009, S. 399 (403). 41 Hermann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413 (415). 42 Insbesondere auf das Solidaritätsprinzip berief sich auch Pernice in der Anhörung des Haushaltsausschusses am 5. Mai 2010 zum Gesetzentwurf zur Übernahme von Gewährleistungen zum Erhalt der für die Finanzstabilität in der Währungsunion erforderlichen Zahlungsfähigkeit der hellenischen Republik, vgl. hib-Mitteilung vom 5. Mai 2010, online abrufbar unter: http://www.bundestag.de/presse/hib/2010_05/2010_142/02.html (letzter Abruf : 14. Dezember 2010). Vgl. auch Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2009, 43 Hermann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413 (415). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 15 AEUV sehr fein zwischen unterschiedlichen Instrumenten und Maßnahmen – finanzieller Beistand , Kreditfazilitäten, Haftungseintritt. Den Mitgliedstaaten seien diese Unterschiede bei der Verhandlung des Vertrags von Maastricht bekannt gewesen. Es wäre ein Leichtes gewesen, auch Kredite zwischen Mitgliedstaaten zu verbieten. Dies sei jedoch nicht getan worden.44 2.2.2. Neue Argumente der Gegner Diejenigen, die meinen, dass Unterstützungsmaßnahmen für Griechenland unionsrechtlich unzulässig seien, stützen sich im Wesentlichen auf die bereits oben angeführten Argumente.45 44 Hermann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413 (415). Vgl. auch Häde, Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, EuZW 2009, S. 399 (402). 45 Vgl. zu Art. 125 AEUV Knopp, Griechenland-Nothilfe auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, NJW 2010, S. 1777 (1779); Frenz/Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei drohendem Staatsbankrott?, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (EWS) 2010, S. 65 (67); Kube/Reimer, Grenzen des Europäischen Stabilisierungsmechanismus , NJW 2010, S. 1911 (1913 ff.); Faßbender, Der „europäische Stabilisierungsmechanismus“ im Lichte von Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2010, S. 799 ff.; Brück/Schalast/Schanz, Finanzkrise letzter Akt: Die deutschen Zustimmungsgesetze zur Griechenlandfinanzhilfe und zum Europäischen Stabilisierungsmechanismus, Betriebsberater (BB) 2010, S. 2522 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 16 3. Der Europäische Finanzstabilisierungsmechanismus46 Der Rat der Europäischen Union Wirtschaft und Finanzen (Rat ECOFIN) hat am 9./10. Mai 2010 ein Paket von Maßnahmen zur Wahrung der Finanzstabilität in der EU beschlossen.47 Ein wesentlicher Teil dieses Pakets ist die Etablierung eines europäischen Stabilisierungsmechanismus. Dieser Mechanismus basiert auf zwei Pfeilern: Der erste Teil des Mechanismus ist der europäische Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM). Er stützt sich auf Art. 122 Abs. 2 AEUV. Auf dessen Grundlage wurde die Verordnung (EU) Nr. 407/2010 des Rates vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus 48 (im Folgenden: Finanzstabilisierungsverordnung) erlassen. Sie sieht vor, dass auf Vorschlag der Kommission Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen finanzieller Beistand der EU in Form von Darlehen oder Kreditlinien gewährt wird. Es ist ein Finanzmittelvolumen von bis zu 60 Milliarden Euro vorgesehen.49 Der zweite Teil des Mechanismus ist die europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Sieberuht auf einer zwischenstaatlichen Vereinbarung der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets . Die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets haben sich bereit erklärt, hierzu eine Zweckgesellschaft zu gründen, die durch Gewährung von Krediten von bis zu 440 Milliarden Euro eine drohende Zahlungsunfähigkeit von Mitgliedstaaten abwehren soll. Die Refinanzierung der Zweckgesellschaft erfolgt am Kapitalmarkt; die Zweckgesellschaft erhält hierfür Garantien von den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets. Zur Umsetzung der intergouvernementalen Vereinbarung in Deutschland ist das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus am 21. Mai 2010 vom Deutschen Bundestag verabschiedet worden.50 Das Bundesministerium der Finanzen wird mit dem Gesetz ermächtigt, Gewährleistungen bis zur Höhe von insgesamt 123 Mrd. Euro zu übernehmen, sofern diese Notmaßnahmen zum Erhalt der Zahlungsfähigkeit des betroffenen Mitgliedstaats erforderlich sind, um die Finanzstabilität in der Währungsunion sicherzustellen. Das Gesetz trat am 23. Mai 2010 in Kraft. Am 7. Juni 2010 gründete das Großherzogtum Luxemburg die Zweckgesellschaft zunächst 46 Die Ausführungen zu Ziffer 3 basieren im Wesentlichen auf der hierzu aktualisierten Ausarbeitung von Rohleder /Zehnpfund/Sinn, Maßnahmen zur Wahrung der Finanzstabilität in der Europäischen Union, WD 11 – 3000 – 114/2010. 47 Schlussfolgerungen des Rates (Wirtschaft und Finanzen) vom 9. Mai 2010, Ratsdok. 9602/10. 48 Verordnung (EU) Nr. 407/2010 des Rates vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus , ABl. L 118/1, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=OJ:L:2010:118:0001:01:DE:HTML (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 49 Schlussfolgerungen des Rates (Wirtschaft und Finanzen) vom 9. Mai 2010, Ratsdok. 9602/10. 50 Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus vom 22. Mai 2010, BGBl. I S. 627. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 17 alleine.51 Am selben Tag nahmen dann die Finanzminister der Euro-Gruppe sowie ein Vertreter der Zweckgesellschaft die Rahmenvereinbarung an.52 Zusätzlich hat sich der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einem Volumen von 250 Milliarden Euro an Finanzierungsmaßnahmen beteiligt. Bereits nach Billigung des Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetzes durch den Bundesrat hat der Abgeordnete Gauweiler Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben und den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Mit Beschluss vom 9. Juni 2010 hat das Bundesverfassungsgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.53 Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über den Diskussionsstand in Rechtswissenschaft und Politik zum Zeitpunkt der Implementierung des Euro-Stabilisierungsmechanismus im Mai 2010 gegeben. Im Anschluss folgen Hinweise über die Weiterführung der juristischen Diskussion nach Implementierung der Maßnahmen. 3.1. Diskussionsstand bei Implementierung der Maßnahme im Mai 2010 3.1.1. Erster Pfeiler: Finanzieller Beistand der Union in Form eines Darlehens oder einer Kreditlinie Ist ein Mitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission nach Art. 122 Abs. 2 S. 1 AEUV beschließen, dem betreffenden Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren. Nach Art. 122 Abs. 2 S. 2 AEUV unterrichtet der Präsident des Rates das Europäische Parlament über den Beschluss. „Insbesondere auf Art. 122 Abs. 2 AEUV“ hat der Rat die Finanzstabilisierungsverordnung gestützt . Diese Verordnung ermöglicht, auf Vorschlag der Kommission Mitgliedstaaten unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren. Hierzu wird die Kommission gem. Art. 2 Abs. 1 UAbs. 2 Finanzstabilisierungsverordnung ermächtigt, auf den Kapitalmärkten oder bei Finanzinstituten im Namen der EU Anleihen aufzunehmen, deren Erlös dann als Darlehen oder Kreditlinien an die betroffenen Mitgliedstaaten ausgereicht wird. Die Höhe der Darlehen ist gem. Art. 2 Abs. 2 Finanzstabilisierungsverordnung auf den Spielraum be- 51 Der Gesellschaftervertrag ist online abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_1270/DE/Wirtschaft __und__Verwaltung/Europa/20100609-Schutzschirm-Euro-Anlage-2,templateId=raw,property=publication File.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 52 Der Rahmenvertrag der Garantiegeber ist online abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium .de/nn_1270/DE/Wirtschaft__und__Verwaltung/Europa/20100609-Schutzschirm-Euro-Anlage__1,template Id=raw,property=publicationFile.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 53 BVerfG, Beschluss vom 9. Juni 2010, 2 BvR 1099/10 = NJW 2010, S. 2418. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 18 grenzt, der sich aus der Differenz der festgelegten Höhe der Mittel für Zahlungen und der Eigenmittel -Obergrenze zur Finanzierung des Haushalts der EU ergibt. Daraus resultiert ein maximal mögliches Kreditvolumen von ca. 60 Milliarden Euro.54 Die Finanzstabilisierungsverordnung wirft unter zwei Aspekten rechtliche Fragestellungen auf: Erstens ist auf der Tatbestandsseite fraglich, ob die globale Finanz- und Wirtschaftskrise mit ihren Auswirkungen auf die Haushalte der Mitgliedstaaten als „außergewöhnliches Ereignis“ eingestuft werden kann, das sich der Kontrolle der Mitgliedstaaten entzieht und somit ein Tätigwerden der Union auf der Grundlage von Art. 122 Abs. 2 AEUV erlaubt. Zweitens ist zu fragen, ob Art. 122 Abs. 2 AEUV die (alleinige) Rechtsgrundlage für die Ermächtigung der Kommission zur Aufnahme von Anleihen auf den Kapitalmärkten oder bei Finanzinstituten im Namen der EU sein kann. 3.1.1.1. Tatbestandliche Voraussetzung: Außergewöhnliches Ereignis, das sich der Kontrolle eines Mitgliedstaates entzieht Tatbestandliche Voraussetzung für einen finanziellen Beistand der Union nach Art. 122 Abs. 2 AEUV ist eine Naturkatastrophe oder ein außergewöhnliches Ereignis als Auslöser der Schwierigkeiten , von denen ein Mitgliedstaat betroffen ist oder von deren gravierendem Ausmaß er ernstlich bedroht ist. In Erwägungsgrund 2 der Finanzstabilisierungsverordnung heißt es, dass solche Schwierigkeiten im Sinne des Art. 122 Abs. 2 AEUV „durch eine ernsthafte Verschlechterung der internationalen Wirtschafts- und Finanzlage verursacht werden“ können. In Erwägungsgrund 3 wird ausgeführt, dass die beispiellose Weltfinanzkrise und der globale Konjunkturrückgang , die die Welt in den beiden letzten Jahren erschütterten, das Wirtschaftswachstum und die Finanzstabilität schwer beeinträchtigt und die Defizit- und Schuldenposition der Mitgliedstaaten stark verschlechtert hätten. Die Verschärfung der Finanzkrise habe für mehrere Mitgliedstaaten des Eurogebietes zu einer gravierenden Verschlechterung der Kreditkonditionen geführt, die darüber hinausgehe, was sich durch wirtschaftliche Fundamentaldaten erklären ließe (Erwägungsgrund 4). Angesichts dieser außergewöhnlichen Situation, die sich der Kontrolle der Mitgliedstaaten entziehe, erscheine es notwendig, unverzüglich einen Unionsmechanismus zur Wahrung der Finanzstabilität in der EU einzuführen (Erwägungsgrund 5). Die Finanzstabilisierungsverordnung umreißt damit nur den Rahmen für das Instrumentarium eines finanziellen Beistands der Union. In der Rechtswissenschaft ist umstritten, ob eine hohe Staatsverschuldung bzw. eine drohende Zahlungsunfähigkeit, soweit sie in kausalem Zusammenhang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise steht, ein „außergewöhnliches Ereignis“ im Sinne des Art. 122 Abs. 2 AEUV sein kann. Es wird eine strenge Position vertreten, nach der Staatsverschuldung nicht als außergewöhnliches Ereignis subsumiert werden könne. Die Beistandsregelung des Art. 122 Abs. 2 AEUV komme 54 Schlussfolgerungen des Rates (Wirtschaft und Finanzen) vom 9. Mai 2010, Ratsdok. 9602/10; Begründung des Entwurfes für ein Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus , BT-Drs. 17/1685, S. 5, online abrufbar unter: http://dip21.bundestag .btg/dip21/btd/17/016/1701685.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 19 selbst dann nicht zum Tragen, wenn der drohende Staatsbankrott bzw. die ihn auslösende Überschuldung durch eine allgemeine globale Wirtschaftskrise mit verursacht sei.55 Eine andere Auffassung hält Art. 122 Abs. 2 AEUV zumindest dann für einschlägig, wenn es sich um eine plötzliche Finanz- und Wirtschaftskrise handelt und es außerhalb der Macht der Mitgliedstaaten lag, diese zu verhindern.56 Man müsse unterscheiden zwischen unsolider Haushaltspolitik und den Folgen der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise.57 3.1.1.2. Ist die Ermächtigung der Kommission zur Aufnahme von Anleihen auf den Kapitalmärkten oder bei Finanzinstituten in der Finanzstabilisierungsverordnung von der Rechtsgrundlage des Artikel 122 Absatz 2 AEUV gedeckt? Träger des finanziellen Beistandes ist nach Art. 122 Abs. 2 S. 1 AEUV ausschließlich die Union. Die Leistungen müssen demnach ausschließlich aus Unionsmitteln, d.h. zu Lasten des Unionshaushalts gewährt werden.58 Die für Ausgaben der Union zur Verfügung stehenden Mittel sind begrenzt und zum größten Teil für bestimmte Ausgaben zweckgebunden. Der finanzielle Beistand der EU muss folglich grundsätzlich durch eine Umschichtung des Haushalts unter Verzicht auf andere bereits beschlossene Ausgaben finanziert werden.59 Nach Art. 2. Abs. 1 S. 2 Finanzstabilisierungsverordnung wird die Kommission zur Finanzierung der Beistandsleistungen ermächtigt, auf den Kapitalmärkten oder bei Finanzinstituten im Namen 55 Vgl. Ruffert, Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. Januar 2010; Seidel, Der Euro – Schutzschild der Falle? ZEI Working Paper B01/2010, S. 8, online abrufbar unter: http://www.zei.de/download /zei_wp/B10-01.pdf (letzter Abruf. 14. Dezember 2010); vgl. Kerber, Währungsunion mit Finanzausgleich?, S. 7 ff, online abrufbar unter: http://www.europolis-online.org/fileadmin/PDF/PDF_2010/W%C3%A4hrungsunion _mit_Finanzausgleich_Europolis_Occasional_Paper.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 56 Frenz/Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei drohendem Staatsbankrott?, EWS 2010, S. 65 (68); Häde, Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW)2009, S. 399 (401); vgl. Gnan, in: Von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 28; vgl. Jeck/Van Roosebeke/Voßwinkel, Nach dem Sündenfall: Was jetzt zu tun ist, Studie des cep vom 10. Mai 2010, S. 5. Die Autoren weisen darauf hin, dass Marktentwicklungen, die auf Spekulationen zurückzuführen seien, nicht als außergewöhnliches Ereignis im Sinne des Art. 122 Abs. 2 AEUV zu zählen seien. Studie online abrufbar unter: http://www.cep.eu/fileadmin/user_upload/Weitere_Themen/Studie _Nach_dem_Suendenfall.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 57 Häde, Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, EuZW 2009, S. 399 (401). 58 S. zur inhaltsgleichen Vorgängervorschrift des Art. 100 Abs. 2 EGV: Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU- Kommentar, 2009, Art. 100, Rdnr. 7; Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 2007, Art. 100, Rdnr. 6; Kempen, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 100, Rdnr.11; Bandilla, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Band II, Art. 100, Rdnr. 11 (Stand: Oktober 2006). S. auch Seidel, Der Euro – Schutzschild oder Falle?, Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) Working Paper B01/2010, S. 9, online abrufbar unter: http://www.zei.de/download/zei_wp/B10-01.pdf (letzter Abruf : 14. Dezember 2010). 59 Seidel, Der Euro – Schutzschild der Falle? ZEI Working Paper B01/2010, S. 9, online abrufbar unter: http://www.zei.de/download/zei_wp/B10-01.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 20 der EU Anleihen aufzunehmen. Die Bestimmung regelt damit die Finanzierung des Beistands außerhalb 60 des Haushalts der EU. Die Ermächtigung für die Anleihetätigkeit der Kommission im Namen der EU wird hinsichtlich des Anleihevolumens durch die Festlegung der Höhe der daraus zu finanzierenden Darlehen oder Kreditlinien in Art. 2 Abs. 2 Finanzstabilisierungsverordnung begrenzt. Danach ist die Höhe der ausstehenden Darlehen oder Kreditlinien, die Mitgliedstaaten im Rahmen dieser Verordnung gewährt werden, auf den bei den Mitteln für Zahlungen bis zur Eigenmittel-Obergrenze vorhandenen Spielraum begrenzt.61 Fraglich ist, ob Art. 122 Abs. 2 AEUV zur Finanzierung eines finanziellen Beistands für notleidende Mitgliedstaaten durch die Begebung von Anleihen durch die Union selbst ermächtigt, wie es die Finanzstabilisierungsverordnung nun unter Berufung auf Art. 122 AEUV vorsieht. Diese Frage wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur diskutiert: 3.1.1.2.1. Befürwortende Ansicht Dabei wird einerseits vertreten, dass die Begebung von Anleihen als Finanzierungsart des Beistands im Rahmen von Art. 122 Abs. 2 AEUV zulässig sei.62 Dabei wird zum Teil ein Vergleich gezogen mit den Zahlungsbilanzhilfen, die Mitgliedstaaten, die nicht dem Euro-Währungsgebiet angehören, gem. Art. 143 AEUV gewährt werden können. Die sekundärrechtliche Umsetzung der Bestimmungen des Art. 143 Abs. 1 und 2 AEUV erfolgte durch die Verordnung (EG) Nr. 332/2002 des Rates vom 18. Februar 2002 zur Einführung einer Fazilität des mittelfristigen finanziellen Beistands zur Stützung der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten63. Auch in diesem System des mittelfristigen finanziellen Beistands könne einem Mitgliedstaat, der von Leistungs- und Kapitalschwierigkeiten betroffen sei, Darlehen gewährt werden, die durch Anleihen auf dem Kapitalmarkt refinanziert werden könnten (vgl. Art. 1 Abs. 2 der genannten Verordnung). Es sei daher davon auszugehen, dass diese Art der Finanzierung auch im Rahmen des Art. 122 Abs. 2 AEUV zulässig sei.64 60 Zur Stellung der Darlehensoperationen der EU im Haushaltsplan vgl. Europäische Kommission, Finanzverfassung der Europäischen Union, Luxemburg, 2009, S. 410, 61 Der Spielraum, der sich aus der Differenz zwischen den Mitteln für Zahlungen (1,09% des Bruttonationaleinkommens – BNE der EU) und der Eigenmittel-Obergrenze (1,23 % BNE) ergibt, beträgt für das Haushaltsjahr 2011 0,14 % des BNE der EU-27. Dies entspricht einem Betrag von 17,674 Mrd. Euro. Vgl. Mitteilung der Kommission KOM(2010) 160 endg. vom 16. April 2010 über die technische Anpassung des Finanzrahmens 2011 an die Entwicklung des BNE, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/budget/library/documents/multiannual_framework /2007_2013/comm_2010_160_de.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 62 Bandilla, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Band II, Art. 100, Rdnr. 11; Mégret/Waelbroeck /Louis/Vignes/Dewost/Vandersanden (Hrsg.), Le droit de la Communauté Européenne et de l’Union Europénne , Bd. 6, Le Droit de la CEE, Bruxelles 1995, S. 33. 63 Verordnung (EG) Nr. 332/2002 des Rates vom 18. Februar 2002 zur Einführung einer Fazilität des mittelfristigen finanziellen Beistands zur Stützung der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten, ABl. 2002 L 53, S. 1, online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2002:053:0001:0003:DE:PDF (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 64 Bandilla, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Band II, Art. 100, Rdnr. 11. Der Autor geht dabei nicht darauf ein, dass die Verordnung (EG) Nr. 332/2002 unter Heranziehung der Vertragsabrundungskompetenz des Art. 308 EGV erlassen wurde. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 21 3.1.1.2.2. Verneinende Ansicht Eine andere Ansicht in der Literatur spricht sich jedoch gegen eine solche Möglichkeit der anleihegestützten Finanzierung des finanziellen Beistands auf der Grundlage von Art. 122 Abs. 2 AEUV aus.65 Es wird darauf hingewiesen, dass der EU im AEUV keine ausdrückliche Ermächtigung zur Aufnahme von Krediten zugewiesen sei.66 Eine Ermächtigung zu Anleihen am Kapitalmarkt könne daher allenfalls auf die sog. Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV gestützt werden .67 Die Flexibilitätsklausel ermöglicht ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche, falls dies erforderlich erscheint, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen und in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind. Art. 352 AEUV fungiert damit als Auffangvorschrift der EU für jedwedes erforderliches Tätigwerden im Rahmen der in den Verträgen vorgesehenen Politikbereiche. 3.1.1.2.3. Bisheriges Vorgehen des Unionsgesetzgebers Der Unionsgesetzgeber hat bislang ein Vorgehen auf der Grundlage der Flexibilitätsklausel (Art. 352 AEUV, vormals Vertragsabrundungskompetenz gem. Art. 308 des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft - EGV) bevorzugt und verschiedene Rechtsakte, die die Begebung von Anleihen durch die Gemeinschaft an den Kapitalmärkten zulassen, hierauf gestützt.68 Dies gilt u. a. für das seit Ende 2008 mehrfach angewandte System der Gemeinschaftsanleihen 65 Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 2007, Art. 100, Rdnr. 5; ders., Finanzausgleich, Die Verteilung der Aufgaben, Ausgaben und einnahmen im Recht der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, 1996, S. 468 f; Seidel, Der Euro – Schutzschild der Falle? ZEI Working Paper B01/2010, S. 9, online abrufbar unter: http://www.zei.de/download/zei_wp/B10-01.pdf (Stand: 18. Mai 2010); vgl. auch Jeck/Van Roosebeke/Voßwinkel, Keinen Euro nach Athen tragen, Studie des Centrums für Europäische Politik (cep) vom März 2010, S. 14 ff., online abrufbar unter: http://www.cep.eu/fileadmin/user _upload/Weitere_Themen/CEP_Studie_Keinen_Euro_nach_Athen_tragen.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 66 Häde, Finanzausgleich, Die Verteilung der Aufgaben, Ausgaben und einnahmen im Recht der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, 1996, S. 466; Jeck/Van Roosebeke/Voßwinkel, Keinen Euro nach Athen tragen, Studie des Centrums für Europäische Politik (cep) vom März 2010, S. 14., online abrufbar unter: http://www.cep.eu/fileadmin/user_upload/Weitere_Themen/CEP_Studie_Keinen_Euro_nach_Athen_tragen.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 67 Vgl. Seidel, Der Euro – Schutzschild der Falle? ZEI Working Paper B01/2010, S. 9 ff., online abrufbar unter: http://www.zei.de/download/zei_wp/B10-01.pdf (Stand: 18. Mai 2010); Jeck/Van Roosebeke/Voßwinkel, Keinen Euro nach Athen tragen, Studie des Centrums für Europäische Politik (cep) vom März 2010, S. 14 ff., online abrufbar unter: http://www.cep.eu/fileadmin/user_upload/Weitere_Themen/CEP_Studie_Keinen _Euro_nach_Athen_tragen.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); vgl. Kempen, in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 100, Rdnr. 12; Häde, Häde, Finanzausgleich, Die Verteilung der Aufgaben, Ausgaben und einnahmen im Recht der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, 1996, S. 469 ff. 68 Frenz/Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei drohendem Staatsbankrott?, Europäisches Wirtschafts - und Steuerrecht (EWS) 2010, S. 65 (68); Häde, Finanzausgleich, Die Verteilung der Aufgaben, Ausgaben und einnahmen im Recht der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, 1996, S. 469. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 22 zur Stützung der Zahlungsbilanzen von EU-Mitgliedstaaten.69 Das Instrument der Zahlungsbilanzanleihe geht auf zwei Verordnungen des Rates aus dem Jahr 1975 zurück. Der Gemeinschaft wurde gestattet, Anleihen auf den Kapitalmärkten aufzunehmen und aus den Erlösen Darlehen an die Mitgliedstaaten zur Beseitigung ihrer Zahlungsbilanzdefizite auszureichen. Zentrale Erwägung für die Anwendung der Flexibilitätsklausel war die Gefährdung der in Art. 2 EWG-Vertrag bestimmten Gemeinschaftsziele eines reibungslosen Funktionierens des Gemeinsamen Marktes und der schrittweisen Annäherung und Koordinierung der Wirtschaftspolitik unter Wahrung der Stabilität.70 Im Jahre 2002 wurde unter Rückgriff auf die gleiche Kompetenzgrundlage die oben erwähnte Verordnung Nr. 332/2002 für den mittelfristigen finanziellen Beistand für Mitgliedstaaten erlassen , die nicht dem Euro-Währungsgebiet angehören.71 Ähnlich wie Art. 122 Abs. 2 AEUV, der einen „finanziellen Beistand der Union“ für alle Mitgliedstaaten der EU ermöglicht, sieht Art. 143 Abs. 2 AEUV grundsätzlich einen „gegenseitigen Beistand“ nur für die Mitgliedstaaten vor, die nicht dem Euro-Währungsgebiet angehören. Die Finanzstabilisierungsverordnung vom 11. Mai 2010 gleicht der Verordnung Nr. 332/2002 für den mittelfristigen finanziellen Beistand für Mitgliedstaaten ohne Euro-Währung insoweit, als dass beide Verordnungen eine Ermächtigung der Kommission vorsehen, auf den Kapitalmärkten oder bei Finanzinstituten im Namen der EU Anleihen aufzunehmen (Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 332/2002 bzw. Art. 2 Abs. 1 UAbs. 2 der Finanzstabilisierungsverordnung). Im 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 332/2002 heißt es, dass der Vertrag „Befugnisse für die Annahme dieser Verordnung, welche vorsieht, dass die Darlehen der Gemeinschaft ausschließlich über eine Inanspruchnahme der Kapitalmärkte zu gewähren sind und nicht durch andere Mitgliedstaaten finanziert werden dürfen, nur in Artikel 308“ (EGV), der Flexibilitätsklausel, enthält. Der Unionsgesetzgeber ging damit offenbar bislang im Rahmen der Zahlungsbilanzhilfen für Nicht-Euro-Mitgliedstaaten davon aus, dass die Ermächtigung zur Begebung von Anleihen auf die Flexibilitätsklausel gestützt werden muss.72 69 Das gemeinschaftliche Beistandssystem wurde seit Dezember 2008 durch die Gewährung von Zahlungsbilanzdarlehen im Gesamtumfang von insgesamt 14,6 Milliarden Euro an Ungarn (6,5 Milliarden Euro), Lettland (3,1 Milliarden Euro) und Rumänien (5 Milliarden Euro) in Anspruch genommen. 70 Gesmann-Nuissl, Die Verschuldungsbefugnis der Europäischen Union, 1999, S. 29 ff. 71 Sie unterschied sich insoweit von ihrem Vorläufer, als nun nicht mehr alle EU-Mitgliedstaaten in den Genuss des finanziellen Beistands kommen können, da die Staaten des Euro-Währungsgebiets gem. Art. 1 Abs. 1 S. 2 der Verordnung Nr. 332/2002 nicht mehr zum Adressatenkreis dieses Instruments der Zahlungsbilanzhilfe gehören . Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon ist die Anwendbarkeit des Instruments der Zahlungsbilanzhilfe nach Art. 143 i.V.m. Art. 139 Abs. 1 AEUV auf die Mitgliedstaaten außerhalb des Euro-Währungsgebiets beschränkt. 72 Vgl. hierzu Deutscher Bundestag, Bericht aus Brüssel 08/2010 vom 17. Mai 2010, S. 2 f., online abrufbar unter: http://www.bundestag.btg/Wissen/Europa/Berichte/2010_08.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Vgl. zur Thematik auch Seidel, Der Euro – Schutzschild der Falle? ZEI Working Paper B01/2010, S. 10., online abrufbar unter: http://www.zei.de/download/zei_wp/B10-01.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 23 Auch die Verwendung von Art. 352 AEUV als Kompetenzgrundlage ist jedoch umstritten, was an dieser Stelle indes nicht weiter vertieft wird, da dies nicht Gegenstand der Ausarbeitung ist.73 3.1.1.2.4. Fazit Ob Art. 122 Abs. 2 AEUV eine ausreichende Rechtsgrundlage für eine Ermächtigung der Union zur Begebung von Anleihen ist, ist in der rechtswissenschaftlichen Literatur umstritten. Der Unionsgesetzgeber hat bislang Verordnungen zur Stützung der Zahlungsbilanzen von Mitgliedstaaten, die zur Begebung von Anleihen ermächtigen, nicht auf die Vorgängerbestimmungen des Art. 143 AEUV sondern auf die Vorgängerbestimmungen der heutigen Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV gestützt. 3.1.2. Zweiter Pfeiler: Errichtung einer Zweckgesellschaft durch die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets 3.1.2.1. Das Modell der Zweckgesellschaft Die Gewährung von Krediten durch die von den Mitgliedstaaten der EU gegründete Zweckgesellschaft , deren Darlehenstätigkeit sich auf staatliche Garantien ihrer Gesellschafter stützt, muss sich an den Grenzen messen lassen, die die Bestimmungen der grundlegenden Verträge der EU finanziellen Hilfen für EU-Mitgliedstaaten setzen. Dies gilt insbesondere für die sog. No-Bail-Out- Klausel des Art. 125 Abs. 1 S. 2 AEUV. 3.1.2.2. Vereinbarkeit mit Artikel 125 AEUV Art. 125 Abs. 1 S. 1 AEUV sieht einen Haftungsausschluss der Union für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen vor. Gemäß Art. 125 Abs. 1 S. 2 AEUV haftet auch ein Mitgliedstaat nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens74. Dieser Haftungsausschluss ist ab Beginn 73 Vgl. hierzu Kempen, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 100, Rdnr. 12, Art. 120, Rdnr. 8; Gesmann-Nuissl, Die Verschuldungsbefugnis der Europäischen Union, 1999, S. 10; Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 2007, Art. 100, Rdnr. 5; Frenz/Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei drohendem Staatsbankrott?, EWS 2010, S. 65, 69 m.w.N., ausführlich und ablehnend: Häde, Finanzausgleich , Die Verteilung der Aufgaben, Ausgaben und einnahmen im Recht der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, 1996, S. 469 ff.; Jeck/Van Roosebeke/Voßwinkel, Keinen Euro nach Athen tragen, Studie des Centrums für Europäische Politik (cep) vom März 2010, S. 14 ff., online abrufbar unter: http://www.cep.eu/fileadmin/user_upload/Weitere_Themen/CEP_Studie_Keinen_Euro_nach_Athen_tragen.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); bejahend: Seidel, Der Euro – Schutzschild der Falle? ZEI Working Paper B01/2010, S. 9 f., online abrufbar unter: http://www.zei.de/download/zei_wp/B10-01.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 74 Der Ausschluss in Art. 125 Abs. 1 S. 2, 2. Halbsatz AEUV gilt nur für einzelne, konkrete Vorhaben, die entweder von zwei oder mehr Mitgliedstaaten bzw. Mitgliedstaaten und Union gemeinsam getragen werden, und nur für wechselseitige Garantien im Sinne von Bürgschaften bzw. gesamtschuldnerischer Haftung. Beispiele bilden das Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 24 der zweiten Stufe der Währungsunion, d. h. seit dem 1. Januar 1994, in Kraft (als Art. 103 EGV in der Fassung des Vertrags von Amsterdam bzw. als Art. 104b EGV in der Fassung des Vertrags von Maastricht). Die Norm ist ohne weitere innerstaatliche Umsetzung unmittelbar anwendbar.75 Nach Art. 125 Abs. 2 AEUV kann der Rat erforderlichenfalls auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die Definitionen für die Anwendung der in den Artikeln 123 und 124 sowie in diesem Artikel (Art. 125 AEUV) vorgesehenen Verbote näher bestimmen . Auf der Grundlage des Art. 125 Abs. 2 AEUV wurde die Verordnung (EG) Nr. 3603/9376 erlassen , die einzelne Tatbestandsmerkmale konkretisiert. Die Tatbestandsmerkmale „haften“ und „eintreten für Verbindlichkeiten“ werden jedoch nicht definiert. Die Norm des Art. 125 Abs. 1 AEUV ist insoweit eindeutig, als dass keine Beistandspflicht der Mitgliedstaaten füreinander besteht.77 Fraglich ist jedoch, ob Art. 125 AEUV der Gewährung von Krediten durch eine von Mitgliedstaaten der EU gegründete Zweckgesellschaft entgegensteht, deren Darlehenstätigkeit durch die Garantien der an ihr beteiligten Mitgliedstaaten ermöglicht wird. Umstritten ist grundsätzlich, ob die No-Bail-Out-Klausel ein letztlich „freiwilliges“ Eintreten für die Schulden eines Mitgliedstaates verbietet und ob die Gewährung von Krediten von dem Verbot des Art. 125 Abs. 1 AEUV erfasst ist. 3.1.2.2.1. Überwiegende Auffassung in der Literatur: Ausschluss von Hilfsleistungen Überwiegend wird in der deutschen Literatur vertreten, dass jegliche Form des finanziellen Eintretens der Mitgliedstaaten für Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats durch die Norm des Art. 125 Abs. 1 S. 2 AEUV ausgeschlossen sei.78 Ob hierunter auch die Gewährung von Krediten zu fassen ist, wird dabei jedoch nicht ausdrücklich erörtert. Kanaltunnelprojekt von Großbritannien und Frankreich, s. Kempen, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 103, Rdnr. 6. 75 Kempen, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 103, Rdnr. 3. 76 Verordnung (EG) Nr. 3603/93 des Rates vom 13. Dezember 1993 zur Festlegung der Begriffsbestimmungen für die Anwendung der in Artikel 104 und Artikel 104b Absatz 1 des Vertrages vorgesehenen Verbote, ABl. 1993 L 332/1. 77 Frenz/Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei drohendem Staatsbankrott?, Europäisches Wirtschafts - und Steuerrecht (EWS) 2010, S. 65 (67). 78 Vgl. die Kommentarliteratur zur Vorgängernorm des Art. 103 EGV: Gnan, in: Von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 23; Bandilla, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II, Stand: Januar 2000, Art. 103, Rdnr. 3; Kempen, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 103, Rdnr. 5; Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 103, Rdnr. 3; Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 3. Auflage 2007, Art. 103, Rdnr. 3; zur inhaltsgleichen Vorschrift im Verfassungsvertrag: Rodi, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-183, Rdnr. 4. Studien aus jüngster Zeit: Jeck/Van Roosebeke, Rechtsbruch durch Bail-out-Darlehen, Zu den Beschlüssen der Finanzminister der Euro-Staaten vom 11. April und vom 16. April 2010, Studie des Centrums für Europäische Politik (cep) vom 19. April 2010, S. 6 mit Hinweisen auf ältere Studien, online abrufbar unter: http://www.cep.eu/fileadmin/user_upload/Weitere_Themen/CEP_Analyse_Rechtsbruch_durch_Bail-out.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); Seidel, Der Euro – Schutzschild oder Falle, Working Paper B 01/2010 des Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 25 Diese Auffassung stützt sich im Wesentlichen auf folgende Argumente: Erstens wird auf den Wortlaut des Art. 125 Abs. 2 AEUV sowie die auf dieser Grundlage erlassene Verordnung (EG) Nr. 3603/03 verwiesen. Sowohl Art. 125 Abs. 2 AEUV als auch die Verordnung sprechen von den in Art. 125 Abs. 1 AEUV vorgesehenen „Verboten“. Dies lege das Verständnis nah, dass finanzielle Hilfsleistungen tatsächlich verboten seien79 und nicht nur eine Beistandsverpflichtung ausgeschlossen wird.80 Zweitens wird der Sinn und Zweck des Art. 125 Abs. 1 AEUV angeführt: Art. 125 AEUV soll nach der Denkschrift zum Vertrag von Maastricht die Eigenverantwortung jedes einzelnen Mitgliedstaates für seine Staatsverschuldung sichern.81 Art. 125 AEUV ist neben dem Verbot der monetären Finanzierung gemäß Art. 123 AEUV und dem Verbot des bevorrechtigten Zugangs des öffentlichen Sektors zu Finanzinstituten nach Art. 124 AEUV der dritte Grundsatz, der das Gebot zu disziplinierter Haushaltsführung nach Art. 126 AEUV abstützen soll.82 Art. 125 AEUV bezweckt nach der Literatur konkret, die Mitgliedstaaten auch hinsichtlich der Bewertung ihrer Bonität gleich den privaten Kreditnehmern den Kapitalmärkten auszusetzen.83 Dies bedeute, dass der Staat bei steigender Verschuldung wie jeder andere Kreditnehmer mit steigenden Grenzkosten der Kreditaufnahme konfrontiert sein muss. 84 Könnte ein Staat sich darauf verlassen, dass die Union oder die anderen Mitgliedstaaten in finanziellen Schwierigkeiten hülfen – etwa, um eine Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI), S. 3 f, online abrufbar unter: http://www.zei.de/download /zei_wp/B10-01.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); Kerber, Währungsunion mit Finanzausgleich? Eine Klarstellung zur Legalität von Finanzhilfen für Finanznotstandsstaaten der Eurozone, S. 5 ff, online abrufbar unter: http://www.europolis-online.org/index.php?id=35&tx_ttnews[tt_news]=27&tx_ttnews[back- Pid]=2&cHash=3398022d80 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); vgl. Frenz/Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei drohendem Staatsbankrott?, EWS 2010, S. 65 (67); Schwarzer/Dullien, Policy options for Greece – an evaluation, Working Paper FG 1, 2010/01, März 2010 der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), S. 3, online abrufbar unter: http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=6919 (letzter Abruf : 14. Dezember 2010). 79 Frenz/Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei drohendem Staatsbankrott, EWS 2010, S. 65 (67). 80 Der Wortlaut wird jedoch auch in die entgegengesetzte Richtung ausgelegt und allein Art. 125 Abs. 1 AEUV betrachtet : So sei anders als nach Art. 123 und Art. 124 AEUV nach Art. 125 Abs. 1 AEUV nichts ausdrücklich „verboten“. Vgl. Pernice, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. März 2010, „Rettung statt Rausschmiss“. Dies könnte dafür herangezogen werden, in Art. 125 Abs. 1 AEUV kein Verbot einer „freiwilligen“ Unterstützung zu sehen. 81 Denkschrift zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union, BR-Drs. 500/92, S. 90. Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Norm: Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, Mannheim 1997, S. 341 ff.; Gnan, in: Von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 9 ff. 82 Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 103, Rdnr. 1; Gnan, in: Von der Groeben /Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 2. 83 Häde, Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2009, S. 399 (402). 84 Gnan, in: Von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 2; Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 103, Rdnr. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 26 mögliche Finanzkrise in der Währungsunion insgesamt zu vermeiden – oder aus Solidaritätsüberlegungen – würde der Zwang zu einer soliden Finanzgebarung ausgehöhlt werden.85 Drittens wird ein systematisches Argument erwogen. So wird ein Vergleich zur Möglichkeit des Beistands bei Zahlungsbilanzkrisen für Mitgliedstaaten, die nicht der Euro-Zone angehören gezogen : Da es in Artikeln 143 und 144 AEUV für solche Staaten ausdrückliche Regelungen zum Beistand bei Zahlungsbilanzkrisen gebe, jedoch nicht für Mitgliedstaaten mit Zugehörigkeit zum Euro-Währungsgebiet86, liege es nahe, dass eine entsprechende Regelung bestünde, falls ein Beistandsrecht zwischen Mitgliedstaaten mit Euro-Währung möglich sein sollte.87 Gleichwohl wird von einigen Autoren in diesem Zusammenhang auch auf die praktischen Probleme eines derart strengen Ausschlusses jeder Hilfsleistung hingewiesen: Eine solch weitgehende Regelung sei im Ernstfall kaum durchsetzbar, da eine Art Solidarhaftung für hochverschuldete Länder wohl unvermeidbar wäre.88 So sei es kaum vorstellbar, dass die Union die Insolvenz eines Mitgliedstaats und alle damit verbundenen Folgen gerade für die Währungsunion hinnehmen würde.89 Die Pflicht zur Solidarität sei auch in Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUV als zentrale Zielbestimmung auf Unionsebene verankert.90 3.1.2.2.2. Andere Auffassung: Keine Anwendung des Artikel 125 AEUV auf Kredite Bislang wurde in der Literatur auch die Auffassung vertreten, dass die Gewährung eines Kredits nicht unter Art. 125 Abs. 1 S. 2 AEUV zu subsumieren sei. Denn bei der Gewährung eines Kredits erfolge kein Eintritt in bestehende Schuldverhältnisse.91 Darüber hinaus seien derartige Finanzhilfen an eine „Konditionalität“ zu knüpfen.92 Bei den Zahlungsbilanzhilfen nach Artikeln 143 und 144 AEUV wird die „Konditionalität“ durch die Verknüpfung der schrittweisen Auszahlung 85 Gnan, in: Von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 4; Bandilla, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II, Stand: Januar 2000, Art. 103, Rdnr. 1. 86 Artikel 143 und 144 AEUV gelten nur für einen „Mitgliedstaat, für den eine Ausnahmeregelung gilt“. Gem. Art. 139 Abs. 1 AEUV sind „Mitgliedstaaten, für die eine Ausnahmeregelung gilt“ solche Mitgliedstaaten, für die der Rat nicht beschlossen hat, dass sie die erforderlichen Voraussetzungen für die Einführung des Euros erfüllen. 87 Frenz/Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei drohendem Staatsbankrott, EWS 2010, S. 65 (67). 88 Auf diese Kritik weisen hin: Rodi, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-183, Rdnr. 1; Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 103, Rdnr. 4; Gnan, in: von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 5 mit weiteren Nachweisen . 89 Häde, in: Calliess/Ruffert, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 3. Auflage 2007, Art. 103, Rdnr. 9. 90 Frenz/Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei drohendem Staatsbankrott, EWS 2010, S. 65 (67). 91 Gnan, in: Von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 28. 92 Gnan, in: Von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 28. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 27 des Darlehens (in sog. Tranchen) mit der Erfüllung vorgegebener wirtschafts- und haushaltspolitischer Ziele durch den Empfängerstaat hergestellt.93 Eine solche Konditionalität ist nach den Festlegungen über den europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus insofern vorgesehen, als seine Aktivierung strengen wirtschaftspolitischen Auflagen für die Empfängerstaaten unterliegt, die denen des IWF vergleichbar sind.94 Diese Argumentationslinie wurde auch vom Präsidenten der Eurogruppe, Jean-Claude Juncker, in der Diskussion um die bilateralen Finanzhilfen für Griechenland95 vertreten: Beistandskredite seien kein Bail-Out, weil sie ja zurückgezahlt würden.96 Auch der Präsident der EZB Jean-Claude Trichet ist der Ansicht, dass Kredite keine Transferzahlungen seien, die unter das Bail-Out-Verbot fielen. Denn Kredite hätten Kosten und seien an strikte Bedingungen geknüpft.97 Als Gegenargument wird angeführt, dass der Kreditgeber wiederum doch während der Laufzeit des Kredits das Risiko trage.98 3.1.2.2.3. Auffassung der Bundesregierung: Regelungslücke im Primärrecht Die Bundesregierung hat bzgl. des Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetzes, das bilaterale Hilfen für Griechenland in Form von Krediten ermöglicht, die Auffassung vertreten, dass der Sachverhalt einer unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit eines Staates der Euro-Zone und die damit verbundene erhebliche Gefährdung der Finanzstabilität der Währungsunion in den Verträgen, insbesondere 93 Art. 5 i.V.m. Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 332/2002 des Rates vom 18. Februar 2002 zur Einführung einer Fazilität des mittelfristigen finanziellen Beistands zur Stützung der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten, online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2002:053:0001:0003:DE:PDF (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Vgl. auch Bandilla, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II, Stand: Oktober 2006, Art. 100, Rdnr. 12. 94 Vgl. Schlussfolgerungen des Rates ECOFIN vom 9. Mai 2010, Ratsdok. 9602/10 sowie § 1 Abs. 1 S. 2 des Entwurfs eines Gesetzes zur Übernahme der Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus , BT-Drs. 17/1685. 95 Rohleder/Zehnpfund/Sinn, Bilaterale Finanzhilfen für Griechenland - Vereinbarkeit mit Artikel 125 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Info-Brief WD 11 – 3000 – 103/10, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, 3. Mai 2010, abrufbar unter: http://www.bundestag.btg/ButagVerw/Abteilungen /W/Ausarbeitungen/Einzelpublikationen/Ablage/2010/Bilaterale_Finan_1273039033.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 96 Vgl. das Interview mit Jean-Claude Juncker im Deutschlandradio vom 12. April 2010, Wortlaut online abrufbar unter: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1161122/ (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. März 2010, „EU einigt sich auf Notfallplan“, online abrufbar unter : http://www.faz.net/s/Rub3ADB8A210E754E748F42960CC7349BDF/Doc~E76AAD959580147B2BA071EA9981F 3485~ATpl~Ecommon~Scontent.html (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 97 Reuters, Trichet - Zähle bei Stabilitätspakt-Reform auf Deutschland, Artikel vom 29. April 2010, online abrufbar unter: http://de.reuters.com/article/topNews/idDEBEE63S0LA20100429 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); Reuters, Künftiger EZB-Vize hat nichts gegen Griechenland-Kredite, online abrufbar unter: http://de.reuters .com/article/economicsNews/idDEBEE62M0CL20100323 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 98 Nienhaus, „Bereit zum Bailout“, Finanz und Wirtschaft vom 14. April 2010, online abrufbar unter: http://epaper .fuw.ch/files/epaper/publications/fw/fw14042010/pdf/fw_fw14042010_Frontseite_001_front.pdf (letzter Abruf : 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 28 in Art. 125 AEUV nicht geregelt seien.99 Vielmehr sei man davon ausgegangen, dass Zahlungsproblemen eines Mitgliedstaates durch den Stabilitätspakt und das Defizitverfahren angemessen entgegengewirkt werden würde. Da Art. 125 AEUV insoweit eine Lücke100 enthalte, könnten bilaterale Hilfen zugunsten dieses Mitgliedstaates als ultima ratio zur Abwendung der Gefahren für die Finanzstabilität des gesamten Euroraums in Betracht gezogen werden. Bei unmittelbar bevorstehender Gefahr für die Funktionsfähigkeit der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und für die Finanzmarktund Währungsstabilität könne die Rechtsfolge nicht Handlungsunfähigkeit sein.101 Diese Argumentation wird in der Begründung des Gesetzentwurfs zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus aufgenommen: Mit der Errichtung der Zweckgesellschaft werde als ultima ratio die Sicherstellung der Finanzstabilität in der Europäischen Währungsunion bezweckt. Eine Vereinbarkeit mit den Regeln über die Wirtschafts - und Währungspolitik im Titel VIII des Dritten Teils des AEUV sei damit gegeben.102 3.2. Weiterführung der juristischen Diskussion nach Implementierung der Maßnahmen Nach Implementierung des europäischen Stabilisierungsmechanismus sind weitere Aufsätze erschienen , die sich mit der Vereinbarkeit der Stabilisierungsmechanismus mit dem AEUV und teilweise auch dem Grundgesetz (GG) beschäftigen. Alle Autoren sehen in den beschlossenen Maßnahmen einen Verstoß gegen das Recht der EU: Kube/Reimer sehen in dem europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus einen Verstoß gegen sowohl Art. 123 AEUV als auch Art. 125 AEUV. Wenn Deutschland, die KfW veranlasse, Kredite an notleidende Staaten zu vergeben, würde das gegen Art. 123 Abs. 1 AEUV verstoßen. Dies wird mit einem Umkehrschluss aus Art. 123 Abs. 2 AEUV begründet: Nach dieser Vorschrift sind öffentliche Kreditinstitute ausdrücklich auf Seiten des Darlehensnehmers vom Verbot der Darlehensvergabe an z. B. Mitgliedstaaten gemäß Art. 123 Abs. 1 ausgenommen. Auf Seiten des Darlehensgebers sollen sie daher dem Verbot des 123 Abs. 1 AEUV unterliegen. Auch Kube/Reimer stützen ihre Einschätzung der Rechtswidrigkeit vor allem auf einen Verstoß gegen Art. 125 Abs. 1 99 S. Bundesministerium der Finanzen, Bericht über die wesentlichen europa- und verfassungsrechtlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz, Bericht für die Sitzung des Rechtsausschusses am 5. Mai 2010, Finanzausschuss, Ausschuss-Drucksache 17(7)051. 100 Auch in der Literatur wird darauf hingewiesen, dass es auf unionsrechtlicher Ebene allgemein an institutionellen Regelungen für den Fall des Staatsbankrotts eines Mitglieds der EU fehle. Vgl. hierzu Fuest, Stabile fiskalpolitische Institutionen für die Europäische Währungsunion, Wirtschaftsdienst, X/1993, S. 539, 544 f; Konrad, Schuldenkrise in der Europäischen Union, Wirtschaftsdienst 2010/3; kritisch: Gnan, in: Von der Groeben /Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 103, Rdnr. 5 f. 101 Bundesministerium der Finanzen, Bericht über die wesentlichen europa- und verfassungsrechtlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz, Bericht für die Sitzung des Rechtsausschusses am 5. Mai 2010, Finanzausschuss, Ausschuss-Drucksache 17(7)051, S. 2. 102 Entwurf eines Gesetzes zur Übernahme der Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus , BT-Drs. 17/1685, S. 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 29 AEUV. Insbesondere sei die Errichtung der Zweckgesellschaft eine Umgehung der Haftungsverbote aus Art. 125 Abs. 1 AEUV und damit als Missbrauch rechtswidrig.103 Der Verstoß gegen Art. 125 Abs. 1 AEUV sei zudem nicht unter Anwendung des Art. 122 Abs. 2 AEUV zu rechtfertigen, da die Art. 123, 125 AEUV insofern lex specialis seien und nicht andersherum.104 Zudem sei die Finanzkrise schon kein außergewöhnliches Ereignis außerhalb der Kontrolle der Mitgliedstaaten im Sinne der Vorschrift. Ferner ermögliche Art. 122 Abs. 2 AEUV lediglich Finanzhilfen der Union selbst und nicht bilaterale Hilfen der Mitgliedstaaten. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe kämen angesichts der Existenz geschriebener nicht in Betracht. Die Lösung liege allein in einer Änderung der Verträge, z. B. durch Aufhebung der Verbote in Art. 123, 125 AEUV.105 Faßbender ist ebenfalls der Auffassung das der europäische Stabilisierungsmechanismus sowohl gegen Europarecht als auch gegen das Grundgesetz verstößt. Zur Begründung der Unvereinbarkeit mit Art. 125 Abs. 1 AEUV verweist er auf den Wortlaut der Norm, ihre Entstehungsgeschichte und insbesondere auf ihren Zweck, die Mitgliedstaaten zu einer disziplinierten Haushaltsführung anzuhalten. Außerdem gebiete der Effet utile, am Verbot der Hilfeleistung auch während einer Finanzkrise festzuhalten, weil es sonst an Glaubwürdigkeit verliere und dies mittel - oder langfristig die Stabilität des Euro erheblich gefährden würde.106 Ein Rückgriff auf Art. 122 Abs. 2 AEUV sei nicht möglich, da eine hausgemachte Staatsverschuldung keine außergewöhnliches Ereignis im Sinne der Vorschrift sei.107 Selbst wenn die Weltfinanzkrise als ein solches einzustufen sei, vermöge Art. 122 Abs. 2 AEUV nach ihrem klaren Wortlaut aber lediglich eine Hilfe der EU selbst, keinesfalls aber bilaterale Finanzhilfen zu rechtfertigen. Zur Lösung der Krise schlägt er vor, Regelungen zur Umschuldung hochverschuldeter Mitgliedsstaaten zu treffen und/oder Abschläge bei den Gläubigern betroffener Staatspapiere durchzusetzen.108 Zudem hält Faßbender ein (vorübergehendes) Ausscheiden hoffnungslos überschuldeter Mitgliedstaaten oder Deutschlands aus der Währungsunion für rechtlich möglich.109 Auch Brück/Schalast/Schanz kommen zu dem Schluss, dass sowohl das deutsche Zustimmungsgesetz zu den Finanzhilfen für Griechenland als auch das Zustimmungsgesetz zur Errichtung des europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus gemessen am Europarecht und am Grundgesetz 103 Kube/Reimer: Grenzen des Europäischen Stabilisierungsmechanismus, NJW 2010, S. 1911 (1913). 104 Kube/Reimer: Grenzen des Europäischen Stabilisierungsmechanismus, NJW 2010, S. 1911 (1914). 105 Kube/Reimer: Grenzen des Europäischen Stabilisierungsmechanismus, NJW 2010, S. 1911 (1916). 106 Faßbender: Der europäische Stabilisierungsmechanismus“ im Lichte von Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht , NVwZ 2010, 799, 800 u.a. unter Verweis auf Frenz/Ehlens, EWS 2010, S. 35 (65, 69f.). 107 Faßbender: Der europäische Stabilisierungsmechanismus“ im Lichte von Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht , NVwZ 2010, S. 799 (800). 108 Faßbender: Der europäische Stabilisierungsmechanismus“ im Lichte von Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht , NVwZ 2010, S. 799 (803) in Anlehnung an Fuest, Die „bessere Alternative“, FAZ v. 21.05.2010, S. 14. 109 Faßbender: Der europäische Stabilisierungsmechanismus“ im Lichte von Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht , NVwZ 2010, S. 799 (803). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 30 rechtswidrig sind.110 Unter Berufung auf die bekannten Argumente (Wortlaut, Zweck und Entstehungsgeschichte ) sind sie der Auffassung, dass Art. 125 Abs. 1 AEUV ein umfassendes Hilfsverbot darstelle und auch freiwillige Hilfeleistungen zwischen den Mitgliedstaaten verbiete. Eine Rechtfertigung auf der Grundlage von Art. 122 Abs. 2 AEUV halten sie mit Blick darauf nicht für möglich, dass die Norm aufgrund ihrer systematischen Stellung keinen Ausnahmetatbestand darstelle . Zudem sei mehr als zweifelhaft, ob ein übermäßiges Haushaltsdefizit ein außergewöhnliches Ereignis im Sinne des Art. 122 Abs. 2 AEUV darstelle, dass sich der Kontrolle des jeweils hilfsbedürftigen Mitgliedsstaates entzogen habe, da auf dem langen Weg in die missliche Finanzsituation eine haushaltspolitische Kontrolle der politisch Verantwortlichen gestanden habe.111 Weiter führen sie aus, dass die Errichtung der Zweckgesellschaft zur Umgehung des Verbots aus Art. 125 Abs. 2 AEUV gegen den allgemeinen europarechtlichen Missbrauchsvorbehalt verstoße .112 Im Ergebnis plädieren sie de lege ferenda für die ausdrückliche Regelung einer Insolvenz für EU-Mitgliedstaaten oder einer eng umgrenzten Ausnahme zu Art. 125 Abs. 1 AEUV, die die Hilfeleistung als absolute ultima ratio zulasse. Aus alledem zeigt sich, dass auch im Nachgang zur Implementierung des Rettungsschirmes keine neuen Argumente für oder gegen seine Rechtmäßigkeit entwickelt wurden. 110 Brück/Schalast/Schanz, Finanzkrise letzter Akt: Die deutschen Zustimmungsgesetze zur Griechenlandfinanzhilfe und zum Europäischen Stabilisierungsmechanismus, Betriebsberater (BB) 2010, S. 2522-2527. 111 Brück/Schalast/Schanz, Finanzkrise letzter Akt: Die deutschen Zustimmungsgesetze zur Griechenlandfinanzhilfe und zum Europäischen Stabilisierungsmechanismus, BB 2010, S. 2522 (2525). 112 Brück/Schalast/Schanz, Finanzkrise letzter Akt: Die deutschen Zustimmungsgesetze zur Griechenlandfinanzhilfe und zum Europäischen Stabilisierungsmechanismus, BB 2010, 2522, 2525 unter Verweis auf Kube/Reimer, NJW 2010, 1911, 1913 und Frenz/Ehlens, EWS 2010, S. 35 (65, 67). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 31 4. Finanzieller Beistand für Irland Die Republik Irland hat am 21. November 2010 offiziell Finanzhilfe im Rahmen eines gemeinsamen EU-IWF-Programms beantragt. In einer Sondersitzung der Eurogruppe und des Rates ECO- FIN am 28. November 2010 haben sich die EU-Finanzminister sowohl auf ein Rettungspaket in Höhe von 85 Mrd. Euro über 36 Monate als auch auf ein Anpassungsprogramm als Konditionierung geeinigt.113 Irland selbst beteiligt sich durch Rückgriffe auf die Liquiditätsreserve der Finanzverwaltung und Beiträge aus den nationalen Pensionsreservefonds mit 17,5 Mrd. Euro. Die Nicht-Euro-Mitgliedstaaten Großbritannien, Schweden und Dänemark beteiligen sich mit bilateralen Darlehen in Höhe von insgesamt 4,8 Mrd. Euro. Der IWF wird Irland 22,5 Mrd. Euro im Rahmen einer erweiterten Fondsfazilität bereitstellen. Der Beitrag der EU aus dem Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (ESFM) beträgt 22,5 Mrd. Euro. Ergänzend stellen die Euro- Länder Irland Darlehen aus der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) in Höhe von 17,7 Mrd. Euro zur Verfügung. Der Rat ECOFIN hat am 7. Dezember 2010 einen Beschluss über das Hilfspaket getroffen.114 Es wurde außerdem eine Empfehlung angenommen mit dem Ziel, das übermäßige Defizit in Irland zu beenden.115 4.1. Voraussetzungen für die Gewährung finanzieller Unterstützung durch den ESFM Der Beschluss des Rates über die Gewährung finanzieller Unterstützung für Irland aus dem ESFM ist auf den AEUV und die Art. 122 Abs. AEUV konkretisierende Verordnung Nr. 407/2010 des Rates vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (im Folgenden: Verordnung Nr. 407/2010) – insbesondere Art. 3 Abs. 3 der Verordnung - gestützt .116 Nach Art. 122 Abs. 2 AEUV kann einem Mitgliedstaat, der aufgrund außergewöhnlicher Ereignisse, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist, ein finanzieller Beistand der Union gewährt werden (vgl. auch Art. 1 der Verordnung Nr. 407/2010). Nach Erwägungsgrund 2 der Verordnung Nr. 113 Erklärung der Euro-Gruppe und der ECOFIN-Minister vom 28. November 2010, online abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ecofin/118051.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 114 ; vgl. den abgeänderten Vorschlag der Kommission für einen Beschluss des Rates über einen finanziellen Beistand der Union für Irland, SEK(2010) 1516 endg., online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=COM:2010:0730:FIN:DE:PDF (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 115 ; vgl. die Empfehlung der Kommission für eine Empfehlung des Rates mit dem Ziel, das übermäßige öffentliche Defizit in Irland zu beenden, SEK(2010) 1515 endg., online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=SEC:2010:1515:FIN:DE:PDF (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 32 407/2010 können solche Schwierigkeiten durch eine ernsthafte Verschlechterung der internationalen Wirtschafts- und Finanzlage verursacht werden. In den Erwägungsgründen 3 und 4 der Verordnung Nr. 407/2010 wird darauf abgestellt, dass die beispiellose Weltfinanzkrise und der globale Konjunkturrückgang, die die Welt in den beiden letzten Jahren erschütterten, das Wirtschaftswachstum und die Finanzstabilität schwer beeinträchtigt und die Defizit- und Schuldenposition der Mitgliedstaaten stark verschlechtert haben. Die Verschärfung der Finanzkrise habe für mehrere Mitgliedstaaten des Eurogebietes zu einer gravierenden Verschlechterung der Kreditkonditionen geführt, die darüber hinausgeht, was sich durch Fundamentaldaten erklären ließe. Damit sind die ökonomischen Voraussetzungen für die Gewährung eines finanziellen Beistands aus dem ESFM abgesteckt. Nach Art. 3 Abs. 3 lit. b und c der Verordnung 407/2010 ist der Beschluss über die Gewährung von Darlehen erstens mit allgemeinen wirtschaftspolitischen Bedingungen zu verknüpfen, um eine solide wirtschaftliche und finanzielle Situation in dem begünstigten Mitgliedstaat und dessen eigene Finanzierungsfähigkeit auf den Finanzmärkten wiederherzustellen (diese Bedingungen werden von der Kommission in Abstimmung mit der EZB festgelegt) und zweitens mit einer Billigung des Sanierungsprogramms, das der begünstigte Mitgliedstaat aufgestellt hat, um die mit dem finanziellen Beistand der Union verknüpften wirtschaftlichen Bedingungen zu erfüllen. 4.2. Voraussetzung für die Gewährung finanzieller Unterstützung durch die EFSF Nach dem Gründungsvertrag des EFSF ist Zweck der Gesellschaft, Mitgliedstaaten der EU mit finanziellen Schwierigkeiten, deren Währung der Euro ist und die mit der Kommission eine Absichtserklärung (memorandum of understanding) unterzeichnet haben, welche politische Auflagen enthält, die Finanzierung zu erleichtern oder Finanzmittel zur Verfügung zu stellen.117 Auch der Rahmenvertrag nennt als Voraussetzung für den Abschluss der Darlehensvereinbarungen über eine Darlehensfazilität lediglich, dass die eine solche Vereinbarung begehrenden Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets Absichtserklärungen mit der Europäischen Kommission abschließen . Diese Absichtserklärungen sollen die Haushaltsdisziplin und die wirtschaftspolitischen Leitlinien der jeweiligen Staaten und ihre Einhaltung regeln. 118 Ziffer 2 (7) des Rahmenvertrages setzt zwar voraus, dass der Mitgliedstaat in finanzielle Schwierigkeiten gerät, nennt aber ansonsten nur die formellen Voraussetzungen für eine Antragstellung. Nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus119 ist Voraussetzung für die Übernahme der Gewährleistung durch die Zweckgesellschaft ebenfalls lediglich, dass der betroffene Mitgliedstaat mit dem IWF 117 Der Gründungsvertrag ist online abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_1270/DE/Wirtschaft __und__Verwaltung/Europa/20100609-Schutzschirm-Euro-Anlage-2,templateId=raw,property=publication File.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 118 Erwägungsgrund 2 des Rahmenvertrages, online abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium .de/nn_1270/DE/Wirtschaft__und__Verwaltung/Europa/20100609-Schutzschirm-Euro-Anlage__1,template Id=raw,property=publicationFile.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 119 Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus vom 22. Mai 2010, BGBl. I S. 627. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 33 und der Kommission unter Mitwirkung der EZB ein wirtschafts- und finanzpolitisches Programm vereinbart hat und dass dies von den Staaten des Euro-Währungsgebiets einvernehmlich gebilligt wird. Die Gefährdung der Zahlungsfähigkeit eines Mitgliedstaates des Euro-Währungsgebiets ist zuvor durch die Staaten des Euro-Währungsgebiets unter Ausschluss des betroffenen Landes gemeinsam mit dem IWF und der EZB einvernehmlich festzustellen. 4.3. Wirtschaftliche Situation in Irland Eine detaillierte makroökonomische Prognose für Irland ist in einem Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen enthalten.122 122 Detailed macroeconomic projections, enthalten im Commission Staff Working Paper, Ireland financial assistance programme documents, Accompanying document to the Proposal for a Council decision on granting Union financial assistance to Ireland, COM(2010) 730, SEC(2010) 1516 endg., S. 38, online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=SEC:2010:1516:FIN:EN:PDF (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 34 Mit dem Beschluss des Rates vom 7. Dezember 2010 wurde ferner das von den irischen Behörden erstellte Anpassungsprogramm genehmigt. Zusätzlich wurden Irland konkrete wirtschaftspolitische Anpassungsmaßnahmen als Kondition für die Gewährung der Hilfe auferlegt (Art. 3 des Beschlusses ). Die Einzelheiten finden sich in einer Absichtserklärung (Memorandum of understanding ), vgl. Art. 2 und 3 des Beschlusses.123 123 Ireland Memorandum of Understanding on Specific Policy Conditionality, 2 December, 2010, enthalten im Commission Staff Working Paper, Ireland financial assistance programme documents, Accompanying document to the Proposal for a Council decision on granting Union financial assistance to Ireland, COM(2010) 730, SEC(2010) 1516 endg., S. 17 ff. online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ .do?uri=SEC:2010:1516:FIN:EN:PDF (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 35 5. In Rechtswissenschaft und Politik diskutierte Möglichkeiten des Ausscheidens eines Mitgliedstaats aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion124 5.1. Hintergrund: Die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion Die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die auch eine stabile einheitliche Währung umfasst, gehört seit dem Vertrag von Maastricht, der zum 1. Januar 1993 in Kraft trat, zu den vorrangigen Zielen der Europäischen Union (EU). Der WWU liegen die Prinzipien stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz zugrunde, auf die sich die Mitgliedstaaten der EU mit Vertragsschluss verständigten. Diese Grundsätze wurden in Art. 4 des Vertrags zur Gründung der Europäische Gemeinschaft (EGV) niedergelegt; die Zielbestimmungen und die konkreten Handlungsermächtigungen wurden in Artikel 98 bis 124 EGV ausgeformt. Weitere Protokolle – insbesondere über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und der Europäischen Zentralbank (EZB) – sowie sieben Erklärungen einzelner Mitgliedstaaten vervollständigten den primärrechtlichen Rahmen der WWU. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 sind die Kernbestimmungen zur WWU in Titel VIII des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) festgehalten; dessen Kapitel 4 (Art. 136 bis 138 AEUV) enthält besondere Bestimmungen für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist. Die WWU stellt sich als dreistufiger Prozess der Harmonisierung der Wirtschafts- und Währungspolitik der Mitgliedstaaten dar, mit dem die Einführung des Euro als gemeinsame Währung ermöglicht werden soll. Während der ersten Stufe, die den Zeitraum bis zum 31. Dezember 1993 umfasste , wurde der Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten liberalisiert, die Mitgliedstaaten stimmten ihre Wirtschaftspolitiken enger ab und die Zentralbanken der Mitgliedstaaten verstärkten ihre Zusammenarbeit. Nach der Ratifizierung des Vertrags von Maastricht begann zum 1. Januar 1994 die zweite Stufe der WWU. Sie diente als Übergangsphase der direkten Vorbereitung auf die Einführung der gemeinsamen Währung. Mit dem Ziel der Sicherung der Preisstabilität und der Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite wurden Kriterien für die Konvergenz der nationalen Wirtschafts- und Währungspolitiken entwickelt. Zugleich wurden Mechanismen etabliert, mit denen zunächst die Erfüllung dieser Kriterien erzielt und später ihre dauerhafte Einhaltung überwacht werden konnte: die Koordinierung der nationalen Wirtschafts- und Haushaltspolitiken und das Verfahren bei übermäßigem öffentlichen Defizit. Um diese zu garantieren, schlossen die Mitgliedstaaten 1997 den sog. Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP)125, in dem die im EGV vorgesehe- 124 Die folgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf der Ausarbeitung von Zehnpfund/Sinn, Modelle für das Ausscheiden eines Teilnehmerstaates der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, WD 11 – 3000 – 63/10. 125 Der ursprünglich als völkerrechtlicher Vertrag („Pakt“) zwischen den Mitgliedstaaten der EU konzipierte und schließlich sekundärrechtlich kodifizierte SWP besteht formal aus der Entschließung des Europäischen Rates vom 17. Juni 1997 und den Verordnungen des Rates (EG) 1466/977 sowie (EG) 1467/978, die beide zum 1. Januar 1999 in Kraft traten. Beide Verordnungen wurden mit Erlass der Verordnungen des Rates (EG) Nr. 1055/059 sowie (EG) Nr. 1056/0510 am 27. Juni 2005 mit Wirkung vom 27. Juli 2005 geändert. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 36 nen Instrumente der Koordinierung und das Defizitverfahren präzisiert wurden. Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich, übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden und mittelfristig einen nahezu ausgeglichenen oder Überschüsse aufweisenden Haushalt zu erreichen. Mit Beginn der dritten Stufe der WWU zum 1. Januar 1999 wurden die Wechselkurse der Währungen der Mitgliedstaaten126 unwiderruflich festgelegt, in denen an demselben Tage die gemeinsame Währung (Euro) eingeführt wurde. Betraf diese Währungseinführung zunächst nur die Devisenmärkte sowie den elektronischen Zahlungsverkehr, trat der Euro zum 1. Januar 2002 auch als Bargeld an die Stelle der Währungen dieser Mitgliedstaaten. Vier der seinerzeit 15 Mitgliedstaaten der EU nahmen nicht an der dritten Stufe der WWU teil: auf Dänemark und das Vereinigte Königreich fanden zwei Ausnahmeklauseln127 des Vertrags von Maastricht Anwendung, mit denen sie von der Teilnahme an der dritten Stufe der WWU befreit sind. Griechenland und Schweden erfüllten den Konvergenzberichten der Europäischen Kommission (Kommission ) und des Europäischen Währungsinstituts128 vom 25. März 1998 zufolge die Bedingungen für die Einführung der gemeinsamen Währung zu diesem Zeitpunkt nicht.129 Mit der Entscheidung 98/317/EG des Rates vom 3. Mai 1998 gemäß Art. 109j Abs. 4 EGV verwehrte der Rat Griechenland und Schweden die Einführung der gemeinsamen Währung und gewährte beiden Staaten Ausnahmeregelungen gemäß Art. 109k EGV in der Fassung des Vertrags von Amsterdam (Art. 122 EGV in der Fassung des Vertrags von Nizza), die insbesondere ein Ruhen des Stimmrechts dieser Staaten im Rat bei bestimmten Entscheidungen vorsieht, die die WWU betreffen. Am 9. März 2000 beantragte Griechenland die Aufhebung der Ausnahmeregelung gemäß Art. 109k EGV, woraufhin die Kommission und die EZB mit ihren Untersuchungen hinsichtlich der Erfüllung der Konvergenzkriterien begannen. Auf der Grundlage der Konvergenzberichte der 126 Vom 1. Januar 1999 an nahmen Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Österreich , die Niederlande, Portugal und Spanien an der dritten Stufe der WWU teil. 127 Das sog. Opt-Out Dänemarks ist Gegenstand des dem Vertrag von Maastricht beigefügten Protokolls (Nr. 14) über einige Bestimmungen betreffend Dänemark. Es garantiert Dänemark, dass der Übergang zur dritten Stufe der WWU nicht automatisch erfolgt, selbst wenn die Bedingungen dafür erfüllt sind. Nach der dänischen Verfassung muss über die Teilnahme an der dritten Stufe der WWU eine Volksabstimmung durchgeführt werden. Das Protokoll (Nr. 25) über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland enthält die Opt-out-Regelung für das Vereinigte Königreich. 128 Das EWI ist der institutionelle Vorläufer der EZB. 129 Griechenland erfüllte keines der für die Teilnahme an der dritten Stufe der WWU erforderlichen Konvergenzkriterien ; Schweden verfehlte eines dieser Kriterien. Die Inflationsrate in Griechenland lag mit 5,2 % über dem erforderlichen Referenzwert. Die Entscheidung des Rates vom 26. September 1994 über das Bestehen eines übermäßigen öffentlichen Defizits war zu diesem Zeitpunkt nicht aufgehoben. Die griechische Währung nahm im Referenzzeitraum bis einschließlich Februar 1998 nicht am Wechselkursmechanismus teil. Der durchschnittliche langfristige Zinssatz in Griechenland lag im Beobachtungszeitraum mit 9,8 % über dem Referenzwert. Schweden verletzte durch seine Nichtteilnahme am Wechselkursmechanismus das entsprechende Konvergenzkriterium . Vgl. Entscheidung 98/317/EG des Rates vom 3. Mai 1998, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/Lex UriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:1998:139:0030:0035:DE:PDF (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 37 Kommission vom 3. Mai 2000130 und der EZB vom 28. April 2000131 gelangte der Rat in seiner Entscheidung vom 19. Juni 2000132 zu der Feststellung, dass Griechenland die Konvergenzkriterien erfüllt.133 Er beschloss, die aufgrund seiner Entscheidung 98/317/EG vom 3. Mai 1998 geltende Ausnahmeregelung zum 1. Januar 2001 aufzuheben und machte damit den Weg frei für die Einführung der gemeinsamen Währung in Griechenland.134 Die griechische Regierung gab am 21. September 2004 bekannt, dass die von Griechenland an die Kommission gemeldeten statistischen Daten zur Ermittlung des jährlichen öffentlichen Defizits für die Jahre 2000 bis 2003 nicht zutreffend waren. Daraufhin forderte der Rat Wirtschaft und Finanzen am 21. Oktober 2004 die Kommission auf, einen ausführlichen Bericht über die Daten zu Defizit und Schuldenstand Griechenlands für den Zeitraum ab 1997 vorzulegen.135 Den am 15. November 2004 veröffentlichten Ausführungen des Statistischen Amts der EU (EUROSTAT) zufolge hatte Griechenland auch in den Jahren 1997 bis 1999 unzutreffende Daten über das jährliche öffentliche Defizit an die Kommission gemeldet. Das tatsächliche öffentliche Defizit hatte in jedem dieser Jahre deutlich über dem Referenzwert von 3 % des BIP gelegen (1997: 6,4 % statt der gemeldeten 130 Kommission, Vorschlag für eine Entscheidung des Rates gemäß Art. 122 Abs. 2 EGV, KOM(2000) 274, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2000:248E:0124:0125:DE:PDF (letzter Abruf : 14. Dezember 2010). 131 EZB, Konvergenzbericht 2000, abrufbar unter: http://www.ecb.int/pub/pdf/conrep/cr2000de.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 132 Entscheidung 2000/427/EG des Rates vom 19. Juni 2000 gemäß Art. 122 Abs. 2 EGV, abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2000:167:0019:0021:DE:PDF (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 133 Die Inflationsrate lag im Prüfungszeitraum mit 2 % unter dem Referenzwert von 2,4 %. Eine Ratsentscheidung über das Bestehen eines übermäßiges öffentliches Defizit lag nicht mehr vor; das Verhältnis des jährlichen öffentlichen Defizits zum BIP unterschritt den Referenzwert von 3 % und der öffentliche Schuldenstand im Verhältnis zum BIP näherte sich rasch genug dem Referenzwert von 60 %. Weiterhin nahm Griechenland seit März 1998 am Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems teil, ohne den Leitkurs seiner Währung abzuwerten. Schließlich erfüllte Griechenland das Kriterium des langfristigen Zinssatzes, da der Zinssatz im Referenzzeitraum 6,4 % betragen und damit den festgelegten Referenzwert von 7,2 % unterschritten habe. Darüber hinaus waren die innerstaatlichen Rechtsvorschriften Griechenlands einschließlich der Satzung der nationalen Zentralbank mit dem Vertrag sowie mit der Satzung des ESZB vereinbar. 134 Für einen Überblick über den Weg Griechenlands in die dritte Stufe der WWU und die in diesem Zusammenhang aufgedeckten fehlerhaften statistischen Daten zur Beurteilung des Defizitkriteriums vgl. Zehnpfund, Griechenlands Teilnahme an der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 11 – 3000 – 06/10), im Intranet des Deutschen Bundestages abrufbar unter: http://www.bundestag.btg/Wissen/Dossiers/Ablage/2219/Ausarbeitung_2219_2.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 135 Tagung des Rates Wirtschaft und Finanzen vom 21. Oktober 2004, Schlussfolgerungen des Rates zu den von Griechenland vorgelegten Haushaltsdaten, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs /cms_data/docs/pressdata/de/ecofin/82464.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 38 4,0 %; 1998: 4,1 % statt 2,5 %; 1999: 3,4 % statt 1,8 %).136 Die für die Jahre 1998 und 1999 festgestellten Abweichungen betreffen den für die Beurteilung des Konvergenzkriteriums „Finanzlage der öffentlichen Hand“ bedeutsamen Zeitraum. Hätten Kommission und EZB ihren Untersuchungen zur wirtschaftlichen Konvergenz die tatsächlichen Daten zum öffentlichen Defizit zugrunde gelegt, hätten sie nicht zu der Feststellung gelangen können, Griechenland habe die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung der gemeinsamen Währung erfüllt. Damit wären die Voraussetzungen für eine Entscheidung des Rates über die Aufhebung der für Griechenland geltenden Ausnahmeregelung im Sinne des Art. 122 EGV und über die Teilnahme des Landes an der dritten Stufe der WWU nicht erfüllt gewesen. In diesem Zusammenhang wird in der Literatur die Frage erörtert, ob diese Entscheidung des Rates, die insofern auf falschen Tatsachen beruhte, nichtig und daher zu annullieren sei.137 In den zum 1. Mai 2004 und zum 1. Januar 2007 der EU beigetretenen Staaten waren durch die Übernahme des acquis communautaire die Mechanismen der ersten und zweiten Stufe der WWU im Beitrittszeitpunkt in Kraft gesetzt. Für die neuen Mitgliedstaaten gilt die Verpflichtung zur Einführung der gemeinsamen Währung, sobald sie die für die Teilnahme an der dritten Stufe der WWU erforderlichen Konvergenzkriterien erfüllen, uneingeschränkt. Da diese Staaten zum Beitrittszeitpunkt diese Voraussetzungen noch nicht erfüllten, wurden ihnen Ausnahmeregelungen gemäß Art. 122 Abs. 1 EGV gewährt. Als erster der neuen Mitgliedstaaten beantragte Slowenien am 2. März 2006 eine erneute Bewertung der Konvergenzkriterien, um die Aufhebung der Ausnahmeregelung und die Aufnahme in die dritte Stufe der WWU zu erreichen. Slowenien führte die gemeinsame Währung zum 1. Januar 2007 ein. Es folgten Malta und Zypern zum 1. Januar 2008 sowie die Slowakei zum 1. Januar 2009. Estland wird zum 1. Januar 2011 das 17. Mitglied der Euro-Zone werden.138 5.2. Hintergrund: Teilnahme an der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion – die Konvergenzkriterien Für die Teilnahme an der dritten Stufe der WWU muss jeder Mitgliedstaat bestimmte Kriterien erfüllen , damit sicher gestellt ist, dass der für die Einführung der gemeinsamen Währung in diesem Mitgliedstaat erforderliche hohe Grad dauerhafter wirtschaftlicher Konvergenz erreicht ist. Diese sog. Konvergenzkriterien sind in Art. 140 Abs. 1 AEUV (zuvor Art. 121 Abs. 1 EGV) verankert und werden in dem zum Vertrag von Lissabon gehörenden Protokoll über die Konvergenzkriterien139 konkretisiert . 136 „Griechenland erschwindelte Euro-Beitritt“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. November 2004 sowie „Griechenland kommt ungestraft davon“, Handelsblatt vom 16. November 2004. 137 Vgl. Behrens, Ist ein Ausschluss aus der Euro-Zone ausgeschlossen?, EuZW 2010, S. 121. 138 Beschluss des Rates vom 13. Juli 2010 gemäß Artikel 140 Absatz 2 des Vertrags über die Einführung des Euro in Estland zum 1. Januar 2011, 2010/416/EU, ABl. L 196 S. 24, online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/Lex UriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2010:196:0024:0026:DE:PDF (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 139 Protokoll (Nr. 13) über die Konvergenzkriterien, Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Rats-Dok. 6655/08, S. 364, abrufbar unter : http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/st06655.de08.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 39 Die ihnen zugrundeliegenden Maßstäbe sind folgende:140 1. Der Mitgliedstaat muss einen hohen Grad an Preisstabilität erreichen, der an der Inflationsrate gemessen wird. Diese muss der Inflationsrate der drei Mitgliedstaaten mit der höchsten Preisstabilität nahe kommen (Art. 140 Abs. 1 S. 3 erster Gedankenstrich AEUV i.V.m. Art. 1 des Protokolls über die Konvergenzkriterien). 2. Der Mitgliedstaat muss über eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand verfügen , die festgestellt wird, wenn die öffentliche Haushaltslage des zu überprüfenden Mitgliedstaats kein übermäßiges Defizit aufweist (Art. 140 Abs. 1 S. 3 zweiter Gedankenstrich AEUV i.V.m. Art. 2 des Protokolls über die Konvergenzkriterien). 3. Über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg muss der Mitgliedstaat am Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems teilgenommen haben und dabei die normalen Bandbreiten dieses Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems einhalten, d. h. seine Währung muss sich länger als zwei Jahre innerhalb dieser Bandbreiten ohne Abwertung gegenüber der Währung eines anderen Mitgliedstaats bewegen (Art. 140 Abs. 1 S. 3 dritter Gedankenstrich AEUV). 4. Das Niveau der langfristigen Zinssätze von Staatsschuldverschreibungen muss in diesem Mitgliedstaat dauerhaft nahe dem der drei preisstabilsten Mitgliedstaaten verlaufen (Art. 140 Abs. 1 S. 3 vierter Gedankenstrich AEUV i.V.m. Art. 4 des Protokolls über die Konvergenzkriterien). Darüber hinaus müssen die Mitgliedstaaten ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften einschließlich der Satzung ihrer nationalen Zentralbank so angepasst haben, dass sie mit den grundlegenden Verträgen der EU sowie mit der Satzung des ESZB und der EZB in Einklang stehen (Art. 131 AEUV). Dies ist die Voraussetzung für die vollständige Integration der jeweiligen nationalen Zentralbank in das ESZB. Die Kommission und die EZB prüfen mindestens einmal im Turnus zweier Jahre oder auf Antrag eines Mitgliedstaats, inwieweit die Mitgliedstaaten, für die eine Ausnahmeregelung gilt, ein hohes Maß dauerhafter wirtschaftlicher Konvergenz erreicht und ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften so angepasst haben, dass ihre jeweiligen nationalen Zentralbanken integraler Bestandteil des ESZB werden können. Die Ergebnisse werden in Form sog. Konvergenzberichte dem Rat vorgelegt (Art. 140 Abs. 1 S. 1 AEUV), der entscheidet, ob die Voraussetzungen für die Teilnahme an der dritten Stufe der WWU erfüllt sind, oder aber die Ausnahmeregelung fort gilt. Die Konvergenzkriterien sind als Hürden konstruiert, die ein Mitgliedstaat überwinden muss, um an der dritten Stufe der WWU teilnehmen und die gemeinsame Währung einführen zu können. Sie bilden die Grundlage für die Prüfungen durch die Kommission und die EZB und sollen das 140 Für eine ausführliche Darstellung der Aspekte der Prüfung der vier Konvergenzkriterien vgl. EZB, Konvergenzbericht 2000, S. 8ff. abrufbar unter: http://www.ecb.int/pub/pdf/conrep/cr2000de.pdf, sowie das Analyseschema in: EZB, Konvergenzbericht Mai 2008, S. 7 ff. abrufbar unter: http://www.ecb.int/pub/pdf/conrep /cr200805de.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 40 hohe Maß dauerhafter wirtschaftlicher Konvergenz sicherstellen und die Vereinbarkeit der innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit den grundlegenden Verträgen der EU garantieren, die für die Einführung der gemeinsamen Währung erforderlich sind. Die grundlegenden Verträge der EU ordnen den Konvergenzkriterien die Funktion von „Eintrittsvoraussetzungen “ im Sinne von Hürden für die Teilnahme an der dritten Stufe der WWU zu. Daneben haben sie nicht etwa auch eine zusätzliche Funktion als Maßstäbe innerhalb eines Überwachungs - und Sanktionsprozesses, in dem das Verbleiben eines Mitgliedstaates im Kreis der Teilnehmer der dritten Stufe der WWU zum Gegenstand einer permanenten Untersuchung gemacht würde. Insbesondere kommt ihnen nicht die Bedeutung von benchmarks zu, deren Verfehlen sanktioniert und als sog. ultima ratio mit dem Ausschluss aus der dritten Stufe der WWU geahndet würde. 141 Für die Staaten, die die Hürden der Konvergenzkriterien genommen haben und an der dritten Stufe der WWU teilnehmen, kommt die Aufgabe der Sicherung des hohen Grades dauerhafter wirtschaftlicher Konvergenz den Überwachungs- und Sanktionsmechanismen zu, die in den Kernbestimmungen zur Wirtschafts- und Währungspolitik der EU in Titel VIII des AEUV festgelegt und im Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) präzisiert sind. Diese Bestimmungen enthalten keine Regelung über ein Ausscheiden aus der dritten Stufe der WWU. Dies gilt sowohl für das freiwillige Ausscheiden eines Teilnehmerstaates im Einvernehmen mit den übrigen Teilnehmerstaaten, als auch für das Ausscheiden im Sinne einer Sanktion für ein bestimmtes Fehlverhalten eines Teilnehmerstaates der dritten Stufe der WWU. 5.3. Diskussionsstand über die Möglichkeiten des Ausscheidens eines Teilnehmerstaats aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion vor Implementierung der Rettungsmaßnahmen Mangels einer expliziten Regelung zum Ausscheiden eines Teilnehmerstaates aus der dritten Stufe der WWU in den grundlegenden Verträgen der EU wurde bislang ein entsprechender Austritt überwiegend als rechtlich ausgeschlossen und technisch nicht realisierbar erachtet.142 Zwei mit dem Vertrag von Lissabon neu eingeführte Bestimmungen sind jeweils Ausgangspunkt zweier Modelle, anhand derer in der wissenschaftlichen Diskussion der mögliche Vorgang des Ausscheidens aus der dritten Stufe der WWU illustriert wird. Dies ist zum einen Art. 50 EUV, der vorsieht , dass ein Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen kann, aus der EU auszutreten. Zum anderen wird auf die Regelung des Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 141 So Seidel, Der Euro – Schutzschild oder Falle, Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI), ZEI-Working Paper, Bonn, 2010, S. 24, abrufbar unter: http://www.zei.de/download/zei_wp/B10-01.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 142 Mit dem zum Vertrag von Maastricht abgegebenen Protokoll (Nr. 10) über den Übergang zur dritten Stufe der WWU haben sich die Mitgliedstaaten vertraglich zur „Unumkehrbarkeit“ des Übergangs der Gemeinschaft zur dritten Stufe der WWU bekannt; abrufbar unter: http://europa.eu/abc/treaties/archives/de/detr8h.htm#213. Dementsprechend bezeichnete die Deutsche Bundesbank die Währungsunion als „eine nicht mehr kündbare Solidargemeinschaft“. Vgl. Deutsche Bundesbank, Stellungnahme der Deutschen Bundesbank zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion vom 6. September 1990, in: Informationsbriefe zur Europäischen Wirtschafts - und Währungsunion, S. 238, abrufbar unter: http://www.bundesbank.de/download/presse/publikationen /informationsbriefe_wwu_1bis17.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 41 AEUV zurückgegriffen, der unter anderem bestimmt, dass die Mitgliedstaaten in Tätigkeitsbereichen, für die die EU die ausschließliche Zuständigkeit besitzt, nur tätig werden dürfen, wenn sie von der EU hierzu ausdrücklich ermächtigt werden. Neben diesen Szenarien, die auf der Anwendung der neu geschaffenen Bestimmungen der grundlegenden Verträge der EU basieren, sind schon vor dem Beginn der dritten Stufe der WWU am 1. Januar 1999 auch Wege des Austritts und des Ausschlusses von Teilnehmerstaaten diskutiert worden, die in den seinerzeit geltenden Verträgen nicht vorgesehen waren, sich aber nach Auffassung der Vertreter dieser Sichtweise rechtlich nicht vollständig ausschließen ließen. Hierzu gehören das Ausscheiden eines Teilnehmerstaates im Einvernehmen mit den übrigen Teilnehmerstaaten, der einseitige Rückzug sowie der Ausschluss bei extremen Vertragsverstößen.143 Da sich diese Beiträge zur wissenschaftlichen Diskussion auf die Rechtslage vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon beziehen, werden sie hier nicht näher ausgeführt. 5.3.1. Diskutierte Modelle für eine einvernehmliches Ausscheiden 5.3.1.1. Modell 1: Ausscheiden aus der Europäischen Union und erneuter Beitritt In diesem Modell wird das in den grundlegenden Verträgen der EU nicht vorgesehene Ausscheiden eines Mitgliedstaates aus der dritten Stufe der WWU über den „Umweg“ des in Art. 50 Abs. 1 EUV bestimmten Ausscheidens aus der EU insgesamt konstruiert. An den nach Art. 50 Abs. 1 EUV zulässigen Austritt eines Mitgliedstaates aus der EU schlösse sich demnach unmittelbar ein Verfahren für seinen erneuten Beitritt zur EU nach Art. 49 EUV an.144 Nach diesem Vorschlag muss der austrittswillige Mitgliedstaat sein Anliegen, gemäß Art. 50 EUV aus der EU auszuscheiden, dem Europäischen Rat mitteilen. Der Europäische Rat bestimmt dann Leitlinien für ein Abkommen, das die Einzelheiten des Austritts enthält und den Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur EU berücksichtigt. In diesem Abkommen könnte bereits die Absicht des Mitgliedstaates Berücksichtigung finden, der EU wieder beizutreten. Dieses Abkommen wird nach den Bestimmungen des Art. 218 Abs. 3 AEUV ausgehandelt und vom Rat im Namen der EU geschlossen. Dieser beschließt gemäß Art. 50 Abs. 2 EUV mit qualifizierter Mehrheit ohne Mitwirkung des Vertreters des austrittswilligen Mitgliedstaats und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments (EP). Vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des Austrittsabkommens finden die Verträge auf den austrittswilligen Staat keine Anwendung mehr (Art. 50 Abs. 3 EUV).145 143 Vgl. Herdegen, Die Währungsunion als dauerhafte Rechtsgemeinschaft, db research, EWU-Monitor Nr. 52/1998, abrufbar unter: http://www.dbresearch.de/PROD/DBR_INTERNET_DE-PROD/PROD0000000000011059.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 144 Vgl. Schwarzer, Rausschmiss aus der Eurozone als letzte Option, euractiv.de vom 25. Februar 2010, abrufbar unter: http://www.euractiv.de/druck-version/artikel/rausschmiss-aus-der-eurozone-als-letzte-option-002777 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); vgl. auch Dullien/Schwarzer, Umgang mit Staatsbankrotten in der Eurozone, SWP-Studie S 19 von Juli 2010, S. 26. 145 Gemäß Art. 50 Abs. 3 Halbsatz 2 EUV ist das Abkommen jedoch nicht konstitutiv für den Austritt: Auch ohne ein solches Abkommen wird der Austritt automatisch zwei Jahre nach der Mitteilung der Austrittsabsicht wirksam , sofern der Europäische Rat diese Zweijahresfrist nicht einstimmig und im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat verlängert. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 42 Nach seinem Austritt stellte der betreffende Mitgliedstaat – nach diesem Modell - einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU nach Art. 49 Abs. 1 S. 1 EUV und würde nach einem erneuten Beitrittsprozess wieder Mitglied der EU.146 Nach erfolgtem (Wieder-) Beitritt befände sich dieser Staat durch die Übernahme des acquis communautaire auf der gleichen Stufe der WWU wie die anderen Mitgliedstaaten, die (noch) nicht an der dritten Stufe teilnehmen. Sofern er im Zuge des Beitrittsverfahrens nicht – analog zu Dänemark und zum Vereinigten Königreich – ein sog. Opt- Out aushandelte, unterläge er wie alle übrigen Mitgliedstaaten der Verpflichtung zur Teilnahme an der dritten Stufe der WWU, sobald er die dafür notwendigen Konvergenzvoraussetzungen erfüllt . Unterließe er – wie Schweden – die Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen für die vollständige Integration seiner nationalen Zentralbank in das ESZB oder nähme er nicht am Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems teil, gelänge es ihm auch ohne ausdrückliches Opt-Out, die Umsetzung seiner Verpflichtung zur Teilnahme an der dritten Stufe der WWU zu verzögern. 5.3.1.2. Modell 2: Ausscheiden aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion Voraussetzung für das zweite Modell ist die Annahme, dass das einvernehmliche Ausscheiden eines Teilnehmerstaates aus der dritten Stufe der WWU rechtlich möglich ist, auch wenn die grundlegenden Verträge der EU ein ausdrückliches Verfahren nicht vorsehen.147 Das Regelungswerk der WWU unterteile die Mitgliedstaaten in solche mit Zugehörigkeit zur dritten Stufe der WWU und solche ohne. Mit Ausnahme der Teilnahme an der dritten Stufe der WWU unterscheide sich der rechtliche Status ihrer Mitgliedschaft in der EU nicht. Folglich sei das Ausscheiden eines Mitgliedstaates aus der dritten Stufe der WWU, die keine eigene Organisation , sondern lediglich eine gemeinsame Politik der EU darstelle, nichts anderes, als dass für diesen Staat die vergemeinschaftete Währungspolitik als gemeinsame Politik nicht mehr zur Anwendung gelangt, was wiederum für alle Nichtteilnehmerstaaten der dritten Stufe der WWU, darunter Großbritannien, Dänemark und Schweden gelte. Die grundlegenden Verträge der EU sähen zwar Regelungen über ein Ausscheiden aus der dritten Stufe der WWU mit dem Ziel einer späteren Rückkehr nicht vor, schlössen ein solches Ausscheiden aber auch nicht ausdrücklich aus. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE)148 habe klargestellt, dass die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten dadurch, dass eine Politik, die wie die Währungspolitik (gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. c AEUV) in die ausschließliche Zuständigkeit der EU überführt worden ist, nicht auf Dauer und bedingungslos beendet ist. Art. I 12 VVE (dies ent- 146 Andere Vertreter dieses Modells lassen auf den Austritt des Mitgliedstaats aus der EU nach Verstreichen einer „juristischen Sekunde“ den Wiedereintritt in die EU folgen. Vgl. Meyer, Griechenland soll raus aus der Euro- Zone“, Tagesspiegel vom 15. April 2010, abrufbar unter: http://www.tagesspiegel.de/meinung/anderemeinung /Griechenland-Staatsbankrott-Wirtschaftskrise;art22196,3057425 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 147 Seidel, Der Euro – Schutzschild oder Falle, Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI), ZEI-Working Paper, Bonn, 2010, S. 25 ff., abrufbar unter: http://www.zei.de/download/zei_wp/B10-01.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 148 Die zitierte Quelle nimmt auf die entsprechenden Bestimmungen des gescheiterten Vertrages über eine Verfassung für Europa (VVE) Bezug und verweist darauf, dass diese Bestimmungen in den Vertrag von Lissabon übernommen worden sind. Im Weiteren werden hier dessen Bestimmungen zitiert. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 43 spricht Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 AEUV) habe vorgesehen, dass ein Mitgliedstaat im Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten der EU auf Grund einer Ermächtigung der EU „gesetzgeberisch“ tätig werden kann. Dies schließe die Einführung einer eigenen Währung unter Aufgabe seiner Beteiligung an der vergemeinschafteten Währungspolitik ein. Analog zum Verfahren der Aufnahme eines Mitgliedstaates in den Teilnehmerkreis der dritten Stufe der WWU bedürfe es für ein Ausscheiden einer rechtsförmlichen Entscheidung des Rates in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten und erfordere das Einvernehmen aller an der dritten Stufe der WWU teilnehmenden Mitgliedstaaten. Der Vertreter dieses Modells bleibt undeutlich hinsichtlich der Frage, in welcher Art und Weise bzw. in welcher Form die EU einem Mitgliedstaat eine solche Ermächtigung erteilen könnte. An anderer Stelle deutet er die Verleihung eines Status’ eines Mitgliedstaates mit einer Ausnahmeregelung an, indem er von der „Umstufung zu einem Mitgliedstaat ‚mit einer Ausnahmegenehmigung’“ spricht.149 Den Status eines Mitgliedstaates, für den eine Ausnahmeregelung gilt, haben gemäß Art. 139 Abs. 1 AEUV alle die Mitgliedstaaten, für die der Rat nicht beschlossen hat, dass sie die erforderlichen Voraussetzungen für die Einführung des Euro erfüllen. Nach gegenwärtiger Rechtslage aber ist die beschriebene aktive Gewährung einer Ausnahmeregelung, wie sie in Art. 122 Abs. 1 EGV noch bestimmt war, nicht mehr vorgesehen, da die entsprechenden Bestimmungen des Art. 122 Abs. 1 EGV mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon außer Kraft getreten sind. Auch die Vorschrift des Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 AEUV bleibt im Hinblick auf das Verfahren unklar.150 Insbesondere wird nicht näher ausgeführt, ob die Mitgliedstaaten aufgrund einer solchen Ermächtigung zu einem Handeln verpflichtet sind, ob diese Ermächtigung zeitlich begrenzt ist und ob sie einschränkende Bestimmungen enthalten kann, die für die Mitgliedstaaten bei der Ausübung bindend sind.151 5.3.2. Diskutierte Modelle für einen Ausschluss eines Teilnehmerstaates Die zuvor erörterten Formen des Ausscheidens bedingen das Einvernehmen mit dem Mitgliedstaat, dessen Teilnahme an der dritten Stufe der WWU beendet werden soll. Es wurde jedoch auch darüber diskutiert, den Teilnehmerstaaten der dritten Stufe der WWU die Möglichkeit einzuräumen, ein Mitglied ihres Kreises – auch gegen seinen Willen – auszuschließen, wenn dieser Mitgliedstaat massiv gegen die ihm obliegenden Pflichten verstößt, die sich aus der gemeinsamen Währungspolitik hinsichtlich einer verantwortungsvollen Wirtschafts- und Haushaltspolitik ergeben, und damit die Existenz der Währungsunion insgesamt gefährdet. In dieser Debatte besteht bei aller inhaltlicher Divergenz Einigkeit darüber, dass die grundlegenden Verträge der EU eine solche Möglichkeit nicht vorsehen, ihre Schaffung folglich Gegenstand einer Vertragsrevision sein müsste. Der Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, bezog in dieser Diskussion die Position, dass 149 Seidel, Der Euro – Schutzschild oder Falle. Kann die EWU-Mitgliedschaft eines Landes bei Überschuldung und permanenten Leistungsbilanzdefiziten aufgehoben werden? in: dbb Europathemen, März 2010, abrufbar unter: http://www.dbb.de/dbb-beamtenbund-2006/dbb-pdf/europathemen_aktuell_0310.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 150 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, Kommentar der Grundlagenbestimmungen , München, 2007, Art. I-12, Rdnr. 9. 151 Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, Baden-Baden, 2005, S. 139. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 44 das Regelwerk der WWU noch unvollständig sei und extreme Problemlagen, wie sie sich in der aktuellen Krise in Griechenland darstellen, nicht erfasse. Diese Probleme erforderten ein rasches und umfassendes Eingreifen, um größere systemische Gefahren abzuwenden. Die Anpassung des Regelwerks mache auch Bestimmungen erforderlich, nach denen ein Teilnehmerstaat der dritten Stufe der WWU, der nicht in der Lage ist, die Wettbewerbsfähigkeit seiner Wirtschaft wiederherzustellen und die öffentlichen Haushalte zu sanieren, als ultima ratio aus der dritten Stufe der WWU ausscheidet .152 Die Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, unterstrich diese Überlegungen mit der Forderung nach einer Weiterentwicklung der grundlegenden Verträge der EU, die es ermöglichen sollten, reformunwillige Krisenstaaten aus der dritten Stufe der WWU ausschließen zu können.153 In den folgenden Abschnitten werden Optionen aufgezeigt, die im Rahmen einer Vertragsrevision zur Verfügung stehen könnten, um eine Bestimmung über den Ausschluss eines Teilnehmerstaates der dritten Stufe der WWU in den grundlegenden Verträgen der EU zu verankern. 5.3.2.1. Modell 3: Ausschluss als ultimative Sanktion im Defizitverfahren Die Diskussion über die Ergänzung der grundlegenden Verträge um eine Norm, die den Ausschluss eines Teilnehmerstaates der dritten Stufe der WWU ermöglicht, knüpft an den Verstoß gegen die Pflichten dieser Staaten aus dem SWP an. Wie auch der SWP würde eine solche neue primärrechtliche Bestimmung darauf abzielen, die Stabilität der gemeinsamen Währung und der Währungsunion insgesamt zu sichern, deren Existenz durch die fortgesetzte Teilnahme eines Staates an der dritten Stufe der WWU bedroht sein könnte, der massiv und fortwährend die Regelungen und Anforderungen des SWP verletzt. Daher liegt es nahe, die Ergänzung der Bestimmungen des Art. 126 AEUV zum Defizitverfahren um eine ultimative Sanktion zu erörtern, die bei Vorliegen dieser tatbestandlichen Voraussetzungen den Ausschluss des betreffenden Teilnehmerstaates ermöglicht. Das Verfahren zur Feststellung eines übermäßigen Defizits und zu seiner Beseitigung richtet sich grundsätzlich nach Art. 126 Absätze 3 bis 13 AEUV sowie den präzisierenden Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1467/97, die durch die Verordnung (EG) Nr. 1056/2005 geändert wurde. Die hierfür notwendige Definition des Defizitkriteriums wird in Art. 126 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit dem Protokoll (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit vorgenommen. 154 152 Schäuble, Wolfgang, Schäuble droht Sparverweigerern mit Ausschluss aus der Eurozone, Namensartikel, Financial Times Deutschland vom 12. März 2010, abrufbar unter: http://www.ftd.de/politik/europa/:gastbeitrag-inder -ftd-schaeuble-droht-sparverweigerern-mit-ausschluss-aus-der-eurozone/50087381.html (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 153 BT-Plenarprotokoll 17/30 vom 17. März 2010 , S. 2719, abrufbar unter: http://dip21.bundestag .btg/dip21/btp/17/17030.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 154 Danach prüft die Kommission, ob die Mitgliedstaaten ihrer Verpflichtung nach Art. 126 Abs. 1 AEUV zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin nachkommen, anhand zweier Referenzwerte: des jährlichen öffentlichen Defizits sowie des öffentlichen Schuldenstands. Das als Nettoneuverschuldung ausgedrückte Verhältnis des tatsächlichen oder geplanten öffentlichen Defizits zum BIP darf den Referenzwert von 3 % nicht überschreiten, es sei denn, dass entweder das Verhältnis erheblich und laufend zurückgegangen ist und einen Wert in der Nähe von 3 % erreicht hat oder der Referenzwert nur ausnahmsweise und vorübergehend überschritten wird und das Verhältnis in der Nähe von 3 % bleibt (Art. 126 Abs. 2 lit. a AEUV i.V.m. Art. 1 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Protokolls [Nr. 12]). Das Verhältnis des öffentlichen Schuldenstands zum BIP darf den Referenzwert von 60 % nicht überschreiten, es sei denn, dass das Verhältnis hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Wert von 60 % nähert (Art. 126 Abs. 2 lit. b AEUV i.V.m. Art. 1 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Protokolls [Nr. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 45 Das eigentliche Sanktionsverfahren ist Regelungsgegenstand der Vorschriften der Absätze 9 bis 11 des Art. 126 AEUV, die nur für die Mitgliedstaaten gelten, die an der dritten Stufe der WWU teilnehmen . Auch sind nur diese Staaten an der Beschlussfassung über die vorgesehenen Sanktionen beteiligt ; die Stimme des betreffenden Mitgliedstaats bleibt unberücksichtigt. Dem Sanktionsverfahren gehen die drei ersten Stufen des Defizitverfahrens voraus, in denen – erstens – die Kommission dem Rat einen Bericht über einen Defizitverstoß eines Mitgliedstaates vorlegt (Art. 126 Abs. 3 AEUV), – zweitens – der Rat mit qualifizierter Mehrheit feststellt, dass ein übermäßiges öffentliches Defizit besteht (Art. 126 Abs. 6 AEUV) und – drittens – der Rat zunächst nicht veröffentlichte Empfehlungen zur Beseitigung des Defizits innerhalb einer gesetzten Frist an den Mitgliedstaat richtet (Art. 126 Abs. 7 AEUV). Folgt der betreffende Mitgliedstaat den Empfehlungen des Rates nicht, kann der Rat in einem weiteren Schritt feststellen, dass keine wirksamen Maßnahmen ergriffen wurden, und die Veröffentlichung der Empfehlungen beschließen. Diese Öffentlichmachung der Empfehlungen (Art. 126 Abs. 8 AEUV) ist die erste Sanktionsstufe des Defizitverfahrens. Ihr schließt sich das sog. Inverzugsetzen des „Defizitsünders“ an, wenn der betreffende Mitgliedstaat weiterhin untätig bleibt. Hierzu beschließt der Rat, den betreffenden Mitgliedstaat in Verzug zu setzen und gibt ihm auf, innerhalb einer bestimmten Frist wirksame Maßnahmen zum Defizitabbau zu treffen und nach einem konkreten Zeitplan Bericht über die Anpassungsbemühungen zu erstatten (Art. 126 Abs. 9 AEUV). Ergreift der betreffende Mitgliedstaat innerhalb dieser Frist keine wirksamen Maßnahmen, so kann der Rat beschließen , gegen diesen Mitgliedstaat eine oder mehrere der in Art. 126 Abs. 11 AEUV vorgesehenen Sanktionen155 zu verhängen oder zu verschärfen; in der Regel verlangt der Rat von dem Mitgliedstaat, eine unverzinsliche Einlage in angemessener Höhe bei der Union zu hinterlegen, bis das übermäßige Defizit nach Ansicht des Rates korrigiert worden ist (Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 1467/97). Hat der betreffende Mitgliedstaat das übermäßige Defizit binnen zweier Jahre nach dem Beschluss, von ihm eine Einlage zu verlangen, nach Auffassung des Rates noch nicht korrigiert, wird diese Sanktion gemäß Art. 126 Abs. 11 AEUV verschärft. Gemäß Art. 13 der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 wird diese Einlage in der Regel in eine Geldbuße umgewandelt. Mit diesem Beschluss zur Umwandlung der verlangten Einlage in eine Geldbuße ist der Sanktionskatalog des Defizitverfahrens nach geltender Rechtslage abgeschlossen. Eine Regelung, die den Ausschluss eines Teilnehmerstaates der dritten Stufe der WWU ermöglichte, könnte theoretisch diesen Sanktionskatalog ergänzen. Dabei wäre zu entscheiden, ob sich eine solche Ausschlusssanktion unmittelbar an die bestehenden Sanktionsstufen anschließt oder ihr zusätzliche 12]). Zur Festlegung der Einzelheiten des in Art.126 AEUV genannten Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit haben die Mitgliedstaaten das Protokoll (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit dem Vertrag von Lissabon beigefügt. Abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload /st06655.de08.pdf, S. 362 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 155 So kann der Rat von dem betreffenden Mitgliedstaat verlangen, vor der Emission von Schuldverschreibungen und sonstigen Wertpapieren vom Rat näher zu bezeichnende zusätzliche Angaben zu veröffentlichen. Er kann weiterhin alternativ oder kumulativ: erstens die Europäische Investitionsbank ersuchen, ihre Darlehenspolitik gegenüber dem Mitgliedstaat zu überprüfen, zweitens von dem Mitgliedstaat verlangen, eine unverzinsliche Einlage in angemessener Höhe bei der Union zu hinterlegen, bis das übermäßige Defizit nach Ansicht des Rates korrigiert worden ist, drittens Geldbußen in angemessener Höhe verhängen. Die Auswahl der Sanktionen steht im Ermessen des Rates; den Rahmen für die Ermessensausübung geben die Artikel 11 bis 13 der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 vor. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 46 in ihrer Intensität ansteigende Sanktionsschritte vorgeschaltet werden oder sie bestehende Sanktionsstufen des Defizitverfahrens nach geltendem Recht ersetzt. 5.3.2.2. Modell 4: Ausschluss als Sanktion für eine Verletzung vertraglicher Verpflichtungen und Werte Art. 7 Abs. 3 EUV sieht vor, dass der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen kann, bestimmte Rechte eines Mitgliedstaates auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat. Voraussetzung für eine solche Aussetzung der Rechte ist, dass der Rat die Feststellung getroffen hat, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt (Art. 7 Abs. 2 EUV).156 Bei den in Art. 2 EUV genannten Werten handelt es sich um die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie , Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Überwiegend wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur davon ausgegangen, dass Art. 7 EUV eine abschließende Regelung darstellt .157 Dies bedeutet, dass aus anderen als den in Art. 7 EUV genannten Gründe (Verletzung der Werte des Art. 2 EUV) keine Stimmrechtsentziehung im Rat als Sanktion für einen Verstoß gegen EU-Recht erfolgen darf. In der Literatur wird vereinzelt Art. 7 Absätze 2 und 3 EUV als die Norm des Unionsrechts qualifiziert , die der Anerkennung einer Möglichkeit des Ausschlusses eines Mitgliedstaates aus der EU oder der WWU am nächsten komme, wobei aber deutlich gemacht wird, dass dies als ein Schritt auf dem Weg zu einem Ausschluss und nicht als Ausschluss selbst anzusehen sei.158 5.3.2.2.1. Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 EUV Voraussetzung für das auf den Ausschluss bestimmter Rechte abzielende Verfahren nach Art. 7 EUV ist eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat. Als Werte, auf die sich die EU gründet, nennt Art. 2 EUV die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Fraglich ist damit zunächst, ob und inwieweit die anhaltenden Verstöße eines Teilnehmerstaates der dritten Stufe der WWU gegen die ihm auferlegte Haushaltsdisziplin unter die Tatbestandsmerkmale „schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Werte durch einen Mitgliedstaat“ 156 Diese Feststellung kann auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Kommission und nach Zustimmung des EP erfolgen. 157 Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 7 EUV, Rdnr. 8; Hummer/Obwexer, Die Wahrung der „Verfassungsgrundsätze“ der EU, Rechtsfragen der „EU-Sanktionen“ gegen Österreich, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2000, S. 485 (491); vgl. Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 7 EUV, Rdnr. 14. 158 Athanassiou, Phoebus, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU, European Central Bank, Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 32, abrufbar unter: http://www.ecb.eu/pub/pdf/scplps/ecblwp10.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 47 subsumiert werden können. Für einen Verstoß gegen die Haushaltsdisziplin durch einen Teilnehmerstaat der dritten Stufe der WWU kommt lediglich eine Verletzung der Werte „Demokratie “ und „Rechtsstaatlichkeit“ in Betracht. In der Literatur wird dementsprechend vereinzelt die Auffassung vertreten, dass die Einleitung des Verfahrens nach Art. 7 EUV für den Fall denkbar ist, dass es aufgrund der durch seine prekäre Haushaltslage verursachten ökonomischen Probleme eines Teilnehmerstaates der dritten Stufe der WWU zu innerstaatlichen Unruhen dergestalt kommt, dass demokratische und rechtsstaatliche Verhältnisse nicht mehr gewährleistet sind.159 Folgt man dieser Ansicht, läge eine Verletzung der Werte des Art. 2 EUV im Sinne von Art. 7 Abs. 2 EUV vor. 5.3.2.2.2. Rechtsfolge des Art. 7 Abs. 3 EUV Fraglich wäre in einem weiteren Schritt, ob die Möglichkeit nach Art. 7 Abs. 3 EUV, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, so ausgelegt werden kann, dass ein Ausschluss aus der dritten Stufe der WWU davon erfasst würde. Dafür müsste die Teilnahme eines Staates an der dritten Stufe der WWU zunächst als bestimmtes Recht, das sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleitet, qualifiziert werden können. Diesbezüglich bestehen Bedenken insofern, als die Teilnahme an der dritten Stufe der WWU nicht als Recht, sondern vielmehr als Verpflichtung der Mitgliedstaaten charakterisiert wird.160 Insbesondere aus Art. 131 EUV (ehemals Art. 109 EGV) und dem Protokoll (Nr. 10) über den Übergang zur dritten Stufe der WWU ergibt sich zum einen die Pflicht der Mitgliedstaaten , die Vorbereitungen zum Eintritt in die dritte Stufe rechtzeitig abzuschließen,161 und zum anderen die Verpflichtung, bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen an der WWU teilzunehmen. Daher scheint es schon zweifelhaft, Eintritt und Teilnahme an der dritten Stufe der WWU uneingeschränkt als Rechte zu charakterisieren, die nach Art. 7 Abs. 3 AEUV beschränkt oder ausgeschlossen werden können. 5.3.2.2.3. Mögliche Änderung des Art. 7 EUV Um diesen Bedenken Rechnung zu tragen, müsste die Regelung des Art. 7 Abs. 3 EUV mit der ausdrücklichen Möglichkeit des Ausschlusses eines Teilnehmerstaates ausgestattet werden. Dazu wäre einerseits der Katalog der tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 7 Abs. 3 EUV über den durch Art. 7 Abs. 2 EUV gesetzten Rahmen hinaus so anzupassen, dass anhaltende Verstöße gegen die Verpflichtungen aus der Teilnahme an der dritten Stufe der WWU explizit erfasst werden. Anderseits wäre ein Ausschluss als Rechtsfolge in den Art. 7 Abs. 3 EUV aufzunehmen. 159 Seidel, Der Euro – Schutzschild oder Falle, ZEI, Working Paper, B 01 2010, S. 2. 160 So z. B. Häde, Ulrich, in Calliess/Ruffert, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, Art. 121 EGV, Rdnr. 31. 161 Häde, Ulrich, a.a.O., Rdnr. 31. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 48 5.3.2.3. Modell 4: Völlig neue Ausschlussnorm Denkbar wäre auch die Verankerung einer gänzlich neu zu entwerfenden Bestimmung in den grundlegenden Verträgen der EU, um den Ausschluss eines Teilnehmerstaates der dritten Stufe der WWU zu ermöglichen. In Betracht käme die Schaffung eines Mechanismus, der es ermöglicht , einen Teilnehmerstaat der dritten Stufe der WWU wieder als „Mitgliedstaat, für den eine Ausnahmeregelung gilt“ (Art. 139 AEUV) zu qualifizieren. Damit könnte die Geltung der Ausnahmeregelung für einen notorisch vertragswidrig handelnden Teilnehmerstaat wieder hergestellt werden; er befände sich mit Blick auf den Integrationsfortschritt innerhalb der WWU dann auf der gleichen Ebene wie die Mitgliedstaaten Vereinigtes Königreich, Dänemark und Schweden. Um dies zu erreichen, könnte der betroffene Teilnehmerstaat verpflichtet werden, dergestalt gesetzgeberisch tätig zu werden, dass er unter Aufgabe seiner Beteiligung an der integrierten Währungspolitik (wieder) eine eigenständige nationale Währung einführt. Die „Unumkehrbarkeit“ des Übergangs der EU zur dritten Stufe der WWU dürfte dem nicht entgegenstehen, weil dieser kollektive Integrationsschritt der Union als solcher nicht rückgängig gemacht würde, sondern nur die Beteiligung eines Mitgliedstaats an der dritten Stufe der WWU.162 Auf formaler Ebene wären die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Norm zu erörtern, insbesondere das Entscheidungsverfahren. Da Sinn und Zweck der Bestimmung im Kern darin bestehen würden, das Funktionieren und die Existenz der WWU zu schützen, spricht viel dafür, lediglich die Teilnehmerstaaten der dritten Stufe der WWU am Entscheidungsverfahren zu beteiligen. 5.3.2.4. Vereinbarkeit einer Ausschlussbestimmung mit den grundlegenden Verträgen der EU An der rechtlichen Zulässigkeit einer Bestimmung über den Ausschluss eines Teilnehmerstaates der dritten Stufe der WWU, die im Wege der Änderung bestehender Normen zu schaffen oder gänzlich neu einzufügen wäre, werden in der wissenschaftlichen Literatur ebenso Zweifel geäußert wie an der Übereinstimmung einer solchen Regelung mit dem Geist und dem Konzept der grundlegenden Verträge der EU.163 Die erhobenen Bedenken beziehen sich zunächst auf die erheblichen komplexen rechtlichen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die ein Ausschluss aus der dritten Stufe der WWU mit sich bringen würde, insbesondere vor dem Hintergrund, dass bei einem Ausschluss und der damit einhergehenden Wiedereinführung einer eigenständigen nationalen Währung auch die Rechte natürlicher und juristischer Personen, von Unternehmen und Staatsangehörigen des betroffenen Mitgliedstaates in hohem Maße beeinträchtigt werden würden. Darüber hinaus werden konzeptionelle und dogmatische Zweifel an der Zulässigkeit einer expliziten Ausschlussregelung auch mit Blick auf die Ausgestaltung der bereits bestehenden Bestimmungen der grundlegenden Verträge der EU geäußert. Die Verträge sähen Maßnahmen für den Fall vor, dass ein Mitgliedstaat gegen Verpflichtungen verstößt, so dass sich die Frage stellt, ob 162 So Behrens, Ist ein Ausschluss aus der Euro-Zone ausgeschlossen?, in: EuZW 2010, S. 121. 163 Athanassiou, Phoebus, a.a.O., S. 33 - 36. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 49 darüber hinaus überhaupt Grund für die Änderung bestehender oder die Aufnahme neuer Normen besteht. Der Katalog der Sanktionen sei erschöpfend und enthielte gerade keine Möglichkeit für den Ausschluss eines Mitgliedstaates gegen seinen Willen, so schwerwiegend oder anhaltend die Verstöße dieses Mitgliedstaats auch sein sollten und wie sehr ein Ausschluss seitens der anderen Mitgliedstaaten gewünscht würde. Eine Ausschlussmöglichkeit sei daher mit dem Geist und den Grundprinzipien des bestehenden Sanktionssystems im Fall einer Vertragsverletzung durch einen Mitgliedstaat unvereinbar. Das Ziel sei gerade, einen solchen Mitgliedstaat nicht zu bestrafen, sondern ihn vielmehr dazu zu ermutigen, seinen vertraglichen Verpflichtungen wieder nachzukommen. Ein Ausschluss gegen den Willen des betreffenden Mitgliedstaats stünde daher mit dem eher versöhnlich als bestrafend ausgestaltetem Charakter des Sanktionssystems nicht im Einklang. In jedem Fall seien sowohl das bestehende Sanktionssystem der Verträge der EU als auch die schädigende Wirkung im Falle der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens vor dem Gerichtshof der EU wirkungsvoll genug. Diese Erwägungen schließen die Einführung einer Ausschlussbestimmung jedoch rechtlich nicht aus. Es erscheint auch die Auffassung vertretbar, dass die Schaffung einer solchen Bestimmung notwendig ist, weil die derzeitige problematische Situation der Staatshaushalte einer Reihe von Teilnehmerstaaten der dritten Stufe der WWU bei der Gestaltung der Sanktionssysteme der grundlegenden Verträge der EU nicht berücksichtigt worden sei, und der Bestand der Währungsunion in letzter Konsequenz nur durch den Ausschluss des ihn gefährdenden Teilnehmerstaates aus der dritten Stufe der WWU gesichert werden kann.164 5.4. Weiterführung der Diskussion nach Implementierung der Rettungsmaßnahmen 5.4.1. Stimmen, die sich für den Ausschluss eines Mitgliedstaats aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion aussprechen Weiterhin wird die Einführung einer Norm in die grundlegenden Verträge der EU gefordert, die als ultima ratio den Ausschluss eines Mitgliedstaats aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion vorsieht.165 Voraussetzung für den Ausschluss soll nach einer Studie sein, dass entweder ein Mitgliedstaat dauerhaft und eindeutig die Befolgung der Empfehlungen, die der Rat nach Art. 126 Abs. 7 AEUV erlassen hat, verweigert166, oder dass sich die Haushaltslage eines Mitgliedstaates, der den Euro als Währung eingeführt hat, dergestalt entwickelt, dass mit einer Sanierung des Haushalts nicht mehr zu rechnen ist und der Bestand des Euros als Gemeinschaftswährung gefährdet ist.167 Die Autoren argumentieren, dass die Ausschlussmöglichkeit das 164 So Schäuble, Schäuble droht Sparverweigerern mit Ausschluss aus der Eurozone, Namensartikel, Financial Times Deutschland vom 12. März 2010, 10. und 21. Absatz, abrufbar unter: http://www.ftd.de/politik/europa /:gastbeitrag-in-der-ftd-schaeuble-droht-sparverweigerern-mit-ausschluss-aus-der-eurozone/50087381.html (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 165 Z.B. Jeck/Van Roosebeke/Voßwinkel, Nach dem Sündenfall: Was jetzt zu tun ist, CEP-Studie vom 10. Mai 2010, S. 19, online abrufbar unter: http://www.cep.eu/fileadmin/user_upload/Weitere_Themen/Studie _Nach_dem_Suendenfall.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 166 Dies könnte man als weitere Sanktionsstufe im Defizitverfahren ansehen. 167 Jeck/Van Roosebeke/Voßwinkel, Nach dem Sündenfall: Was jetzt zu tun ist, CEP-Studie vom 10. Mai 2010, S. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 50 Bail-out-Verbot stärke und damit die fiskalische Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten, die wiederum Voraussetzung für eine glaubwürdige, auf Geldwertstabilität ausgerichtete Geldpolitik sei. 5.4.2. Stimmen, die sich dagegen aussprechen Andere Stimmen aus der Wissenschaft sprechen sich demgegenüber gegen ein Ausscheiden eines Mitgliedstaats des Euro-Währungsgebiets aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion aus: Dabei werden vor allem ökonomische Argumente erwogen So sei ein Rückschritt zu nationalen Währungen für alle Euro-Länder ökonomisch töricht, weil durch die Wiedereinführung beispielsweise der Drachme die Schuldenlast Griechenlands ja weiter in Euro bestehen und noch viel höher ausfallen würde. Allein die Debatte über das Ausscheiden einzelner Länder würde auch zu massiven Problemen auf den europäischen Finanz- und Kapitalmärkten führen, insbesondere in den betroffenen Ländern:168 Sobald sich abzeichne, dass ein Land wegen übermäßiger Defizite aus der Währungsunion ausgebootet wird, würden Investoren Kapital aus diesem Land abziehen. Dies würde dann die Finanzierungskosten in die Höhe treiben und damit die Budgetsituation weiter verschlimmern.169 Bis zur Umsetzung des Währungswechsels würde der Euro dort außerdem verfügbar bleiben – und nach der Umsetzung weiterhin gesetzliches Zahlungsmittel im Rest des Euro-Raums. Die Bürgerinnen und Bürger eines Landes, das zu einer eigenen Währung zurückkehren wollte, würden ihre Ersparnisse innerhalb kürzester Zeit in Euro-Bargeld umwandeln . Der resultierende Ansturm auf das nationale Bankensystem würde zwangsläufig zum Zusammenbruch führen (bank run).170 Auch Herrmann untersucht die Möglichkeiten von Ausschluss oder Austritt aus der Eurozone und kommt zu dem Ergebnis, dass ein Ausschluss gegen den Willen des betroffenen Mitgliedstaates nicht möglich sei. 171 Ein unilateraler Austritt eines Mitgliedstaates komme schon wegen der zahlreichen primär- und sekundärrechtlichen Vorschriften auf die sich Gläubiger von Euroforderungen berufen könnten kaum in Betracht.172 Ein Austritt aus der Eurozone im Einvernehmen mit allen Mitgliedstaaten sei aber auf Grundlage verschiedener Rechtsgrundlagen im Vertrag denkbar173: In Betracht komme etwa ein Rückgriff auf die Vertragsabrundungskompetenz in Art. 352 AEUV, die einen einstimmigen Ratsbeschluss erfordert, wenn der Austritt eines Mitgliedstaates im Rahmen der Verwirklichung der Ziele der Union erforderlich wäre. Die Wiedereinführung 168 S. Enderlein, Die Krise im Euro-Raum: Auslöser, Antworten, Ausblick, APuZ 43/2010, S. 7 (11 f.). 169 Dullien/Schwarzer, Umgang mit Staatsbankrotten in der Eurozone, SWP-Studie S 19 von Juli 2010, S. 26 f. 170 Enderlein, Die Krise im Euro-Raum: Auslöser, Antworten, Ausblick, APuZ 43/2010, S. 7 (11 f.). 171 Herrmann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413 (417f.). 172 Herrmann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413 (418). 173 Herrmann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413 (417). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 51 einer nationalen Währung hingegen durch eine kompetenzielle Rückermächtigung gemäß Art. 2 Abs. 1 AEUV zu bewirken, hält Herrmann für problematisch, da diese Vorschrift selbst nicht die notwendige Grundlage bilden könne, sondern vielmehr der Ergänzung durch die jeweils betroffenen Kompetenzen der Union bedürfe. Jedenfalls aber sei ein Teilaustritt gemäß Art. 50 EUV als Minus gegenüber einem Vollaustritt ebenso denkbar, wie ein Austritt aus der Eurozone durch eine entsprechende Änderung der Verträge. Ein Austritt nach allgemeinen völkerrechtlichen Regelungen sei aber wegen der in den EU-Verträgen enthalten Spezialvorschriften ausgeschlossen. Trotz der Möglichkeiten, einen einvernehmlichen Austritts eines überschuldeten Mitgliedstaates rechtlich wirksam zu konstruieren, sieht Herrman insbesondere technisch-praktische und ökonomische Hinderungsgründe für einen solchen Schritt. Die „Enteuroisierung“ des betreffenden Mitgliedstaates sei schwierig und mit erheblichen negativen ökonomischen Konsequenzen verbunden : Auch er prognostiziert insbesondere eine Kapitalflucht in sichere Länder und einen Run auf das mitgliedsstaatliche Bankensystem mit der Folge seines Zusammenbruchs bei Bekanntwerden etwaiger Austrittspläne.174 174 Herrmann , Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413 (417). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 52 6. Vorschläge für ein Staateninsolvenzverfahren und die Einführung eines permanenter Krisenmechanismus 175 Seit der Beginn der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise wird in Wissenschaft und Politik verstärkt die Frage diskutiert, wie ein Mitgliedstaat des Euro-Währungsgebiets notwendigenfalls einem Insolvenzverfahren unterworfen werden kann.176 Die Diskussion hat seit der drohenden Zahlungsunfähigkeit Griechenlands, des aus diesem Grunde beschlossenen 110-Milliarden-Euro- Hilfspakets der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets für Griechenland und des anschließend gespannten Rettungsschirms mit einem Gesamtumfang von 750 Milliarden Euro für das gesamte Euro-Währungsgebiet an Intensität zugenommen. Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler hat beispielsweise schon in einem Interview vom März 2010 ein Insolvenzverfahren für Staaten gefordert.177 Eine entsprechende Forderung folgte von Bundeskanzlerin Angela Merkel178 und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im Mai 2010.179 6.1. Vorschläge in Wissenschaft und Politik zur Einführung eines Insolvenzverfahrens für Staaten 6.1.1. Vorschlag von Paulus In einem Beitrag im Focus vom 5. Mai 2010 hat der Berliner Professor für Insolvenzrecht Christoph G. Paulus einen Vorschlag für ein Insolvenzverfahren für den begrenzten Raum der Euro- Zone unterbreitet.180 Er nennt als unabdingbare Voraussetzung für ein derartiges Verfahren die Schaffung eines neutralen und unabhängigen Gerichts, das zweckmäßigerweise aus einem fest 175 Die Ausführungen basieren im Wesentlichen auf der aktualisierten Ausarbeitung von Rohleder/Zehnpfund, Einführung eines geordneten Insolvenzverfahrens für Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets, WD 11 – 3000 – 173/10. 176 Vgl. z. B. Paulus, Rechtliche Handhaben zur Bewältigung der Überschuldung von Staaten, Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW) 2009, S. 11 ff.; Aden, Staateninsolvenz, online abrufbar auf der Seite der Staats- und Wirtschaftspolitischen Gesellschaft e.V. unter: http://www.swg-hamburg.de/Wirtschaft/Staateninsolvenz.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 177 Interview im Focus vom 20. März 2010, „Köhler fordert Insolvenzverfahren für Staaten“, online abrufbar unter: http://www.focus.de/politik/deutschland/focus-interview-koehler-fordert-insolvenzverfahren-fuer-staaten _aid_491428.html (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 178 Unter Bezugnahme auf ein Interview der Bundeskanzlerin mit der ARD, Welt vom 4. Mai 2010, „Schäuble fordert Insolvenzverfahren für EU-Staaten, online abrufbar unter: http://www.welt.de/politik/deutschland/article 7463650/Schaeuble-fordert-Insolvenzverfahren-fuer-EU-Staaten.html (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 179 Vgl. Focus vom 4. Mai 2010, „Schäuble fordert Insolvenzverfahren für Staaten“, online abrufbar unter: http://www.focus.de/finanzen/news/staatsverschuldung/schuldenkrise-schaeuble-fordert-insolvenzverfahrenfuer -staaten_aid_504689.html (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 180 Paulus, „Wie ein Insolvenzverfahren aussehen könnte“, Focus vom 5. Mai 2010, online abrufbar unter: http://www.focus.de/finanzen/news/staatsverschuldung/staatspleite-wie-ein-insolvenzverfahren-aussehen-koennte _aid_505064.html (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Vgl. ausführlich auch Paulus, Rechtliche Handhaben zur Bewältigung der Überschuldung von Staaten, Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW) 2009, S. 11 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 53 angestellten Präsidenten besteht sowie aus einem Pool aus 20 bis 30 Schadenregulierungsexperten . Dieses Gericht soll das Verfahren ab dem Moment leiten, von dem an ein Staat die Einleitung des Schuldenrestrukturierungsverfahrens beantragt. Voraussetzung für einen erfolgreichen Antrag sei die „Untragbarkeit der Schuldenlast“. Als mögliche Folge der Einleitung eines derartigen Verfahrens beschreibt Paulus etwa die Einführung eines allgemeinen Moratoriums für alle Gläubiger ; ferner die Berechtigung des Schuldnerstaats, bestimmte frühere Verträge zu annullieren oder gar weggegebene Vermögenswerte unter bestimmten Voraussetzungen zurückzuholen. Wichtig sei, dass das Verfahren nicht etwa auf bestimmte Gläubiger begrenzt werde, sondern dass alle davon erfasst würden. Das Gericht solle auch die Kompetenz haben, die Berechtigung der Gläubigerforderungen zu überprüfen. Als regelungsbedürftige Fragen wirft Paulus Folgendes auf: Bestimmt werden müsse, was genau mit dem Begriff „Staat“ gemeint sein soll. Außerdem müsse die Frage geklärt werden, ob und, wenn ja, wie die Gläubiger am Verfahren teilnehmen können oder sollen. Ggf. könnten Gläubigerinteressen gebündelt und durch einen Vertreter repräsentiert werden. Im eigentlichen Kern des Verfahrens müsse die Entscheidung getroffen werden über den Plan der Maßnahmen zur Schuldenrestrukturierung : Wer darf einen solchen Plan entwerfen? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ein derartiger Plan die Gläubiger bindet? Soll es zur Annahme des Planes eine Abstimmung durch den Gläubiger geben, oder ist die Annahme des Planes abhängig von der Billigung des Gerichts? Eine ausführliche Diskussion von Vorschlägen und ein konkreter Vorschlag einer rechtlichen Handhabe zur Bewältigung der Überschuldung von Staaten findet sich in einem Aufsatz von Paulus aus dem Jahr 2009.181 6.1.2. Vorschlag von Fuest, Hellwig, Sinn und Franz Die Wissenschaftler Clemens Fuest, Martin Hellwig, Hans-Werner Sinn und Wolfgang Franz haben in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. Juni 2010 „Zehn Regeln zur Rettung des Euro“ veröffentlicht.182 Diese beinhalten u. a. auch die Schaffung eines Insolvenzverfahrens für Staaten. Die Autoren plädieren dafür, dass die Rettungspakete in der jetzigen Form nicht über die vereinbarten Fristen hinaus verlängert werden dürften. Denn sie sähen einen vollständigen Freikauf der Gläubiger von Staaten in Zahlungsschwierigkeiten vor, ohne dass diese Gläubiger einen Teil der Risiken, die sie eingingen, tragen müssten. Dies verführe zur Sorglosigkeit bei der Zinsvergabe und erzeuge ein Übermaß an Zinskonvergenz. Bis zum Auslaufen der Rettungspakete müsse die Politik ein tragfähiges Konzept für die künftigen fiskalpolitischen Regeln in Europa 181 Paulus, Rechtliche Handhaben zur Bewältigung der Überschuldung von Staaten, Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW) 2009, S. 11 ff. 182 Fuest/Hellwig/Sinn/Franz, Appell an die Bundesregierung – Zehn Regeln zur Rettung des Euro, FAZ vom 18. Juni 2010, online abrufbar unter: http://www.faz.net/s/Rub3ADB8A210E754E748F42960CC7349BDF/Doc~EF60849D23B2942438A646C0FB5943 456~ATpl~Ecommon~Scontent.html (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); vgl. auch den älteren Artikel von Fuest in der FAZ vom 20. Mai 2010, „Wege zur Bewältigung der Schuldenkrise im Euro-Raum“, online abrufbar unter: http://www.faz.net/s/RubC9401175958F4DE28E143E68888825F6/Doc~EE903C526FDA14A1CB677D55C41D8B B8F~ATpl~Ecommon~Scontent.html (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 54 entwickeln. Dieses Konzept müsse zwei Elemente enthalten: schärfere politische Schuldenschranken und vor allem ein Insolvenzverfahren für Staaten. Um staatliche Haushaltsdisziplin in Europa durchzusetzen, müsse man den Kapitalmärkten glaubwürdig vermitteln, dass im Fall einer Überschuldung eines Landes zuerst die Gläubiger haften, bevor Hilfen von Gemeinschaftsinstitutionen oder anderen Mitgliedstaaten in Frage komme. Die Autoren plädieren für folgende fiskalpolitischen Regeln für die Eurozone: 1. Hilfen könnten bedrängten Staaten grundsätzlich nur nach einer einstimmigen Feststellung der drohenden Zahlungsunfähigkeit durch die an den Hilfsaktionen beteiligten Länder und den Internationalen Währungsfonds (IWF) gewährt werden. 2. Die Hilfen sollten als verzinsliche Bürgschaften (Avalkredite) oder als Kredite gewährt werden, deren Zins um einen angemessenen Prozentsatz (möglicherweise 3,5 Punkte) über dem europäischen Durchschnittszins liege. Die Kredite sollten einen bestimmten maximalen Prozentanteil des Bruttoninlandsproduktes des hilfsbedürftigen Landes nicht überschreiten. 3. Zugleich mit der Gewährung der Hilfen müssten die Altgläubiger durch einen sogenannten Hair Cut auf einen Teil ihrer Ansprüche verzichten. Der maximale Verzicht sollte klar beziffert werden, um eine panikartige Zuspitzung des Krisengeschehens auszuschließen. Die Autoren halten einen Hair Cut von 5 Prozent pro Jahr seit der Emission eines Staatspapiers für angemessen. 4. Das Budget des von der Zahlungsunfähigkeit bedrohten Landes werde unter die Kontrolle der Europäischen Kommission gestellt. Die Kommission erarbeite mit dem betreffenden Land ein Programm zur Sanierung der Staatsfinanzen, das auch Reformen zur Stärkung des Wirtschaftswachstums beinhalten könne. Die Hilfen würden unter der Bedingung aufrechterhalten , dass das Land die Auflagen des Programms erfülle. 5. Diese Insolvenzordnung dürfe keinesfalls durch andere Hilfssysteme unterlaufen werden, die Anreize zu opportunistischem Verhalten gäben, insbesondere nicht durch Eurobonds. 6. Die Defizitgrenzen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes sollten nach Auffassung der Autoren in Abhängigkeit von der Schuldenquote modifiziert werden, um von hochverschuldeten Ländern frühzeitig mehr Haushaltsdisziplin einzufordern. 7. Für die Überschreitung der Schuldengrenzen seien Strafen zu definieren, die automatisch ohne weiteren politischen Beschluss fällig würden, wenn die Statistikbehörde der Kommission (Eurostat) die Defizite formell festgestellt hat. Die Strafen könnten pekuniärer Natur sein und die Form von Pfandbriefen annehmen, die mit privatisierbarem Staatsvermögen besichert sind, und sie könnten auch nicht-pekuniäre Elemente enthalten wie z. B. den Entzug von Stimmrechten im Rat der EU. 8. Eurostat solle zum Zweck der Feststellung der Defizite und Schuldenquoten die Befugnis erhalten, von allen Ebenen der nationalen Statistikbehörden direkt Auskunft zu verlangen und vor Ort eigenständige Kontrollen der Erhebungsprozeduren vorzunehmen. 9. Schlussendlich sollte für den Fall, dass alle genannten Hilfs- und Kontrollsysteme versagten und dennoch eine abermalige Insolvenz einträte, das Ausscheiden des betroffenen Landes aus dem Euro-Währungsverbund durch mehrheitlichen Beschluss der Euro-Staaten ermöglicht werden. 10. Der freiwillige Austritt aus dem Euro-Währungsverbund sollte jederzeit möglich sein. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 55 Schon in einer früheren Publikation hatte Fuest ein Insolvenzverfahren für hochverschuldete Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets gefordert.183 In einem solchen Verfahren müssten die Gläubiger des insolventen Landes einen Teil ihrer Forderungen einbüßen. Das Verfahren müsse in der Hand einer mit entsprechenden Kompetenzen ausgestatteten Institution liegen, etwa eines neu zu schaffenden Europäischen Währungsfonds. Bis zur Schaffung einer neuen Institution könnte die Europäische Zentralbank (EZB) mit der Umschuldung beauftragt werden und vorübergehend entsprechende Kompetenzen erhalten. 6.1.3. Vorschlag von Gros und Mayer Daniel Gros und Thomas Mayer schlagen in einer Studie von Februar 2010 die Einrichtung eines Europäischen Währungsfonds vor.184 Dieser Europäische Währungsfonds soll Verfahren vorsehen , um eine geordnete Insolvenz eines seiner Mitglieder zu ermöglichen.185 Die Autoren schlagen vor, dass der Europäischen Währungsfonds den Gläubigern des zahlungsunfähigen Staates eine Umschuldung anbietet im Gegenzug für einen gleichmäßigen Hair Cut der Ansprüche gegen den Europäischen Währungsfonds. So würde der Europäische Währungsfonds alle Ansprüche gegen den zahlungsunfähigen Staat erwerben. Auf diese Weise könnte der Europäische Währungsfonds einen Rahmen für die Insolvenz eines Staates vorsehen, der vergleichbar sei mit dem sog. Kapitel-11-Verfahren, das in den Vereinigten Staaten für insolvente Unternehmen, die für eine Restrukturierung geeignet seien, existiere.186 6.1.4. Vorschlag des Bundeswirtschaftsministers laut Medienberichten Nach Medienberichten hat Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle im Mai 2010 ein Konzept für ein geordnetes Insolvenzverfahren in der Euro-Zone vorgelegt.187 Dies sehe u. a. ein vorübergehendes Schuldenmoratorium für insolvente Euro-Staaten vor. Mit dem Moratorium würde Zeit geschaffen, um eine „nachhaltige Umschuldung“ des zahlungsunfähigen Staates vorzubereiten und den weiteren Kapitalabfluss zu verhindern. Der Restrukturierungsprozess sollte von einer unabhängigen Institution wie der Kommission oder der EZB angestoßen werden. Zugleich solle ein unabhängiges, europäisches Gremium als Streitschlichter eingerichtet werden, Vorbild sei ein ähnliches Verfahren des IWF. 183 Fuest, Wege zur Bewältigung der Schuldenkrise im Euro-Raum“, online abrufbar unter: http://www.faz.net/s/RubC9401175958F4DE28E143E68888825F6/Doc~EE903C526FDA14A1CB677D55C41D8B B8F~ATpl~Ecommon~Scontent.html (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 184 Gros/Mayer, How to deal with sovereign default in Europe: Create the European Monetary Fonds now!, Hrsg. CEPS, No. 202/February 2010, online abrufbar unter: http://www.ceps.eu/ceps/download/2912 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010); vgl. auch Gros/Mayer, Financial Stability beyond Greece, Making the most of the European Stabilisation Mechanism, Hrsg. CEPS, online abrufbar unter: http://www.ceps.eu/ceps/download/3308 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 185 Gros/Mayer, a.a.O., S. 4 ff. 186 Gros/Mayer, a.a.O., S. 5. 187 Finanzen.net newsticker vom 6. Mai 2010, „Brüderle legt Plan für Staats-Insolvenzen vor“, online abrufbar unter : http://www.finanzen.net/nachricht/aktien/Presse-Bruederle-legt-Plan-fuer-Staats-Insolvenzen-vor-788646 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 56 6.1.5. Arbeitspapier der Bundesministerien der Finanzen und Justiz laut Bericht des Spiegels Nach einem Bericht der Zeitschrift Der Spiegel aus dem Juli 2010 haben das Bundesministerium der Finanzen (BMF) und das Bundesministerium der Justiz (BMJ) zu dieser Zeit ein Konzept für eine Insolvenzordnung für Staaten erarbeitet.188 Experten von BMF und BMJ hätten nach Angaben der Zeitschrift Der Spiegel ein Verfahren in zwei Schritten vorschlagen; diese werden im Folgenden anhand der Berichterstattung vorgestellt: Der erste Schritt besteht aus einem Forderungsverzicht der Gläubiger. Nach Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sollen wie bei jeder Insolvenz eines Unternehmens auch bei einer Staateninsolvenz die Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten müssen.189 Hiervon erhoffe man sich eine erzieherische Wirkung für Geldgeber und Kreditnehmer. Der Privatsektor solle so in das Verfahren eingebunden werden, um die finanziellen Lasten nicht allein dem Steuerzahler aufzubürden. Die Gläubiger erhielten über den Coupon eine Risikoprämie und müssten demzufolge dieses gesondert prämierte Risiko auch tragen. Das Konzept erhalte eine maßgeschneiderte Kombination aus Laufzeitverlängerung und angemessener Herabsetzung des Nominalwerts oder des Zinssatzes der entsprechenden Anleihen. Im Gegenzug für diesen Verzicht bekämen die Anleger den Restwert der Anleihe, höchstens den halben Nennwert, garantiert. Der Vorteil für die Anleger bestünde damit darin, dass sie nicht die komplette Anleihe abschreiben müssten. Das Schuldnerland müsse eine Garantiegebühr entrichten und trage somit auch eigene Lasten. Als „internationaler Garantiegeber“ sollte ein neu zu gründender Berliner Club fungieren. Hierbei soll es sich um eine entpolitisierte und rechtlich selbständige Einrichtung handeln.190 Diese Institution solle nach Vorbild des Pariser Clubs, der Umschuldungen von Krediten zwischen Privaten regelt, und des Londoner Clubs, der auf Verbindlichkeiten zwischen Banken und Staaten spezialisiert ist, errichtet werden. Der Berliner Club solle sich in Abgrenzung zu diesen Institutionen auf Staatsanleihen und davon abgeleitete Wertpapiere, sogenannte Derivate, konzentrieren. Die Mitglieder des Berliner Clubs könnten sich aus der Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G 20) rekrutieren; denkbar sei aber auch, dass er im Rahmen der Euro-Zone gegründet würde. Weder die Sprecherin des BMF noch der Regierungssprecher haben auf den Bericht des Spiegels jedoch bestätigt, dass die Bundesregierung eine Art „Berliner Club“ gründe wolle, unter dessen Regie die Umschuldung zahlungsunfähiger Staaten organisiert werden könnte.191 188 Reiermann, „Regeln für die Pleite“, Spiegel vom 12. Juli 2010, S. 70 ff. Vgl. hierzu eher allgemein den Monatsbericht des BMF von September 2010, S. 38,online abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium .de/nn_111108/DE/BMF__Startseite/Aktuelles/Monatsbericht__des__BMF/2010/09/inhalt/Monatsbericht- September-2010,templateId=raw,property=publicationFile.pdf )(letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 189 Zitiert nach Reiermann, „Regeln für die Pleite“, Spiegel vom 12. Juli 2010, S. 70 (71). 190 Reiermann, „Regeln für die Pleite“, Spiegel vom 12. Juli 2010, S. 70 (72). 191 Vgl. den Bericht „Details zur Insolvenzordnung für Staaten noch offen“ vom 12. Juli 2010 auf der Homepage Finanzen.net, online abrufbar unter: http://www.finanzen.net/nachricht/aktien/UDPATE-Details-von-Insolvenzordnung -fuer-Staaten-noch-offen-824557 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 57 Nach Informationen des Spiegels soll der IWF von Anfang an der Umschuldung beteiligt sein. Dem IWF obliege es festzustellen, ob die erste Stufe des Insolvenzverfahrens, d. h. Schuldenverzicht der Gläubiger und Umstrukturierung, fehlgeschlagen sei. Der zweite Schritt des Verfahrens laufe auf eine vollständige Umschuldung hinaus. Es werde dabei zu einer Einschränkung der souveränen Dispositionsbefugnisse kommen müssen. Anstelle der Regierung des Schuldenlandes solle eine mit den regionalen Besonderheiten des Schuldnerlandes vertraute Persönlichkeit oder Gruppe von Persönlichkeiten die Vermögensinteressen des zahlungsunfähigen Staates wahrnehmen. Zukünftig solle davon abgesehen werden, dass Defizitstaaten Finanzhilfen von anderen Staaten erhalten.192 Im Bericht des Magazins Der Spiegel wird davon ausgegangen, dass die Einführung eines solchen Insolvenzverfahrens auf EU-Ebene eine Anpassung der europäischen Verträge erforderlich machen würde.193 6.1.6. Empfehlung der Stiftung Wissenschaft und Politik für ein Insolvenzrecht für Staaten Als Teil eines insgesamt drei Komponenten umfassenden Mechanismus für den Umgang mit überschuldeten Staaten im Euro-Währungsgebiet schlägt die Stiftung Wissenschaft und Politik die Einführung eines Insolvenzrechts für Euro-Staaten vor, das ein geordnetes Verfahren für die Restrukturierung des Staatsschuld vorsieht und Vorreiter für ein System globaler Insolvenzregeln sein könnte.194 Der entworfene Mechanismus umfasst neben der Einführung eines Staateninsolvenzrechts einen ständigen Liquiditätsfonds der Euro-Staaten zur streng konditionalisierten Gewährung von Überbrückungskrediten sowie die Emission gemeinsamer Bonds (Anleihen) für maximal 60 Prozent der Staatsschulden der Euro-Staaten. Dieser Mechanismus solle als ständiges Instrumentarium für ein Krisenmanagement zur Lösung von Liquiditäts- und Solvenzproblemen die Reform des Governance-Rahmens der Wirtschafts- und Währungsunion ergänzen, bevor sich das dreijährige Zeitfenster des 750 Milliarden Euro umfassenden Rettungsschirms der Euro-Staaten wieder schließe und eine neuerliche akute Verschuldungskrise das Euro-Währungsgebiet erschüttern könne. Dem Vorschlag für die Etablierung eines Insolvenzrechts für Euro-Staaten liegt die These zugrunde , dass einem insolventen Staat durch Hilfskredite bei vernünftigen Annahmen zu Wachstums - und Politikentwicklung keine erfolgreiche Sanierungsunterstützung geleistet werden könne. Vielmehr türmten die neuen Kredite den Schuldenberg dieses Staates weiter auf mit der Konsequenz, dass weder die Rückzahlung dieser Kredite noch ein Ende der Zahlungsschwierigkeiten insgesamt wahrscheinlich würden. Der richtige Weg sei dann der des Staatsbankrottes mit 192 Reiermann, „Regeln für die Pleite“, Spiegel vom 12. Juli 2010, S. 70 (72). 193 Reiermann, „Regeln für die Pleite“, Spiegel vom 12. Juli 2010, S. 70 (72). 194 Vgl. Schwarzer/Dullien, Umgang mit Staatsbankrotten in der Eurozone - Stabilisierungsfonds, Insolvenzrecht für Staaten und Eurobonds, Studie S 19 der Stiftung Wissenschaft und Politik, Juli 2010, online abrufbar unter: http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=7293 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 58 der zumindest teilweisen Einstellung des Schuldendienstes. In Ermangelung eines internationalen Verfahrens für einen geordneten Staatsbankrott sei sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene ein dauerhafter Mechanismus wünschenswert, um die Schulden zahlungsunfähiger Staaten geordnet und regelgebunden zu restrukturieren.195 Als Idealfall beschreiben die Autoren die Schaffung eines globalen Insolvenzverfahrens für Staaten, da die Gläubiger im Falle eines Staatsbankrotts bei der Risikobewertung auf internationale Vergleichbarkeit vertrauen könnten. Für ein solches Verfahren, das die damalige stellvertretende IWF-Direktorin, Anne O. Krueger im Jahre 2001 entworfen hatte,196 spräche der Anreiz für Gläubiger und Schuldner, proaktiv eine Einigung für den Fall der Zahlungsunfähigkeit zu suchen , sowie der prozedurale Effekt, dass sich eine Schuldenrestrukturierung nicht jahrelang verzögere . Wegen der fehlenden internationalen Bereitschaft und der Widerstände insbesondere der USA seien solche Vorstöße bislang gescheitert. Daher läge es nahe, eine entsprechende Diskussion im Rahmen der EU weiter voranzutreiben und dabei den Dialog mit den G-20-Staaten, dem IWF sowie den USA fortzuentwickeln. Eine europäische Lösung könne nach Auffassung der Autoren die meisten Forderungen gegen die Euro-Staaten erfassen, da diese ihre Anleihen in erster Linie an europäischen Finanzplätzen emittiert hätten und auch dort handelten. Grundsätzlich müsse es daher möglich sein, ein Insolvenzverfahren über die Regulierung dieser Finanzmärkte zu institutionalisieren. Ein eigens eingerichtetes Gremium würde auf Antrag eines bestimmten Teils der Gläubiger oder der Regierung des betroffenen Staates ein Insolvenzverfahren eröffnen und abwickeln. Die national emittierten Staatsanleihen und ausstehende Forderungen aus Lieferungen und Leistungen würden so weit gekürzt, dass der überschuldete Staat am Ende des Restrukturierungsprozesses einen Schuldenstand erreicht, den er bewältigen kann. Forderungen aus eventuell ausgegebenen gemeinsamen Eurobonds sowie an die EU-Liquiditätsfazilität wären vorrangig und deshalb von der Umstrukturierung ausgenommen. Zur Sicherung der Praktikabilität eines solchen Insolvenzverfahrens dürften die Euro-Staaten allerdings künftig keine Staatspapiere an Finanzplätzen emittieren, die anderen Jurisdiktionen unterliegen, wie etwa in den USA. Dies, so die Empfehlung, sollten die Euro-Staaten verbindlich vereinbaren, bevor sie die anderen Mechanismen einführen. Eine solche Übereinkunft würde auch verhindern, dass das Emissionsgeschäft von Staatsanleihen infolge eines EU-Insolvenzrechts für Staaten von Finanzplätzen innerhalb der EU verdrängt und auf andere Finanzplätze verlagert wird.197 195 Vgl. Schwarzer/Dullien, S. 9. Die Autoren verweisen auf die bereits seit 2001 geführte Debatte über einen solchen Mechanismus und nennen als Vertreter: Krueger, A New Approach to Sovereign Debt Restructuring, International Monetary Fund, Washington D.C., 2002, online abrufbar unter: http://www.imf.org/external/pubs/ft/exrp/sdrm/eng/sdrm.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010), Roubini/Setser, Bailouts or Bail-ins? Responding to Financial Crises in Emerging Economies , Institute for International Economics, Washington, D.C., 2004 sowie Gros/Mayer, How to Deal with Sovereign Default in Europe: Create the European Monetary Fund Now!, Hrsg. CEPS, No. 202/February 2010, online abrufbar unter : http://www.ceps.eu/ceps/download/2912 (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 196 Krueger, A New Approach to Sovereign Debt Restructuring, International Monetary Fund, a.a.O. 197 Vgl. Schwarzer/Dullien, S. 31. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 59 Alternativ wird angeregt, in einem Insolvenzverfahren nationale Staatsanleihen in Eurobonds und neue, nationale Anleihen umzutauschen,198 wobei die Anleger eine Klausel zu akzeptieren hätten, nach der ein solches Verfahren anerkannt wird. Aus Gläubigersicht bestehe der Anreiz darin, dass sie durch den Erwerb von Eurobonds Anleihen mit größerer Sicherheit erhielten, weil alle Euro-Staaten als gemeinsame Emittenten kollektiv dafür hafteten. In der Summe würde die Anlage durch die Kollektivhaftung für einen Teil der Papiere tendenziell sicherer, keinesfalls jedoch unsicherer. Würde der Weg eines in dieser Weise ausgestalteten Insolvenzverfahrens beschritten , müssten sich die Euro-Staaten verpflichten, auch für die künftige Emission der Staatsanleihen solche Klauseln in ihre Anleiheverträge aufzunehmen. 6.2. Vorschläge für die Schaffung eines permanenten Krisenmechanismus 6.2.1. Erklärung der Euro-Gruppe vom 28. November 2010 Am 28. und 29. Oktober 2010 hat sich der Europäische Rat darauf verständigt, dass die Einrichtung eines permanenten Krisenmechanismus erforderlich ist, um die finanzielle Stabilität des Euro-Währungsgebiets als Ganzes sicherzustellen.199 Der grobe Rahmen für einen solchen Mechanismus wurde hier schon umrissen. In der Erklärung der Eurogruppe vom 28. November 2010 werden die Eckpunkte des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) festgelegt:200 Der ESM soll auf der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) beruhen, d. h. zwischenstaatlich verfasst sein. Gemäß den Vorschriften der derzeitigen EFSF können bei strikter Konditionalität Finanzhilfepakete für Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets bereit gestellt werden. Die Vorschriften sollen so angepasst werden, dass eine einzelfallbezogene Beteiligung privatwirtschaftlicher Gläubiger in Übereinstimmung mit den Leitsätzen des IWF gewährleistet ist. Ein ESM-Kredit wird den „preferred creditor status“ erhalten und nur gegenüber dem IWF-Kredit nachrangig sein. Der Hilfe liegt ein stringentes wirtschaftliches und finanzielles Anpassungsprogramm sowie eine von der Kommission und dem IWF in Verbindung mit der EZB durchgeführte konsequente Schuldentragfähigkeitsanalyse zugrunde. Bei Ländern, die aufgrund der Schuldentragfähigkeitsanalyse als zahlungsfähig eingestuft werden, werden die privaten Gläubiger ermutigt, ihr Engagement gemäß internationalen Regelungen und in Einklang mit dem IWF-Verfahren aufrechtzuerhalten. Erweist sich ein Land als zahlungsunfähig, hat der Mitgliedstaat entsprechend den IWF-Verfahren zur 198 Ausführlich dazu: Schwarzer/Dullien, S. 32 f. 199 Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 29. Oktober 2010, Rats-Dok. EUCO 25/10, S. 2, online abrufbar unter. http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=DOC/10/4&format=HTML&aged=0&language =DE&guiLanguage=en (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). 200 Statement by the Eurogroup, online abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs /cms_data/docs/pressdata/en/ecofin/118050.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 60 Wiederherstellung der Schuldentragfähigkeit mit seinen privaten Gläubigern einen umfassenden Umstrukturierungsplan auszuhandeln. Wenn durch diese Maßnahmen Schuldentragfähigkeit hergestellt werden kann, darf der ESM Liquiditätshilfen bereitstellen. Die Minister der Eurogruppe treffen eine einstimmige Entscheidung über die Bereitstellung von Hilfe. Ab Juni 2013 werden in den Bedingungen aller neu aufgelegten europäischen Staatsanleihen standardisierte und identische Umschuldungsklauseln (collective action clauses, CACs) in einer Weise vorgesehen, die die Liquidität der Märkte gewährleistet. Diese Umschuldungsklauseln sollten den Klauseln entsprechen, die gemäß britischem und US-amerikanischem Recht nach dem G-10-Bericht über Umschuldungsklauseln üblich sind, und schließen Aggregatsklauseln ein, die es ermöglichen, alle von einem Mitgliedstaat ausgegebenen Schuldverschreibungen bei Verhandlungen als Gesamtheit zu betrachten. Hierdurch könnten die Gläubiger im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners per qualifiziertem Mehrheitsbeschluss eine rechtsverbindliche Änderung der Zahlungsbedingungen beschließen (Stillstand, Laufzeiterstreckung, Zinsermäßigung und/oder teilweiser Forderungsverzicht (haircut)). Geringfügige Änderungen der europäischen Verträge werden erforderlich. Der Europäische Rat wird sich auf seiner Tagung am 16. und 17. Dezember 2010 erneut mit diesem Thema befassen. 6.2.2. Vorschlag des Instituts für Wirtschaftsforschung Ein Gutachten des Instituts für Wirtschaftsforschung an der Universität München (ifo) entwickelt konkrete Vorschläge zur Gestaltung eines permanenten Krisenmechanismus. Zusammenfassend stellen die Gutachter Hans-Werner Sinn und Kai Carstensen folgende Anforderungen an einen zukünftigen Krisenmechanismus: Er sollte nicht in einen Transfermechanismus münden, risikoadäquate Zinsspreads (Zinsspreizung) ermöglichen, das hilfebedürftige Land in die Lage versetzen , sowohl seine staatlichen Aufgaben weiterhin zu erfüllen als auch ein Reformprogramm einleiten zu können und schließlich den maximalen Verlust der Investoren zu begrenzen. Vor diesem Hintergrund schlagen Sinn/Carstensen einen mehrstufigen Krisenmechanismus vor, der eine sukzessive Umwandlung aller im Markt befindlichen Anleihen der Länder des Euroraums in CAC-Anleihen vorsieht. Im Fall der drohenden Zahlungsunfähigkeit des Schuldnerstaates können diese Anleihen in Ersatzanleihen umgewandelt werden, die zu 80% von der Staatengemeinschaft gesichert sein sollen. Die dabei einzuhaltenden drei Stufen zur Behebung von Liquiditätskrisen werden von Sinn/Carstensen unterteilt in:201 1. Stufe: Marktlösung Auf Grundlage der in der Anleihe enthaltenen Umschuldungsklausel verhandelt das Schuldnerland mit den betroffenen Gläubigern – höchstens zwei Monate – über Laufzeitverhandlungen , Herabsetzungen des Nominalwertes oder Herabsetzungen des Zinssatzes (Coupons). Währenddessen wird neu auftretender Finanzierungsbedarf für die laufenden Staatsgeschäfte über die Vergabe von kurzfristigen, maximal einjährigen Kassenverstärkungskrediten der Staatengemeinschaft gedeckt, deren Zinssatz um 5 Prozentpunkte über 201 Sinn/Carstensen, Ein Krisenmechanismus für die Eurozone, in: ifo Schnelldienst Sonderausgabe 19. November 2010, S. 12f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 265/10 Seite 61 dem durchschnittlichen Zinsniveau der Mitgliedsländer für Kredite gleicher Laufzeit liegt. Die Kredite haben Vorrang vor privaten Krediten. 2. Stufe: Haircut und Ausgabe von Ersatzanleihen Bei fehlender Einigung auf der ersten Stufe werden nun Vertreter der Staatengemeinschaft und des IWF in die Verhandlungen – innerhalb von ebenfalls maximal zwei Monaten – mit einbezogen. Die Höhe des in diesem Fall automatisch vorzunehmenden Haircut richtet sich nach dem durchschnittlichen Marktwertabschlag der letzten drei Monate vor Beginn der Verhandlungen mit den Gläubigern und soll mindestens 20%, höchstens aber 50% betragen. Der dadurch verbleibende Restwert der Anleihen wird in vollem Umfang gegen Ersatzanleihen umgetauscht, die selbst zu 80% von der Staatengemeinschaft garantiert werden. Scheitern die Verhandlungen in der zweiten Stufe, so muss der Schuldnerstaat einseitig eine Umstrukturierung der betroffenen Anleihe erklären, wobei die Garantien der Staatengemeinschaft in diesem Fall entfallen. 3. Stufe: Anpassungsperiode Im Rahmen einer Anpassungsperiode von bis zu drei Jahren nach der Inanspruchnahme der Hilfen kann die Staatengemeinschaft dem Schuldnerland die Ausgabe von partiell besicherten Ersatzanleihen, die zu 80% garantiert werden, auch für eine Nettoneuverschuldung genehmigen, wenn sie sich im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts bewegt. Die Gesamtsumme der ausgereichten Bürgschaften soll 30% des Vorjahres-BIP nicht übersteigen (Garantierahmen). Sind die Zahlungsschwierigkeiten eines Landes auch nach Ausschöpfung des Garantierahmens nicht behoben oder kann der Schuldnerstaat eine Ersatzanleihe nicht bedienen, so dass die Staatengemeinschaft den Garantiebeitrag an die Gläubiger auszahlen muss, dann muss der Schuldnerstaat ein Schuldenmoratorium für seine gesamte ausstehende Staatsschuld erklären und die am Markt befindlichen Anleihen umstrukturieren. Im Falle der Zahlungsschwierigkeit eines Schuldnerstaates in einer Zwischenphase, d.h. vor der vollständigen Umwandlung in CAC-Anleihen, aber nachdem die derzeit gültigen Rettungspakete (Griechenlandpaket und EFSF) ausgelaufen sind, könnte ebenfalls in Verhandlungen zwischen den bedrohten Gläubigern und der Staatengemeinschaft eine – wegen der fehlenden CAC aber notwendig einstimmige – Lösung gesucht werden. Um die Zustimmung der Gläubiger zu erreichen schlagen Sinn/Carstensen vor, einen Haircut von lediglich 20 % vorzunehmen und gleichzeitig den vollen Restwert von 80 % der Altanleihen in vollständig statt nur partiell von der Staatengemeinschaft besicherte Ersatzanleihen umzutauschen. - Fachbereich Europa -