Deutscher Bundestag Mitwirkungsmöglichkeiten des Deutschen Bundestags am Gesetzgebungsprozess der Europäischen Union Die Revision der Tabakproduktrichtlinie Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 11 – 3000 – 247/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 2 Mitwirkungsmöglichkeiten des Deutschen Bundestags am Gesetzgebungsprozess der Europäischen Union Die Revision der Tabakproduktrichtlinie Aktenzeichen: WD 11 – 3000 – 247/10 Abschluss der Arbeit: 19. November 2010 Fachbereich: WD 11: Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Beteiligungsmöglichkeiten nationaler Parlamente am Gesetzgebungsprozess der Europäischen Union 5 1.1. Unmittelbare Einwirkungsmöglichkeiten der nationalen Parlamente auf den Rechtssetzungsprozess der Europäischen Union 5 1.1.1. Informationsrechte zur Teilnahme am Gesetzgebungsprozess 5 1.1.1.1. Allgemeine Unterrichtungspflicht gegenüber den nationalen Parlamenten 5 1.1.1.2. Interparlamentarische Zusammenarbeit 6 1.1.2. Das Gebot der Einhaltung des Grundsatzes der Subsidiarität 7 1.1.2.1. Das Subsidiaritätsprinzip nach dem Vertrag von Lissabon 7 1.1.2.2. Das Frühwarnsystem – die Subsidiaritätsrüge 7 1.1.2.3. Zwischenfazit 9 1.1.3. Subsidiaritätsklage 10 1.1.4. Der Verfahrensablauf innerhalb des Deutschen Bundestages 11 1.1.4.1. Subsidiaritätsrüge 11 1.1.4.2. Subsidiaritätsklage 11 1.1.5. Fazit 11 1.2. Mittelbare Einflussmöglichkeiten nationaler Parlamente auf den Rechtssetzungsprozess der Europäischen Union 12 2. Die Revision der Tabakproduktrichtlinie 13 3. Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip 14 3.1. Der Grundgedanke des Subsidiaritätsprinzips im Recht der Europäischen Union 14 3.2. Verankerung im Primärrecht 15 3.3. Zur Prüfungsabfolge der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips 16 3.4. Prüfung der Änderungsoptionen zur Überarbeitung der Tabakproduktrichtlinie 17 3.4.1. Untersuchungsgegenstand 17 3.4.2. Vorfrage: Die Kompetenzgrundlage 17 3.4.2.1. Art. 114 AEUV als mögliche Kompetenzgrundlage (Binnenmarktkompetenz) 17 3.4.2.1.1. Erstes Urteil zur Tabakwerberichtlinie (2000) 18 3.4.2.1.2. Urteile zur Tabakproduktrichtlinie (2002 und 2004) 19 3.4.2.1.3. Zweites Urteil zur Tabakwerberichtlinie (2006) 21 3.4.2.1.4. Aus den Urteilen des EuGH abgeleiteter Prüfungsmaßstab 22 3.4.2.2. Anwendung des Prüfungsmaßstabs auf die Änderungsvorschläge der Kommission 22 3.4.2.3. Zwischenergebnis 24 3.4.2.4. Revision auf der Grundlage von Art. 168 Abs. 5 AEUV 24 3.4.3. Keine ausschließliche Zuständigkeit der Union 25 3.4.4. Keine ausreichende Verwirklichung der Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten 25 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 4 3.4.4.1. Ziele der Änderungsvorschläge der Kommission 25 3.4.4.2. Grenzüberschreitende Aspekte 26 3.4.4.3. Gefährdung der Vertragziele 26 3.4.4.4. Bessere Verwirklichung der Ziele auf der Ebene der Europäischen Union: Begründungskontrolle 27 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 5 1. Beteiligungsmöglichkeiten nationaler Parlamente am Gesetzgebungsprozess der Europäischen Union 1.1. Unmittelbare Einwirkungsmöglichkeiten der nationalen Parlamente auf den Rechtssetzungsprozess der Europäischen Union Die zentrale Norm für die unmittelbare Einbindung der nationalen Parlamente in den Rechtssetzungsprozess der Europäischen Union (EU) ist Art. 12 des Vertrags über die Europäische Union (EUV). Die nationalen Parlamente werden durch Art. 12 EUV gegenüber den EU-Organen mit eigenen Rechten ausgestattet und in das institutionelle Gefüge der EU einbezogen.1 Der Artikel fasst im Wesentlichen die Rechte und Aufgaben der nationalen Parlamente in der EU zusammen, wie sie sich aus den Unionverträgen sowie aus zwei Protokollen2 zum Vertrag von Lissabon ergeben .3 Art. 12 EUV zählt dabei konkrete Bereiche auf, in denen die nationalen Parlamente durch ihre Beteiligung „aktiv zur guten Arbeitsweise der Union“ beitragen. Eine nationale parlamentarische Mitwirkung erfolgt insbesondere im Wege der Unterrichtung durch die Organe der EU (Art. 12 lit. a EUV), durch die Mitwirkung bei der Wahrung des Subsidiaritätsprinzips (Art. 12 lit. b EUV) und durch die Beteiligung an der interparlamentarischen Zusammenarbeit zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament (Art. 12 lit. f EUV). Im Folgenden werden die oben aufgezählten Rechte der nationalen Parlamente zur Beteiligung am EU-Rechtssetzungssprozess näher erläutert: 1.1.1. Informationsrechte zur Teilnahme am Gesetzgebungsprozess Eine Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente wird im Vertrag von Lissabon zunächst über eine Bestätigung und Ausweitung des Zugangs zu Informationen über Vorhaben und aktuelle Tätigkeiten der Unionsorgane erreicht.4 Dieser Zugewinn ist von erheblicher Bedeutung, da die rechtzeitige Information eine grundlegende Voraussetzung jeder politischen Einflussnahme der nationalen Parlamente ist.5 1.1.1.1. Allgemeine Unterrichtungspflicht gegenüber den nationalen Parlamenten Nach Art. 12 lit. a EUV werden die nationalen Parlamente von den Organen der Union direkt unterrichtet und ihnen die Entwürfe von Gesetzgebungsakten der Union gemäß dem Protokoll über 1 Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, 5. Auflage 2010, Art. 12 EUV, Rdnr. 4. 2 Es handelt sich dabei um das „Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union“, Protokoll Nr. 1 zum Vertrag von Lissabon, und das „Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“, Protokoll Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon. 3 Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 12 EUV, Rdnr. 4 (Stand: 41 EL, Juli 2010 – im Erscheinen). 4 Calliess, Nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Parlamentarische Integrationsverantwortung auf europäischer und nationaler Ebene, Zeitschrift für Gesetzgebung 2010, S. 1 (7). 5 Geiger, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, 5. Auflage 2010, Art. 12 EUV, Rdnr. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 6 die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union (im Folgenden: Parlamentsprotokoll ) zugeleitet. Das Parlamentsprotokoll ist Bestandteil der Verträge6. Es wurde durch den Vertrag von Lissabon neu gefasst und die Rechte der nationalen Parlamente erheblich ausgeweitet. Die nationalen Parlamente bekommen nun von folgenden fünf Organen der EU Dokumente unmittelbar übermittelt: von der Europäischen Kommission (Kommission), Art. 1 und 2 Parlamentsprotokoll: die Konsultationsdokumente (Grün- und Weißbücher, Mitteilungen), die jährlichen Rechtssetzungsprogramme und zugehörigen Dokumente (Art. 1), die von der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat gerichteten Entwürfe von Gesetzgebungsakten (Art. 2 Abs. 3); vom Europäischen Parlament, Art. 2 UAbs. 4 Parlamentsprotokoll: die von ihm vorgelegten Gesetzgebungsentwürfe; vom Rat der Europäischen Union (Rat), Art. 5 Parlamentsprotokoll: die Tagesordnungen des Rates, deren Ergebnisse und die Protokolle von Tagungen, in denen der Rat über Entwürfe von Gesetzgebungsakten berät; die von einer Gruppe von Mitgliedstaaten, vom Gerichtshof , von der Europäischen Zentralbank oder von der Europäischen Investitionsbank vorgelegten Entwürfe von Gesetzgebungsakten (Art. 2 Abs. 5), ferner Beitrittsanträge von Drittstaaten; vom Europäischen Rat, Art. 6 Parlamentsprotokoll: die in Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 EUV genannten Initiativen zur Änderung von Abstimmungsmodalitäten im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren ; vom Rechnungshof, Art. 7 Parlamentsprotokoll: den Jahresbericht. 1.1.1.2. Interparlamentarische Zusammenarbeit Daneben gibt der durch den Vertrag von Lissabon neu ins Primärrecht aufgenommene Art. 12 lit. f EUV nun ausdrücklich vor, dass sich die nationalen Parlamente aktiv an der interparlamentarischen Zusammenarbeit zwischen den nationalen Parlamenten und mit dem Europäischen Parlament beteiligen. Die interparlamentarische Zusammenarbeit vollzieht sich bereits seit 1989 im Rahmen der Konferenz der Europa-Ausschüsse der Parlamente (COSAC7).8 Die Einführung von Art. 12 lit. f EUV hat daher eher symbolische Funktion, da sie keine rechtliche Voraussetzung für eine interparlamentarische Zusammenarbeit ist.9 In einer konsequenten Weiterentwicklung des interparlamentarischen Dialogs liegt aber eine Chance für die nationalen Parlamente, ihre spezifischen Erfahrungen und Sichtweisen frühzeitig 6 Art. 51 EUV: Die Protokolle und Anhänge der Verträge sind Bestandteil der Verträge. 7 COSAC ist die Abkürzung für „Conférence des Organes spécialisés en Affaires communautaires“. 8 Geiger, in: Geiger/Khan/Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Auflage 2010, Art. 12 EUV, Rdnr. 9. 9 Groh, Die Rolle der nationalen Parlamente, in: Fastenrath/Nowak (Hrsg.), Der Lissabonner Reformvertrag, 2009, S. 77 (106). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 7 in Debatten über Gesetzesvorhaben auf europäischer Ebene einzubringen und ggf. gemeinsame Initiativen zu starten.10 1.1.2. Das Gebot der Einhaltung des Grundsatzes der Subsidiarität 1.1.2.1. Das Subsidiaritätsprinzip nach dem Vertrag von Lissabon Im Vergleich zur bisherigen Regelung stärkt der Vertrag von Lissabon das unionsrechtliche Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EUV).11 Nach dem Subsidiaritätsprinzip in seiner jetzigen Fassung wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können , sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.12 Gegenüber der bisherigen Regelung in Art. 5 Abs. 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV-Nizza) erfolgt diese Stärkung in zweifacher Hinsicht: Materiell wird nunmehr ausdrücklich eine Berücksichtigung der zentralen, regionalen und lokalen Ebene gefordert, d. h. die Subsidiarität ist nicht nur bzgl. der Mitgliedstaaten als solchen zu prüfen ist, sondern auch hinsichtlich der Aufgabenwahrnehmung durch Länder und Kommunen.13 Prozessual sind die nationalen Parlamente nach dem Vertrag von Lissabon in die Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips eingebunden. Gem. Art. 12 Abs. 1 lit. b EUV haben die nationalen Parlamente dafür zu sorgen, „dass der Grundsatz der Subsidiarität gemäß dem in dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit vorgesehenen Verfahren beachtet wird“. Den nationalen Parlamenten obliegt damit seit dem Vertrag von Lissabon eine Sorgfaltspflicht in Bezug auf das Subsidiaritätsprinzip. 1.1.2.2. Das Frühwarnsystem – die Subsidiaritätsrüge Ihrer Sorgfaltspflicht bezogen auf das Subsidiaritätsprinzip können die nationalen Parlamente nur nachkommen, wenn sie rechtzeitig über europäische Gesetzgebungsinitiativen informiert sind.14 Art. 12 Abs. 1 lit. b EUV verweist in diesem Zusammenhang auf das Protokoll über die 10 Vgl. Pernice/Hindelang, Potenziale europäischer Politik nach Lissabon – Europapolitische Perspektiven für Deutschland, seine Institutionen, seine Wirtschaft und seine Bürger, EuZW 2010, S. 407 (409); Geiger, in: Geiger /Khan/Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Auflage 2010, Art. 12 EUV, Rdnr. 19. 11 Hanisch/Eisenhut, Der Vertrag von Lissabon und seine Begleitgesetze: Auswirkungen auf Kommunen und Landesparlamente im Hinblick auf den europäischen Rechtssetzungsprozess, Bayerische Verwaltungsblätter (BayVBl.) 2010, S. 204 (204). 12 Zum Subsidiaritätsprinzip im Einzelnen siehe unten unter 3. 13 Hanisch/Eisenhut, Der Vertrag von Lissabon und seine Begleitgesetze: Auswirkungen auf Kommunen und Landesparlamente im Hinblick auf den europäischen Rechtssetzungsprozess, BayVBl. 2010, S. 204 (204, 205). 14 Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 12 EUV, Rdnr. 20 (Stand: 41 EL, Juli 2010 – im Erscheinen); Groh, Die Rolle der nationalen Parlamente, in: Fastenrath/Nowak (Hrsg.), Der Lissabonner Reformvertrag, 2009, S. 77 (84). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 8 Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit15 (im Folgenden: Subsidiaritätsprotokoll ). Nach dem Subsidiaritätsprotokoll übermitteln die Kommission, das Europäische Parlament und der Rat Entwürfe von Gesetzgebungsakten an die nationalen Parlamente. Die Gesetzgebungsvorschläge sind von den Unionsorganen im Hinblick auf die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zu begründen. Ab dem Zeitpunkt der Übermittlung der Gesetzgebungsentwürfe haben die nationalen Parlamente nach Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll acht Wochen Zeit, eine begründete Stellungnahme abzugeben , um darin die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips zu rügen (sog. Subsidiaritätsrüge). Dazu muss in der Stellungnahme dargelegt werden, warum der Gesetzgebungsentwurf ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip zu vereinbaren ist.16 Jedes nationale Parlament hat zwei Stimmen, die in einem Zweikammersystem wie demjenigen in Deutschland zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat aufgeteilt sind.17 Adressaten der begründeten Stellungnahme sind die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission. Die begründeten und fristgerecht eingereichten Stellungnahmen der nationalen Parlamente sind durch das Europäische Parlament, den Rat und die Kommission grundsätzlich nur zu „berücksichtigen “ (sog. Gelbe Karte, Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 Subsidiaritätsprotokoll). Dies ist so zu verstehen , dass sich der Unionsgesetzgeber zumindest mit den Stellungnahmen auseinander setzen muss.18 Erreicht die Anzahl der Stellungnahmen, die die Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip bestreiten, mindestens ein Drittel19 der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten zugewiesenen Stimmen (bei 27 Mitgliedstaaten mit 54 Stimmen mindestens 18 Stimmen), muss das EU-Organ, von dem die Initiative ausging (regelmäßig die Kommission) seinen Entwurf „überprüfen “ (sog. Orangene Karte, Art. 7 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 Subsidiaritätsprotokoll). Am Ende dieser Überprüfung steht ein formeller Beschluss: Die Kommission oder jeder andere Urheber kann beschließen , an dem Entwurf festzuhalten, ihn zu ändern oder zurückzuziehen. Der Beschluss ist zu begründen (Art. 7 Abs. 2 UAbs. 2 Subsidiaritätsprotokoll). Für Gesetzgebungsakte, die im Regelfall des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens nach Art. 294 AEUV erlassen werden sollen, gelten zudem die Spezialregeln des Art. 7 Abs. 3 des Subsidi- 15 Protokoll Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon. 16 Umstritten ist der Umfang des Rügerechts: Teilweise wird angenommen, dass sich das Rügerecht nicht nur auf das Subsidiaritätsprinzip, sondern auch auf die vorgelagerte Frage erstreckt, ob die EU überhaupt eine Kompetenz zum Erlass des Rechtsakts besitzt, sowie möglicherweise auch auf die Frage der Verhältnismäßigkeit im Sinne von Art. 5 Abs. 4 EUV. Vgl. hierzu Uerpmann-Wittzack, Frühwarnsystem und Subsidiaritätsklage im deutschen Verfassungssystem, Europäische Zeitschrift für Grundrechte (EuGRZ) 2009, S. 461 (462); Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 12 EUV, Rdnr. 22 ff. (Stand: 41 EL, Juli 2010 – im Erscheinen). 17 Vgl. ausführlich hierzu: Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 12 EUV, Rdnr. 12 (Stand: 41 EL, Juli 2010 – im Erscheinen). 18 Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 12 EUV, Rdnr. 25 (Stand: 41 EL, Juli 2010 – im Erscheinen). 19 Ein Viertel der Stimmen, wenn es sich um einen Vorschlag auf der Grundlage des Art. 76 AEUV im Bereich des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes handelt. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 9 aritätsprotokolls: Erreicht die Anzahl begründeter Stellungnahmen (Subsidiaritätsrügen) im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren mindestens die einfache Mehrheit der den nationalen Parlamenten zustehenden Stimmen (bei 54 Stimmen also 28), muss der Gesetzgebungsvorschlag von der Kommission erneut auf die Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip überprüft werden. Die Kommission kann dann auch im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren an ihrem Vorschlag festhalten, ihn ändern oder zurückziehen (Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 Subsidiaritätsprotokoll). Wenn sie an ihrem Vorschlag festhält, hat sie dies zu begründen. Diese begründete Stellungnahme der Kommission wird dem Unionsgesetzgeber (Europäisches Parlament und Rat) vorgelegt: Sind im Rat 55 % seiner Mitglieder oder im Europäischen Parlament die einfache Mehrheit der Abgeordneten der Ansicht, dass der Gesetzgebungsvorschlag entgegen dem Votum der Kommission nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht, ist der Gesetzgebungsentwurf gescheitert (Art. 7 Abs. 3 UAbs. 2 Subsidiaritätsprotokoll). 1.1.2.3. Zwischenfazit Mit diesem Frühwarnsystem werden die nationalen Parlamente, die in erster Linie von der Respektierung der Subsidiarität abhängig sind, zugleich zu Wächtern über die Einhaltung der Subsidiarität gemacht.20 Man erhofft sich dadurch eine effektivere demokratische Kontrolle des Handelns der EU, vor allem aber das zunehmende Vertrautwerden der Abgeordneten der nationalen Parlamente mit der EU als Handlungsebene und als Instrument proaktiver Politik.21 Der Vorteil des europäischen Frühwarnsystems im Vergleich zu den dem Bundestag im nationalen Recht zustehenden Beteiligungsrechten in Angelegenheiten der EU ist, dass der Bundestag hier einen anderen Gesprächspartner hat. Während es im Regelfall die Bundesregierung ist, deren Handeln im Bundestag zur Diskussion steht, kommuniziert der Bundestag im Frühwarnsystem mit europäischen Organen.22 Es wird daher die Vermutung aufgestellt, dass der Widerstreit zwischen Regierungsmehrheit und Opposition, der das parlamentarische Regierungssystem trägt, in den Hintergrund treten könnte zu Gunsten des Interesses des Bundestages an der Wahrung seiner Gesetzgebungskompetenzen.23 20 Jacqué, Der Vertrag von Lissabon – neues Gleichgewicht oder institutionelles Sammelsurium?, integration 2010, S. 103 (114); Pernice/Hindelang, Potenziale europäischer Politik nach Lissabon – Europapolitische Perspektiven für Deutschland, seine Institutionen, seine Wirtschaft und seine Bürger, EuZW 2010, S. 407 (408). 21 Pernice/Hindelang, Potenziale europäischer Politik nach Lissabon – Europapolitische Perspektiven für Deutschland , seine Institutionen, seine Wirtschaft und seine Bürger, EuZW 2010, S. 407 (408); Hanisch/Eisenhut, Der Vertrag von Lissabon und seine Begleitgesetze: Auswirkungen auf Kommunen und Landesparlamente im Hinblick auf den europäischen Rechtssetzungsprozess, BayVBl. 2010, S. 204 (205). 22 Uerpmann-Wittzack, Frühwarnsystem und Subsidiaritätsklage im deutschen Verfassungssystem, EuGRZ 2009, S. 461 (463). 23 Uerpmann-Wittzack, Frühwarnsystem und Subsidiaritätsklage im deutschen Verfassungssystem, EuGRZ 2009, S. 461 (463); Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, Juristenzeitung (JZ) 2004, S, 8 (12). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 10 1.1.3. Subsidiaritätsklage Die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips ist justiziabel, d. h. durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) überprüfbar.24 Allerdings hat der EuGH bislang noch keinen EU-Rechtsakt am Subsidiaritätsprinzip scheitern lassen.25 Um die gerichtliche Durchsetzung des Prinzips zu verstärken, hat der Vertrag von Lissabon neben der Subsidiaritätsrüge im Gesetzgebungsverfahren für die nationalen Parlamente auch die Möglichkeit geschaffen, eine Subsidiaritätsklage in Form einer Nichtigkeitsklage gem. Art. 263 AEUV durch ihren Mitgliedstaat zu erzwingen (Art. 8 Abs. 2 Subsidiaritätsprotokoll).26Anders als die Subsidiaritätsrüge, die sich noch gegen den Entwurf eines Rechtsakts wendet (Frühwarnsystem), ist mit der Erhebung der Subsidiaritätsklage die Nichtigerklärung eines bereits in Kraft getretenen Gesetzgebungsakt beabsichtigt (ex-post Kontrolle ). Die Subsidiaritätsklage ist gem. Art. 263 Abs. 6 AEUV innerhalb einer Frist von zwei Monaten zu erheben. Sie verlängert sich um die sog. Entfernungsfrist, die der unterschiedlichen räumlichen Entfernung des Klägers vom Sitz des EuGH Rechnung tragen (für Deutschland: 10 Tage).27 Der Fristbeginn erfolgt mit der „Bekanntgabe der betreffenden Handlung“ (Art. 263 Abs. 6 2. Hs. AEUV) – bei einem Rechtsakt der EU liegt diese in seiner Veröffentlichung im Amtsblatt der EU. Die Umsetzung der unionsrechtlichen Bestimmungen zur Subsidiaritätsklage erfolgte in Deutschland durch Art. 23 Abs. 1a Grundgesetz (GG) und § 12 Integrationsverantwortungsgesetz (IntVG). Nach Art. 23 Abs. 1a GG sollen Bundestag und Bundesrat das Recht haben, vor dem Gerichtshof Klage zu erheben. Im Bundestag ist die Subsidiaritätsklage als sog. Minderheitenrecht ausgestaltet :28 Gem. Art. 23 Abs. 1a S. 2 GG haben ein Viertel der Bundestagsabgeordneten einen Anspruch auf Erhebung der Subsidiaritätsklage. Die Subsidiaritätsklage dient damit in Deutschland auch der politischen Kontrolle der Regierung durch die Opposition in Angelegenheiten der EU.29 24 EuGH, Rs. C-377/98, Slg. 2001, S. I-7079, Rdnr. 30 ff. – Biopatent-Richtlinie. 25 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 7. Auflage 2010, Rdnr. 175. Zuletzt hat sich aber der EuGH in seiner Vodaphone-Entscheidung vom 8. Juni 2010 mit dem ausführlich Subsidiaritätsprinzip befasst, jedoch auch in diesem Fall keine Verletzung festgestellt. S. EuGH, Rs. C-58/08, noch nicht in amtlicher Sammlung, online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62008J0058:DE:HTML (letzter Abruf : 26. August 2010). 26 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 7. Auflage 2010, Rdnr. 175. 27 Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, 5. Auflage 2010, Art. 263 AEUV, Rdnr. 60. 28 Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 12 EUV, Rdnr. 37 (Stand: 41 EL, Juli 2010 – im Erscheinen); Pernice/Hindelang, Potenziale europäischer Politik nach Lissabon – Europapolitische Perspektiven für Deutschland, seine Institutionen, seine Wirtschaft und seine Bürger, EuZW 2010, S. 407 (408); Uerpmann-Wittzack, Frühwarnsystem und Subsidiaritätsklage im deutschen Verfassungssystem , EuGRZ 2009, S. 461 (465). 29 Pernice/Hindelang, Potenziale europäischer Politik nach Lissabon – Europapolitische Perspektiven für Deutschland , seine Institutionen, seine Wirtschaft und seine Bürger, EuZW 2010, S. 407 (408). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 11 1.1.4. Der Verfahrensablauf innerhalb des Deutschen Bundestages 1.1.4.1. Subsidiaritätsrüge Das Verfahren des Deutschen Bundestages bei der Erhebung einer Subsidiaritätsrüge bestimmt sich nach § 11 IntVG i. V. m. den maßgebenden Regelungen der Geschäftsordnung des Bundestages (GO-BT). Nach § 93a Absatz 1 Satz 1 GO-BT sind für die Prüfung der Einhaltung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit die (Fach-)Ausschüsse zuständig. Die Behandlung der Unionsdokumente obliegt daneben nach Art. 45 GG dem vom Bundestag zu bestellenden Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (EU-Ausschuss), § 93b GO-BT. Der EU-Ausschuss hat bei der Subsidiaritätsrüge nach § 93a Absatz 1 Satz 2 und 3 GO-BT Mitwirkungsmöglichkeiten (Gelegenheit zur Stellungnahme, Erzwingung einer Plenarbehandlung und Änderungsanträge im Plenum nach § 93b Absatz 7 GO-BT). Die Entscheidung zur Erhebung der Subsidiaritätsrüge wird nach § 93c GO-BT in der Regel vom Bundestag getroffen. Zur Einhaltung der 8-Wochen- Frist bei der Erhebung der Subsidiaritätsrüge kommen dem EU-Ausschuss aber nach der Revision der GO-BT auch plenarersetzenden Befugnisse zu, § 93c 2. Hs. GO-BT.30 1.1.4.2. Subsidiaritätsklage Nach § 12 Abs. 1 IntVG ist der Bundestag verpflichtet, auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder Subsidiaritätsklage zu erheben (vgl. oben unter 2.1.3). Nach Art. 8 Abs. 1 2. Alt. des Subsidiaritätsprotokolls ist eine solche Klage vom Mitgliedstaat „im Namen seines nationalen Parlaments “ zu übermitteln. Die Subsidiaritätsklage bleibt somit eine solche des Parlaments, der Mitgliedstaat fungiert lediglich als Bote.31 Ergeht ein Beschluss des Deutschen Bundestages, Subsidiaritätsklage zu erheben, ist für deren Durchführung einschließlich der Prozessführung vor dem EuGH gemäß § 93d Abs. 1 S. 1 GO-BT der EU-Ausschuss zuständig. Das schließt die Formulierung der Klageschrift und die Benennung eines Prozessbevollmächtigten ein, falls dies nicht bereits durch den Bundestag beschlossen wurde, § 93d Abs. 1 S. 2 GO-BT. 1.1.5. Fazit Der Vertrag von Lissabon bietet den nationalen Parlamenten Mittel zur Intervention und es liegt nun an ihnen, sich dieser zu bedienen. Ihre Einflussnahme wird noch wirkungsvoller sein, wenn sie kollektiv agieren.32 Hierzu muss ein System geschaffen werden, das es den nationalen Parla- 30 Vgl. BT-Drs. 17/2394, S. 8. 31 Puttler in: Stellungnahme zum Expertengespräch „Prüfung des unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips“ des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S. 9/10, online abrufbar unter http://www.bundestag.de/bundestag /ausschuesse17/a06/ua_europarecht/anhoerungen/01_Subsidiaritaet/02_Stellungnahmen/Stellungnahme _Puttler.pdf (Stand: 11.11.10). 32 Jacqué, Der Vertrag von Lissabon – neues Gleichgewicht oder institutionelles Sammelsurium?, integration 2010, S. 103 (115). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 12 menten erlauben wird, sich bei einer Subsidiaritätsrüge innerhalb der Frist von acht Wochen abzusprechen , um sich gemeinsam und kohärent einem Gesetzesvorhaben auf Unionsebene entgegenzustellen .33 1.2. Mittelbare Einflussmöglichkeiten nationaler Parlamente auf den Rechtssetzungsprozess der Europäischen Union Den Mitgliedstaaten steht es frei, ihre Parlamente in noch weiterem Umfang in die Europapolitik einzubeziehen. In Deutschland ist in diesem Zusammenhang vor allem das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. März 1993 (EUZBBG)34 zu nennen.35 Mittelbar kann der Bundestag an europäischen Rechtsetzungsvorhaben vor allem mitwirken, indem er zu allen Vorhaben der EU gegenüber der Bundesregierung Stellungnahmen beschließen kann und so auf die Verhandlungsführung der Bundesregierung einwirkt. Dieses Recht ist in Art. 23 Abs. 3 S. 1 GG vorgesehen und in § 9 EUZBBG ausgestaltet. Vor ihrer Mitwirkung an EU-Vorhaben muss die Bundesregierung dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme geben (§ 9 Abs. 1 EUZBBG). Gibt der Bundestag eine Stellungnahme ab, hat die Bundesregierung diese bei ihren Verhandlungen „zu berücksichtigen“ (Art. 23 Abs. 3 S. 2 GG) bzw. „zu Grunde zu legen“ (§ 9 Abs. 2 S. 1 EUZBBG). Für Stellungnahmen zu Rechtsetzungsakten ist eine weitergehende Bindung der Bundesregierung an deren Inhalt vorgesehen (§ 9 Abs. 4 EUZBBG): Die Bundesregierung ist verpflichtet, einen Parlamentsvorbehalt einzulegen, wenn der Beschluss des Bundestages in einem seiner wesentlichen Belange nicht durchsetzbar ist. Beabsichtigt die Bundesregierung, bei der abschließenden Entscheidung im Rat von der Stellungnahme des Bundestages abzuweichen, muss sie sich vor dieser Entscheidung bemühen, Einvernehmen mit dem Bundestag herzustellen (§ 9 Abs. 4 S. 4 EUZBBG). 33 Jacqué, Der Vertrag von Lissabon – neues Gleichgewicht oder institutionelles Sammelsurium?, integration 2010, S. 103 (115). 34 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG) vom 12. März 1993, BGBl. I S. 311, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 22. September 2009, BGBl. I S. 3026. 35 Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, 5. Auflage 2010, Art. 12 EUV, Rdnr. 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 13 2. Die Revision der Tabakproduktrichtlinie Die bestehende Richtlinie 2001/37/EC zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen (im Folgenden: Tabakproduktrichtlinie)36 datiert aus dem Jahr 2001. Sie enthält Bestimmungen zum Teer-, Nikotin- und Kohlenmonoxidhöchstgehalt von Zigaretten, regelt die Etikettierung von Tabakverpackungen durch eine Verpflichtung zum Abdruck bestimmter Warnhinweise und verbietet den Export von nicht der Richtlinie entsprechenden Zigaretten in Drittländer. Die Kommission erwägt derzeit ihre Überarbeitung. Ziel der Kommission ist, durch eine Neufassung der Tabakproduktrichtlinie das Funktionieren des EU-Binnenmarktes zu stärken und gleichzeitig ein hohes Maß an Gesundheitsschutz zu gewährleisten.37 Die Überarbeitung soll insbesondere den seit 2001 aufgekommenen internationalen, wissenschaftlichen und marktwirtschaftlichen Entwicklungen Rechnung tragen. Erwogen wird im Wesentlichen eine Verschärfung der geltenden Regelungen. Verschiedene von Generaldirektion Gesundheit und Verbraucher der Kommission (DG SANCO) erarbeiteten Änderungsoptionen bei der Tabakproduktrichtlinie wurden zunächst einer von externen Beratern (RAND Europe) durchgeführten Folgenabschätzung („impact assessment “) unterzogen. Die Arbeiten dazu begannen Mitte 2009 und wurden im September 2010 mit der Vorlage eines Abschlussberichts fertiggestellt.38 Am 26. September 2010 startete die Kommission ein öffentliches Konsultationsverfahren. In dem Verfahren werden EU-Bürger, Interessenvertreter und staatliche Stellen aufgefordert, bis zum 17. Dezember 2010 Kommentare zu der geplanten Neufassung abzugeben. Grundlage für die Bewertung ist ein von der Kommission herausgegebene Konsultationspapier39, das die Änderungsvorschläge der DG SANCO erläutert. Einen konkreten Richtlinienentwurf über eine Neufassung der Tabakproduktrichtlinie beabsichtigt die Kommission zu Beginn des Jahres 2012 vorzulegen. DG SANCO erwägt Änderungen in fünf konkret benannten Wirkungsbereichen der Tabakproduktrichtlinie . Diese sind: (1) Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie auf weitere Tabakprodukte (z. B. Kräuter-Zigaretten, elektronische Nikotindepotsysteme, etc.) – im Folgenden Änderungsvorschlag 1 36 Richtlinie 2001/37/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=OJ:L:2001:194:0026:0034:DE:PDF (Stand: 19.11.10). 37 Vgl. Europäische Kommission, Generaldirektion Gesundheit und Verbraucher, Possible Revision of the Tobacco Products Directive 2001/37/EC, Public Consultation Document, S. 3, online (auf Englisch) abrufbar unter http://ec.europa.eu/health/tobacco/docs/tobacco_consultation_en.pdf (Stand: 11.11.10). 38 Rand Europe, Assessing the Impacts of Revising the Tobacco Products Directive, Study to support a DG Sanco Impact Assessment, Final report, September 2010, online (auf englisch) abrufbar unter http://ec.europa .eu/health/tobacco/docs/tobacco_ia_rand_en.pdf (Stand: 11.11.10). 39 Europäische Kommission, Possible Revision of the Tobacco Products Directive 2001/37/EC, Public Consultation Document, DG SANCO, S. 3, online (auf Englisch) abrufbar unter http://ec.europa.eu/health/tobacco/docs/tobacco _consultation_en.pdf (Stand: 11.11.10). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 14 (2) Änderungen der rechtlichen Maßgaben in Bezug auf das Verpackungsdesign von Tabakprodukten (z. B. weitere Verbraucherinformationen/abschreckende Bilder auf den Verpackungen , Einführung von genormten Einheitsverpackungen [generic / plain packaging]) - im Folgenden Änderungsvorschlag 2 (3) Veränderte Regelungen zur Offenlegung und Registrierung von Zusatzstoffen – im Folgenden Änderungsvorschlag 3 (4) Regulierung von Zusatzstoffen in Tabakprodukten – im Folgenden Änderungsvorschlag 4 (5) Einführung von Bestimmungen zur Erschwerung des Zugangs zu Tabakprodukten (z. B. Verbot der Produktpräsentation) – im Folgenden Änderungsvorschlag 5 Ob es tatsächlich zu einer Revision der Tabakproduktrichtlinie mit dem dargestellten Inhalt kommt und wie dieser konkret ausgestaltet wäre, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abgesehen werden. Die in dem Konsultationspapier angeführten Vorschläge (s. o.) sind nach den Angaben der Kommission noch keiner rechtlichen Prüfung in Hinblick auf eine entsprechende unionsrechtliche Gesetzgebungskompetenz oder die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unterzogen worden.40 Eine rechtliche Bewertung der Änderungsoptionen unter dem Aspekt der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit wird von der Kommission voraussichtlich erst mit der Veröffentlichung eines Richtlinienentwurfs vorliegen. Die folgende rechtliche Überprüfung der gegenwärtig diskutierten Änderungsoptionen kann folglich nur rein hypothetisch erfolgen und versuchen, die Grenzen der Kompetenzen der EU41 in diesem Bereich aufzuzeigen. 3. Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip 3.1. Der Grundgedanke des Subsidiaritätsprinzips im Recht der Europäischen Union Zusammen mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bildet das Subsidiaritätsprinzip eine „europarechtliche Schrankentrias“ für jede Kompetenzausübung seitens der EU.42 Der Begriff „Subsidiarität“ lässt sich dabei dahingehend 40 „At the present stage, the Union competence to adopt the different options […] and their proportionality have not yet been fully examined. These issues will be analysed at a later stage when the problems and the policy options are developed further.” Europäische Kommission, Generaldirektion Gesundheit und Verbraucher, Possible Revision of the Tobacco Products Directive 2001/37/EC, Public Consultation Document, S. 3, online (auf Englisch) abrufbar unter http://ec.europa.eu/health/tobacco/docs/tobacco_consultation_en.pdf (Stand: 11.11.10). 41 Gem. Art. 1 Abs. 3 S. 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) tritt die EU an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft (EG), deren Rechtsnachfolgerin sie ist. Wenn im Folgenden der Begriff „Gemeinschaft“ verwandt wird, liegt dies darin begründet, dass auf die Rechtslage vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon verwiesen wird. 42 Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, in: Merten. (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Auflage 1994, S. 77 (78). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 15 definieren, dass der kleineren Einheit der Vorrang im Handeln („Zuständigkeitsprägorative“) gegenüber der größeren Einheit nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit zukommt.43 Hierin liegt – trotz des hohen Abstraktionsgrades – der materielle Gehalt des Subsidiaritätsprinzips.44 Das Subsidiaritätsprinzip wird in Hinblick auf die EU ganz überwiegend unter dem Gesichtspunkt der Begrenzung unionsrechtlicher Kompetenzen diskutiert. Es geht aber insofern nicht um die Kompetenzverteilung, bei der das Subsidiaritätsprinzip lediglich eine politische Leitlinie sein kann45, sondern um die Frage der Kompetenzausübung im Hinblick auf die durch die Verträge der EU bereits verteilte und damit vorgegebene Kompetenz.46 Dies klarstellend bezeichnet Art. 5 Abs. 1 S. 2 EUV das Subsidiaritätsprinzip als einen der Grundsätze für die „Ausübung der Zuständigkeiten der Union.“ Bei der Diskussion über das Subsidiaritätsprinzip ist weiterhin zu berücksichtigen, dass es sich dabei um einen Relationsbegriff handelt, dessen Inhalt angesichts unbestimmter Rechtsbegriffe („nicht ausreichend“, „besser“) erst in Bezug zu dem Kontext, in den er eingeordnet wird, konkretisiert werden kann.47 Weiterhin ist darauf zu achten, dass sich einerseits die Organe der EU den Pflichten, die ihnen das Subsidiaritätsprinzip auferlegt, nicht formalistisch entledigen und dass andererseits die Mitgliedstaaten den Grundsatz der Subsidiarität nicht schematisch und sachfremd geltend machen.48 Die Ausarbeitung stellt zunächst die primärrechtlichen Regelungen, die die materiellen und verfahrensrechtlichen Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips enthalten, dar. Anschließend wird unter Berücksichtigung der gegenwärtig vorliegenden Informationen geprüft, ob die von DG SANCO erarbeiteten Änderungsoptionen für die Überarbeitung der Tabakproduktrichtlinie mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar sind. 3.2. Verankerung im Primärrecht Art. 5 Abs. 1 S. 2 EUV legt fest, dass für die Ausübung der Zuständigkeiten der EU die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gelten. Art. 5 Abs. 3 EUV regelt, dass nach dem Subsidiaritätsprinzip die EU in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig wird, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr mittels ihres Umfangs oder ihrer Wirkung auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. Dabei sollen die Organe der EU das Subsidiaritätsprinzip 43 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2. Auflage 1999, S. 25 ff. 44 Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht, 2. Auflage 2001, S. 73. 45 Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung , Juristenzeitung (JZ) 2004, S. 8 (8). Schröder spricht insofern von einer „zusätzlichen verfassungspolitischen Aufgabe“ des Subsidiaritätsprinzips. 46 Schröter, Arbeitspapiere – Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung 54/2002, S. 1 (3). 47 So Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-11, Rn. 19. 48 So Streinz, Europarecht, 8. Auflage 2005, Rn. 166. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 16 nach dem Protokoll Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Protokoll Nr. 2) anwenden.49 Die nationalen Parlamente sollen auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nach in diesem Protokoll vorgesehenen Verfahren achten. 3.3. Zur Prüfungsabfolge der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips Als Kontrollmaßstab für das Handeln der EU ist das Subsidiaritätsprinzip insgesamt schwer fassbar .50 Ein allgemein gültiges Schema zur Überprüfung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips existiert nicht. Der EuGH hat bis zu seinem Urteil in der Rechtssache C-58/08 (Vodafone)51 im Jahr 2010 eine detaillierte Subsidiaritätsprüfung vermieden.52 Er hat sich, sowohl was die Anzahl der Urteile angeht, in denen er das Subsidiaritätsprinzip erwähnt, als auch inhaltlich, was die konkrete Ausgestaltung der Prüfung im Einzelfall betrifft, sehr zurückgehalten.53 Einer richterlichen Überprüfung scheinen sich damit nur evidente Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip zu erschließen, in denen die Unionsorgane nicht einmal einen plausiblen Begründungsansatz für eine Regelung liefern. Bei der Subsidiaritätsrüge tritt noch eine politische Komponente hinzu. Zum einen sind nicht der EuGH, sondern die Unionsorgane Adressaten der Subsidiaritätsrüge. Zum anderen wird der Prüfmechanismus maßgeblich von der Beteiligungsanzahl der Parlamente mitbestimmt.54 Denkbar ist insofern, dass die Reaktion der Kommission auf eine Subsidiaritätsrüge nicht nur von den vorgebrachten (juristischen) Argumenten in den Stellungnahmen der nationalen Parlamente abhängt , sondern auch von der in der Anzahl der Stellungnahmen zu messenden Stärke der „Gegenwehr “ der Mitgliedstaaten.55 Ausgehend vom Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 EUV ergibt sich jedenfalls eine Subsidiaritätsprüfung in drei Schritten: Zunächst ist die Art der Zuständigkeit festzulegen (1). Danach ist zu prüfen, ob und inwieweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können (2). Insofern handelt es sich um ein Negativkriterium. Hinzu tritt ein Positivkriterium, wonach 49 ABl. Nr. C 306 S. 148. 50 Herdegen, Europarecht, 6. Auflage 2004, Rdnr. 102. 51 EuGH, Urteil vom 8. Juni 2010, Rs. C-58/08. 52 So z. B. EuGH, Urteil vom 12. November 1996, Rs. C-84/94, Slg. 1996, I-5755, Rn. 46 ff.; Urteil vom 13. Mai 1997, Rs. C-233/94, Slg. 1997, I-2405, Rn. 22 ff. 53 Calliess, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ) 2003, S. 181 (187). 54 Vgl. dazu oben unter 2.1.2.2. 55 Vgl. dazu Lorz, Wissenschaftliche Stellungnahme für den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages – Unterausschuss Europarecht – zum Thema „Prüfung des unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips“, S.2: „[…] es ist denkbar, dass die Kommission und/oder Unionsgesetzgeber, obwohl sie rechtlich der Subsidiaritätskontrolle standzuhalten glauben, dennoch aufgrund des in den Subsidiaritätsrügen erkennbar werdenden politischen Drucks aus den nationalen Parlamenten entscheiden, einen Entwurf jedenfalls nicht in seiner Ursprungsfassung weiterzuverfolgen.“ Online abrufbar unter http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a06/ua_europarecht /anhoerungen/01_Subsidiaritaet/02_Stellungnahmen/Stellungnahme_Prof__Lorz.pdf (Stand: 18.11.10). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 17 die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind (3).56 3.4. Prüfung der Änderungsoptionen zur Überarbeitung der Tabakproduktrichtlinie 3.4.1. Untersuchungsgegenstand Als Untersuchungsgegenstand werden abstrakt die oben genannten Änderungsoptionen 1-5 zu Grunde gelegt. Die richtige Auswahl der Kompetenzgrundlage wird der Subsidiaritätsprüfung vorangestellt (siehe oben). Es ist darauf hinzuweisen, dass es mangels eines Entwurfs einer Richtlinie und damit auch einer fehlenden Begründung nur möglich ist, eine vage Einschätzung zu geben . 3.4.2. Vorfrage: Die Kompetenzgrundlage Die Tabakproduktrichtlinie ist ursprünglich auf Artikel 95 EGV (Binnenmarktkompetenz) und 133 (Gemeinsame Handelspolitik) gestützt worden. Der EuGH entschied in einem späteren Urteil zur Tabakproduktrichtlinie, dass Art. 95 EGV die einzige zutreffende Rechtsgrundlage der Richtlinie sei und diese zu Unrecht auch Art. 133 EGV als Rechtsgrundlage anführe.57 Eine mögliche Revision der Tabakproduktrichtlinie wird demnach voraussichtlich ebenfalls auf der Rechtsgrundlage von Art. 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (ehemals Art. 95 EGV) erfolgen.58 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH muss sich im Rahmen des Zuständigkeitssystems der Union die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen. Zu diesen Umständen gehören insbesondere das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts.59 Eine angedachte Revision würde zumindest auch dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung dienen. Denkbar wäre demnach auch, dass eine Revision auf der Rechtsgrundlage des durch den Vertrag von Lissabon neu aufgenommenen Art. 168 Abs. 5 AEUV (Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Tabakkonsum) erfolgt. Beide Varianten werden im Folgenden beleuchtet: 3.4.2.1. Art. 114 AEUV als mögliche Kompetenzgrundlage (Binnenmarktkompetenz) Grundsätzlich können gesundheitsschutzrelevante Maßnahmen auch auf die Binnenmarktkompetenz des Art. 114 AEUV gestützt werden. Art. 114 AEUV regelt die Angleichung der Rechts- 56 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-11, Rn. 27. 57 EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2002, Rechtssache (Rs.) C-491/01, Amtliche Sammlung (Slg.) 2002, I-11453. 58 Nach der telefonischen Auskunft des zuständigen Referats DG Health/C/C 6 würde eine Revision der Tabakproduktrichtlinie voraussichtlich ebenfalls die Rechtsgrundlage der „Mutter“ teilen. 59 Vgl. zum Beispiel EuGH, Urteil vom 4. April 2000, Rs. C-269/97, Slg. 2000, I-2257, Rdnr. 42; Urteil vom 30. Januar 2001, Rs. C-36/98, Slg. 2001, I-779, Rdnr. 58. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 18 und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten mit dem Ziel der Errichtung und des Funktionierens des Binnenmarkts (Abs. 1). Gem. Art. 114 Abs. 3 AEUV geht die Kommission bei ihren Vorschlägen im Bereich des Binnenmarkts jedoch explizit von einem hohen Schutzniveau u. a. im Bereich des Gesundheit- und Verbraucherschutzes aus und berücksichtigt bei ihren Vorschlägen alle auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützten neuen Entwicklungen. Voraussetzung für das Stützen eines Unionsrechtsakts auf die Binnenmarktkompetenz ist jedoch der Binnenmarktbezug. Die Maßnahme muss also den Zweck haben, die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zu verbessern. Erst wenn diese Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 114 AEUV als Rechtsgrundlage erfüllt sind, so steht nach der Rechtsprechung des EuGH deren Heranziehung durch den Gemeinschaftsgesetzgeber „nicht entgegen , dass dem Gesundheitsschutz bei den zu treffenden Entscheidungen maßgebende Bedeutung zukommt“.60 Zu untersuchen ist demnach, ob den anvisierten Änderungsoptionen der erforderlich Binnenmarktbezug zukommt. Zu der Frage des Binnenmarktbezugs von Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit gegenüber dem Tabakkonsum hat der EuGH verschiedene Urteile gefällt.61 Aus diesen Urteilen können ggf. Rückschlüsse gezogen werden. 3.4.2.1.1. Erstes Urteil zur Tabakwerberichtlinie (2000) Im Jahr 2000 hat der EuGH die sogenannte Tabakwerberichtlinie62 auf Klage der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.63 Die Richtlinie war u. a. auf der Grundlage von Art. 95 EGV (Binnenmarktkompetenz) erlassen worden und enthielt ein auf gesundheitspolitischen Motiven beruhendes gemeinschaftsweites absolutes Verbot jeder Form von Werbung und Sponsoring zu Gunsten von Tabakerzeugnissen. Der EuGH stellte fest, dass die Tabakwerberichtlinie von der Kompetenznorm des Art. 95 EGV nicht gedeckt sei. Er unterzog die Tabakwerberichtlinie hierfür einem zweistufigen Test:64 60 EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2000, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8498, Rdnr. 88 und 2. Leitsatz = Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil (GRUR Int) 2001, S. 41. 61 Vgl. hierzu Fischer, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Kommentar nach dem Vertrag von Lissabon, 5. Auflage 2010, Art. 114 AEUV, Rdnr. 12; Ludwigs, Art. 95 EG als allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarkts oder als „begrenzte Einzelermächtigung“?, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2006, S. 417. 62 Richtlinie 98/43/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 6. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zu Gunsten von Tabakerzeugnissen , ABl. 1998 L 213 S. 9. 63 EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2000, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419 = GRUR Int 2001, S. 41. 64 Koenig/Kühling, Der Streit um die neue Tabakproduktrichtlinie, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (EWS) 2002, S. 12 (17); vgl. hierzu auch Görlitz, EU-Binnenmarktkompetenzen und Tabakwerbeverbote, Kompetenzrechtliche Anmerkungen zur neuen Richtlinie über Werbung und Sponsoring zu Gunsten von Tabakerzeugnissen , EuZW 2003, S. 485 (486 ff.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 19 – Um die Binnenmarktkompetenz als Rechtsgrundlage heranzuziehen, sei erstens ein Binnenmarkthemmnis erforderlich. Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen , in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital (sogenannte Grundfreiheiten) gewährleistet ist (Art. 26 Abs. 2 AEUV). Ein Binnenmarkthemmnis wäre folglich gegeben, wenn es darum gehen würde, Hindernisse für die Verwirklichung der Grundfreiheiten zu beseitigen, die sich aus den Unterschieden in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ergeben.65 Ein Binnenmarkthemmnis könnte nach der Rechtsprechung des EuGH des Weiteren zu bejahen sein, wenn auf Unterschieden in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten beruhende Wettbewerbsverfälschungen bestehen.66 – Zweitens müssten die beabsichtigten Harmonisierungsmaßnahmen tatsächlich den Zweck haben, die vom Gemeinschaftsgesetzgeber verfolgten Zwecke zu verfolgen (Effektivitätsgebot ).67 Bezogen auf die konkrete Richtlinie kam der EuGH zum Schluss, dass zumindest ein Verbot von Werbung auf Plakaten, auf Sonnenschirmen, Aschenbechern und sonstigen in Hotels, Restaurants und Cafés verwendeten Gegenständen sowie das Verbot von Werbespots im Kino nicht auf Art. 95 EGV gestützt werden könne. Denn diese Verbote förderten den Handel mit den betroffenen Erzeugnissen nicht.68 Die Richtlinie wurde dementsprechend für nichtig erklärt. 3.4.2.1.2. Urteile zur Tabakproduktrichtlinie (2002 und 2004) Die 2001 erlassene, hier relevante Tabakproduktrichtlinie stand im Jahr 2002 erstmals auf dem Prüfstand des EuGH.69 Auf ein Vorabentscheidungsverfahren, initiiert von Großbritannien, hatte sich der EuGH erneut mit der Frage auseinanderzusetzen, ob Art. 95 EG eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Tabakproduktrichtlinie ist. Es wurde geltend gemacht, dass die Richtlinie nicht bezwecke, den freien Verkehr mit Tabakerzeugnissen in der Gemeinschaft sicherzustellen , sondern der Harmonisierung der nationalen Vorschriften über den Schutz der Gesundheit gegenüber dem Tabakkonsum diene, wofür die Gemeinschaft nicht zuständig sei. Der EuGH kommt zu dem Ergebnis, dass die Richtlinie tatsächlich der Verbesserung der Bedingungen für das Funktionieren des Binnenmarkts diene und daher auf der Grundlage von Art. 95 EGV erlassen werden durfte, ohne dass dem die Tatsache entgegensteht, dass dem Gesundheits- 65 EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2000, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419; Rdnr. 82; s. auch Urteil vom 12. Dezember 2006, Rs. C-380/03, Slg. 2006, I-11573, Rdnr. 37; hierzu Fischer, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Kommentar nach dem Vertrag von Lissabon, 5. Auflage 2010, Art. 114 AEUV, Rdnr. 9. 66 EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2000, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419; Rdnr. 90; s. auch Urteil vom 13. Juli 1995, Rs. C-350/92, Slg. 1995, I-1985, Rdnr. 32. 67 EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2000, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419, Rdnr. 85. 68 EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2000, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419, Rdnr. 99. 69 EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2002, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 20 schutz bei den Entscheidungen im Zusammenhang mit den von der Richtlinie festgelegten Maßnahmen entscheidende Bedeutung zukommt.70 Das Eingreifen der Rechtsetzungsbefugnis des Art. 95 EGV wird dabei anhand der im Ersten Tabakwerbeurteil entwickelten Voraussetzungen geprüft. Danach muss die Richtlinie die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes verbessern, d. h. den Zweck haben, Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten oder Wettbewerbsverzerrungen abzustellen (s. oben).71 Konkret führt der EuGH aus, dass der Markt für Tabakerzeugnisse und insbesondere für Zigaretten ein Markt sei, auf dem der Handel zwischen den Mitgliedstaaten eine verhältnismäßig wichtige Rolle spiele. Die nationalen Vorschriften über die Anforderungen, denen Erzeugnisse entsprechen müssen, insbesondere die hinsichtlich ihrer Bezeichnung, Zusammensetzung und Etikettierung , seien in Ermangelung einer gemeinschaftsweiten Harmonisierung von Natur aus geeignet , den freien Warenverkehr zu behindern.72 Entsprechende den Handel hemmende Unterschiede zwischen den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung , Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen seien zum Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie bereits aufgetreten oder nach aller Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen.73 Damit diene die Tabakproduktrichtlinie im Gegensatz zur verworfenen Ersten Tabakwerberichtlinie tatsächlich der Verbesserung der Bedingungen für das Funktionieren des Binnenmarktes. Denn sie verbiete es den Mitgliedstaaten, sich der Einfuhr, dem Verkauf und dem Konsum von Tabakerzeugnissen , die den Anforderungen der Richtlinie entsprechen, zu widersetzen (sog. Freiverkehrsklausel ).74 In seinen weiteren Ausführungen verwässert der EuGH jedoch die von ihm selbst aufgestellten Kriterien: Die Tatsache, dass es bereits eine Gemeinschaftsvorschrift gebe, die die Beseitigung eines Handelshemmnisses auf dem von ihr harmonisierten Gebiet gewährleiste, könne den Gemeinschaftsgesetzgeber nicht daran hindern, diese Vorschrift aus anderen Erwägungen anzupassen .75 Bzgl. des Gesundheitsschutzes ergebe sich aus Art. 95 Abs. 3 EGV, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber ein hohes Schutzniveau gewährleisten müsse. Der Gemeinschaftsgesetzgeber verfüge über ein Ermessen, über das er auch andere Erwägungen wie die zunehmende politische und soziale Bedeutung des Kampfs gegen den Tabakkonsum berücksichtigen dürfe.76 In zwei weiteren Urteilen zur Tabakproduktrichtlinie aus dem Jahr 2004 hat sich der EuGH mit der Frage beschäftigt, ob das in der Richtlinie enthaltene Verbot des Verkaufs von Tabak für den 70 EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2002, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rdnr. 75. 71 EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2002, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rdnr. 60. S. zum weiteren Inhalt des Urteils Würfel, Europarechtliche Möglichkeiten einer Gesamtharmonisierung des Urheberrechts, 2005, S. 48 ff. 72 EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2002, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rdnr. 64. 73 EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2002, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rdnr. 65. 74 EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2002, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rdnr. 74. 75 EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2002, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rdnr. 78. 76 Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2002, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rdnr. 80. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 21 oralen Gebrauch auf die Binnenmarktkompetenz des Art. 95 EGV gestützt werden konnte.77 Der EuGH bejaht diese Frage: Auch bzgl. des Verbots des Verkaufs von Tabakprodukten für den oralen Gebrauch in den Mitgliedstaaten gäbe es unterschiedliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften . Da der Markt für Tabakerzeugnisse ein Markt sei, auf dem der Handel zwischen Mitgliedstaaten eine verhältnismäßig wichtige Rolle spiele, trügen diese Vermarktungsverbote zu einer heterogenen Entwicklung dieses Marktes bei und seien geeignet, Hindernisse für den freien Warenverkehr darzustellen.78 Letztlich stellt der EuGH damit pauschal auf den grenzüberschreitenden Handel von Tabakprodukten ab. Die Antwort auf die Frage, inwieweit ein Produktverbot ohne erkennbare handelsbelebende Wirkung zu einer Verbesserung des Verkehrs mit den betroffenen Erzeugnissen beitragen könne, bleibt so im Dunkeln. 79 3.4.2.1.3. Zweites Urteil zur Tabakwerberichtlinie (2006) Anstelle der für nichtig erklärten Ersten Tabakwerberichtlinie wurde 2003 eine überarbeitete Richtlinie über Tabakwerbung80 erlassen, die ebenfalls unter dem Gesichtspunkt des ausreichenden Binnenmarktbezugs vom EuGH geprüft wurde.81 Die Zweite Tabakwerberichtlinie verzichtet im Vergleich zur Richtlinie von 1998 auf ein totales Werbeverbot von Tabakerzeugnissen. Verboten ist Tabakwerbung in Rundfunkprogrammen, Zeitungen, Zeitschriften und im Internet; untersagt ist auch das Sponsoring von Rundfunkprogrammen. Ausgenommen sind jedoch Publikationen , die sich ausschließlich an Beschäftigte im Tabakhandel richten und solche, die nicht primär für den gemeinschaftlichen Binnenmarkt bestimmt sind. Weiterhin erlaubt ist Tabakwerbung in sogenannten Rauchergenussmagazinen, die sich ausschließlich an Raucher wenden. In seiner Würdigung führte der EuGH aus, dass zwar eine bloße Feststellung von Unterschieden zwischen nationalen Regelungen nicht ausreiche, um eine Maßnahme auf Art. 95 EGV zu stützen , doch im Fall von Unterschieden, „die geeignet sind, die Grundfreiheiten zu beeinträchtigen und sich auf diese Weise unmittelbar auf das Funktionieren des Binnenmarktes auswirken, etwas anderes“ gelte.82 Der Handel mit Presse- und anderen Druckerzeugnissen sowie die werbende Tätigkeit in den Medien der Informationsgesellschaft und des Rundfunks habe grenzüberschreitenden Charakter. Angesichts divergierender Vorschriften über die Tabakwerbung in den einzelnen Mitgliedstaaten stelle ein einheitliches Verbot der Werbung sicher, dass der Handel mit Druckerzeugnissen und der freie Verkehr von Dienstleistungen zwischen den Mitgliedstaaten 77 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 2004, Rs. C-434/02, Slg. 2004, I-11825, Rdnr. 37 ff; Urteil vom 7. September 2004, Rs. C-210/03, Slg. 2004, I-11893. 78 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 2004, Rs. C-434/02, Slg. 2004, I-11825, Rdnr. 39. 79 So die Kritik von Ludwigs, Art. 95 EG als allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarkts oder als „begrenzte Einzelermächtigung“?, EuZW 2006, S. 417. 80 Richtlinie 2003/33/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen , ABl. 2003 L152 S. 16. 81 EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2006, Rs. C-380/03, Slg. 2006, I-11573 82 EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2006, Rs. C-380/03, Slg. 2006, I-11573, Rdnr. 37. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 22 nicht aufgrund nationaler Vorschriften behindert werden.83 Unerheblich sei, dass die Verbote auch für nationale oder lokale Werbeträger ohne grenzüberschreitende Wirkung gelten würden, das nicht für jede Situation, die von einer auf Art. 95 EGV gestützten Maßnahme erfasst sei, ein tatsächlicher Zusammenhang mit dem freien Verkehr zwischen den Mitgliedstaaten bestehen müsse, sofern die Maßnahme – wie vorliegend – tatsächlich die Marktbedingungen verbessere.84 Nach ständiger Rechtsprechung könne der Gemeinschaftsgesetzgeber bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Art. 95 EGV einen Rechtsakt auf diese Grundlage stützen , auch wenn dem Gesundheitsschutz maßgebliche Bedeutung zukomme. 3.4.2.1.4. Aus den Urteilen des EuGH abgeleiteter Prüfungsmaßstab Die erste Voraussetzung, die nach den bisherigen Urteilen des EuGH für ein Zurückgreifen auf die Binnenmarktkompetenz erfüllt sein muss, ist das Bestehen unterschiedlicher Rechts- und Verwaltungsvorschriften in den Mitgliedstaaten. Aus diesen bestehenden unterschiedlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in den Mitgliedstaaten müsste sich wiederum ein Binnenmarkthindernis ergeben, was nach den Urteilen des EuGH dann der Fall ist, wenn Grundfreiheiten beeinträchtigt werden oder Wettbewerbsverzerrungen entstehen. Ein Rechtsakt kann auf Art. 114 AEUV (ex-Art. 95 EGV) gestützt werden, wenn er maßgeblich der Harmonisierung der nationalen Vorschriften über den Schutz der Gesundheit gegenüber dem Tabakkonsum dient, solange damit zugleich das Funktionieren des Binnenmarkts verbessert wird. 3.4.2.2. Anwendung des Prüfungsmaßstabs auf die Änderungsvorschläge der Kommission Es wird im Folgenden wird auf Basis des obigen Prüfungsmaßstabs untersucht, ob Art. 114 AEUV für die Einführung der Optionen 1-5 Kompetenzgrundlage sein kann. Der Prüfung werden stets die im Konsultationspapier und im Abschlussbericht gemachten Angaben als Tatsachen zugrunde gelegt. Änderungsvorschlag 1: In den Mitgliedstaaten gibt es seit den letzten Jahren eine starke Diversifizierung des Marktes von Tabakprodukten. Neben den herkömmlichen Tabakprodukten gibt es nunmehr auch eine steigende Verbreitung von neuartigen Tabakprodukten wie z. B. Wasserpfeifen , elektronische Zigaretten oder Kräuterzigaretten. Die gegenwärtigen Regelungen der Tabakproduktrichtlinie sind auf diese Produktvarianten nicht anwendbar. Für die neuen Produkte gibt es zwar zum Teil nationale gesetzliche Regelungen. Diese variieren aber zwischen den Mitgliedstaaten . Denkbar ist, dass die Einführung einheitlicher Bestimmungen für neuartige Tabakprodukte auf EU-Ebene zugleich auch positive Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Handel und damit auf das Funktionieren des EU-Binnenmarktes hätte. Zugleich ist eine Verbesserung des Gesundheitsschutzes beabsichtigt. Art. 114 AEUV käme somit als Kompetenzgrundlage in Betracht. Änderungsvorschlag 2: Abschreckende Bilder auf Zigarettenverpackungen informieren Untersuchungen zufolge den Verbraucher besser über die mit dem Rauchen verbundenen Risiken als rein 83 EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2006, Rs. C-380/03, Slg. 2006, I-11573, Rdnr. 69 ff. 84 EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2006, Rs. C-380/03, Slg. 2006, I-11573, Rdnr. 80. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 23 schriftliche Warnhinweise. Eine solche Maßnahme würde daher das Ziel verfolgen, den Gesundheitsschutz zu verbessern. Gleiches gilt für die Einführung von Einheitsverpackungen. Diese könnten mitunter weniger attraktiv auf Verbraucher wirken, als bisherige Designs von Verpackungen (z. B. Verkörperung eines Lebensgefühls, Ausweisung als Luxus-/Trendartikel). Die Verkaufsmenge von Zigaretten in Einheitsverpackungen mag daher schneller abnehmen und damit auch positive Auswirkungen auf den Gesundheitsschutz haben. Nur wenige Mitgliedstaaten haben den Abdruck von abschreckenden Bildern auf Zigarettenverpackungen vorgeschrieben. Zumindest unter diesem Aspekt könnte durch die Einführung einheitlicher Regelungen das äußere Design in der gesamten EU angeglichen und damit das Funktionieren des Binnenmarkts gestärkt werden, sodass eine Heranziehung von Art. 114 AEUV als Kompetenzgrundlage möglich erscheint . Änderungsvorschlag 3: Die Regelungen zur Offenlegung und Registrierung von Zusatzstoffen in Tabakprodukten sind gegenwärtig von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden. Diese Tatsache führt zu Problemen bei der Auswertung der Daten durch nationale Behörden. Zugleich ist den Tabakherstellern und -importeuren aufgrund der unterschiedlichen Berichtformate die Bereitstellung von Informationen erschwert. Eine Vereinheitlichung der Offenlegung und Registrierung von Inhaltsstoffen erscheint demnach geeignet, das Funktionieren des EU-Binnenmarktes zu erleichtern . Eine Heranziehung von Art. 114 AEUV als Kompetenzgrundlage erscheint damit möglich . Änderungsvorschlag 4: Für die Verwendung von Zusatzstoffen in Tabakprodukten gibt es zwischen den Mitgliedstaaten ebenfalls uneinheitliche nationale Regelungen. Entsprechend existieren national variierende Positiv- und Negativlisten. In der Folge können Zusatzstoffe, die Tabakprodukten in einem Mitgliedstaat zugeführt werden dürfen, in anderen Mitgliedstaaten verboten sein. Eine daher für jeden Mitgliedstaat vorzunehmende Neuanpassung des Tabakprodukts in Bezug auf seine Zusatzstoffe legt den Schluss nahe, dass der Warenverkehr in dieser Hinsicht nur erschwert möglich ist. Eine einheitliche Regelung in der EU, die in allen Mitgliedstaaten die gleichen Zusatzstoffe erlaubt bzw. verbietet, würde somit das Funktionieren des EU-Binnenmarktes positiv beeinflussen. Art. 114 AEUV käme daher als Kompetenzgrundlage in Betracht. Änderungsvorschlag 5: Einige Mitgliedstaaten, wie das Vereinigten Königreich und Finnland haben Verbotsregelungen zur Präsentation von Tabakprodukten am Verkaufsort eingeführt bzw. planen deren Einführung, andere Mitgliedstaaten demgegenüber nicht. Ebenso sind innerhalb der EU die nationalen Bestimmungen zur Aufstellung von Tabakprodukt-Verkaufsautomaten uneinheitlich . Fraglich erscheint aber hier, ob die Einführung EU-einheitlicher Regelungen zur Produktpräsentation bzw. zum Aufstellen von Automaten überhaupt Auswirkungen auf das Funktionieren des EU-Binnenmarktes haben kann. So führen die gegenwärtigen sich national unterscheidenden Regelungen zur Präsentation von Tabakprodukten nicht dazu, dass etwa Tabakhersteller hierdurch Veränderungen an den Tabakprodukten selbst vornehmen müssten. Das Tabakprodukt ist ohne seine offene Präsentation im Verkaufsraum bzw. im Automaten lediglich weniger sichtbar . Auf der anderen Seite kann nach den bislang vorliegenden Erkenntnissen auch nicht abgesehen werden, ob der Verbrauch von Tabakprodukten durch eine solche Maßnahme abnehmen Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 24 würde.85 Daher kann zu dem Nutzen dieser Maßnahme für den Gesundheitsschutz keine klare Stellung bezogen werden. Im Ergebnis ist zumindest mangels erkennbarem Bezugs zum Funktionieren des EU-Binnenmarktes zweifelhaft, ob dieser Vorschlag auf Art. 114 AEUV als Kompetenzgrundlage gestützt werden kann. 3.4.2.3. Zwischenergebnis Als erste Einschätzung lässt sich festhalten, dass für die Änderungsvorschlage 1-4 mit Ausnahme des Änderungsvorschlags 5 Art. 114 AEUV als Kompetenzgrundlage in Betracht kommt. 3.4.2.4. Revision auf der Grundlage von Art. 168 Abs. 5 AEUV Der Vertrag von Lissabon führt mit Art. 168 Abs. 5 AEUV eine neue Vorschrift im Bereich Gesundheitswesen ein. Hiernach können die EU-Organe nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren u. a. „Maßnahmen, die unmittelbar den Schutz der Gesundheit vor Tabakkonsum und Alkoholmissbrauch zum Ziel haben“, erlassen. Dies dürfen sie jedoch nur „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten“ (Harmonisierungsverbot). Ein solches Harmonisierungsverbot existierte auch schon in der alten Regelung des Art. 152 Abs. 4 lit. c) EGV. Bislang wurde das Harmonisierungsverbot so verstanden, dass auf der Grundlage von Art. 152 Abs. 4 lit. c) EGV „normative, verbindliche Eingriffe in die von Art. 152 erfassten Bereiche des Gesundheitswesens ganz allgemein ausgeschlossen sein“ sollen.86 Da sich das Harmonisierungsverbot als solches mit dem Vertrag von Lissabon nicht geändert hat, ist davon auszugehen, dass diese Auslegung auch nach dem Vertrag von Lissabon weiterhin Geltung beanspruchen kann. Dies nimmt auch die Bundesregierung in ihrer Denkschrift zum Vertrag von Lissabon an.87 Auch in der Literatur wird überwiegend davon ausgegangen, dass durch den Vertrag von Lissabon keine Ausweitung der Kompetenzen der Union erfolgt ist.88 Zulässig seien weiterhin nur reine Unterstützungsmaßnahmen, wie typischerweise Aktionsprogramme, der Aufbau von Netzwerken und die Einrichtung spezieller Institutionen.89 85 Rand Europe, Assessing the Impacts of Revising the Tobacco Products Directive, Study to support a DG Sanco Impact Assessment, Final report, September 2010, S. XXV, online (auf englisch) abrufbar unter http://ec.europa .eu/health/tobacco/docs/tobacco_ia_rand_en.pdf (Stand: 11.11.10). 86 So Wichard, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 3. Auflage 2007, Art. 152 EGV, Rdnr. 16. 87 Denkschrift der Bundesregierung zum Vertrag von Lissabon, BT-Drs. 16/8300, S. 181: „Da es sich hier nur um ergänzende Maßnahmen handelt, können Harmonisierungsmaßnahmen, wie im Rahmen der Binnenmarktkompetenz (z. B. Tabakwerberichtlinie), keinesfalls auf diese Vorschrift gestützt werden.“ 88 , Schutz der Gesundheit der Bevölkerung vor Tabakkonsum im Vertrag von Lissabon, WD 11-3000- 140/08, S. 6; , Europäischer Verfassungsvertrag und künftige EU-Kompetenzen, Die öffentliche Verwaltung (DÖV) 2004, S. 374 (382); Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2005, Art. I-17, Rdnr. 4. 89 S. Lugner, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 152, Rdnr. 40; Fischer, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge , Kommentar nach dem Vertrag von Lissabon, 5. Auflage 2010, Art. 168, Rdnr. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 25 Nimmt man diese Auffassungen als Grundlage, so könnte die Revision der Tabakproduktrichtlinie nicht auf Art. 168 Abs. 5 AEUV gestützt werden, da es sich bei den von der Kommission vorgestellten Änderungsoptionen nicht um reine Unterstützungsmaßnahmen handeln würde. Der Ausschluss von Art. 168 Abs. 5 AEUV als Kompetenzgrundlage hat jedoch keine Sperrwirkung für die Heranziehung anderer möglicher Rechtsgrundlagen, wie etwa Art. 114 AEUV. Ebenso ist auch eine Harmonisierung nach anderen Vorschriften nicht ausgeschlossen, solange im deren Voraussetzungen vorliegen.90 3.4.3. Keine ausschließliche Zuständigkeit der Union Art. 5 Abs. 3 EUV legt fest, dass das Subsidiaritätsprinzip allein auf jene Bereiche Anwendung findet, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen. Der Bereich Binnenmarkt fällt gemäß Art. 4 Abs. 2 Buchstabe a) AEUV in die von der Union mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit (Art. 4 Abs. 1 AEUV). Als Rechtsgrundlage für eine Revision der Tabakproduktrichtlinie würde – wie gesehen - voraussichtlich Art. 114 AEUV (vormals Art. 95 EGV) herangezogen. Eine Überprüfung anhand des Subsidiaritätsprinzips ist damit grundsätzlich möglich. 3.4.4. Keine ausreichende Verwirklichung der Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten Gemäß Art. 5 Abs. 3 EUV darf die EU nur tätig werden, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können. 3.4.4.1. Ziele der Änderungsvorschläge der Kommission Auf der Hand liegt bei allen Änderungsvorschlägen ein gesundheitspolitisch motiviertes Ziel. Der Zwischenbericht zur Folgenabschätzung stellt solche Ziele eindeutig in den Vordergrund, wenn er in seiner Einleitung allein auf die gesundheitlichen Folgen des Rauchens abstellt.91 Bezogen auf die Angaben des Konsultationspapier und des Abschlussberichts ist auch das Ziel erkennbar , über die Implementierung der Änderungsvorschläge 1-4 auf ein besseres Funktionieren des EU-Binnenmarkts hinzuwirken. Verwiesen werden kann in diesem Zusammenhang auf das erste Urteil des EuGH zur Tabakproduktrichtlinie . Darin prüft der EuGH die Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes. Die Prüfung 90 Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, 5. Auflage 2010, Art. 168 AEUV, Rdnr. 10; es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass diese Ansicht nicht unbestritten ist: So wird in der Literatur auch vertreten, dass die Erweiterung des Abs. 5 gerade als Reaktion der Kompetenzdebatte hinsichtlich des Tabakwerbeverbots erlassen wurde; es sei eine neue Zuständigkeit geschaffen worden, vgl. Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2005, Art. I-17, Rdnr. 4. 91 Rand Europe, Assessing the Impacts of Revising the Tobacco Products Directive, Draft, Punkt 1, S. 1 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 26 fällt denkbar knapp aus.92 Zu den Zielen der Tabakproduktrichtlinie führt der EuGH lediglich aus, dass diese der Beseitigung der Hindernisse diene (Binnenmarktbezug), die noch zwischen den Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen fortbestehen, wobei sie gem. Art. 95 Abs. 3 EGV gleichzeitig ein hohes Schutzniveau im Bereich der Gesundheit sicherstellen solle.93 Man kann daraus schließen, dass eine solche Zielsetzung auch einer revidierten Richtlinie zu Grunde liegen würde. 3.4.4.2. Grenzüberschreitende Aspekte Das alte Subsidiaritätsprotokoll Nr. 3094 sah vor, zunächst zu prüfen, ob der zu regelnde Bereich überhaupt transnationale, also grenzüberschreitende Aspekte aufweist. Trotz des Verzichts auf dieses Erfordernis in dem neuen Subsidiaritätsprotokoll bleibt die Frage hiernach unentbehrlich: Gerade aufgrund der stark dehnbaren Zielformulierungen gibt der Rückgriff auf die Natur des zugrundeliegenden Sachverhalts den entscheidenden Hinweis, ob die Mitgliedstaaten schon rein faktisch nicht in der Lage sind, die Ziele des Unionsgesetzgebers hinreichend selbst zu verwirklichen , für den Fall dass ein Problem grenzüberschreitenden Charakter hat und damit auch nur grenzüberschreitend gelöst werden kann.95 Für eine Bejahung des grenzüberschreitenden Aspekts kann – wie der EuGH dies in seinem Urteil zur Tabakproduktrichtlinie getan hat – schlicht auf die Tatsache verwiesen werden, dass der Markt für Tabakerzeugnisse und insbesondere für Zigaretten ein Markt ist, auf dem der Handel zwischen den Mitgliedstaaten eine verhältnismäßig wichtige Rolle spielt.96 3.4.4.3. Gefährdung der Vertragziele Nach den Leitlinien des alten Protokolls Nr. 30 kam es des Weiteren darauf an, ob alleinige Maßnahmen der Mitgliedstaaten oder das Fehlen von Gemeinschaftsmaßnahmen gegen die Anforderungen des Vertrags verstoßen oder auf sonstige Weise die Interessen der Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen würden. Einheitlichkeit mit einer Unionsrechtsnorm sollte dann angestrebt werden, wenn „Gleichberechtigung oder Wettbewerb eindeutig gefährdet werden könnten.“97 92 EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2002, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rdnr. 177 ff. 93 EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2002, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rdnr. 181. 94 Das Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit wurde mit dem Vertrag von Amsterdam eingeführt. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurde es durch das Protokoll Nr. 2 ersetzt. 95 Koch/Kullas, Subsidiarität nach Lissabon – Scharfes Schwert oder stumpfe Klinge?, cep-Studie, März 2010, S. 17. 96 EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2002, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rdnr. 64. 97 Europäisches Parlament, Ausschuss für konstitutionelle Fragen, Bericht vom 24. April 2002, A5-0133/2002, S. 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 27 Bislang vertritt die Kommission die Auffassung, dass dieses Kriterium auch künftig zu beachten ist.98 Die national unterschiedlich erfolgten Regelungen zu neuartigen Tabakprodukten (s. Änderungsvorschlag 1-4) erscheinen durchaus eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs auf dem EU-Binnenmarkt hervorzurufen (s.o.). Hierdurch ergeben sich zumindest Wettbewerbsnachteile, wenn ein aus einem Mitgliedstaat kommender Tabakproduktanbieter /-hersteller seine Marktpräsenz auf einen anderen Mitgliedstaat ausdehnen möchte. Während der von außen kommende Anbieter unter einem zusätzlichen Kostenaufwand gezwungen sein mag, sich den fremden nationalen Regelungen anzupassen, müssen die dort bereits heimischen Bewerber keinerlei Änderungen vornehmen . Bei einem Verbot der Produktpräsentation und der Werbung am Verkaufsort (s. Änderungsvorschlag 5) ist dagegen nicht sofort ersichtlich, warum die unterschiedliche Handhabung der Verbotsnormen in den Mitgliedstaaten die gleiche Behandlung aller Tabakproduzenten oder den Wettbewerb gefährden könnte. Denkbar ist insofern lediglich, dass ausländische Tabakproduzenten bei einem Verbot der Produktpräsentation insgesamt größere Schwierigkeiten haben, sich auf einem nationalen Markt zu etablieren als die inländischen Produzenten von Tabakprodukten. Der EuGH hat in seinem ersten Urteil zur Tabakproduktrichtlinie diesen Punkt nicht vertieft geprüft , sondern lediglich festgestellt, dass sich das Ziel der Beseitigung von Handelshemmnissen nicht ausreichend auf der Ebene der Mitgliedstaaten erreichen lasse; eine Maßnahme auf Gemeinschaftsebene sei erforderlich, wie die heterogene Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften im vorliegendem Fall zeige.99 Mit einer solchen Argumentation kann eine Gefährdung der Vertragsziele leicht bejaht werden. 3.4.4.4. Bessere Verwirklichung der Ziele auf der Ebene der Europäischen Union: Begründungskontrolle Dieses Prüfungsmerkmal erfährt in Art. 5 des neuen Subsidiaritätsprotokolls insofern eine Konkretisierung , als festgelegt ist, dass „die Feststellung, dass ein Ziel der Union besser auf Unionsebene erreicht werden kann, auf qualitativen und, soweit möglich, quantitativen Kriterien“ beruhen muss. Die Entwürfe von Gesetzgebungsakten sollen dabei berücksichtigen, dass die finanzielle Belastung und der Verwaltungsaufwand der EU, der nationalen Regierungen, der regionalen und lokalen Behörden, der Wirtschaftsteilnehmer und der Bürgerinnen und Bürger so gering wie möglich gehalten werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen müssen. Die finanziellen Auswirkungen bei der Verwirklichung der jeweiligen Veränderungsvorschläge werden im Abschlussbericht grob dargestellt:100 98 Vgl. die Folgenabschätzung zum Aktionsplan urbane Mobilität; vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Aktionsplan urbane Mobilität, 30. September 2009, KOM (2009) 490 endg. 99 EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2002, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rdnr. 182. 100 Rand Europe, Assessing the Impacts of Revising the Tobacco Products Directive, Draft, Punkt 5.1.4, S. 55. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 28 Veränderungsvorschlag 1: Die finanziellen Auswirkungen bei der Ausweitung des Regelungsbereichs der Tabakproduktrichtlinie sind gegenwärtig noch nicht abschätzbar, da über den Kreis der Anbietern neuartiger Tabakprodukte nur unzureichende Informationen zur Verfügung stehen. Erwartet werden generell auf diese Anbieter zukommende administrative Kosten und Kosten zur Anpassung der Produkte an die neuen rechtlichen Regelungen. Diese Kosten könnten in der Folge zu einem Preisanstieg der neuartigen Tabakprodukte führen. Über eventuell aufkommende Kosten für die EU bzw. der nationalen Regierungen, Verwaltungen liegen keine konkreten Erkenntnisse vor. Veränderungsvorschlag 2: Auch neue Regelungen im Bereich des Verpackungsdesigns werden in steigenden Verwaltungskosten für Tabakprodukthersteller resultieren. Hierbei wird der Kostenaufwand umso geringer eingeschätzt, je länger die in einer Richtlinie angesetzte Übergangsfrist ist. Weiterhin ist denkbar, dass sich der Markt für Tabakprodukte durch diese Maßnahmen mangels künftiger Individualisierungspotentiale für Marken nachhaltig verändert. Sollte daraus resultieren , dass weniger Tabakprodukte gekauft werden, würden daraus auch finanzielle Folgen für die Mitgliedstaaten resultieren, da diese entsprechend weniger Einnahmen aus der Tabaksteuer beziehen könnten. Auf der anderen Seite ist zu erwarten, dass bei einer sinkenden Konsumentenrate zukünftig geringere Kosten für die Gesundheitssysteme aufgewendet werden müssten, um die mit dem Rauchen verbundenen gesundheitliche Beschwerden zu behandeln. Veränderungsvorschlag 3: Es ist ebenfalls mit steigenden Verwaltungskosten für Tabakhersteller zu rechnen, da diese etwa gefordert wären, ihre bisherigen Systeme zur Datenerhebung umzustellen . Auf der anderen Seite könnten durch die Einführung eines einheitlichen EU-weiten Registrierprozesses langfristig Verwaltungskosten gesenkt werden. Veränderungsvorschlag 4: Zu erwartende finanzielle Auswirkungen ergeben sich für die Tabakproduktindustrie aufgrund von steigenden Verwaltungskosten. Weitere Erkenntnisse zu den Auswirkungen liegen bislang nicht vor. Veränderungsvorschlag 5: Für die Einzelhändler sind nach dem Abschlussbericht finanzielle Auswirkungen zu erwarten, da jede Regelung der Produktpräsentation sich auf die Verkaufsfläche , insbesondere die Tabakwerbung und Lagermöglichkeiten auswirkt. Laufende Kosten könnten durch längere Bedienzeiten für die Kunden entstehen, z. B. dadurch, dass Zigarettenpackungen unter der Theke hervorgeholt werden müssten. Die Auswirkungen einer Regulierung auf die Tabakproduzenten werden dagegen als wesentlich geringer eingestuft. Das Protokoll Nr. 30 legte fest, dass zur Erfüllung des Kriteriums der besseren Verwirklichung auf Unionsebene die fraglichen Maßnahmen auf der Ebene der EU aufgrund ihrer Größenordnung oder ihrer Auswirkungen im Verhältnis zu einem Tätigwerden auf der mitgliedstaatlichen Ebene deutliche Vorteile erbringen müssten. Auch die überwiegende Meinung in der Literatur nimmt an dieser Stelle eine vergleichende Abwägung vor: Danach sind die Gemeinschaftsbefugnisse dort nicht voll auszuüben, wo der zusätzliche Integrationsgewinn minimal, der Eingriff in die verbliebenen Zuständigkeitsbereiche der Mitgliedstaaten jedoch beträchtlich ist.101 101 Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, S. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 247/10 Seite 29 Fraglich ist, ob die von der Kommission angedachten Veränderungsvorschläge auf EU-Ebene tatsächlich einen Mehrwert gegenüber Regelungen auf der Ebene der Mitgliedstaaten haben. Zu beurteilen, ob die Ziele einer Maßnahme besser auf Unionsebene verwirklicht werden können , ist rechtlich schwierig, da eine Einschätzung der Wirksamkeit von Maßnahmen nur durch eine Prognoseentscheidung möglich ist. Die rechtliche Kontrolle richtet sich daher vielmehr auf die Begründung zur Vereinbarkeit von Gesetzentwürfen mit Subsidiarität, die die Kommission gemäß Art. 5 Protokoll Nr. 2 zwingend vorlegen muss.102 Pauschale Formeln und abstrakte Rechtserwägungen auf Seiten der Kommission können jedoch ebenso wenig genügen wie salvatorische Klauseln, da gerade diese Begründungskontrolle die fehlenden rechtlichen Maßstäbe durch zu unbestimmte Begriffe und mangelnde Anhaltspunkte kompensieren muss.103 Auch kann die mit einem Gesetzgebungsakt angestrebte Harmonisierung der unterschiedlichen Vorschriften in den Mitgliedstaaten nicht per se als Zielsetzung genannt werden. Zu benennen ist vielmehr das mit einer Maßnahme materiell verfolgte Ziel, wie beispielsweise die Einführung bestimmter Standards für Produkte und Dienstleistungen. Auf Zieldefinition und Ausübung der Kompetenz können sich Querschnittsklauseln, etwas zum Verbraucherschutz, auswirken, die bestimmte Wertvorstellungen widerspiegeln.104 Bislang liegt noch keine Begründung der Kommission für einen Richtlinienentwurf vor. Auch das Konsultationspapier der Kommission und der Abschlussbericht von RAND Europe enthalten keine rechtlichen Erwägungen in Bezug auf das Subsidiaritätsprinzip. Eine weitergehende Bewertung der Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip kann daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vorgenommen werden. - Fachbereich Europa - 102 Koch/Kullas, Subsidiarität nach Lissabon – Scharfes Schwert oder stumpfe Klinge?, cep-Studie, März 2010, S. 18. 103 Von Danzwitz, Der Vertrag von Lissabon und der Fortgang der Integration, DIJV, 10. Oktober 2008, S. 10. 104 Koch/Kullas, Subsidiarität nach Lissabon – Scharfes Schwert oder stumpfe Klinge?, cep-Studie, März 2010, S. 16.