Deutscher Bundestag Die Zulässigkeit des Erlasses einzelstaatlicher Maßnahmen vor dem Hintergrund der Harmonisierung des Rechts innerhalb der Europäischen Union unter besonderer Beachtung des Rechtsguts Gesundheitsschutz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 11 – 3000 – 245/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 245/10 Seite 2 Die Zulässigkeit des Erlasses einzelstaatlicher Maßnahmen vor dem Hintergrund der Harmonisierung des Rechts innerhalb der Europäischen Union unter besonderer Beachtung des Rechtsguts Gesundheitsschutz Aktenzeichen: WD 11 – 3000 – 245/10 Abschluss der Arbeit: 20. Januar 2011 Fachbereich: WD 11: Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 245/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Die Anwendung von Schutzklauseln nach Art. 114 Abs. 10 AEUV 5 2.1. Inhalt und Verfahren 5 2.2. Beispiele für die Anwendung der Schutzklausel 6 2.2.1. Art. 18 der Verordnung (EG) 2004/1935 – Bedarfsgegenständeverordnung 6 2.2.2. Art. 4 der Richtlinie 89/107/EWG – Lebensmittelzusatzstoffe 7 2.2.3. Art. 43 i.V.m. Art. 42 der Richtlinie (EG) 2009/48 – Spielzeugrichtlinie 8 3. Mitgliedstaatliche Abweichungen von den Harmonisierungsvorgaben im Rahmen des Art. 114 Abs. 4-9 AEUV zum Schutz der Gesundheit 9 3.1. Beibehaltung abweichender einzelstaatlicher Bestimmungen, Art. 114 Abs. 4 AEUV 9 3.2. Einführung abweichender einzelstaatlicher Bestimmungen zum Schutz der Umwelt oder Arbeitsumwelt, Art. 114 Abs. 5 AEUV 10 3.2.1. Das Genehmigungsverfahren nach Art. 114 Abs. 6-7 AEUV 11 3.2.2. Anpassung einer Harmonisierungsmaßnahme aufgrund eines speziellen Gesundheitsproblems, Art. 114 Abs. 8 AEUV 12 4. Das Prinzip der Vorsorge im deutschen Recht 14 4.1. Das Vorsorgeprinzip im deutschen Rechtssystem 14 4.2. Schlussfolgerungen 15 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 245/10 Seite 4 1. Einleitung Die Rechtsangleichung (Harmonisierung)1 in der Europäischen Union (EU) wurde in vergangener Zeit deutlich vorangetrieben. Das EU-Recht entfaltet in diesem Rahmen gegenüber entgegenstehendem nationalen Recht grundsätzlich eine Sperrwirkung, sodass ein einseitiges Abweichen von den Regelungsvorgaben der EU nicht zulässig ist. Der Erlass abweichender nationaler Maßnahmen ist jedoch dann rechtmäßig, wenn es das EU-Recht selbst – in den Verträgen oder im Sekundärrecht – ausdrücklich vorsieht. Der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) räumt den Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen ausdrücklich ein Recht zum „Ausscheren“2 ein. So ist neben den Bereichen des Arbeits - und Sozialrechts der EU (Art. 153 Abs. 5 AEUV) oder der EU-Umweltpolitik (Art. 193 AEUV) auch im Bereich der Rechtsangleichung (Art. 114 AEUV) festgelegt, unter welchen Voraussetzungen die Mitgliedstaaten einzelstaatlich verstärkte Schutzmaßnahmen ergreifen oder beibehalten dürfen. Das Vorgehen Dänemarks im Fall des einzelstaatlich ausgesprochenen Verbots des Stoffs Bisphenol A3 ist ein Beispiel für ein solches unionsrechtlich legitimes Ausscheren eines Mitgliedstaats aus dem harmonisierten EU-Rahmen im Bereich des Gesundheitsschutzes. Allerdings lässt dies nicht den Rückschluss zu, das Recht der EU billige eine dauerhafte Abkehr bzw. Umgehung einmal erreichter Harmonisierungsebenen. Eine langfristige Etablierung unterschiedlicher Schutzniveaus etwa im Bereich der Gesundheit würde sonst dem Ziel, den EU- Binnenmarkt im Wege der Harmonisierung fortzuentwickeln, entgegenlaufen. Die o.g. Sonderregelungen zielen daher darauf ab, den Mitgliedstaaten, eine wirksame und flexible Reaktion auf kurzfristig auftretende Gefährdungsphänomene im Rahmen einer dennoch langfristig gesicherten Harmonisierung zu ermöglichen.4 Die folgende Ausarbeitung stellt die im Recht der EU verankerten Möglichkeiten dar, wie ein Mitgliedstaat von einer Harmonisierungsmaßnahme einseitig abweichen kann. Zum Abschluss wird kurz auf das Vorsorgeprinzip eingegangen. 1 Harmonisierung meint Angleichung unterschiedlichen nationalen Rechts nach Maßgabe eines EU-Rechtsakts. 2 Vgl. „Nationaler Alleingang“ in: Mickel/Bergmann, Handlexikon der Europäischen Union, 2005. 3 Mehr hierzu unten unter den Punkten 2.3.1. und 5.2. 4 Zu einer etwaigen Spannung zwischen den Zielen Rechtsgüterschutz und Binnenmarktverwirklichung siehe den Aufsatz von Epiney, Zur Auslegung des Art. 95 Abs. 5 EGV, in: Natur und Recht 2007, S. 111ff., online abrufbar unter http://www.springerlink.com/content/1253g2r3851x5635/fulltext.pdf (Stand: 20.1.11). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 245/10 Seite 5 2. Die Anwendung von Schutzklauseln nach Art. 114 Abs. 10 AEUV5 2.1. Inhalt und Verfahren Nach Art. 114 Abs. 10 AEUV kann eine Harmonisierungsmaßnahme der EU (z. B. Richtlinie) in geeigneten Fällen mit einer Schutzklausel versehen werden. Die Klausel ermöglicht es einzelnen Mitgliedstaaten, vorläufig auf nationaler Ebene restriktivere Regelungen zu erlassen, als es die Bestimmungen der EU-Harmonisierungsmaßnahme vorsehen.6 Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die einseitigen Maßnahmen dieser Mitgliedstaaten dem Schutz bestimmter, in Art. 36 AEUV genannter Rechtsgüter zu dienen bestimmt sind. Zu den in Art. 36 AEUV genannten Rechtsgütern zählt unter anderem die Gesundheit. Nach dem Wortlaut der Vorschrift dürfen nur vorläufige Schutzmaßnahmen getroffen werden, die einer unionsrechtlichen Missbrauchsaufsicht durch die Kommission unterliegen.7 Zudem dürfen Harmonisierungsmaßnahmen nur in geeigneten Fällen mit einer Schutzklausel verbunden werden . Dies bedeutet, dass es weitgehend im Ermessen des EU-Gesetzgebers steht, ob er von dieser Möglichkeit Gebrauch macht.8 Aufgrund ihres Charakters als Ausnahmebestimmungen sind Schutzklauseln auf der Grundlage von Art. 114 Abs. 10 AEUV im Zweifel eng auszulegen.9 Ihre Anwendung darf keine Diskriminierung etwa bei der Einfuhr von Waren aus anderen Mitgliedstaaten zur Folge haben.10 Ebenso ist eine analoge Anwendung der Schutzklausel auf nicht in Art. 36 AEUV genannte Rechtsgüter nach wohl herrschender Ansicht unzulässig.11 Die Existenz einer Schutzklausel entfaltet jedoch keine Sperrwirkung für die Inanspruchnahme einer Abweichung gemäß Art. 114 Abs. 4 oder Abs. 5 AEUV.12 5 „Die vorgenannten Harmonisierungsmaßnahmen sind in geeigneten Fällen mit einer Schutzklausel verbunden, welche die Mitgliedstaaten ermächtigt, aus einem oder mehreren der in Artikel 36 genannten nichtwirtschaftlichen Gründe vorläufige Maßnahmen zu treffen, die einem Kontrollverfahren der Union unterliegen.“ 6 Klindt, Der „new approach” im Produktrecht des europäischen Binnenmarkts: Vermutungswirkung technischer Normung, EuZW 2002, S. 133, online abrufbar unter http://beck-online.beck.de/Default.aspx?vpath= bibdata\zeits\euzw\2002\cont\euzw.2002.133.1.htm&pos=7&hlwords=spielzeugrichtlinie%C3%90 schutzklausel#xhlhit (Stand: 20.1.11). 7 Geiger/Khan/Kotzur, EUV, AEUV, 2010, Art. 114 AEUV Rdnr. 21. 8 Siehe Herrnfeld, in: Schwarze, EGV, Art. 95 EGV Rdnr. 44. 9 Vgl. EuGH Rs. 11/82, SA Piraiki-Patraiki, Slg. 1985, S. 207, Rdnr. 26. 10 Vgl. EuGH Rs. 5/77, Tedeschi, Slg. 1977, S. 1555, Rdnr. 35 ff. 11 Vgl. Geiger/Khan/Kotzur, EUV, AEUV, 2010, Art. 114 AEUV Rdnr. 21. m. w. N. 12 Dazu weiter unten. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 245/10 Seite 6 2.2. Beispiele für die Anwendung der Schutzklausel 2.2.1. Art. 18 der Verordnung (EG) 2004/1935 – Bedarfsgegenständeverordnung Die EU-Bedarfsgegenständeverordnung (VO (EG) 2004/1935)13 sieht in ihrem Art. 18 eine Befugnis der Mitgliedstaaten vor, Schutzmaßnahmen zu erlassen, wenn sie durch neue Informationen oder Neubewertungen bereits vorhandener Information zu dem Schluss kommen, dass die Verwendung eines Materials oder Gegenstands die menschliche Gesundheit gefährdet.14 In diesem Fall kann ein Mitgliedstaat unter ausführlicher Begründung seiner Entscheidung von den einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften abweichen und die Erlaubnis zum Handel mit dem betroffenen Material oder Gegenstand vorläufig aussetzen oder beschränken. Gemäß Art. 18 Abs. 4 der Verordnung kann der Mitgliedstaat diese Aussetzung oder Einschränkung der Einzelmaßnahme so lange aufrechterhalten, bis die Europäische Kommission (Kommission) entsprechende Änderungen des relevanten EU-Rechts erlassen hat oder sie es abgelehnt hat, solche Änderungen zu erlassen. Hält der Mitgliedstaat seine abweichende Regelung danach trotz der Ablehnung durch die Kommission aufrecht, so droht ihm ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH. Frankreich hat am 23. Juni 2010 in Reaktion auf einen Bericht des französischen Forschungsinstituts INSERM15 beschlossen, das Inverkehrbringen und die Herstellung von Bisphenol-A-haltigen Babyfläschchen ab Januar 2011 zu verbieten.16 Dänemark ergriff noch einschneidendere Maß- 13 Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 2004 über Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen und zur Aufhebung der Richtlinien 80/590/EWG und 89/109/EWG, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2004:338:0004:0017:de:PDF (Stand: 20.1.11). 14 Artikel 18 VO (EG) 1935/2004 (Schutzmaßnahmen): „(1) Gelangt ein Mitgliedstaat aufgrund von neuer Information oder einer Neubewertung bereits vorhandener Information mit ausführlicher Begründung zu dem Schluss, dass die Verwendung eines Materials oder Gegenstands die menschliche Gesundheit gefährdet, obwohl das Material oder der Gegenstand den einschlägigen Einzelmaßnahmen entspricht, so kann er die Anwendung der betreffenden Vorschriften in seinem Hoheitsgebiet vorläufig aussetzen oder einschränken. Er teilt dies den anderen Mitgliedstaaten und der Kommission unverzüglich unter Angabe der Gründe für die Aussetzung oder Einschränkung mit. (2) Die Kommission prüft so bald wie möglich, gegebenenfalls nach Einholung einer Stellungnahme der Behörde , in dem in Artikel 23 Absatz 1 genannten Ausschuss die von dem in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Mitgliedstaat angegebenen Gründe; anschließend gibt sie unverzüglich ihre Stellungnahme ab und ergreift die geeigneten Maßnahmen. (3) Ist die Kommission der Ansicht, dass die einschlägigen Einzelmaßnahmen geändert werden müssen, um den in Absatz 1 genannten Schwierigkeiten zu begegnen und den Schutz der menschlichen Gesundheit zu gewährleisten , so werden diese Änderungen nach dem in Artikel 23 Absatz 2 genannten Verfahren erlassen. (4) Der in Absatz 1 genannte Mitgliedstaat kann die Aussetzung oder Einschränkung aufrechterhalten, bis die in Absatz 3 genannten Änderungen erlassen sind oder die Kommission es abgelehnt hat, solche Änderungen zu erlassen .“ Die Formulierung des Art. 18 spricht gegen die Anwendung des Vorsorgeprinzips und für eine Beweislast des von der Einzelmaßnahme abweichenden Mitgliedstaats. 15 Institut national de la santé et de la recherche médicale, Internetauftritt unter http://www.inserm.fr/ (Stand: 20.1.11). 16 Le Monde vom 25. Juni 2010, „Le bisphénol A interdit dans les biberons“, online abrufbar unter http://www.lemonde.fr/planete/article/2010/06/24/le-bisphenol-a-interdit-dans-lesbiberons _1378001_3244.html (Stand: 20.1.11). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 245/10 Seite 7 nahmen: Bisphenol A ist dort nunmehr seit Juli 2010 bei allen für Kinder unter drei Jahren bestimmten Nahrungsmittelerzeugnissen verboten. Dabei konnten sich Dänemark und Frankreich, wie auch die Antwort der Kommission auf eine Anfrage aus dem Europäischen Parlament (EP) belegt17, auf die in der einschlägigen Bedarfsgegenständeverordnung enthaltene Schutzklausel gemäß Art. 114 Abs. 10 AEUV stützen. Das Verhalten der beiden Mitgliedstaaten steht damit nicht grundsätzlich im Widerspruch zu dem gültigen Lebensmittelrecht der EU, sondern nutzt die dort vorgesehenen Möglichkeiten, vorläufig von den harmonisierten Standards abzuweichen. Im Rahmen des Schutzklauselverfahrens nach der Bedarfsgegenständeverordnung ist kein langfristiges Abweichen von der Harmonisierungsmaßnahme gestattet, sondern lediglich ein begründetes Reagieren auf neu auftretende oder neu erkannte Gesundheitsgefahren. Allerdings kann ein solches Vorgehen der Mitgliedstaaten im Rahmen des durch die Harmonisierungsmaßnahme vorgesehenen Schutzklauselverfahrens zu einer Anpassung der Richtlinie oder Verordnung führen . So gab etwa der „Ständige Ausschuss für die Lebensmittelkette und Tiergesundheit“ der EU am 26. November 2010 bekannt, dass ab 1. März 2011 die Produktion und ab 1. Juni 2011 der Verkauf von Babyflaschen aus Polykarbonat, welche Bisphenol-A enthalten, in der EU verboten wird.18 2.2.2. Art. 4 der Richtlinie 89/107/EWG – Lebensmittelzusatzstoffe Ein weiteres Beispiel für eine Schutzklausel gemäß Art. 114 Abs. 10 AEUV zum Schutz der Gesundheit findet sich im Lebensmittelrecht. Art. 4 der Richtlinie (EWG) 89/10719 zu den Lebensmittelzusatzstoffen ähnelt dabei in seiner Struktur Art. 18 der VO (EG) 2004/1935. 17 Hierzu die Antwort der Kommission: „…Legislation in the area of plastic food contact materials is harmonised at EU level. Member States may only deviate from EU legislation in accordance with the safeguard clause in Article 18 of Regulation (EC) No 1935/200417 when they have detailed grounds for concluding that the use of a material or article endangers human health, although it complies with the relevant EU legisation. Denmark and France both evoked this safeguard clause.“ Online abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/sides/getAllAnswers.do?reference=E-2010-8441&language=DE (Stand: 20.1.11). 18 Europa Press Releases RAPID, Pressemitteilung vom 26. November 2010 (englisch), online abrufbar unter http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=MEX/10/1126&format=HTML&aged=0&language=EN &guiLanguage=en (Stand: 20.1.11); EU-Koordination Deutscher Naturschutzring (DNR), „EU-weites Verbot für Bisphenol A in Babyflaschen ab Juni 2011“, Meldung vom 26. November 2010, online abrufbar unter http://www.eu-koordination.de/umweltnews/news/chemie/580-eu-weites-verbot-fuer-bisphenol-a-inbabyflaschen -ab-juni-2011 (Stand: 20.1.11). 19 Richtlinie des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Zusatzstoffe, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen, 89/107/EWG, online abrufbar unter http://ec.europa.eu/food/fs/sfp/addit_flavor/flav07_de.pdf (Stand: 20.1.11). Artikel 4 RL 89/107/EWG: „(1) Hat ein Mitgliedstaat aufgrund neuer Informationen oder einer seit Annahme der vorliegenden oder der nach Artikel 3 erlassenen Globalrichtlinie getroffenen Neubewertung vorhandener Informationen triftige Gründe zu der Annahme, daß die Verwendung eines Zusatzstoffes in Lebensmitteln gesundheitlich nicht unbedenklich ist, obwohl sie den Vorschriften der vorliegenden Richtlinie oder einer nach Artikel 3 erstellten Liste entspricht, so kann er die Anwendung der betreffenden Vorschriften in seinem Hoheitsgebiet vorübergehend aussetzen oder beschränken. Er unterrichtet die anderen Mitgliedstaaten und die Kommission unverzüglich über solche Maßnahmen und die Gründe dafür. (2) Die Kommission prüft so bald wie möglich innerhalb des Ständigen Lebensmittelausschusses die von dem Mitgliedstaat nach Absatz 1 geltend gemachten Gründe, gibt umgehend ihre Stellungnahme ab und trifft die geeigneten Maßnahmen. (3) Ist die Kommission der Auffassung, daß zur Behebung der in Absatz 1 genannten Schwierigkeiten und zum Schutz der menschlichen Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 245/10 Seite 8 2.2.3. Art. 43 i.V.m. Art. 42 der Richtlinie (EG) 2009/48 – Spielzeugrichtlinie20 Eine andere Form nimmt das Schutzklauselverfahren im Rahmen der Spielzeugrichtlinie an. Anders als bei den oben genannten Schutzklauseln ist ein wenn auch nur vorläufiges Abweichen von den durch die Richtlinie vorgegebenen Schutzstandards nicht möglich. Das Schutzklauselverfahren nach den Artikeln 42, 43 RL 2009/48/EG 21 dient der Durchsetzung des durch die Richtlinie festgelegten Harmonisierungsgrades in Bezug auf die Sicherheit von Spielzeugen und nicht der Ermöglichung von weitergehenden einzelstaatlichen Schutzmaßnah- Gesundheit diese Richtlinie oder die nach Artikel 3 erlassene Globalrichtlinie geändert werden muß, so leitet sie zu diesem Zweck das Verfahren nach Artikel 11 ein; in diesem Fall kann ein Mitgliedstaat, der Schutzmaßnahmen erlassen hat, diese bis zur Verabschiedung der Änderungen beibehalten.“ 20 Richtlinie 2009/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über die Sicherheit von Spielzeug, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2009:170:0001:0037:de:PDF (Stand: 20.1.11); Leitlinien zur Anwendung der Richtlinie 2009/48/EG Über die Sicherheit von Spielzeug, online abrufbar unter http://ec.europa.eu/enterprise/sectors/toys/files/tsdguidance /tsd_rev_1.2_explanatory_guidance_document_de.pdf (Stand: 20.1.11). 21 Artikel 42 RL 2009/48/EG – Verfahren zur Behandlung von Spielzeug, mit dem eine Gefahr verbunden ist, auf nationaler Ebene: „(1) Sind die Marktüberwachungsbehörden eines Mitgliedstaats gemäß Artikel 20 der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 tätig geworden oder haben sie hinreichenden Grund zu der Annahme, dass ein in dieser Richtlinie geregeltes Spielzeug die Gesundheit oder Sicherheit von Menschen gefährdet, beurteilen sie, ob das betreffende Spielzeug alle in dieser Richtlinie festgelegten Anforderungen erfüllt. (…) Gelangen die Marktüberwachungsbehörden im Verlauf dieser Beurteilung zu dem Ergebnis, dass das Spielzeug nicht die Anforderungen dieser Richtlinie erfüllt, fordern sie unverzüglich den betroffenen Wirtschaftsakteur dazu auf, innerhalb einer von der Behörde vorgeschriebenen, der Art der Gefahr angemessenen Frist geeignete Korrekturmaßnahmen zu ergreifen, um die Übereinstimmung des Spielzeugs mit diesen Anforderungen herzustellen, es vom Markt zu nehmen oder zurückzurufen. (…) (4) Ergreift der betreffende Wirtschaftsakteur innerhalb der in Absatz 1 Unterabsatz 2 genannten Frist keine angemessenen Korrekturmaßnahmen, treffen die Marktüberwachungsbehörden geeignete vorläufige Maßnahmen, um die Bereitstellung des Spielzeugs auf ihrem nationalen Markt zu untersagen oder einzuschränken, das Spielzeug vom Markt zu nehmen oder zurückzurufen. (…)Die Marktüberwachungsbehörden geben insbesondere an, ob die Nichtkonformität auf eine der folgenden Ursachen zurückzuführen ist: a) Das Spielzeug erfüllt die in dieser Richtlinie festgelegten Anforderungen hinsichtlich der Gesundheit oder Sicherheit von Menschen nicht; oder b) die harmonisierten Normen, bei deren Einhaltung laut Artikel 13 die Konformitätsvermutung gilt, sind mangelhaft. (…)“ Artikel 43 – Schutzklauselverfahren der Gemeinschaft: „(1) (…) Hält [die Kommission] die nationale Maßnahme für gerechtfertigt, ergreifen alle Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass das nichtkonforme Spielzeug vom Markt genommen wird, und unterrichten die Kommission darüber. Hält sie die nationale Maßnahme nicht für gerechtfertigt, muss der betreffende Mitgliedstaat sie zurücknehmen. (3) Gilt die nationale Maßnahme als gerechtfertigt und wird die Nichtkonformität des Spielzeugs gemäß Artikel 42 Absatz 5 Buchstabe b mit Mängeln der harmonisierten Normen begründet, unterrichtet die Kommission das/die entsprechende(n) europäische(n) Normungsgremium /Normungsgremien und befasst den Ausschuss gemäß Artikel 5 der Richtlinie 98/34/EG [online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:1998L0034:20070101:DE:PDF, [Stand 20.1.10] mit der Frage (…).“ Die harmonisierten Normen, deutsche Fassung DIN EN 71ff., sind online abrufbar unter http://www.beuth.de/cmd?workflowname=CSVList&websource=&artid=100555489,99257415,98231357,586632 41,1614949,2134163,2394328,46499966,89958514,74066842,79625310&languageid= (Stand: 20.1.11). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 245/10 Seite 9 men. Ein Gestaltungsspielraum besteht bei der Überwachung der von der Harmonisierungsmaßnahme vorgegebenen Sicherheitsstandards, nicht aber bei der Festlegung der Sicherheitsanforderungen selbst. 3. Mitgliedstaatliche Abweichungen von den Harmonisierungsvorgaben im Rahmen des Art. 114 Abs. 4-9 AEUV zum Schutz der Gesundheit 3.1. Beibehaltung abweichender einzelstaatlicher Bestimmungen, Art. 114 Abs. 4 AEUV Nach Art. 114 Abs. 4 AEUV kann ein Mitgliedstaat nach dem Erlass einer Harmonisierungsmaßnahme einzelstaatliche Bestimmungen beibehalten, sofern er dies für erforderlich hält und die Beibehaltung der Bestimmungen durch wichtige Erfordernisse im Sinne des Art. 36 AEUV oder in Bezug auf den Schutz der Umwelt oder der Arbeitsumwelt gerechtfertigt ist. Der Staat, der sich auf die Beibehaltung seiner einzelstaatlichen Regelungen beruft, braucht zum Zeitpunkt des Erlasses der Maßnahme noch kein Mitglied der EU gewesen zu sein. Bei vor dem Vertrag von Lissabon erlassenen Harmonisierungsmaßnahmen genügt es, wenn die betreffende Maßnahme heute unter den Anwendungsbereich des Art. 114 Abs. 1 AEUV fällt.22 Eine analoge Anwendung der Derogationsmöglichkeiten bei anderen als den angegebenen Politikfeldern (Schutzgüter des Art. 36 AEUV, Umwelt, Arbeitsumwelt) kommt nach verbreiteter Ansicht aufgrund des Ausnahmecharakters der Regelung des Art. 114 Abs. 4 AEUV nicht in Betracht.23 Über den Wortlaut hinaus fordert ein Teil der rechtswissenschaftlichen Literatur entsprechend dem Art. 114 Abs. 5 AEUV das Vorliegen einer spezifischen Situation eines Mitgliedstaats sowie diesbezügliche wissenschaftliche Erkenntnisse auch im Rahmen des Abs. 4.24 So sei erforderlich, dass ein Mitgliedstaat eine ihn betreffende spezifische Situation darlegt, die ein Abweichen von der Harmonisierungsmaßnahme mit Bick auf die geschützten Rechtsgüter notwendig macht. Diese Darlegung soll dabei nicht in allgemeiner Form geschehen, sondern sei durch wissenschaftliche Erkenntnisse abzusichern.25 Diese einschränkende Auslegung des Art. 114 Abs. 4 AEUV wird vom EuGH jedoch abgelehnt.26 22 Vgl. Tietje, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 2003, Art. 95 EGV Rdnr. 97. 23 So z.B. Tietje, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 2003, Art. 95 EGV Rdnr. 98; anders etwa Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV Rdnr. 23 der in der Vorschrift eine „allgemeine Supplementierungsregel“ erblickt. 24 Vgl. Tietje, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 2003, Art. 95 EGV Rdnr. 112. 25 Vgl. Generalanwalt Tizzano, EuGH, Rs. C-3/00, Dänemark./.Kommission, Schlussanträge vom 30.05.2002, Rz. 64-84. 26 „59. Folglich geht weder aus dem Wortlaut von Art. 95 Abs. 4 EG [jetzt Art. 114 Abs. 4 AEUV] noch aus der Systematik des gesamten Artikels hervor, dass vom beantragenden Mitgliedstaat der Nachweis verlangt werden kann, dass die Beibehaltung der von ihm der Kommission mitgeteilten einzelstaatlichen Bestimmungen auf Grund eines spezifischen Problems dieses Staates gerechtfertigt ist. 60. Besteht dagegen in dem beantragenden Mitgliedstaat tatsächlich ein spezifisches Problem, so kann dieser Umstand von ganz erheblicher Relevanz für die Entscheidung der Kommission über die Billigung oder Ableh- Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 245/10 Seite 10 Schon aus dem Wortlaut des Art. 114 Abs. 4 AEUV, der davon spricht, dass der Mitgliedstaat die beibehaltene Maßnahme als erforderlich ansieht, ergibt sich die Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei der Beibehaltung abweichender Maßnahmen. Den Mitgliedstaaten kommt hierbei angesichts einer genauen Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Kommission ein nur geringer Beurteilungsspielraum zu.27 Die einzelstaatliche Maßnahme muss in höherem Maße geeignet und notwendig sein, um ein im Rahmen des Art. 114 Abs. 4 AEUV legitimes Schutzziel zu erreichen . Die von der Maßnahme ausgehende negative Auswirkung auf den Binnenmarkt muss im Hinblick auf den Rechtsgüterschutz angemessen sein.28 Die Mitgliedstaaten sind schließlich nach Art. 114 Abs. 4 AEUV gezwungen, die Rechtsvorschriften , die sie beizubehalten gedenken, sowie die Gründe hierfür, der Kommission so früh wie möglich mitzuteilen. 3.2. Einführung abweichender einzelstaatlicher Bestimmungen zum Schutz der Umwelt oder Arbeitsumwelt, Art. 114 Abs. 5 AEUV Hält es ein Mitgliedstaat für erforderlich, nach dem Erlass einer Harmonisierungsmaßnahme (neue) einzelstaatliche Bestimmungen zum Schutz der Umwelt oder der Arbeitsumwelt einzuführen , teilt er sein Vorhaben sowie dessen Gründe gem. Art. 114 Abs. 5 AEUV der Kommission mit. Voraussetzung für die Einführung ist nach Art. 114 Abs. 5 AEUV weiter, dass die einzelstaatlichen Bestimmungen auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt sind und der Bewältigung eines spezifischen Problems für diesen Mitgliedstaat dienen. Im Vergleich zu Art. 114 Abs. 4 AEUV ist der Kreis der schutzwürdigen Rechtsgüter auf den Schutz der Umwelt und die Arbeitsumwelt beschränkt. Dies entspricht der stärkeren Gefährdung , die von dem nachträglichen Erlass einzelstaatlicher Rechtsvorschriften für die Binnenmarktharmonisierung ausgehen kann, da sie von den EU-Organen beim Erlass der Harmonisierungsmaßnahmen naturgemäß noch nicht berücksichtigt werden konnten.29 Unter „Umweltnung der mitgeteilten einzelstaatlichen Bestimmungen sein. Es ist ein Gesichtspunkt, den die Kommission gegebenenfalls beim Erlass ihrer Entscheidung zu berücksichtigen hat.“ in: EuGH, Rs. C-3/00, Dänemark./.Kommission, Urteil vom 20.03.2003, EuZW 2003, 334 Rz. 56ff., online abrufbar unter http://curia.europa.eu/jurisp/cgibin /gettext.pl?lang=de&num=79969679C19000003&doc=T&ouvert=T&seance=ARRET (Stand: 20.1.11). 27 Vgl. Generalanwalt Tizzano, EuGH, Rs. C-3/00, Dänemark./.Kommission, Schlussanträge vom 30.05.2002, Rz. 85ff. 28 Bardenhewer/Pipkorn, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 100a Rdnr. 119, 121. 29 Vgl das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 20.03.2003: „58. Die beiden in Art. EG-Artikel 95 EG [jetzt Art. 114 AEUV] vorgesehenen Fälle unterscheiden sich darin, dass im ersten Fall die einzelstaatlichen Bestimmungen schon vor der Harmonisierungsmaßnahme bestanden. Sie waren dem Gemeinschaftsgesetzgeber somit bekannt, aber dieser konnte oder wollte sich bei der Harmonisierung nicht von ihr leiten lassen. Es wurde daher als hinnehmbar angesehen, dass der Mitgliedstaat die Fortgeltung seiner eigenen Vorschriften beantragen kann. Dabei verlangt der EG-Vertrag, dass solche Vorschriften durch wichtige Erfordernisse i.S. des Art. EG-Artikel 30 EG [jetzt Art. 36 AEUV] oder in Bezug auf den Schutz der Arbeitsumwelt oder den Umweltschutz gerechtfertigt sind. Dagegen kann im zweiten Fall der Erlass neuer einzelstaatlicher Rechtsvorschriften die Harmonisierung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 245/10 Seite 11 schutz“ im Sinne des Abs. 5 kann auch der Gesundheitsschutz, sofern er umweltbezogen ist, verstanden werden.30 Dies umfasst Beeinträchtigungen des menschlichen Wohlbefindens durch Umwelteinflüsse, insbesondere Verunreinigungen der Luft, des Wassers und des Bodens.31 Nicht umweltbezogen sind dagegen der Schutz der Gesundheit am Arbeitsplatz, die Förderung der öffentlichen Gesundheit oder der binnenmarktbezogene Gesundheitsschutz, wie etwa im Lebensmittelbereich . Gemäß dem Wortlaut des Abs. 5 muss die Einführung einer einzelstaatlichen Bestimmung aufgrund eines spezifischen Problems des Mitgliedstaats erfolgen. Dies bedeutet allein, dass es vergleichbare Probleme nicht in allen Mitgliedstaaten geben darf.32 Anders als Abs. 3, der von „wissenschaftlichen Ergebnissen“ spricht, heißt es in Abs. 5 „wissenschaftliche Erkenntnisse“. Aus dieser Normsystematik und dem Umstand, dass der Abs. 5 als Ausnahmeregelung restriktiv verstanden werden muss, wird gefolgert, dass die Anforderungen an die „wissenschaftlichen Erkenntnisse “ höher sein müssen als diejenigen an die „Ergebnisse“ im Sinne des Abs. 3.33 Die Berücksichtigung der verschiedenen Sprachfassungen der Vorschrift legt aber nahe, dass mit „Erkenntnis “ noch kein Beweis gemeint sein muss.34 Entscheidend ist dagegen, dass sich durch die neuen Erkenntnisse eine qualitativ neue Bewertung der auf der Grundlage des Art. 114 Abs. 1 AEUV harmonisierten Situation rechtfertigen lässt.35 3.2.1. Das Genehmigungsverfahren nach Art. 114 Abs. 6-7 AEUV Die Berufung auf einzelstaatliche Sonderregelungen (durch deren Beibehaltung, Abs. 4, oder deren Neueinführung, Abs. 5) unterliegt der Überprüfung durch die Kommission. Dazu dienen die Mitteilungen durch die Mitgliedstaaten (s.o.), auf deren Grundlage die Kommission binnen sechs Monaten darüber entscheidet, ob sie die notifizierten Maßnahmen billigt oder ablehnt. Der positiven Entscheidung der Kommission kommt konstitutive Wirkung zu, da sie den Mitgliedstaat stärker gefährden. Die Gemeinschaftsorgane konnten die einzelstaatliche Regelung naturgemäß bei der Ausarbeitung der Harmonisierungsmaßnahme nicht berücksichtigen. In diesem Fall können die in Art. EG-Artikel 30 EG genannten Erfordernisse nicht herangezogen werden; zulässig sind allein Gründe des Schutzes der Umwelt oder der Arbeitsumwelt, wobei Voraussetzung ist, dass der Mitgliedstaat neue wissenschaftliche Erkenntnisse vorlegt und dass das Erfordernis der Einführung neuer einzelstaatlicher Bestimmungen auf einem spezifischen Problem für diesen Mitgliedstaat beruht, das sich nach dem Erlass der Harmonisierungsmaßnahme ergibt.“ EuGH, Rs. C-3/00, Dänemark./.Kommission, Urteil vom 20.03.2003, EuZW 2003, S. 334 Rz. 56 ff., online abrufbar unter http://curia.europa.eu/jurisp/cgibin /gettext.pl?lang=de&num=79969679C19000003&doc=T&ouvert=T&seance=ARRET (Stand: 20.1.11). 30 Siehe etwa Jahns-Böhm, in: Schwarze, EU, Art. 174 EGV Rdnr. 9, m.w.N. 31 Jahns-Böhm, in: Schwarze, EU, Art. 174 EGV Rdnr. 9. 32 Herrnfeld, in: Schwarze, EU, Art. 95 EGV Rdnr. 64. 33 Tietje, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 2003, Art. 95 EGV Rdnr. 130. 34 Albin/Bär, NuR 1999, 1985. 35 Herrnfeld, in: Schwarze, EU, Art. 95 EGV Rdnr. 63. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 245/10 Seite 12 ermächtigt, die notifizierten Vorschriften beizubehalten bzw. neu einzuführen.36 Der Entscheidung , eine notifizierte einzelstaatliche Maßnahme abzulehnen, kommt dagegen keine konstitutive Wirkung zu,37 da sich die Verpflichtung des Mitgliedstaats auf die uneingeschränkte Anwendung der Harmonisierungsmaßnahme bereits aus Art. 288 AEUV bzw. aus der Maßnahme selbst ergibt.38 Die Kommission hat eine umfassende Prüfungspflicht, die sich neben den in Abs. 6 Unterabs. 1 genannten Kriterien auch auf die in Abs. 4 und 5 angeführten Voraussetzungen für die Annahme der Erforderlichkeit der einzelstaatlichen Maßnahme erstreckt. Dabei sind die Verhältnismäßigkeit und etwaige willkürliche Diskriminierungen oder verschleierte Beschränkungen des Handels zwischen den Mitgliedstaaten (s.o.) zentrale Gesichtspunkte.39 Lehnt die Kommission die einzelstaatliche Maßnahme ab, kann der betroffene Mitgliedstaat deren Beschluss gemäß Art. 263 Abs. 2 AEUV mit einer Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) anfechten. Eine Sonderregelung zu den Art. 258 und 259 AEUV stellt Art. 114 Abs. 9 AEUV dar. Danach kann die Kommission oder ein Mitgliedstaat unmittelbar den EuGH anrufen, wenn sie bzw. er der Auffassung ist, dass ein anderer Mitgliedstaat die in dem Art. 114 AEUV vorgesehenen Befugnisse missbraucht.40 Der EuGH hat daneben auch die Klage anderer Mitgliedstaaten gegen die Billigungsentscheidung der Kommission gemäß Art. 263 Abs. 2 AEUV zugelassen.41 Ein gebilligtes mitgliedstaatliches Ausscheren birgt die Gefahr, das Funktionierens des gemeinsamen Binnenmarkts zu beeinträchtigen. Auch aus diesem Grund ist die Kommission gemäß Art. 114 Abs. 7 AEUV verpflichtet zu prüfen, ob sie eine Anpassung der Harmonisierungsmaßnahme vorschlägt.42 Wie die Prüfung im Einzelnen zu erfolgen hat liegt jedoch in ihrem eigenen Ermessen.43 3.2.2. Anpassung einer Harmonisierungsmaßnahme aufgrund eines speziellen Gesundheitsproblems , Art. 114 Abs. 8 AEUV Die Regelung des Art. 114 Abs. 8 AEUV kann dann Anwendung finden, wenn ein Mitgliedstaat nach einer bereits erfolgten Harmonisierung aufgrund eines speziellen Gesundheitsproblems eine Anpassung der betreffenden Harmonisierungsmaßnahme für erforderlich hält. Da die eigenständige Einführung neuer einzelstaatlicher Regelungen zum Gesundheitsschutz lediglich zulässig ist, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Umweltschutz oder der Arbeits- 36 Bardenhewer/Pipkorn, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 100a Rdnr. 132. 37 Bardenhewer/Pipkorn, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 100a Rdnr. 133. 38 Herrnfeld, in: Schwarze, EU, Art. 95 EGV Rdnr. 67. 39 Herrnfeld, in: Schwarze, EU, Art. 95 EGV Rdnr. 68 ff. 40 Vgl. Streinz, Europarecht, Rdnr. 932. 41 Siehe EuGH, Rs. C-41/93, Frankreich/Kommission, Slg. 1994, I-1829. Dazu Streinz, Europarecht, Rdnr. 932. 42 Vgl. Streinz, Europarecht, Rdnr. 933. 43 Fischer, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, 5. Auflage 2010, Art. 114, Rdnr. 35. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 245/10 Seite 13 umwelt besteht (Art. 114 Abs. 5 AEUV), bleibt dem Mitgliedstaat nur die Möglichkeit, die Anpassung der Harmonisierungsmaßnahme aus Gründen des Gesundheitsschutzes bei der Kommission anzuregen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 245/10 Seite 14 4. Das Prinzip der Vorsorge im deutschen Recht 4.1. Das Vorsorgeprinzip im deutschen Rechtssystem Das Vorsorgeprinzip tritt in Deutschland vor allem als zentrales Prinzip der Umweltpolitik und des Umweltrechts in Erscheinung.44 Im Zuge der fortschreitenden Etablierung des Vorsorgegrundsatzes als allgemeines Leitprinzip des Umweltrechts wurden auch rein gesundheitsbezogene Regelungsmaterien mit einem präventiven Sicherheitskonzept und Bereiche des Verbraucherschutzes zunehmend als dessen Ausformungen begriffen.45 Als Rechtsbegriff tauchte das Vorsorgeprinzip zuerst im deutschen Atomgesetz (AtG) von 1954 auf46, wobei damals der konkrete Definitionsrahmen noch nicht hinreichend abgesteckt war. Als rechtssatzförmiges Prinzip wurde das Vorsorgeprinzip schließlich erst durch das Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) ausgestaltet und in diesem Rahmen von dem im Polizeirecht verankerten Terminus der „Gefahrenabwehr “ abgekoppelt. In das Grundgesetz (GG) hat das Vorsorgeprinzip über den im Jahr 1994 eingeführten Art. 20a GG Einzug erhalten. Nach Art. 20a GG ist der Staat aufgefordert, die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und Rechtsprechung zu schützen. Gemeint ist hierbei nicht nur die Abwehr von Gefahren, sondern auch die Vorsorge. Subjektive Rechte ergeben sich aus Art. 20a GG nicht; Art. 20a GG ist auch kein Grundrecht. Die Schutzgewährleistung ist ähnlich wie das Sozialstaatsprinzip als Rechtsprinzip ausgestaltet und bedarf der Konkretisierung durch den Gesetzgeber .47 In Bezug auf das einfache Gesetzesrecht ist das Vorsorgeprinzip etwa als Rechtspflicht in das BImSchG, Gentechnikgesetz (GenTG), Wasserhaushaltsgesetz (WHG) oder Bundesbodenschutzgesetz (BBodSchG) einbezogen worden. Zugleich taucht es in diesen Gesetzen aber auch als Genehmigungsvoraussetzung auf. Schließlich ist das Vorsorgeprinzip (z. B. im Chemikaliengesetz) als Eingriffsermächtigung oder (z. B. im Kreiswirtschafts- und Abfallgesetz) als Optimierungsauftrag 48 ausgestaltet. Trotz seiner zahlreichen Erscheinungsformen kann das Vorsorgeprinzip im deutschen Recht nicht als allgemeingültiges rechtssatzförmiges Prinzip angesehen werden, da der Grundsatz der 44 Kühn, Die Entwicklung des Vorsorgeprinzips im Europarecht, in: Zeitschrift für europarechtliche Studien 2006, S. 491 45 Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, 2009, in der Schriftenreihe: Kahl (Hrsg.), Recht der Nachhaltigen Entwicklung, S. 20. 46 Nach § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG (1954) war Genehmigungsvoraussetzung für eine Anlage, dass „die nach dem Stand der Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist“. Aus: Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, 2009, in der Schriftenreihe: Kahl (Hrsg.), Recht der Nachhaltigen Entwicklung, S. 17. 47 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 10. Auflage 2009, Art. 20a GG, Rdnr. 9. 48 So Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, 2009, in der Schriftenreihe: Kahl (Hrsg.), Recht der Nachhaltigen Entwicklung, S. 22. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 245/10 Seite 15 Vorsorge kein unmittelbar geltender Handlungsmaßstab für die Rechtsanwendung ist und spezieller gesetzlicher Ausprägungen bedarf.49 Dieser Umstand liegt insbesondere darin begründet, dass die fachgesetzliche Ausgestaltung des Prinzips stark variiert und ohne einen spezifischen Regelungskontext inhaltlich weitgehend unbestimmt bleibt.50 Über den Inhalt des Vorsorgeprinzips konnte insoweit bislang nur ein Minimalkonsens erzielt werden. Vorsorge wird mittlerweile in der Rechtsprechung und rechtswissenschaftlichen Literatur als multifunktionales Gebot begriffen , mit dem auf der einen Seite Schadenspotentiale unterhalb der Schwelle einer Rechtsgutsbeeinträchtigung und unterhalb der Schwelle der hinreichenden Wahrscheinlichkeit vermieden und minimiert werden sollen. Zum anderen kommt dem deutschen Vorsorgegrundsatz eine Planungs- und Verteilerfunktion zu: Zweck ist es, eine Distanz zur Gefahrenschwelle zu schaffen und die natürlichen Ressourcen schonend in Anspruch zu nehmen und zu bewahren. 51 4.2. Schlussfolgerungen Das Vorsorgeprinzip hat das deutsche Umwelt- und Risikoverwaltungsrecht maßgeblich beeinflusst . Jedoch ist seine konkrete Ausgestaltung im Wesentlichen von den Fachgesetzen abhängig, in die es Eingang gefunden hat. Das Unionsrecht (Primär- und Sekundärrecht) verdrängt das nationale Recht innerhalb seines jeweiligen Anwendungsbereiches (Anwendungsvorrang des Unionsrechts ).52 Vor dem Hintergrund der obigen Feststellungen erscheint daher ein einseitiges Abweichen von den Regelungsvorgaben der EU durch nationale Einzelmaßnahmen unter alleiniger Berufung auf das deutsche Vorsorgeprinzip nicht vertretbar. 49 Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, 2009, in der Schriftenreihe: Kahl (Hrsg.), Recht der Nachhaltigen Entwicklung, S. 22. 50 di Fabio, in: Festschrift für Wolfgang Ritter zum 70. Geburtstag, 1997, S. 807. 51 Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, 2009, in der Schriftenreihe: Kahl (Hrsg.), Recht der Nachhaltigen Entwicklung, S. 27. 52 Vgl. BVerfGE 73, 339; 75, 223; 85, 191. Das BVerfG geht von einem Vorrang des Unionsrechts kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung aus. Einen Überblick zum Rangverhältnis des deutschen Rechts ist z. B. zu finden in: Streinz, Europarecht, 8. Auflage 2008, Rdnr. 193 ff.