Deutscher Bundestag Ansprüche von Unionsbürgern auf Grundsicherung für Arbeitsuchende Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa ©2016 Deutscher Bundestag PE 6 – 3000 – 217/14 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 2 Ansprüche von Unionsbürgern auf Grundsicherung für Arbeitsuchende Aktenzeichen: PE 6 – 3000 – 217/14 Abschluss der Arbeit: 15.01.2015 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Unterabteilung Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Hausleitung, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Die zu begutachtenden Fragen 4 2. Europarechtlicher Prüfungsmaßstab für die Ausgestaltung des Leistungsrechts der Grundsicherung für Arbeitsuchende 4 3. Sind Einschränkungen von Leistungen für Hartz IV-Aufstocker aus anderen EU-Mitgliedstaaten mit den einschlägigen Normen des europäischen Sekundärrechts vereinbar? 6 4. Optionen, das europäische Sekundärrecht so zu ändern, dass Beschränkungen von aufstockenden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende vorgenommen werden könnten 17 5. Zusammenfassung 23 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 4 1. Die zu begutachtenden Fragen Der Fachbereich Europa wird um Klärung folgender Fragen ersucht: „1. Inwiefern kann der Hartz-IV-Aufstockeranspruch für Geringverdienende mit einer Änderung des Sekundärrechts (Richtlinien/Verordnungen) eingeschränkt werden? Könnte von in Deutschland tätigen Unionsbürgern (Arbeitnehmer und Selbständige) im Rahmen einer Änderung des EU-Sekundärrechts eine Einkommensschwelle von z.B. der Höhe des ALG-II-Regelsatzes von 391 Euro pro Monat verlangt werden, bevor diese für sich und ihre Familie ALG-II-Aufstockerleistungen, Wohngeld und ggf. weitere Sozialleistungen in Anspruch nehmen können? Oder wären anders gestaltete, einschränkende Zugangsvoraussetzungen möglich? Wenn ja, wie müssten entsprechende Änderungen im Sekundärrecht aussehen? 2. Wäre hierfür eine Änderung des Primärrechts (EU-Verträge) erforderlich?“ Zur Klärung dieser Fragen wird zunächst ein Überblick gegeben zu den hierfür einschlägigen Normen des Europarechts (2). Sodann soll untersucht werden, ob die einschlägigen Normen des europäischen Sekundärrechts Einschränkungen von Aufstockungsansprüchen nach der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II)1 von Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten zulassen (3). Nur soweit das geltende (Sekundär-)Recht der Europäischen Union (EU) einer Einschränkung von Leistungen für sog. Hartz IV-Aufstocker aus anderen Mitgliedstaaten entgegenstünde, stellte sich die Frage, ob EU-Sekundärrecht zu diesem Zweck geändert werden müsste (4). Soweit ein Änderungsbedarf in dem einschlägigen EU-Sekundärrecht zur Umsetzung vorstehender Zielsetzungen auszumachen ist, stellte sich die weitere Frage, ob europäisches Primärrecht dafür Spielräume eröffnet oder zu diesem Zweck geändert werden müsste. 2. Europarechtlicher Prüfungsmaßstab für die Ausgestaltung des Leistungsrechts der Grundsicherung für Arbeitsuchende Nicht die EU, sondern die Mitgliedstaaten sind für die Ausgestaltung ihrer sozialen Sicherungssysteme verantwortlich.2 Diese entscheiden in eigener Verantwortung, welche Sozialleistungen und unter welchen Voraussetzungen diese gewährt werden.3 Bei der Ausgestaltung ihrer sozialen Sicherungssysteme sind die Mitgliedstaaten allerdings nicht frei von unionsrechtlichen Bindungen . Diese ergeben sich zum einen aus der Pflicht zur Beachtung der unmittelbar im Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) geregelten Unionsbürgerrechte, insbesondere der (wirtschaftsbezo- 1 Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende - Artikel 1 des Gesetzes vom 24. Dezember 2003, BGBl. I S. 2954; zuletzt geändert Art. 4 G v. 2.12.2014 I 1922. 2 Ständige Rechtsprechung, siehe etwa EuGH, Rs. C-503/99 (Stewart), Urt. v. 21.06.2011, Rn. 75, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. (Alle Urteile des EuGH können unter Angabe der Rs.-Nr. online abgerufen unter http://curia.europa.eu/juris/recherche.jsf?language=de). 3 Vgl. ebenfalls EuGH, Rs. C-503/99 (Stewart), Urt. v. 21.06.2011, Rn. 76, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 5 genen) Grundfreiheiten der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) und der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) sowie der unionsbürgerlichen Freizügigkeit (Art. 21 Abs. 1 AEUV).4 Sekundärrechtlich lassen sich für die hier untersuchte Fragestellung Prüfungsmaßstäbe der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten5 (im Folgenden: RL 2004/38), der Verordnung 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit6 (im Folgenden : VO 883/2004)7 und der Verordnung Nr. 492/2011 die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (im Folgenden: VO 492/2011)8 entnehmen. Die RL 2004/38 und die VO 883/2004 normieren ein (sekundärrechtliches) Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 gewährt Unionsbürgern ein durch ihr Aufenthaltsrecht begründetes umfassendes Recht auf Gleichbehandlung.9 Nach Art. 4 VO 883/2004 haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Unionsbürger haben als Arbeitnehmer in ihrem Aufnahmestaat nach Art. 7 VO 492/2011 insb. Anspruch auf die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie inländische Arbeitnehmer. 4 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-493/04 (Piatkowski), Urt. v. 09.03.2006, Rn. 32 f.; EuGH Rs. C-192/05 (Tas-Hagen und Tas), Rn. 22. 5 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004, ABl.EU 2004 Nr. L 158/7, konsolidierte Fassung online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02004L0038-20110616&qid=1408954056580&from=DE (letztmaliger Abruf am 15.02.16). 6 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004, ABl.EU 2004 Nr. L 158/7, ABl.EU 2004 Nr. L 166/1, konsolidierte Fassung online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02004R0883-20140101&qid=1408954294938&from=DE (letztmaliger Abruf am 15.02.16). 7 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-140/12 (Brey), Urt. v. 19.11.2013, Rn. 43. 8 Verordnung (EU) Nr. 492/11 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl. Nr. L 141 vom 27. 5. 2011, S. 1–12. 9 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 3. Aufl. 2014, Rn. 1446. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 6 3. Sind Einschränkungen von Leistungen für Hartz IV-Aufstocker aus anderen EU- Mitgliedstaaten mit den einschlägigen Normen des europäischen Sekundärrechts vereinbar ? 3.1. Vereinbarkeit mit dem Gleichbehandlungsanspruch nach Art. 24 RL 2004/38 Nach Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 „genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats.“ Dass von diesem Gleichbehandlungsanspruch auch soziale Leistungen umfasst sind, verdeutlicht Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38. Die Mitliedstaaten sind danach nicht verpflichtet, „anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren.“ Dem Art. 24 RL 2004/38 ist mithin zu entnehmen, dass Unionsbürger grundsätzlich, als Arbeitnehmer , Selbständige oder Familienangehöriger vorstehender Personengruppen schon zu Beginn ihres Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, einen Anspruch auf Sozialhilfe haben.10 Arbeitnehmer , Selbstständige und deren Familienangehörige sind hinsichtlich dieses Anspruchs mit Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats gleich zu behandeln. Ob dieses Gleichbehandlungsgebot auch für Aufstockungsansprüche nach dem SGB II gilt, bestimmt sich nach vorstehender Regelung danach, ob die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) von dem in Art. 24 RL 2004/38 verwandten Begriff der Sozialhilfe umfasst ist (3.1.) und darüber hinaus danach, ob Hartz IV-Aufstocker als Arbeitnehmer oder Selbständige im Sinne dieser Richtlinie gelten (3.2). Nur soweit diese Voraussetzungen erfüllt sind, müssen nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 Arbeitnehmern oder Selbständigen aus anderen Mitgliedstaaten Leistungen nach dem SGB II unter den gleichen Voraussetzungen wie deutschen Staatsangehörigen gewährt werden. 3.1.1 Gelten Leistungen nach dem SGB II als „Sozialhilfe“ i.S.d. Art. 24 RL 2004/38? Mit der Frage, ob der europarechtliche Begriff der Sozialhilfe11 auch die Leistungen nach dem SGB II umfasst, war die europäische Rechtsprechung schon mehrfach befasst. Der EuGH hatte sich auf Vorlage des Sozialgerichts Nürnberg mit Urteil vom 4. Juni 200912 in der Rechtssache Vatsouras/Koupatantze gegen Arbeitsgemeinschaft Nürnberg mit der Problematik 10 Kapuy, ZAS (Öst), S. 196 (198, 202). 11 Der Sprachgebrauch im europäischen Sekundärrecht ist nicht einheitlich. Der Begriff „Sozialhilfe“ wird sowohl in der RL 2004/38 als auch in der VO 883/2004 verwandt. Der Begriff „Sozialhilfeleistung“ findet sich in der Richtlinie 2004/38, nicht aber in der VO 883/2004. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 7 befasst, ob ein Ausschluss von Unionsbürgern von Leistungen nach dem SGB II auf Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 gestützt werden kann und dabei zu der Frage Stellung bezogen, ob die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II als Sozialhilfe i.S.d. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 qualifiziert werden kann. Nach Ansicht des EuGH obliegt diese Feststellung den nationalen Behörden und Gerichten. Zur Auslegung des nationalen Rechts im Lichte dieser Richtlinie gibt das Gericht folgende Hinweise: Für die Feststellung, ob eine Leistung als „Sozialhilfe“ i.S.d. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 gelte, sei auf den Zweck der Leistung und nicht auf ihre „formale Struktur“ abzustellen. „Eine Voraussetzung wie die in § 7 Abs. 1 SGB II enthaltene, wonach der Betroffene erwerbsfähig sein muss, könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Leistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern soll [...].Finanzielle Leistungen, die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, können nicht als „Sozialhilfeleistungen“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 RL 2004 angesehen werden.“ In der Rechtssache Brey hat der EuGH später dargelegt, dass der Begriff „Sozialhilfe“ in der RL 2004/38 und in der VO 883/2004 nicht die gleiche Bedeutung habe, sondern für diese Regelwerke jeweils eigenständig zu deuten sei. Demgemäß ist der Begriff der „Sozialhilfe“ bzw. „Sozialhilfeleistung “ auf Grundlage der RL 2004/38/EG eigenständig zu bestimmen. Der in dieser Richtlinie verwendete Begriff „Sozialhilfeleistungen“ sei „….so zu verstehen, dass er sich auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme bezieht, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt…“13 In diesem weiten Verständnis dürften als Sozialhilfeleistungen i.S.d. RL 2004/38/EG alle sozialen Hilfssysteme gelten können, die durch öffentliche Haushalte finanziert werden.14 Nicht abschließend geklärt ist die für das Leistungssystem der Grundsicherung für Arbeitsuchende bedeutsame Frage, ob Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, als „Sozialhilfe“ bzw. „Sozialhilfeleistung“ i.S.d. europarechtlichen Sekundärrechts gelten können. Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, haben in der Rechtsprechung des EuGH eine Sonderstellung. Sie unterfallen der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 Abs. 2 AEUV).15 Die Frage, ob soziale Leistungen, die (auch) die Eingliederung in den Arbeitsmarkt bezwecken , als „Sozialhilfe“ bzw. „Sozialhilfeleistung“ gelten können, hat für den Zugang von EU- Ausländern zu den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erhebliche Bedeutung. Es sprechen weder der Gesetzeswortlaut noch systematische oder teleologische Erwägungen dafür, 12 EuGH, verb. Rs. C-22/08,C-23/08 (Vatsouras/Koupatantze), Urt. v. 4.6.2009. 13 EuGH, Rs. C-140/12, Urt. v. 19.09.2013 Rn. 61. 14 Thym, NZS 2014, 81 (83). 15 Janda, KritV 2011, S. 275 (280). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 8 diese Leistungen begrifflich auf Arbeitsfördermaßnahmen i.e.S. zu beschränken und Leistungen hiervon auszunehmen, die nicht ausschließlich dazu dienen, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu eröffnen. Das im SGB II vorgesehene Leistungssystem sieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts 16 und zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt17 vor und ist Erwerbsfähigen vorbehalten (§ 8 SGB II). Da das Leistungssystem des SGB II dazu dient, sowohl die Sicherung des Lebensunterhalts zu gewährleisten als auch den Zugang zu Beschäftigung zu ermöglichen, spricht viel dafür, dieses (zumindest, soweit es der Existenzsicherung dient) als Sozialhilfe bzw. Sozialhilfeleistung i.S.d. der RL 2004/38 zu qualifizieren.18 Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls Generalanwalt Wathelet in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Dano gegen Jobcenter Leipzig. Zwar verweist er zunächst darauf, dass der EuGH in der Rechtssache Vatsouras/Koupatanze finanzielle Leistungen, die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, nicht als „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der RL 2004/38 gelten ließ19; gleichwohl vertritt er aber nach umfassender Prüfung mit Blick auf die jüngere Entwicklung der europäischen Rechtsprechung die Ansicht, „dass die Leistungen der Grundsicherung zum einen besondere beitragsunabhängige Geldleistungen im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004 und zum anderen Sozialhilfeleistungen im Sinne der Richtlinie 2004/38 darstellen.“ 20 Diese Rechtsauffassung bestätigt der EuGH in seiner Entscheidung zur Rechtssache Dano21 unter Hinweis darauf, dass der Begriff der Sozialhilfe sich „auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme“ beziehe, „die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was geeignet ist, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die dieser Staat gewähren kann“,22 wobei der EuGH die in der Rechtssache Dano streitgegenständlichen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende als Sozialleistungen i.S.d. EU-Sekundärrechts wertete.23 16 Das den Regelbedarf, Mehrbedarfe und den Bedarf für Unterkunft und Heizung umfassende Arbeitslosengeld II nach §§ 19, 20 SGB II. 17 insb. §§ 16, 16b, 16d, 16e SGB II. 18 so auch BSG, 12.12.2013, B 4 AS 9/13 R; Hailbronner, ZFSH/SGB 2009, S. 195 (201 f.); Hofmann/Kummer, ZESAR 2013, S. 199 (202); Kingreen, Soziale Rechte und Migration, S. 70; Mangold/Pattar, VSSR 2008, S. 243 (249); anders aber SG Leipzig, 3.06.2013, S 17 AS 2198/12; Schreiber, info also 2009, S. 196 (197), der vom Begriff der Sozialhilfe i.S.d. RL 2004/38/EG die Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht umfasst sieht. 19 Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet vom 20. Mai 2014, Rs. C-333/13 Rn. 63, online abrufbar unter: http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=152523&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst &dir=&occ=first&part=1&cid=160949 20 Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet vom 20. Mai 2014, Rs. C-333/13 Rn. 73. 21 C-333/13, Urt. v. 11.11.2014. 22 EuGH, Rs. C-333/13, Urt. v. 11.11.2014 Rn. 63. 23 EuGH, Rs. C-333/13, Urt. v. 11.11.2014 Rn. 67. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 9 Für Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten folgte hieraus, dass diesen nach Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 ihr Erwerbseinkommen aufstockendes Arbeitslosengeld II nach dem SGB II unter den gleichen Voraussetzungen wie deutschen Staatsangehörigen gewährt werden müsste, wenn diese als Arbeitnehmer oder Selbstständige anzusehen wären. Soweit eine von diesen ausgeübte (selbständige oder unselbständige) Erwerbstätigkeit die Voraussetzungen dafür nicht erfüllten, diese mithin unionsrechtlich trotz der von ihnen ausgeübten Erwerbstätigkeit als wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger anzusehen wären, bestünde nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 keine Verpflichtung , diesen Sozialhilfe in Gestalt der Grundsicherung für Arbeitsuchende in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts zu gewähren. Weitergehende Beschränkungen ergeben sich aus vorstehende Regelungen aber auch für wirtschaftlich nicht aktive (aufenthaltsberechtigte) Unionsbürger nicht. Diese müssen, soweit sie aufenthaltsberechtigt sind, im Übrigen mit den deutschen Staatsangehörigen gleich behandelt werden. Das Gebot, Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten mit Staatsangehörigen hinsichtlich des Zugangs zu Sozialleistungen gleich zu behandeln, gilt im Übrigen nur, wenn erstere die Aufenthaltsvoraussetzungen der RL 2004/38 erfüllen.24 Während Unionsbürger, die im Besitz von gültigen Ausweisen sind, generell in den ersten drei Monaten ein Aufenthaltsrecht haben (Art. 6 RL 2004/38), besteht über diesen Zeitraum deren Aufenthaltsrecht nur fort, wenn dafür die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 erfüllt sind. Während Arbeitnehmer und Selbständige im Aufnahmemitgliedstaat generell aufenthaltsberechtigt sind (Art. 7 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/38), sind Unionsbürger, die diesen Status nicht erfüllen, für diesen Zeitraum nur aufenthalts- und damit grds. leistungsberechtigt, wenn sie für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/38). Unionsbürger, die sich rechtmäßig ununterbrochen fünf Jahre im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten, erwerben nach Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38 ein dauerndes Aufenthaltsrecht . Diese sind mit deutschen Staatsangehörigen dann auch sozialleistungsrechtlich gleich gestellt. Ausgehend von der RL 2004/38 bestünde die Möglichkeit, Hartz IV-Aufstockern aus anderen Mitgliedstaaten Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II zu verweigern, soweit diese nicht als Arbeitnehmer oder Selbständige im Sinne dieser Richtlinie anzusehen wären und dann mit wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern gleichzustellen wären. Die RL 2004/38 eröffnete dann die Möglichkeit, während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts Leistungsansprüche generell auszuschließen; ein Leistungsausschluss ab einer Aufenthaltsdauer von mehr als drei Monaten bis zum Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts nach fünfjährigen rechtmäßigem Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat setzte voraus, dass diese Personengruppe ohne Ausschluss der begehrten Aufstockung Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaates unangemessen in Anspruch nehmen würden.25 24 EuGH, Rs. C-333/13, Urt. v. 11.11.2014 Rn. 69. 25 EuGH, Rs. C-333/13, Urt. v. 11.11.2014 Rn. 70. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 10 3.1.2 Gelten Hartz IV-Aufstocker als Arbeitnehmer bzw. Selbstständige? Zum Begriff des Arbeitnehmers Der Begriff des Arbeitnehmers ist europarechtlich geprägt.26 Er erfährt namentlich durch die Rechtsprechung des EuGH eine weite Auslegung27 und steht als autonomer Begriff des Unionsrechts nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten.28 Als Arbeitnehmer gilt hiernach „… jede Person, die eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält …“ 29 Die europäische Rechtsprechung lässt nur in Grundzügen Mindestanforderungen an die das Aufenthaltsrecht und Zugang zu (beitragsunabhängigen) Sozialleistungen relevanten Merkmale erkennen , die an dem Begriff des Arbeitnehmers zu stellen sind. Anknüpfend an die zitierte Definition geht es um die Grenze zu Tätigkeiten, die entweder nicht als „tatsächlich und echt“ angesehen werden können oder sich als „völlig untergeordnet und unwesentlich“ darstellen. Mit den Kriterien der „tatsächlichen und echten“ Tätigkeit geht es nach bisheriger Rechtsprechung zum einen um eine Begrenzung des Arbeitnehmerstatus auf Personen, die im Wirtschaftsleben tätig sind oder sein wollen.30 Dies gilt etwa nicht für Tätigkeiten, die ein Mittel der Rehabilitation oder der Wiedereingliederung des Betroffenen in das Arbeitsleben darstellen.31 Zum an- 26 EuGH, Rs. 53/81 (Levin), Urt. v. 23.03.1982, Rn. 11 verweist zudem auf die daraus sich ergebende Konsequenz, dass der primär- und sekundärrechtlich verwandte Arbeitnehmerbegriff nicht durch Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten definiert werden kann. 27 EuGH, Rs. C-75/63 (Unger), Urt. v. 19.03.1964, S. 396 f.; EuGH. Rs. C-53/81 (Levin), Urt. v. 23.03.1982, Rn 11 ff.; EuGH, Rs. C-337/97 (Meeusen), Urt. v. 08.06.1999, Rn. 13; EuGH, Rs. C-22/08/C-23/08 (Vatsouras /Koupatantze), Urt. v. 04.06.2009, Rn. 26; EuGH, Rs. C-46/12 (L., N.), Urt. v. 21.02.2013, Rn. 39; vgl. dazu auch die Kommentierung von Schneider/Wunderlich, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 45 Rn. 9. 28 Insbesondere dürfen die Mitgliedstaaten keine zusätzlichen Anforderungen für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit stellen als sich aus dem Unionsrecht ergeben, vgl. EuGH, Rs. 39/86 (Lair), Urt. v. 21.06.1988, Rn. 41. 29 Vgl. bspw. EuGH, Rs. C-94/07 (Raccanelli), Urt. v. 17.07.2008, Rn 33; EuGH, Rs C-46/12 (N.), Urt. v. 21.02.2013, Rn. 40, 42; EuGH, verb. Rs. C-22 u. 23/08 (Vatsouras/Koupatantze), Urt. v. 04.06.2009, Rn. 26. 30 EuGH, Rs. C-344/87 (Bettray), Urt. v. 31.05.1989, Rn. 13, 17 ff.; EuGH, Rs. C.456/02 (Trojani), Urt. v. 07.09.2004, Rn. 18. 31 Vgl. EuGH, Rs. 344/87 (Bettray), Urt. v. 31.05.1989, Rn. 17 ff.; EuGH, Rs. C.456/02 (Trojani), Urt. v. 07.09.2004, Rn. 18. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 11 deren wird damit an die Faktizität der Beschäftigung angeknüpft, wenn der Gerichtshof betont, dass eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis „wirklich“ ausgeübt werden muss.32 Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kommt es auch nicht darauf an, welche Ziele der Unionsbürger im Übrigen mit seiner Arbeitnehmertätigkeit verfolgt.33 Im Hinblick auf die Beurteilung einer (tatsächlichen und echten) Tätigkeit als „völlig untergeordnet und unwesentlich“ hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein geringes Vergütungsniveau, der Ursprung der Mittel für diese, die stärker oder schwächere Produktivität eines Beschäftigten oder der Umstand, dass der zeitliche Umfang der Arbeit sich nur auf eine geringe Anzahl von Wochenstunden bemisst, es nicht ausschließen, dass Beschäftigte als „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 45 AEUV gelten können.34 Insbesondere zur Höhe der Vergütung lässt sich der Rechtsprechung des EuGH entnehmen, dass diese ohne Hinzutreten weiterer Umstände im Grundsatz kein wesentliches Kriterium für die Beurteilung eines zum Arbeitnehmerstatus führenden Beschäftigungsverhältnisses sei.35 Als Arbeitnehmer gelten hiernach auch solche Personen, die in einem Lohn- oder Gehaltsverhältnis Einkommen unterhalb des im Aufnahmestaat geltenden Existenzminimums erzielen.36 Als Arbeitnehmer gelten daher auch Personengruppen, die lohnergänzende Sozialleistungen beziehen.37 Keine engen Grenzen bestehen ferner im Hinblick auf Umfang und Dauer der Beschäftigung.38 So sollen auch Teilzeitbeschäftigungsverträge für die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit hinreichend sein.39 In zeitlicher Hinsicht ließ der EuGH eine Beschäftigung, die zweieinhalb Monate lang ausgeübt wurde, genügen.40 Allerdings verwies der EuGH darauf, dass die Unregelmäßigkeit und die begrenzte Dauer der im Rahmen eines Vertrags über Gelegenheitsarbeit tatsächlich erbrachten Leistungen zu berücksichtigen seien.41 So könne der Umstand, dass im Rah- 32 EuGH, Rs. C-46/12 (L.N.), Urt. v. 21.02.2013, Rn. 47. Dieser Aspekt wird auch im Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses betont, vgl. S. 42. Darin wird ausgeführt, dass das Arbeitsverhältnis „gelebt“ werden muss. Beispielhaft wird darauf verwiesen, dass der bloße Abschluss eines Scheinarbeitsvertrages und dessen Vorlage bei den Behörden noch keine Arbeitnehmereigenschaft begründen. 33 Vgl. EuGH, Rs. C-46/12 (L.N.), Urt. v. 21.02.2013, Rn. 47. 34 EuGH, Rs. C-456/02 (Trojani), Urt. v. 07.09.2004, Rn. 16; EuGH, Rs. C-46/12 (L.N.), Urt. v. 21.02.2013, Rn. 41. 35 EuGH, Rs. C-53/81 (Levin / Staatssecretaris van Justitie), Urt. v. 23.03.1982, Rn. 14; EuGH, Rs. C-10/05 (Mattern und Cikotic), Urt. v. 30.03.2006, Rn.22; EuGH, verb. Rs. C-22 u. 23/08 (Vatsouras/Koupatantze), Urt. v. 04.06.2009, Rn. 27 f. Siehe auch die Auswertung der Rechtsprechung in den Schlussanträgen des Generalanwalts Colomerin den verb. Rs. , C-22 u. 23/08, (Vatsouras/Koupatantze), Rn. 23 ff. 36 EuGH, Rs. C-53/81 (Levin / Staatssecretaris van Justitie), Urt. v. 23.03.1982, Rn. 18 37 EuGH, Rs. 139/85 (Kempf), Urt. v. 3.06.1986, Rn. 14; Wollenschläger, NVwZ 2014, S. 1628 (1631) 38 Dazu der Überblick bei Stewen, Die Entwicklung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger und seiner sozialen Begleitrechte, S. 150 f. 39 Vgl. EuGH, Rs. C-53/81 (Levin/Staatssecretaris van Justitie), Urt. v. 23.03.1982, Rn. 15 ff. 40 EuGH, Rs. C-413/01 (Ninni-Orasche), Urt. v. 6.11.2003, Rn. 10, 25. 41 EuGH, Rs. C-357/89 (Raulin), Urt. v. 26.02.1992, Rn. 14. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 12 men eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet wurden, ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten untergeordnet und unwesentlich sind.42 Insgesamt muss sich die Beurteilung, ob eine Arbeitnehmereigenschaft vorliegt oder nicht, nach der Rechtsprechung des EuGH auf objektive Kriterien stützen und in einer Gesamtbetrachtung alle die Ausübung einer Beschäftigung bzw. ein Beschäftigungsverhältnis kennzeichnenden Umstände des Sachverhalts würdigen. Insbesondere die Qualifizierung einer abhängigen Beschäftigung als „völlig untergeordnet und unwesentlich“ wird nur in Ausnahmefällen möglich sein.43 Nach diesem vom EuGH geprägten Verständnis des Arbeitnehmerbegriffs dürften abhängig Beschäftigte Hartz IV-Aufstocker außer in Fällen des in der Rechtsprechung des EuGH skizzierten Bereichs marginaler Beschäftigung als Arbeitnehmer gelten. Soweit Erwerbseinkommen aufstockende EU-Ausländer – wie im Regelfall – als Arbeitnehmer gelten, fordert die RL 2004/38, dass diese unter den gleichen Voraussetzungen wie deutsche Staatsangehörige Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II beanspruchen können. Zum Begriff des Selbständigen Kennzeichnend für die Niederlassungsfreiheit und zugleich Unterscheidungsmerkmal zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ist die Selbständigkeit. Anhaltspunkte für deren Vorliegen sind nach der Rechtsprechung des EuGH die Beteiligung an Gewinn und Verlust, die freie Bestimmung der Arbeitszeit , die Weisungsfreiheit und die Auswahl der Mitarbeiter.44 Anders als bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit spielten in der bisherigen Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit Fragen des Umfangs und der Dauer der selbständigen Tätigkeit sowie die Höhe des dabei erzielten Gewinns keine Rolle. Soweit ersichtlich, hat der EuGH insbesondere noch nicht entschieden, ob die Erzielung von existenzsicherndem Erwerbseinkommen für den europarechtlichen Begriff der selbständigen Erwerbstätigkeit prägend ist. Es spricht einiges dafür, dass insoweit der gleiche Maßstab anzulegen ist wie für den Begriff des Arbeitnehmers, insb. die Höhe des Einkommens für den Status des Selbständigen alleine nicht ausschlaggebend ist.45 Im Übrigen muss es sich auch bei der selbständigen Erwerbstätigkeit – wie bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit – um eine „tatsächliche“ und „echte“ (wirtschaftliche) Tätigkeit handeln.46 Soweit diese 42 EuGH, Rs. C-357/89 (Raulin), Urt. v. 26.02.1992, Rn. 14. 43 Vgl. dazu die Schlussanträge des Generalanwalts Colomer in den verb. Rs. C-22 u. C-23/08, (Vatsouras /Koupatantze), Rn. 23 f. 44 EuGH, Rs. 3/87 (The Queen/Ministry of Agriculture), Urt. v. 14.12.1989, Rn. 35 ff. Vgl. auch Nr. 2.2.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU. 45 Siehe allgemein zum grundsätzlichen Gleichlauf der Gewährleistungsgehalte beider Grundfreiheiten, EuGH, Rs. C-107/94 (Asscher), Urt. v. 27.06.1996, Rn. 29. So auch Raschka, Freizügigkeit von Unionsbürgern und Zugang zu sozialen Leistungen, EuR 2013, S. 116 (120); Frings, Sozialrecht für Zuwanderer, 2008, S. 54. 46 Vgl. Schlussanträge des GA Philippe Léger zu EuGH, Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes), Anträge v. 02.05.2006, Rn. 42. Vgl. auch den Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses, S. 47, in dem darauf verwiesen wird, dass die bloße Anmeldung eines Scheingewerbes und die Vorlage eines Gewerbescheines noch nicht den Status des Selbständigen begründeten. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 13 Voraussetzungen erfüllt sind, gelten selbständig tätige Hartz IV-Aufstocker nach den einschlägigen europarechtlichen Regelungen als Selbständige. Aufgrund dieses Status muss diesen nach der RL 2004/38 Leistungen nach dem SGB II unter den gleichen Voraussetzungen und im gleichen Umfang wie deutschen Staatsangehörigen gewährt werden. 3.2 Vereinbarkeit mit dem Gleichbehandlungsanspruch nach Art. 4 VO 883/2004 Art. 4 VO 883/2004 verpflichtet bzgl. der zum Anwendungsbereich dieser Norm zugehörenden Sozialleistungen – und dies unabhängig vom Bestehen eines Arbeitnehmerstatus – zur Gleichbehandlung von EU-Ausländern und Inländern. Vorbehaltlich der in dieser Verordnung vorgesehenen Ausnahmeregelungen darf der Bezug von nach dem Recht der Mitgliedstaaten vorgesehenen Sozialleistungen nicht von der Staatsangehörigkeit abhängen.47 3.2.1 Anwendbarkeit der VO 883/2004 auf das Leistungssystem der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) Zunächst stellt sich die Frage, ob die VO 883/2004 auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende Anwendung findet. In zeitlicher Hinsicht findet die VO 883/2004 erst mit Inkrafttreten der Durchführungsverordnung Anwendung (Art. 91 VO 883/2004). Diese Durchführungsverordnung – die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit48 - ist am 1. Mai 2010 in Kraft getreten (Art. 97 VO 987/2009). Ab diesem Zeitpunkt ist also auch die VO 883/2004 anzuwenden. Das SGB II unterfällt dem sachlichen Geltungsbereich49 der VO 883/2004. Diese findet nach Art. 3 Abs. 3 und Art. 70 VO 883/2004 auf beitragsunabhängige Geldleistungen Anwendung, „die aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen sowohl Merkmale der in Artikel 3 Abs. 1 genannten Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozialhilfe aufweisen.“50 Der Generalanwalt Melchior Wathelet legt in seinen Schlussanträgen zum Vorlageverfahren des Sozialgerichts Leipzig in der Rechtssa- 47 Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern, VO (EG) Nr. 883/2004. Kommentar, 2012, Art. 4 Rn. 1; Kapuy, ZAS (Öst) 2014, S. 196 (197). 48 ABl. L 284 vom 30.10.2009, S. 1. online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2009:284:0001:0042:DE:PDF 49 So auch BSG, 12.12.2013, B 4 AS 9/13 R; LSG Hessen, 14.07.2011, L 7 AS 107/11 B ER; Schreiber, in: Schreiber /Wunder/Dern, VO (EG) Nr. 883/2004. Europäische Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, Kommentar, 2012, Art. 70 Rn. 35; Frings, ZAR 2012, S. 317 (319). 50 Art. 70 Abs. 1 VO 883/2004. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 14 che Dano51 dar, dass die existenzsichernden Leistungen des SGB II, der Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 20 SGB II), das Sozialgeld (§ 23 SGB II) und die Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II), als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen im Sinne der VO 883/2004 zu qualifizieren sind. Dafür dürfte sprechen, dass die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Anhang X, auf die Art. 70 Abs. 2 lit. c VO 883/2004 verweist, unter Deutschland lit. b) der Verordnung aufgeführt sind. 3.2.2 Zum Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO 883/2004 Nach Art. 4 VO 883/2004 haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Diese Norm konkretisiert das primärrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) für das koordinierende Sozialrecht. Ob das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 4 VO 883/2004 auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen nach Art. 70 VO 883/2004 gilt, hängt maßgeblich davon ab, wie der in Art. 4 VO 883/2004 verwandte Begriff „Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten“ auszulegen ist. Nach dem Wortlaut des Art. 1 lit. l VO 883/2004 beziehen sich die besagten „Rechtsvorschriften“ nur auf die in Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung genannten Zweige der sozialen Sicherheit, nicht aber auf die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen nach Art. 70 VO 883/2004 und damit auch nicht auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Gleichwohl wird vielfach die Meinung vertreten, dass auf die VO 883/2004 – wie bereits die Vorgängerregelung VO 1408/71/EWG - für sämtliche beitragsunabhängigen besonderen Geldleistungen der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art 4 VO 883/2004 Anwendung findet.52 Dafür dürfte sprechen, dass nach Art. 70 Abs. 3 VO 883/2004 lediglich Art. 7 VO 883/2004, nicht aber Art. 4 VO 883/2004 für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen keine Anwendung finden soll. Die Frage, ob an dieser Norm auch die Grundsicherung für Arbeitsuchende zu messen ist, dürfte vor dem Hintergrund dieser Diskussion und noch ausstehender höchstrichterlicher Entscheidungen dazu noch als nicht abschließend geklärt angesehen werden. Geht man hiervon aus, so wäre noch auf Folgendes hinzuweisen: Der Wortlaut des Art. 4 VO 883/2004 legt die Verpflichtung nahe, Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten unter den gleichen Bedingungen wie deutschen Staatsangehörigen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II zu gewähren . Art. 4 VO 883/2004 verbietet jegliche Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit und fordert die Gleichbehandlung von Unionsbürgern mit ausländischer Staatsangehörigkeit mit in- 51 Dazu auch die Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathrlet vom 20. Mai 2014, Rs. C-333/13 (Dano). 52 LSG Bayern, 19.06.2013, L 16 AS 847/12; Frings, ZAR 2012, S. 317 (322); Hailbronner, JZ 2014, S. 869 (871); so auch die Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet vom 20. Mai 2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 84. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 15 ländischen Staatsangehörigen (sog. Inländergleichbehandlung).53 Untersagt sind alle Formen der direkten bzw. offenen Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit.54 Verboten sind aber auch mittelbare Diskriminierungen, insb. in der Form, dass Regelungen eines EU- Mitgliedstaates nicht an die Staatsangehörigkeit Rechtsfolgen knüpfen, im Wesentlichen sich aber ausschließlich oder ganz überwiegend für EU-Ausländer nachteilig auswirken.55 Vorstehende, für die Anwendung des Art. 4 VO 883/2004 wesentliche Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung wird nicht von allen, die zu den hier untersuchten Problemstellungen Stellung bezogen haben, nachvollzogen. Während in der deutschen sozialgerichtlichen Rechtsprechung56 und im Schrifttum57 vielfach die Ansicht vertreten wird, dass dieser Vorschrift ein striktes, keiner Differenzierung zugängliches Verbot, EU-Ausländer und EU- Inländer ungleich zu behandeln, zu entnehmen sei, soll Art. 4 VO 883/2004 nach der Rechtsprechung des EuGH nicht jede Ungleichbehandlung ausschließen. Eine Ungleichbehandlung könne auch im koordinierenden Sozialrecht gerechtfertigt sein, wenn sie „auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht.“58 3.3 Vereinbarkeit mit dem Gleichbehandlungsanspruch nach Art. 7 VO 492/2011 Nach Art. 7 Abs. 2 der VO 492/2011 genießt ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer. Diese Vorschrift ist eine besondere „Ausprägung des in Art. 45 Abs. 2 AEUV enthaltenen Gleichbehandlungsgrundsatzes auf dem spezifischen Gebiet der Gewährung sozialer Vergünstigungen .“59 Die Rechtsprechung des EuGH leitet aus diesen Normen ein weites Verständnis des Begriffs der sozialen Vergünstigung ab. Bei den sozialen Vergünstigungen handle es sich „um alle diejenigen, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern im allgemeinen hauptsächlich wegen deren objektiver Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnsitzes im Inland gewährt werden und deren 53 Otting, in: Eichenhofer (Hrsg.), Sozialrecht der Europäischen Union, Art. 4 Rn. 1, 7; Frings, ZAR 2012, S. 317 (319). 54 Bokeloh, ZESAR 2013, S. 398 (402). 55 Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern, VO (EG) Nr. 883/2004, 2012, Art. 4 Rn. 5 f.; Otting, in: Eichenhofer (Hrsg.), Sozialrecht der Europäischen Union, Art. 4 Rn. 10; Bokeloh, ZESAR 2013, S. 398 (402). 56 So z.B. LSG Hessen, 14.07.2011, L 7 AS 107/11 B ER; vgl. auch Hofmann/Kummer, ZESAR 2013, S. 199 (207); Sokolowski, ZESAR 2011, S. 373 (376). 57 Schreiber, NZS 2012, S. 647 (650); Husmann, ZESAR 2010, S. 97 (101 f.); Janda, KritV 2011, S. 275 (288). 58 EuGH, Rs. C-346/05 (Chateignier), Urt. v. 9. 11.2006; Rs. C-124/99 (Borawitz), Urt. v. 21.09.2000; dazu auch Thym, NZS 2014, 81 (84). 59 EuGH, Rs. C-287/05 (Hendrix), Urt. v. 20.06.2013, Rs. C-20/12 (Giersch), Urt. v. 20.06.2013, Rn. 35. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 16 Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu fördern“.60 In dieser Weite umfasst der Begriff der sozialen Vergünstigung jede einer in einem Mitgliedstaat arbeitenden Person gewährte öffentliche Zuwendung, die zum Ziel hat, deren wirtschaftliche und soziale Leistung zu verbessern.61 Nach dieser weiten Definition dürften neben einer Vielzahl anderer Sozialleistungen62 auch die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 erfasst sein. Als Arbeitnehmer können EU- Ausländer in Deutschland mithin ihr Erwerbseinkommen aufstockende Grundsicherungsleistungen unter den gleichen Voraussetzungen beanspruchen wie inländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Diese Personengruppe ist de lege lata derzeit im SGB II – übereinstimmend mit den europarechtlichen Vorgaben – von dem in der Grundsicherung für Arbeitsuche vorgesehenen Leistungsausschluss von Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten in § 7 Abs. S. 2 SGB II ausgenommen.63 Ansprüche von EU-Ausländern auf Sozialleistungen nach der VO 492/2011 sind allerdings nach Art. 36 VO 492/2011 nachrangig zu den aus einer auf Grundlage des Art. 48 AEUV erlassenen Regelungen folgenden Ansprüchen – mithin auch zu Ansprüchen nach der VO 883/2004.64 Ungeachtet dessen ist ein Teil des Schrifttums der Ansicht, dass Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 neben Art. 4 VO 883/2004 Anwendung findet.65 Diese Auffassung dürfte allerdings mit Blick auf die durch Art. 36 VO 492/2011 normierte Vorrangstellung der auf Grundlage des Art. 48 AEUV erlassenen Regelungen, mithin auch der VO 883/2004, kaum aufrechtzuerhalten sein. Vielmehr ist hieraus der Schluss zu ziehen, dass die VO 492/2011 nur dann Anwendung findet, soweit sich Ansprüche auf Sozialleistungen nicht auf die VO 883/2004 stützen ließen. Für die hier untersuchte Fragestellung bedeutete dies: Soweit Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten aufgrund ihres Status als Arbeitnehmer Aufstockungsleistungen nach dem SGB II nach Maßgabe des Art. 4 VO 883/2004 zu gewähren sind, fände Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 keine Anwendung. Eine Änderung der VO 883/2004, die derartige Ansprüche auf dieser Rechtsgrundlage ausschlösse (vorausgesetzt, diese wäre primärrechtlich zulässig), führte zur Anwendbarkeit des Art. 7 60 EuGH, Rs. 207/78 (Even), Urt. v. 31.05.1979, Rn. 22; Rs. 249/83 (Hoeckx), Urt. V. 27.03.1985; Rs. C-85/96 (Martinez Sala), Urt. V. 12.05.1998; Rs. C-185/96 (Kommission/Griechenland), Urt. v. 29.10.1998. 61 Devetzi, EuR 2014, S. 638 (640); zum Begriff der sozialen Vergünstigung vgl. auch Bokeloh, ZESAR 2014, S. 168 (174) 62 Vgl. dazu der Überblick in Stewen, Die Entwicklung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger und seiner sozialen Begleitrechte, S. 149. 63 Dazu näher Thym, NZS 2014, S. 81 (84); Frings, Grundsicherung für Arbeitsuchende und Migration: Einschlüsse und Ausschüsse nach der Staatsangehörigkeit und dem Aufenthaltsstatus, in: Matthias Kurth (Hrsg.), Arbeitsmarktintegration und Integrationspolitik - zur notwendigen Verknüpfung zweier Politikfelder: Eine Untersuchung über SGB II-Leistungsbeziehende mit Migrationshintergrund, 2010, S. 23 (27 ff.); Huber, ZRP 2014, S. 52 (53). 64 Vgl. Bokeloh, ZESA 2014, S. 168 (174); Steinmeyer, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, 6. Aufl. 2013, S. 649. 65 Schreiber, NZS 2012, S. 647 (651). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 17 Abs. 2 VO 492/2011 und zu der Notwendigkeit, diese Regelung zur Verwirklichung dieser Zielsetzung ihrerseits zu ändern.66 4. Optionen, das europäische Sekundärrecht so zu ändern, dass Beschränkungen von aufstockenden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende vorgenommen werden könnten Nachfolgend wird der Frage nachgegangen, ob sich durch Änderungen des einschlägigen europäischen Sekundärrechts Freiräume für europarechtskonforme Beschränkungen (aufstockender) Sozialleistungen schaffen ließen. Damit entsprechende Änderungen einen gegenüber dem geltenden EU-Recht veränderten Zugang zu Grundsicherungsleistungen bewirken können, müssten diese mit europäischem Primärrecht vereinbar sein. 4.1 Mögliche Änderungen im Bereich der RL 2004/38 Zur Begrenzung des Zugangs zu Grundsicherungsleistungen von Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten könnten zwei Änderungen der RL 2004/38 in Betracht gezogen werden: Eine gegenüber dem geltenden Recht restriktivere Definition der Begriffe des Arbeitnehmers oder des Selbständigen im Rahmen der RL 2004/38 oder die Beschränkung des Zugangs zu Sozialleistungen für diese Personengruppen unter Beibehaltung des geltenden Begriffs des Arbeitnehmers oder Selbständigen. 4.1.1 Neudefinition der Begriffe des Arbeitnehmers und des Selbständigen Zur Verwirklichung der in der Aufgabenstellung vorgegebenen Zielsetzung könnte erwogen werden , in der RL 2004/38 festzuschreiben, dass als Arbeitnehmer oder Selbständige nur solche gelten , die existenzsicherndes Erwerbseinkommen erzielen. Für abhängig Beschäftigte könnte auch eine Festlegung einer Mindestbeschäftigung nach Wochenstunden oder Beschäftigungsdauer erwogen werden. Betrachtet man zunächst nur die RL 2004/38, so führte dies dazu, dass Erwerbstätige, die unter diesen Schwellen abhängig beschäftigt sind, nicht als Arbeitnehmer oder Selbständige gelten. Sie würden im Geltungsbereich dieser Richtlinie mit wirtschaftlich nicht aktiven EU-Bürgern gleichgestellt . Damit würden auch für diese Personengruppen die für wirtschaftlich aktiven Unionsbürgern einschlägigen Normen der RL 2004/38 Anwendung finden. In den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts dürften dann Leistungsansprüche generell ausgeschlossen werden, und ab ei- 66 Zu dem Wiederaufleben des Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 vgl. Generalanwalt Lenz in der Rs. C-57/96 (Meints), Rn. 12; EuGH, Rs. C-111/91, Urt. v. 10.03.1993 zu der wortgleichen Vorgängerregelung des Art 7 Abs. 2 VO 1612/68. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 18 ner Aufenthaltsdauer von mehr als drei Monaten bis zum Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts nach fünf Jahren setzte der für eine sozialrechtliche Anspruchsberechtigung erforderliche rechtmäßige Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat voraus, dass diese Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaates nicht unangemessen in Anspruch nehmen.67 Eine Änderung des Arbeitnehmerbegriffs im Rahmen der RL 2004/38 wäre allerdings nicht primärrechtskonform . Der Arbeitnehmerbegriff ist durch das Primärrecht (Art. 45 AEUV) und durch die dieses auslegende Rechtsprechung des EuGH geprägt und kann daher letztlich nicht durch den EU-Gesetzgeber abgeändert werden.68 Die primärrechtlich verbürgte Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährt Arbeitnehmern ein Aufenthaltsrecht nach Art. 45 Abs. 3 AEUV unabhängig davon, ob diese über die zur Bestreitung seines Lebensunterhalts erforderlichen Existenzmittel und im Aufnahmemitgliedstaat über Krankenversicherungsschutz verfügen.69 Ohne eine derartige Beschränkung gewährleistet Art. 49 AEUV auch die Aufnahme und Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit von Unionsbürgern in anderen Mitgliedstaaten.70 4.1.2 Spielräume für Leistungsbeschränkungen für Hartz IV-Aufstocker im Bereich der RL 2004/38? Prüfungsmaßstab für die Frage, ob eine Leistungsbeschränkung im Rahmen der RL 2004/38 für Arbeitnehmer oder Selbständige, die aufstockende Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II in Anspruch nehmen wollen, primärrechtskonform wäre, soll nach teilweise vertretener Ansicht nicht Art. 45 Abs. 2 AEUV sondern Art. 21 i.V.m. Art. 18 AEUV sein, da das Diskriminierungsverbot des Art. 45 Abs. 2 AEUV seinem Wortlaut nach nur für den Bereich der Beschäftigung und der Arbeitsbedingungen im engeren Sinne Anwendung findet.71 Nach anderer Ansicht – so auch der EuGH72 - soll das Diskriminierungsverbot des Art. 45 AEUV generell für Regelungen gelten, die an die statusbegründenden Tätigkeiten im Aufnahmemitgliedstaat anknüpfen,73 was zu einer weiten Anwendung des aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit folgenden Diskriminierungsverbotes führt. 67 Die Maßstäbe dafür hat der EuGH in seiner Entscheidung in der Rechtssache Brey (C-140/12, Urt. v. 19.09.2013). 68 So auch der Bericht des Staatssekretärsausschusses, BT-Drs. 18/2470 S. 31; Kuschminder, Der sozialrechtliche Schutz von Rentnern im europäischen Sekundärrecht, 2014, S. 573. 69 Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union (53. Lfg. 2014), Art. 45 Rn. 301. 70 EuGH, Rs. 48/75 (Royer), Urt. v. 8.4.1976. 71 Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV und AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 45 Rn. 6; Wollenschläger, Grundfreiheit, S. 131, 378 ff. 72 So bereits in der Rs. 249/83 (Hoeckx), Urt. v. 27.03.1985 Rn. 20 ff. 73 Dazu Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union (53. Lfg. 2014), Art. 45 Rn. 241 f. m.w.N. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 19 Nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH unterliegt die Gewährung einer beitragsunabhängigen Sozialleistung dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit.74 Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit erfordert die grundsätzliche leistungsrechtliche Gleichstellung von Staatsangehörigen und EU-Ausländern im Aufnahmemitgliedstaat , öffnet sich allerdings für Ungleichbehandlungen, soweit diese auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhen und in einem angemessenen Verhältnis zu den damit verfolgten Zwecke stehen.75 Als im Grundsatz Ungleichbehandlungen zwischen Staatsangehörigen und Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten rechtfertigende zwingende Gründe des Allgemeininteresses hat der Gerichtshof das Fehlen einer hinreichenden tatsächlichen Verbindung zum Aufnahmestaat und das Bestehen einer erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit anerkannt. Hinreichende tatsächliche Verbindung zum Aufnahmestaat Als einen Ungleichbehandlungen im Grundsatz rechtfertigenden Zweck hat der Gerichtshof eine Verbindung zwischen den Personen, die eine steuerfinanzierte Sozialleistung beantragen, und dem Arbeitsmarkt des Aufnahmestaats hervorgehoben.76 Der EuGH erkennt als legitimes Anliegen der Mitgliedstaaten an, sich zu vergewissern, dass zwischen Aufnahmestaat und Antragstellern eine „tatsächliche Verbindung“ besteht.77 Ein Mitgliedstaat darf daher den Zugang zu Sozialleistungen von einem gewissen Integrationsgrad zur Aufnahmegesellschaft bzw. von einer tatsächlichen Verbindung zum Arbeitsmarkt des Ziellandes abhängig machen.78 Für Wander- und Grenzarbeitnehmer hat der EuGH diese „tatsächliche Verbindung“ in den bisher von ihm entschiedenen Fällen – soweit ersichtlich – regelmäßig festgestellt. Was diese Gruppe der Arbeitnehmer betrifft, „schafft der Umstand, dass sie Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats gefunden haben, grundsätzlich ein hinreichendes Band der Integration in die Gesellschaft dieses Staats, das es ihnen erlaubt, hinsichtlich sozialer Vergünstigungen in den Genuss des Grundsatzes der Gleichbehandlung im Verhältnis zu inländischen Arbeitnehmern zu kommen.“79 Das Band der Integration soll sich nach Ansicht des EuGH daraus ergeben, „dass Arbeitnehmer mit den Abgaben, die er im Aufnahmemitgliedstaat entrichtet [….], „auch zur Finanzierung der sozi- 74 EuGH, Rs. C-138/02 (Collins), Urt. v. 23.03.2004, Rn.62. 75 EuGH, Rs. C-138/02 (Collins), Urt. vom 23.03.2004, Rn. 63; Rs. C-274/96 (Bickel), Urt. v. 24.11.1998, Rn. 27. 76 EuGH, Rs. C-138/02 (Collins), Urt. vom 23.03.2004, Rn. 67. 77 EuGH, Rs. C-138/02 (Collins), Urt. vom 23.03.2004, Rn. 69. 78 EuGH, Rs. C-138/02 (Collins), Urt. vom 23.03.2004, Rn. 63; EuGH Rs. C- 367/11 (Prete), Urt. v. 25.10.2012; dazu auch Thym, NZS 2014, S. 81 (88); Janda, KritV 2011, 275 (282). 79 EuGH, Rs. C-542/09 (Kommission ./. Niederlande), Urt. vo 14.06.2012 Rn. 65. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 20 alpolitischen Maßnahmen dieses Staates beiträgt…“80 Für Arbeitnehmer, die neben einen Arbeitsmarktzugang auch noch einen Wohnsitz im Aufnahmemitgliedstaat vorweisen können81, dürfte diese Argumentation des EuGH erst recht zutreffen. Nach der einschlägigen europäischen Rechtsprechung dürfte mithin im Regelfall bereits das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses zu einem hinreichenden Grad an Integration führen, so dass EU-Ausländern mit Arbeitnehmerstatus unter diesem Aspekt diskriminierungsfrei keine der im Anwendungsbereich der RL 2004/38 fallenden Sozialleistungen, mithin auch nicht Aufstockungsleistungen nach dem SGB II, verweigert werden dürfte. Gleiches dürfte auch für als Selbständige tätige Unionsangehörige aus anderen Mitgliedstaaten mit Blick auf ihre Eingliederung in die Wirtschaftsordnung des Aufnahmemitgliedstaates gelten. Das Bestehen einer erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit In der Rechtsprechung des EuGH ist das Bestehen einer erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit als zwingender Grund des Allgemeininteresses anerkannt, der eine Beschränkung von Freizügigkeitsrechten rechtfertigen kann.82 Dafür lassen sich allerdings rein wirtschaftliche Gründe nicht anführen.83 Diese Gefährdung ist zudem von dem, der sich hierauf beruft, darzulegen. Freizügigkeitsbeschränkungen werden in den Judikaten des EuGH in einem weiteren Prüfungsschritt einer eingehenden Prüfung der Verhältnismäßigkeit 84 unterzogen. In jedem Einzelfall wird geprüft, ob die Anwendung einer Beschränkung eines Freizügigkeitsrechts geeignet ist, die Verwirklichung des dazu angegebenen Zweckes zu gewährleisten . Die Beschränkung darf zudem nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zweckes erforderlich ist.85 Der vom EuGH grds. zugestandene Beurteilungsspielraum, über den die Mitgliedstaaten im Bereich der Sozialpolitik verfügen, soll „keine Beeinträchtigung der Rech- 80 EuGH, Rs. C-542/09 (Kommission ./. Niederlande), Urt. vo 14.06.2012 Rn. 65; Rs. C-20/12 (Giersch), Urt. v. 20.6.2013, Rn. 63. 81 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Hilfebedürftige unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit Grundsicherungsleitungen nur erhalten können, wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt innerhalb des Bundesgebietes haben; dazu näher BSG, Urt. v. 30.01.2013 – B 4 AS 1324/12 B ER; Derksen, Die Darstellung der Grundsicherung für Grundsicherung, 2008, S. 6 f.; Janda, KritV 2011, S. 275 f.; Thym, ZAR 2014, S. 220 (225). 82 EuGH, Rs. C‑158/96, (Kohll), Urt. 28.04.1998, Rn. 41; Rs. C‑208/05 (ITC Innovative Technology Center ./. Bundesagentur für Arbeit), Urt. v. 11.01.2007 Rn. 43. 83 EuGH, Rs. C‑158/96, (Kohll), Urt. 28.04.1998, Rn. 41; Rs. C-398/95 (Settig), Urt. v. 5.06.1997 Rn. 43; Rs. C-109/04 (Kranemann), Urt. v. 17.03.2005; Rs. C-388/01 (Kommission ./. Italien), Urt. v. 16.01.2003; Rs. 352/85 (Bond van Adverteerders), Urt. v. 26.04.1988; Rs. C-288/89 (Collectieve Antennevooriening Gouda), Urt. v. 25.07.1991; Rs. C-35/98 (Verkooijen), Urt. v. 6.06.2000. 84 EuGH Rs. C‑208/05 (ITC Innovative Technology Center ./. Bundesagentur für Arbeit.), Urt. v. 11.01.2007 Rn. 43 f. 85 EuGH Rs. C‑208/05 (ITC Innovative Technology Center ./. Bundesagentur für Arbeit.), Urt. v. 11.01.2007 Rn. 37. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 21 te rechtfertigen, die der Einzelne aus den Bestimmungen des Vertrags herleiten kann, in denen seine Grundfreiheiten verankert sind“.86 In der Rechtssache Brey87 verlangte der EuGH zur Rechtfertigung der Beschränkung einer Sozialleistung 88 eine umfassende Beurteilung dahingehend vorzunehmen, „welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung [der entsprechenden] Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde.“89 Neben die Berücksichtigung der individuellen Situation des Unionsangehörigen tritt eine Prüfung der Belastungswirkungen, die sich aus der konkreten Leistungsgewährung für das nationale Sozialhilfesystem ergeben. Für den letztgenannten, mit diesem Urteil neu eingeführten Teil der Beurteilung kann es nach dem EuGH von Bedeutung sein, den Anteil der dem Antragsteller vergleichbaren EU-ausländischen Empfänger der betreffenden Sozialleistung zu ermitteln. Mit der Einführung dieser Pflicht zur Berücksichtigung der Belastungswirkungen für das jeweilige Sozialhilfesystem werden die nationalen Möglichkeiten beschränkt, diesen Personenkreis wegen fehlender Existenzmittel von Sozialleistungen auszuschließen. Mit Blick auf diese Rechtsprechungsentwicklung zum europäischen Freizügigkeitsrecht erscheint es fraglich, ob eine typisierende, den Leistungszugang von EU-Ausländern anhand von generell abstrakten Merkmalen normierende Regelung – etwa im Rahmen einer Novelle zum SGB II - überhaupt Bestand haben könnte. Eine Beschränkung des Leistungszugangs von Hartz IV- Aufstockern aus anderen Mitgliedstaaten erforderte jedenfalls den Nachweis, dass die durch das geltende Recht eröffnete Inanspruchnahme der Grundsicherung für Arbeitsuchende durch vorstehende Personengruppe eine „erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit…“ darstelle, was insb. mit Blick auf die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Brey mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein dürfte.90 4.2 Optionen für Leistungsbeschränkungen für Hartz IV-Aufstocker durch Änderungen im Bereich der VO 883/2004? Wie bereits oben unter 3.2. dargelegt, verpflichtet Art. 4 VO 883/2004 bzgl. der zum Anwendungsbereich dieser Norm zugehörenden Sozialleistungen zur Gleichbehandlung von EU- Ausländern und Inländern. Rechtstechnisch ließe sich die Anwendung dieses Gleichbehandlungsgebots auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) durch zwei Änderungen der VO 883/2004 ausschließen. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende könnte aus dem Anhang X dieser Verordnung entfernt werden. Damit wäre klargestellt, dass Leistungen der Grundsicherung 86 EuGH Rs. C‑208/05 (ITC Innovative Technology Center ./. Bundesagentur für Arbeit.), Urt. v. 11.01.2007 Rn. 39, 40; Rs. C-18/95 (Terhoeve), Urt. v. 26.01.1999 Rn. 44; C-167/97 (Seymour-Smith), Urt. v. 9.02.1999 Rn. 75 f. 87 Rs. C-140/12 (Brey), Urt. v. 19.09.2013. 88 im streitgegenständlichen Vorabentscheidungsverfahren ging es um Sozialleistungen an wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger. 89 Rs. C-140/12 (Brey), Urt. v. 19.09.2013 Rn. 64, 77. 90 EuGH Rs. C‑208/05 (ITC Innovative Technology Center ./. Bundesagentur für Arbeit), Urt. v. 11.01.2007 Rn. 43. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 22 für Arbeitsuchende nicht als „Besondere Beitragsunabhängige Geldleistungen“ des Anhangs X anzusehen sind und demgemäß die VO 883/2004 hierauf keine Anwendung fände. Alternativ oder kumulativ hierzu könnte gesetzlich klargestellt werden, dass das Gleichbehandlungsgebot nicht für besondere beitragsunabhängige Leistungen nach Art. 70 Abs. 1, 2 VO 883/2004 gilt. Art. 4 VO 883/2004 wäre dann kein Prüfungsmaßstab mehr für die Frage, ob Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten aufstockende Leistungen nach dem SGB II zu gewähren sind. An dem zu 4.1. erzielten Ergebnis änderte dies allerdings nichts. 4.3. Optionen für Leistungsbeschränkungen für Hartz IV-Aufstocker durch Änderungen VO 492/2011 Wie bereits oben festgestellt (3.3) spricht viel für die Annahme, dass auch die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgebots des Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 umfasst sind. Diese gegenüber Art. 4 VO 883/2004 nachrangige Regelung fände wieder Anwendung, wenn letztere Norm keine Geltung mehr für die Grundsicherung für Arbeitsuchende hätte. Eine Änderung dieser Regelung führte allerdings nicht zu einer Beschränkung des Anspruchs von Arbeitnehmern auf Teilhabe an sozialen Leistungen des Aufnahmemitgliedstaates , da der EuGH diese Norm als besondere „Ausprägung des in Art. 45 Abs. 2 AEUV enthaltenen Gleichbehandlungsgrundsatzes auf dem spezifischen Gebiet der Gewährung sozialer Vergünstigungen“91 versteht und demgemäß der auf Arbeitnehmer Anwendung findende Gleichbehandlungsgrundsatz auf dem spezifischen Gebiet der Gewährung sozialer Vergünstigungen primärrechtliche Geltung beansprucht. Mit Blick auf die vorstehend erörterten Gestaltungsoptionen im Bereich des europäischen Sekundärrechts ließen sich Leistungsbeschränkungen für Hartz IV-Aufstocker im Sinne der zu begutachtenden Fragestellung nach hiesiger Einschätzung rechtssicher nur im Wege einer Änderung des Primärrechts herbeiführen. 91 EuGH, Rs. C-287/05 (Hendrix), Urt. v. 20.06.2013, Rs. C-20/12 (Giersch), Urt. v. 20.06.2013, Rn. 35. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 217/14 Seite 23 5. Zusammenfassung Die Mitgliedstaaten entscheiden in eigener Verantwortung, welche Sozialleistungen ihre nationalen Rechtsordnungen vorsehen und unter welchen Voraussetzungen sie diese gewähren. Bei der Ausgestaltung ihrer sozialen Sicherungssysteme sind die Mitgliedstaaten allerdings nicht frei von unionsrechtlichen Bindungen. Das bereits primärrechtlich bestehende Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit erfordert die grundsätzliche leistungsrechtliche Gleichstellung von Staatsangehörigen und EU-Ausländern im Aufnahmemitgliedstaat, öffnet sich allerdings für Ungleichbehandlungen , soweit diese auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem zu einer Ungleichbehandlung führenden nationalen Vorschriften verfolgten Zwecke stehen. Die vom EuGH im Grundsatz als Rechtfertigungsgründe für (sozialrechtliche) Ungleichbehandlungen von Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten gegenüber Staatsangehörigen anerkannten zwingenden Gründe des Allgemeininteresses , etwa das Fehlen einer hinreichenden tatsächlichen Verbindung zum Aufnahmestaat und das Bestehen einer erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit, lassen kaum Spielräume für Leistungsbeschränkungen für Hartz IV-Aufstocker durch entsprechende Änderungen im europäischen Sekundärrecht erkennen . Leistungsbeschränkungen für Hartz IV-Aufstocker im Sinne der zu begutachtenden Fragestellung ließen sich nach hiesiger Einschätzung rechtssicher nur im Wege einer Änderung des Primärrechts herbeiführen. - Fachbereich Europa -