Motive für die Verankerung der Grundfreiheiten im Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft und die Entwicklung der Grundfreiheiten - Dokumentation © 2006 Deutscher Bundestag WD 11 - 229/06 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Motive für die Verankerung der Grundfreiheiten im Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft und die Entwicklung der Grundfreiheiten Dokumentation WD 11 - 229/06 Abschluss der Arbeit: 31.08.2006 Fachbereich WD 11: Europa Hinweise auf interne oder externe Unterstützung bei der Recherche bzw. Abfassung des Textes Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - 2 - 1. Allgemeines zu den Grundfreiheiten Zentrales Ziel der Europäischen Gemeinschaft ist seit ihrer Gründung die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes. Seit den Reformen der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 und dem Maastricht-Vertrag von 1992 ist gemäß Artikel 14 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) von der Schaffung eines Binnenmarktes die Rede. Der Begriff des Gemeinsamen Marktes bzw. des Binnenmarktes wird in der Praxis häufig synonym verwendet. Unter dem Binnenmarkt ist ein Raum ohne Binnengrenzen zu verstehen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist, wie sich aus Artikel 14 Abs. 2 EG ergibt. Mit dem freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sind in Artikel 14 Abs. 2 EG die vier Grundfreiheiten, die den Binnenmarkt konstituieren genannt. Ergänzt werden die vier Grundfreiheiten durch den freien Zahlungsverkehr (Artikel 56 Abs. 2 EG), der auch als „Hilfsfreiheit“ oder „fünfte Freiheit“ bezeichnet wird. Die Entfaltung der Grundfreiheiten durch geeignete Maßnahmen zu sichern und durchzusetzen ist Aufgabe der EG bzw. der EU und der Mitgliedstaaten. Durch diese Maßnahme wird der Binnenmarkt geschaffen werden. Die Grundfreiheiten gelten allgemein als Stützpfeiler der gemeinschaftsrechtlichen Wirtschaftsverfassung. 1 2. Die einzelnen Grundfreiheiten 2.1. Die Freiheit des Warenverkehrs Die Warenverkehrsfreiheit erstreckt sich zuvorderst auf die grenzüberschreitende Mobilität von Produkten. Hiervon sind körperliche und sonstige handelbare Gegenstände erfasst. Die Gegenstände müssen aus der Gemeinschaft stammen oder sich im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden (Artikel 23 Abs. 2 EG/Artikel III-151 Abs. 2 VVE). Das Ziel des freien Warenverkehrs soll durch das Verbot von Ein- und Ausfuhrzöllen sowie die Abschaffung mengenmäßiger Beschränkungen im innergemeinschaftlichen Handelsverkehr erreicht werden. Dies ergibt sich aus Artikel 3 Abs. 1 a EG in Verbindung mit Artikel 25 EG (Verbot von Ein- und Ausfuhrzöllen) und Artikel 28 ff. EG (Abschaffung mengenmäßiger Beschränkungen). Voraussetzung für die Anwendbarkeit der vorstehend genannten Normen ist, dass es sich um Waren im Sinne des Artikels 23 Abs. 2 EG handelt. Durch das Merkmal der Ware grenzt sich die Warenfreiheit von den anderen Grundfreiheiten ab. Unter dem Begriff der Ware sind alle Gegenstände zu verstehen, die einen Geldwert haben und 1 Einen knappen Überblick über die Bedeutung der Grundfreiheiten für den Binnenmarkt bietet Mathias Herdegen, Europarecht (8. Auflage 2006), S. 260-268. Siehe auch Dirk Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2. Auflage 2005), S. 177. - 3 - daher Gegenstand von Handelsgeschäften sein können. Bei den Waren nach Artikel 23 Abs. 2 EG muss es sich um Gemeinschaftswaren handeln. Dies ist der Fall, wenn die Waren aus den Mitgliedstaaten selbst stammen. Unter den Begriff der Gemeinschaftsware fallen aber auch Waren aus Drittländern, die sich in den Mitgliedstaaten im freien Warenverkehr befinden, Artikel 24 EG. Waren stammen dann aus einem Mitgliedsstaat, wenn sie vollständig in einem Land gewonnen oder hergestellt worden sind. Wenn auch Drittstaaten an der Produktion beteiligt sind, ist eine Ware dann als in einem Mitgliedstaat hergestellt anzusehen, wenn in dem Mitgliedstaat die letzte wesentliche und wirtschaftlich gerechtfertigte Be- oder Verarbeitung stattgefunden hat. Unter einer wesentlichen wirtschaftlichen Be- oder Verarbeitung ist z.B. die Herstellung eines neuen Erzeugnisses oder eine neue bedeutende Produktionsstufe zu verstehen.2 Waren aus Drittstaaten gelten gemäß Artikel 24 EG als Gemeinschaftswaren, wenn die Einfuhrförmlichkeiten erfüllt sowie die vorgeschriebenen Zölle und Abgaben gleicher Wirkung erhoben und nicht ganz oder teilweise rückvergütet worden sind.3 2.2. Die Personenverkehrsfreiheit Die Personenverkehrsfreiheit umfasst die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Artikel 39 ff. EG/Artikel III-133 bis Artikel III-136 VVE) und die Niederlassungsfreiheit (Artikel 43 ff. EG/Artikel III-137 bis Artikel III-143 VVE). Im Rahmen der Personenverkehrsfreiheit sind solche Sachverhalte geschützt, bei denen sich Unionsbürger bzw. im Falle der Niederlassungsfreiheit, Gesellschaften auf Dauer in anderen Mitgliedstaaten ansiedeln wollen. Zweck der auf Dauer angelegten Übersiedlung muss sein, dass sich die betroffene Person entweder unselbständig als Arbeitnehmer oder selbständig auf Grundlage einer festen Einrichtung wirtschaftlich betätigen will. Von der Arbeitnehmerfreizügigkeit sind auch erfasst das Recht, sich um im europäischen Ausland angebotene Stellen zu bewerben, sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet zu verbleiben. Familienangehörigen eines Arbeitnehmers oder der Arbeitgeber können sich ebenfalls auf diese Freiheit berufen. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schützt vor allem die abhängig Beschäftigten. Die Niederlassungsfreiheit dagegen schützt selbständig Erwerbstätige und erstreckt sich auch auf die Gründung und Leitung von Unternehmen sowie von Agenturen und 2 Dieser Begriff der Ware ist aus der Warenursprungs-Verordnung (VO Nr. 802/68) abgeleitet. 3 Zur Warenverkehrsfreiheit vgl. Herdegen, Europarecht, S. 269-289. Detaillierter: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 227-256. - 4 - Zweigniederlassungen. Die Berechtigten sind sowohl vor Maßnahmen des Wegzugsstaates als auch des Zuzugstaates geschützt.4 2.3. Die Dienstleistungsfreiheit Die Dienstleistungsfreiheit bezieht sich auf in der Regel entgeltlich erbrachte Leistungen , soweit nicht die Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen betroffen sind (Artikel 50 EG/Artikel III-144 bis 150 VVE). Als geschützte Dienstleistung sind nicht nur Sachverhalte zu verstehen, bei denen der Leistungserbringer und Leistungsempfänger in ihrem Aufenthaltsstaat verbleiben und nur die Leistung die Grenze überquert. Es sind auch Sachverhalte geschützt bei denen sich der Leistungserbringer (aktive Dienstleistungsfreiheit) oder der Leistungsempfänger (passive Dienstleistungsfreiheit) vorübergehend in den anderen Mitgliedstaat aufhält oder der Leistungserbringer und Leistungsempfänger zum Zwecke der Erbringung der Dienstleistung gemeinsam einen dritten Mitgliedstaat aufsuchen. Zur Ausübung der Dienstleistungsfreiheit in dieser Art ist auch der freie Verkehr von Personengeschützt . Geschützt werden sowohl die Leistungserbringer als auch die Leistungsempfänger .5 2.4. Die Kapitalverkehrsfreiheit Durch die Kapitalverkehrsfreiheit (Artikel 56 bis 60 EG/Artikel III-156 bis 160 VVE) wird Übertragung von Geld und ähnlichen Werten über die Grenzen eines Mitgliedstaates der Gemeinschaft hinweg, primär zu Anlagezwecken, gewährleistet. Die Freiheit des Zahlungsverkehrs umfasst alle Zahlungen mit grenzüberschreitendem Bezug.6 3. Grundfreiheiten als unmittelbar anwendbare subjektive Rechte sowie die Verpflichteten der Grundfreiheiten 3.1. Grundfreiheiten als unmittelbar anwendbare subjektive Rechte Die Grundfreiheiten sind maßgeblich durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) geprägt und entwickelt worden. Ein freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten kann sich nur entwi- 4 Zu den Personenfreiheiten vgl. Herdegen, Europarecht, S. 290-306. Vertiefter Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 257 – 314. 5 Vgl. zur Dienstleistungsfreiheit Herdegen, Europarecht, S. 307-314; detaillierter Ehlers (Hrsg), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 315 – 342. 6 Siehe zur Kapitalverkehrsfreiheit Herdegen, Europarecht, S. 315-318 oder Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 343 – 373. - 5 - ckeln, wenn die Grundfreiheiten nicht nur Bindungen erzeugen, sondern dem Einzelnen auch ermöglichen, sich gegenüber dem Verpflichteten auf die Freiheitsverbürgungen zu berufen. Seit dem Urteil in der Sache van Gend & Loos7 des EuGH ist anerkannt, dass die Grundfreiheiten als den einzelnen Wirtschaftsteilnehmer schützende Bestimmungen dem Einzelnen subjektive Rechte verleihen. Die Grundfreiheiten können vor den Gemeinschaftsgerichten und den nationalen Gerichten geltend gemacht werden. 3.2. Verpflichtete der Grundfreiheiten Die Grundfreiheiten dienen vor allem dem Schutz vor Beschränkungen der Mitgliedstaaten . An die Grundfreiheiten gebunden ist sowohl der Mitgliedstaat, in dem der Empfänger der wirtschaftlichen Leistung sitzt bzw. in dem die Niederlassung begehrt wird, als auch der Ausgangsstaat. Nicht von Bedeutung für Geltendmachung der Grundfreiheiten ist auch, welcher Handlungsform sich der betroffene Mitgliedsstaat bedient. Ob die Grundfreiheiten auch für Privatpersonen verpflichtende Wirkungen entfalten ist indes nicht ganz geklärt. In der Rechtsprechung des EuGH anerkannt ist eine unmittelbare Bindung Privater an die Grundfreiheiten (so genannte unmittelbare Drittwirkung) im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit. Durch die unmittelbare Drittwirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit sollen Beschränkungen, die von Privaten unter Ausnutzung ihrer Vertragsfreiheit ausgehen und auch sonst den Mitgliedstaaten untersagt wären, verhindert werden. Allerdings betragen die entschiedenen Fälle bisher vor allem Maßnahmen, in denen es um den Schutz Einzelner vor der Macht privater Verbände (insbesondere von Sportverbänden ) ging. Grundlegend für die unmittelbare Drittwirkung ist das Urteil in der Rechtssache Bosman. 3.3. Vorrang der Grundfreiheiten Nach Ansicht des EuGH kommt dem Gemeinschaftsrecht in jedem Falle der Vorrang zu, wenn nationales Recht und Gemeinschaftsrecht nicht übereinstimmen. Dies hat der EuGH in den Urteilen Costa/ENEL8 und Internationale Handelsgesellschaft9 sowie Factortame10 grundlegend entschieden. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) kommt den gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten nur in den Grenzen der 7 EuGH, Slg. 1963, S. 1. Vgl. auch Waldemar Hummer/Christoph Vedder, Europarecht in Fällen (4. Auflage 2005), S. 1-3 für eine kurze Schilderung des Falles. 8 EuGH, Slg. 1964, S. 1141. Vgl. auch Hummer/Vedder, Europarecht in Fällen, S. 33-35. 9 EuGH, Slg. 1970, S. 1125. Vgl. auch Hummer/Vedder, Europarecht in Fällen, S. 35-36. 10 EuGH, Slg. 1990, S. I-2433. Vgl. Hummer/Vedder, Europarecht in Fällen, S. 38 f. - 6 - so genannten Solange-Rechtsprechung (Solange I11 und Solange II12 aber auch der Rechtsprechung des BVerfG zur Bananenmarktverordnung13) Vorrang zu. Mit Anwendungsvorrang der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass das gemeinschaftsrechtswidrige staatliche Recht gültig bleibt aber unanwendbar ist, sofern ein die Grundfreiheiten greifen. Alle mit der Rechtssache befassten Instanzen sind zur Nichtanwendung des mit dem Gemeinschaftsrecht nicht übereinstimmenden nationalen Rechts verpflichtet. 4. Funktionen der Grundfreiheiten 4.1. Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte Den Grundfreiheiten werden in erster Linie Diskriminierungsverbote entnommen. Denn ein Binnenmarkt lässt sich nicht verwirklichen, wenn EG-Ausländer im Falle eines grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs schlechter als Inländer behandelt werden. Daher ist in Artikel 30 S. 2 EG (Artikel III-154 S. 2 VVE) geregelt, dass Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen zwar unter gewissen Voraussetzungen zulässig sind, diese aber niemals „ein Mittel der willkürlichen Diskriminierung“ sein dürfen. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gebietet, „die Abschaffung jeder auf Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung“ (Artikel 39 Abs. 2 EG/ähnlich Artikel III-133 Abs. 2 VVE). Mit der Niederlassungsfreiheit sind sowohl die Aufnahme als auch die Ausübung von Tätigkeiten „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen“ (Artikel 43 Abs. 2 EG/Artikel III-137 Abs. 2 VVE) geschützt. Die Dienstleistungsfreiheit ermöglicht den vorübergehenden Aufenthalt in einem anderen Staat „unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt“ (Artikel 50 Abs. 3 EG/Artikel III-145 Abs. 3 VVE). Der Kapital- und Zahlungsverkehr schützt vor Beschränkungen „zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“ (Artikel 56 Abs. 1, 2 EG/Artikel III-155 Abs. 1, 2 VVE). Hinsichtlich der Frage, wann eine Diskriminierung im Sinne der Grundfreiheiten vorliegt , ist darauf abzustellen, dass die Grundfreiheiten sich auf Maßnahmen zwischen den Mitgliedstaaten beziehen. Dies ergibt sich u.a. aus Artikel 28 EG/Artikel III-153 VVE, in dem ein Verbot mengenmäßiger Einfuhrbeschränkungen und ähnlicher Maßnahmen „zwischen den Mitgliedstaaten“ geregelt ist. Die Grundfreiheiten richten sich auf den Marktzugang, nicht auf die vollständige Marktgleichheit im gesamten Gemeinschaftsgebiet . Daher sind durch sie nur grenzüberschreitende Sachverhalte geschützt. Um die 11 BVerfGE 37, S. 271. Vgl. auch Hummer/Vedder, Europarecht in Fällen, S. 45 – 49. 12 BVerfGE 73, S. 339. Vgl. auch Hummer/Vedder, Europarecht in Fällen, S. 52 – 61. 13 BVerfGE 102, S. 127. - 7 - Betroffenheit eines grenzüberschreitenden Sachverhalts bejahen zu können ist ein Vergleich zwischen dem inländischen und ausländischen Sachverhalt anzustellen, rein innerstaatliche Sachverhalte können nicht an den Grundfreiheiten gemessen werden. Eine reine Inländerdiskriminierung wird durch die Grundfreiheiten nicht verboten. Deshalb ist es z.B. mit Blick auf das Gemeinschaftsrecht zulässig, das deutsche Reinheitsgebot für Bier nur für deutsche Brauereien oder die Meisterprüfung nach der Handwerksordnung nur für deutsche aufrechtzuerhalten. Das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten verbietet, EG-Ausländer schlechter als Inländer zu stellen. Das Diskriminierungsverbot kommt aber auch Inländern zugute, wenn sie sich aufgrund ihres Verhaltens gegenüber ihrem Mitgliedstaat in einer der Situation von Personen, die in den Genuss der durch den Vertrag garantierten Rechte und Freiheiten kommen, vergleichbaren Situation befindet ist. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt ist daher auch zu bejahen, wenn ein Inländer bzw. eine nach inländischen Vorschriften gegründete juristische Person eine Ware in einen anderen Mitgliedstaat ausführen will. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt ist ebenfalls zu bejahen, wenn sich ein Inländer zwecks Annahme einer Arbeit, einer Niederlassung oder Erbringung einer Dienstleistung in das EG-Ausland begeben möchte, vom Inland aus dienstleistend in anderen EG-Staaten in Erscheinung treten oder einen Kapital- und Zahlungsverkehr mit dem EG-Ausland abwickeln möchte. In allen diesen Fällen kann sich der Inländer gegenüber dem eigenen Staat auf die Grundfreiheiten berufen.14 4.2. Die Grundfreiheiten als Freiheitsrechte Die Grundfreiheiten enthalten nicht nur Diskriminierungsverbote, sondern auch Beschränkungsverbote . Der EuGH hat den Grundfreiheiten erst im Laufe der Jahre neben Diskriminierungsverboten auch Beschränkungsverbote entnommen. Eine Ausweitung auf Beschränkungsverbote erfolgte im Jahre 1974 zunächst für die Waren- und Dienstleistungsfreiheit . In der bis heute maßgeblichen Entscheidung Dassonville15 sah der EuGH als Maßnahme gleicher Wirkung nach Artikel 28 EG/Artikel III-153 VVE „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten (an), die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern.“ Unter Beschränkungen im Sinne der Dienstleistungsfreiheit (Artikel 49 EG/Artikel III-144 VVE) sind nach der Entscheidung in der Sache van Binsbergen16 alle Anforderungen zu sehen, die „geeignet sind, die Tätigkeiten des Leistenden zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.“ Ob die Personenverkehrsfreiheiten als Beschränkungsverbote ausgelegt werden können, war lange strittig. In dem, das Transfersystem im 14 Vgl. zu der Funktion der Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 185 - 187. 15 EuGH, Slg. 1974, S. 837. Vgl. auch Hummer/Vedder, Europarecht in Fällen, S. 458 f. 16 EuGH, Slg. 1974, S. 1299. Vgl. auch Hummer/Vedder, Europarecht in Fällen, S. 600 - 602. - 8 - Profifußball unterschiedslos im In- und Ausland betreffenden, Bosman-Urteil17 hat der EuGH der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch ein Beschränkungsverbot entnommen. In späteren Urteilen, u.a. in den Entscheidungen Kraus18 und Gebhard19, hat der EuGH die Niederlassungsfreiheit entsprechend interpretiert. Dass die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs, Artikel 56 EG/Artikel III-156 VVE, auch unterschiedslos geltende Beschränkungen verbietet, ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Norm („alle“ Beschränkungen ). Im Ergebnis kann daher festgehalten werden, dass eine Beschränkung der Grundfreiheiten immer dann anzunehmen ist, wenn nationale Maßnahmen die Ausübung dieser Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können. Wobei das Beschränkungsverbot stets Transnationalität voraussetzt, denn die Grundfreiheiten sind nur anwendbar, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt betroffen ist.20 5. Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten Eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten setzt voraus, dass die Verpflichteten in bestimmter Weise auf die Grundfreiheiten einwirken. In Betracht kommen hier Diskriminierungen sowie unterschiedlose Beschränkungen. 5.1. Diskriminierungen Eine Diskriminierung ist zu bejahen, wenn das nationale Recht oder der Rechtsanwender einen grenzüberschreitenden Vorgang notwendig oder typischerweise schlechter als einen rein internen behandelt. Dem Diskriminierungsverbot ist somit ein Schlechterstellungsverbot inhärent. Eine Schlechterstellung liegt vor, wenn sich die Differenzierungen nicht ohne Rückgriff auf ein Kriterium mit grenzüberschreitendem Bezug oder grenzüberschreitender Auswirkung (z.B. Staatsangehörigkeit, Wohnsitz, Herstellungsort, Niederlassungsort, Sprache usw.) begründen lässt. Es werden sowohl offene als auch versteckte Diskriminierungen erfasst.21 5.2. Beschränkungen Was mit Beschränkungen gemeint ist, lässt sich am anschaulichsten am Beispiel der Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit zeigen. Artikel 28 EG verbietet nicht nur mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen, sondern auch alle Maßnahmen gleicher Wir- 17 EuGH, Slg 1995, S.-4921. Für eine knappe Schilderung des Falle vgl. Hummer/Vedder, Europarecht in Fällen, S. 544-545. 18 EuGH, Slg. 1993, S. I-1663. Vgl. auch Hummer/Vedder, Europarecht in Fällen, S. 550. 19 EuGH, Slg. 1995, Slg. 1995, S. I-4165- Vgl. auch Hummer/Vedder, Europarecht in Fällen, S. 589 - 592. 20 Vgl. zur Funktion der Grundfreiheiten als Freiheitsrechte Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 188 – 190. 21 Vgl. zum Diskriminierungsverbot Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 208 – 209. - 9 - kung. Nach der Dassonville-Formel des EuGH sind darunter Handelsregelungen der Mitgliedstaaten, „die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“22 zu verstehen. Bei Beschränkungen ist stets auf die Wirkung der Maßnahme bzw. auf ihren Erfolg abzustellen. Eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit ist bereits dann zu bejahen, wenn ihre grenzüberschreitende Ausübung in irgendeiner Weise behindert oder weniger attraktiv gemacht wird. Gleiches gilt für die übrigen Grundfreiheiten, denn auch diesen entnimmt der EuGH ein Beschränkungsverbot. Aufgrund seines weiten Verständnisses vom Beschränkungsbegriff hat der EuGH eine sehr große Anzahl mitgliedstaatlicher Maßnahmen einem Rechtfertigungstest mit Blick auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten unterzogen. Beispiel für Entscheidungen, in denen der EuGH eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit bejaht hat, sind das Sonntagsverkaufsverbot in Wales (Rechtssache Torfaen Borough Council23) oder das früher in Deutschland geltende wettbewerbsrechtliche Verbot einer Preisgegenüberstellung (Urteil in der Sache Yves Rocher24). Allerdings hat der EuGH seine Rechtsprechung in den genannten Urteilen selbst wieder eingegrenzt. Zunächst begrenzte der Gerichtshof die Dassonville-Formel durch das Urteil in der Rechtssache Cassis de Dijon25. In dem Urteil Cassis de Dijon ging es um eine versteckte die Beschränkung des Warenverkehrs für alkoholische Getränke durch Festsetzung eines Mindestalkoholgehalts. Der EuGH entschied, dass Beschränkungen der Grundfreiheiten hingenommen werden müssen , wenn sie auf zwingenden Erfordernissen beruhen. Im Fall Cassis de Dijon lag eine mitgliedstaatliche Maßnahme vor, die In- und Ausländer formal unterschiedslos behandelte . Tatsächlich aber waren Inlandsprodukte im Vorteil, weil sie typischerweise bereits dem Standard entsprachen und daher ohne zusätzliche Anpassungskosten vermarktet werden konnten. Diese Rechtsprechung hat der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache Keck26 weiter fortentwickelt und eingegrenzt. In dem Keck-Urteil entschied der Gerichtshof, dass das französische Verbot, Waren unter Einkaufspreis weiterzuverkaufen, nicht an der Garantie der Warenverkehrsfreiheit aus Artikel 28 EG zu messen sei. Anders als die bis dahin geltende Rechtsprechung sah er nunmehr mitgliedsstaatliche Regelungen, die nur bestimmte Verkaufsmodalitäten betreffen, nicht als Maßnahmen gleicher Wirkung an. Diese Regelungen seien nicht im Sinne des Urteils Dassonville dazu geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern. Voraussetzung für die so genannte Keck-Formel ist jedoch, dass die betroffene Maßnahme für alle betreffenden Wirtschaftsteilnehmer gilt, die ihre Tätigkeit 22 Vgl. zu dem Urteil in der Rechtssache Dassonville bereits oben, Fn. 15, Rn. 5 des Urteils. 23 EuGH, Slg. 1989, S. 3851. Vgl. auch Hummer/Vedder, Europarecht in Fällen, S. 478 f. 24 EuGH, Slg. 1993, S. I-02361. Abrufbar auch unter http://www.europa.eu.int/eur-lex/. 25 EuGH, Slg. 1979, 649. Vgl. auch Hummer/Vedder, Europarecht in Fällen, S. 456 – 459. 26 EuGH, Slg. 1993, S. I-6097. Vgl. auch Hummer/Vedder, Europarecht in Fällen, S. 466 – 468. - 10 - im Inland ausüben und den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedsstaaten rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise berührt. Die Keck-Rechtsprechung ist durch zahlreiche Entscheidungen des EuGH bestätigt worden. Nach der Keck-Formel sind produkt- und vertriebsbezogene Maßnahmen voneinander abzugrenzen. Im Gegensatz zu den produktbezogenen Maßnahmen sind vertriebsbezogene Maßnahmen keine Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit, wenn sie unterschiedslos wirken. Die Abgrenzung von produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen ist nicht einfach, eine schematische Trennung verbietet sich. Häufig stellen Werbeverbote auch Verkaufsmodalitäten dar. Wird auf einem Produkt geworben oder handelt es sich um ein generelles Werbeverbot, dann ist die Rechtslage indes eine andere. Wichtig ist, dass bzw. ob eine Erschwerung des Zugangs zum Markt in einem anderen Mitgliedstaat immer an Artikel 28 EG (bzw. Artikel III-153VVE) gemessen werden muss, während eine unterschiedslos wirkende Regulierung zugelassener Waren den Mitgliedstaaten überlassen bleiben kann. Nicht eindeutig geklärt ist, ob sich die Grundsätze der Keck-Rechtsprechung auf die anderen Grundfreiheiten übertragen lassen. In der Entscheidung Alpine Investments 27wendete der EuGH die Grundsätze der Keck-Rechtsprechung auf die Dienstleistungsfreiheit an. In der Literatur wird eine Ausweitung der Keck-Rechtsprechung auch auf die anderen Grundfreiheiten zum Teil bejaht, wenn es darum geht, den weiten Anwendungsbereich der Grundfreiheiten dann näher einzugrenzen, wenn nicht der Markt- oder Berufszugang, d.h. das „Ob“ der wirtschaftlichen Betätigung), sondern das Verhalten am Markt oder die Berufsausübung, also das „Wie“ der wirtschaftlichen Betätigung, betroffen ist. Von Bedeutung ist für die Anwendung der Keck-Formel jedoch, dass es sich um unterschiedslos wirkende Beschränkungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer handelt.28 6. Ausblick und die Grundfreiheiten im Europäischen Verfassungsvertrag In dem Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) sind die Personen-, Dienstleistungs -, Waren- und Kapitalverkehrsfreiheit ebenfalls, in Artikel I-4 Abs. 1 sowie Artikel III-133 ff. VVE, erwähnt. Darüber hinaus sind die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit in Artikel II-75 Abs. 2 VVE geschützt. Die Aufnahme dieser Freiheiten in Artikel II-75 Abs. 2 VVE ist insofern bemerkenswert , als diesen Freiheiten hierdurch der Stellenwert europäischer Grundrechte zukommt. Unionsbürger können diese Freiheiten nach Inkrafttreten des Verfassungsvertrages auch gegen Akte der Gemeinschaften selbst geltend machen. 27 EuGH, Slg. 1995, S. I-1141. 28 Vgl. zur Beeinträchtigung der Grundfreiheiten Ehlers (Hrsg.), Europarecht in Fällen, S. 208 – 223.