PE 6 - 3000 - 25/20 (27. März 2020) © 2020 Deutscher Bundestag Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. In einer Pressemitteilung vom 25. März 2020 hat das Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat (BMI) mitgeteilt, dass Saisonarbeitskräften und Erntehelfern die Einreise nach Deutschland im Rahmen der bestehenden Grenzkontrollen seit diesem Tag ab 17 Uhr nicht mehr gestattet wird.1 Dies gelte „für Einreisen aus Drittstaaten, Großbritannien sowie EU-Staaten, die den Schengen-Besitzstand nicht voll anwenden (u. a. Bulgarien und Rumänien) und für Staaten, zu denen Binnengrenzkontrollen vorübergehend wiedereingeführt wurden.“ Diese Regelung sei zur weiteren Eindämmung der Infektionsgefahr durch das sog. Corona-Virus, insbesondere zur Minimierung der Infektionsgefahren im grenzüberschreitenden Verkehr erforderlich. Weitere Angaben hierzu sind nicht bekannt. Der Fachbereich Europa wird vor diesem Hintergrund um eine Einschätzung des Einreiseverbots im Lichte des EU-Rechts ersucht, soweit dieses auch entsprechende Arbeitskräfte aus EU-Mitgliedstaaten betrifft. Ob das der Fall ist, lässt sich der insoweit mehrdeutigen Pressemitteilung allerdings nicht eindeutig entnehmen. Zum einen ist der Begriff der Saisonarbeitnehmer unionssekundärrechtlich ausschließlich Drittstaatsangehörigen vorbehalten.2 Zum anderen wird das Verbot ausdrücklich nur auf „Einreisen“ aus bestimmten Mitgliedstaaten bezogen, nicht hingegen auf deren Angehörige . Bei dieser Lesart ist das Einreiseverbot so zu verstehen, dass hiervon nur drittstaatsangehörige Saisonarbeitskräfte erfasst werden, die in Deutschland zur jetzigen Jahreszeit vor allem als Erntehelfer zum Einsatz kommen. 1 BMI, Pressemitteilung von 25. März 2020. 2 Vgl. Art. 1 Abs. 1 iVm. Art. 3 Buchst. b der Richtlinie 2014/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Beschäftigung als Saisonarbeitnehmer, ABl.EU 2014 Nr. L 94/375. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Kurzinformation Einreisebeschränkung für Saisonarbeitskräfte und Erntehelfer aus EU- Mitgliedstaaten im Lichte des Unionsrechts Kurzinformation Einreisebeschränkung für Saisonarbeitskräfte und Erntehelfer aus EU-Mitgliedstaaten im Lichte des Unionsrechts Fachbereich Europa (PE 6) Seite 2 Sollten hiervon indes auch Angehörige der genannten EU-Mitgliedstaaten erfasst werden, so würde das Einreiseverbot deren primärrechtlich garantierte Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beeinträchtigen. Diese Grundfreiheit kann – ebenso wie die übrigen Gewährleistungen der Unionsverträge, die Freizügigkeitsrechte beinhalten (Art. 21 Abs. 1, Art. 49 und Art. 56 AEUV) – jedoch u. a. aus Gründen der öffentlichen Gesundheit eingeschränkt werden (vgl. Art. 45 Abs. 3 AEUV). Die Bedingungen , unter denen die einzelnen Freizügigkeitsrechte ausgeübt werden können, als auch ihre Beschränkungsmöglichkeiten sind in der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (im Folgenden: RL 2004/38), konkretisiert worden.3 An ihrem Maßstab wären mitgliedstaatliche Einreiseverbote gegenüber Angehörigen anderer EU-Mitgliedstaaten unionsrechtlich zu messen. Einschlägig wären hier die Art. 27 ff. der RL 2004/38 des Kapitels VI dieses Rechtsaktes über die Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit. Während Art. 27 Abs. 1 RL 2004/38 allgemein darauf hinweist, dass freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen aus den genannten Gründen nach Maßgabe dieses Kapitels möglich sind, aber nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden dürfen, stellt Art. 29 RL 2004/38 besondere Anforderungen für Beschränkungen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift gelten als Krankheiten, die solche Maßnahmen rechtfertigen, „ausschließlich“ u. a. „Krankheiten mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der Weltgesundheitsorganisation“. Hierunter fällt auch der sog. Corona-Virus.4 Zu den in solchen Fällen möglichen mitgliedstaatlichen Maßnahmen zählen in erster Linie Einreisebeschränkungen .5 Diese müssen allerdings – wie alle grundfreiheitlichen Beeinträchtigungen – dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen, also insbesondere geeignet und erforderlich sein, um die öffentliche Gesundheit im konkreten Fall zu schützen.6 Soweit ersichtlich, liegt zu Art. 29 3 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten […], ABl.EU 2004 Nr. L 158/77, letzte konsolidierte Fassung vom 16.6.2011. 4 Siehe hierzu die Angaben auf den Internetseiten der Weltgesundheitsorganisation zum Corona-Virus. 5 Vgl. Franzen, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 45 AEUV, Rn. 137. Siehe auch § 6 Abs. 1 FreizügG/EU. Zu Ausweisungen bereits eingereister EU-Angehöriger aus Gründen der öffentlichen Gesundheit, vgl. Art. 29 Abs. 2 und 3 RL 2004/38. Diese sind zeitlich nur innerhalb der ersten drei Monate nach Einreise möglich. 6 Vgl. Franzen, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 45 AEUV, Rn. 127, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung . In der Richtlinie 2004/38 wird auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwar nur im Zusammenhang mit Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verwiesen, vgl. Art. 27 Abs. 2 RL 2004/38. Mit Blick auf die primärrechtlichen Vorgaben kann hieraus jedoch nicht der Schluss gezogen werden , dass Einschränkungen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit von der Beachtung dieses Grundsatzes freigestellt sind. Kurzinformation Einreisebeschränkung für Saisonarbeitskräfte und Erntehelfer aus EU-Mitgliedstaaten im Lichte des Unionsrechts Fachbereich Europa (PE 6) Seite 3 RL 2004/38 (sowie der Vorgängerregelung in Art. 4 der Richtlinie 64/2217) und der Verhältnismäßigkeit von darauf gestützten Maßnahmen keine unionsgerichtliche Rechtsprechung vor. Wie groß der mitgliedstaatliche Beurteilungsspielraum und wie hoch die gerichtliche Kontrolldichte insoweit sind, lässt sich daher nicht abschließend bestimmen. Blickt man vergleichend etwa auf warenverkehrsfreiheitliche Konstellationen, in denen eine Rechtfertigung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit im Raum stand (vgl. Art. 36 AEUV), so formuliert der EuGH in ständiger Rechtsprechung, dass es „mangels Harmonisierung und soweit beim gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Forschung noch Unsicherheiten bestehen, Sache der Mitgliedstaaten [ist], unter Berücksichtigung der Erfordernisse des freien Warenverkehrs innerhalb der Gemeinschaft zu bestimmen, in welchem Umfang sie den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen gewährleisten wollen […].“8 Dies spricht dafür, auch im Kontext der Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie der übrigen freizügigkeitsrelevanten Gewährleistungen von einem eher weiten Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten und von einer eher geringeren gerichtliche Kontrolldichte im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auszugehen. Hierfür streitet auch, dass die EU nur über eingeschränkte (Rechtssetzungs-)Zuständigkeiten im Bereich der Gesundheitspolitik verfügt und dieser Bereich im Übrigen weiterhin im Wesentlichen in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verblieben ist.9 Ob und inwieweit das vorliegende Einreiseverbot den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Lichte dieser Vorgaben genügen würde, lässt sich mit Blick auf die sehr allgemein gehaltene Begründung in der Pressemitteilung nicht beurteilen. Insoweit läge die Darlegungslast bei der Bundesregierung.10 Diese müsste etwa im Lichte der Anforderungen an die Geeignetheit, wonach die nationalen Maßnahmen das angestrebte – hier – Gesundheitsziel „in kohärenter und systematischer Weise“ verfolgen müssen,11 ausführen, wieso das Einreiseverbot nur gegenüber Saisonarbeitskräften und Erntehelfern und nur gegenüber solchen aus bestimmten EU-Mitgliedstaaten gilt. Zu erläutern wäre unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit bspw., warum das Einreiseverbot „bis auf Weiteres gilt“ und – angesichts der damit einhergehenden Schwere des Eingriffs in die Arbeitnehmerfreizügigkeit einerseits und der einstweilen zeitlich begrenzten internen Maßnahmen zur Eindämmung des sog. Corona-Virus andererseits – nicht zunächst zeitlich befristet ist. 7 Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, ABl.EG 56, S. 850. 8 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 28.1.2010, Rs. C-333/08 (Kommission/Frankreich), Rn. 85 (Hervorhebung durch Verfasser ), mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 9 Vgl. Art. 4 Abs. 2 Buchst. k AEUV in Verbindung mit Art. 168 Abs. 4 AEUV bzgl. der geteilten Zuständigkeit, und Art. 6 Buchst. a AEUV in Verbindung mit Art. 168 AEUV im Übrigen. 10 Siehe hierzu Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1: Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2012, Rn. 588. 11 Vgl. bspw. EuGH, Urt. v. 11.7.2019, Rs. C- 716/17 (A), Rn. 24, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung . Kurzinformation Einreisebeschränkung für Saisonarbeitskräfte und Erntehelfer aus EU-Mitgliedstaaten im Lichte des Unionsrechts Fachbereich Europa (PE 6) Seite 4 Neben materiellen Anforderungen an freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen sieht die Richtlinie 2004/38 auch verfahrensmäßige Anforderungen vor.12 So verlangt Art. 30 Abs. 1 RL 2004/38, dass entsprechende Entscheidungen „dem Betroffenen schriftlich in einer Weise mitgeteilt werden , dass er deren Inhalt und Wirkung nachvollziehen kann.“ Die den Entscheidungen zugrunde liegenden Gründe der öffentlichen Gesundheit sind „genau und umfassend mitzuteilen, es sei denn, dass Gründe der Sicherheit des Staates dieser Mitteilung entgegenstehen“ (vgl. Art. 30 Abs. 2 RL 2004/38). Ferner ist die Entscheidung mit einer Rechtsbehelfsbelehrung nach den Vorgaben des Art. 30 Abs. 3 RL 2004/38 zu versehen. Art. 31 RL 2004/38 enthält schließlich Vorgaben zu den im Rahmen des Rechtsschutzes zu beachtenden Verfahrensgarantien. Ob und inwieweit im Zusammenhang mit einem eventuellen Vollzug des Einreiseverbots gegenüber Angehörigen anderer EU-Mitgliedstaaten die Beachtung dieser verfahrensmäßigen Anforderungen sichergestellt werden könnte, lässt sich der Pressemitteilung nicht entnehmen und wäre letztlich eine Frage der – hier nicht bekannten – Verwaltungspraxis sowie des Einzelfalls. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das in der Pressemitteilung des BMI vom 25. März 2020 mitgeteilte Einreiseverbot für Saisonarbeitskräfte und Erntehelfer für den Fall, dass es nicht nur Drittstaatsangehörige, sondern auch Angehörige aus bestimmten EU-Mitgliedstaaten erfasst, in unionsrechtlicher Hinsicht insoweit den materiellen und verfahrensmäßigen Anforderungen der Art. 27 ff. RL 2004/38 genügen müsste, zu denen in materieller Hinsicht insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zählt. Ob das Einreiseverbot diesen Anforderungen insoweit entsprechen würde, lässt sich v. a. angesichts der allgemein gehaltenen Begründungserwägungen in der Pressemitteilung nicht beurteilen. – Fachbereich Europa – 12 Siehe hierzu Franzen, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 45 AEUV, Rn. 129 f.