© 2016 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 205/14 Verfahren zur Sicherung der Grundwerte und Grundrechte in der Europäischen Union Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 205/14 Seite 2 Verfahren zur Sicherung der Grundwerte und Grundrechte in der Europäischen Union Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 205/14 Abschluss der Arbeit: 21. November 2014 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 205/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Grundwerte und Grundrechte in der EU 4 3. Bestehende Mechanismen zur Wahrung der Grundwerte und Grundrechte in der EU 4 3.1. Verfahren anlässlich des Beitritts neuer Mitgliedstaaten 4 3.1.1. Kopenhagener Kriterien 4 3.1.2. Kooperations- und Überwachungsmechanismen 5 3.2. Beitrittsunabhängige Verfahren und Gewährleistungen 7 3.2.1. Justizielle Gewährleistungen 7 3.2.2. EU-Justizbarometer 8 3.2.3. Art. 7-Verfahren 8 4. Weiterentwicklung von Mechanismen zur Wahrung der Grundwerte und Grundrechte in der EU 9 4.1. Vorschlag KOM(2014) 158 endg. der Kommission vom 11. März 2014 9 4.2. Primärrechtliche Rahmenbedingungen 10 5. Ausblick 11 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 205/14 Seite 4 1. Einleitung Die Ausarbeitung setzt sich mit der Frage auseinander, wie und auf welcher vertraglichen Grundlage ein integriertes Verfahren unter Beteiligung der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat unter Berücksichtigung der EU-Grundrechteagentur sowie der Venedig -Kommission ausgestaltet werden könnte, um die Grundwerte und Grundrechte der EU regelmäßig und unparteiisch prüfen und Fehlentwicklungen frühzeitig vorbeugen zu können. 2. Grundwerte und Grundrechte in der EU Materielle Voraussetzungen für die Teilhabe eines europäischen Staates am europäischen Integrationsprozess sind gem. Art. 49 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) die Achtung der in Art. 2 S. 1 EUV genannten grundlegenden Werte, die allen EU-Mitgliedsstaaten gemein sind und auf der die Europäische Union beruht. Zu diesen gemeinsamen Werten zählen Menschenwürde , Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte , einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Die EU besitzt zwar nicht die Kompetenz, auf die demokratische Verfasstheit eines Mitgliedstaates einzuwirken; aus einer Gesamtschau von Art. 49 EUV, Art. 2 S. 1 und Art. 7 EUV folgt jedoch, dass die demokratische Verfasstheit eine zentrale Grundbedingung für die Teilnahme und Teilhabe am Prozess der europäischen Integration bildet und damit die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Regierungsführung zentrale Elemente des Erweiterungsprozesses sind. Diese Anforderungen sind als verfassungsmäßige Grundsätze in Art. 2 und 6 EUV sowie in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union rechtsverbindlich verankert. 3. Bestehende Mechanismen zur Wahrung der Grundwerte und Grundrechte in der EU 3.1. Verfahren anlässlich des Beitritts neuer Mitgliedstaaten Art. 49 EUV statuiert die Anforderungen an bzw. die rechtlichen Grundlagen für den Beitritt europäischer Staaten zur Europäischen Union. Hierzu muss der beitrittswillige Staat einen entsprechenden Antrag nach Art. 49 EUV an den Rat richten, der dann die Kommission anhören und die mit absoluter Mehrheit erfolgte Zustimmung des Europäischen Parlaments einholen muss, bevor er einstimmig über den Beitritt des antragsstellenden Landes entscheidet. 3.1.1. Kopenhagener Kriterien Mit Blick auf die für eine Mitgliedschaft in der EU notwendige Gewährleistung der nunmehr in Art. 2 EUV festgelegten gemeinsamen Grundwerte wurden am 21./22. Juni 1993 im Rahmen der Tagung des Europäischen Rates in Kopenhagen die sog. Kopenhagener Kriterien für den Beitritt neuer Mitgliedstaaten zur EU aufgestellt.1 Gem. Art. 49 Abs. 1 S. 4 EUV kann ein Beitritt nur dann erfolgen, wenn ein beitrittswilliger Staat in der Lage ist, den mit einer Mitgliedschaft ver- 1 Europäischer Rat, 21.-22. Juni 1993, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, DOC/93/3 22/06/1993, vgl. hierzu http://europa.eu/rapid/press-release_DOC-93-3_de.htm?locale=en. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 205/14 Seite 5 bundenen Verpflichtungen nachzukommen und die erforderlichen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen zu erfüllen.2 Zu den politischen Kriterien zählen insbesondere die institutionelle Stabilität zur Gewährleistung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und des Schutzes von Minderheiten. Im Hinblick auf die Gewährleistung demokratischer Grundsätze sind nach Ansicht der Kommission insbesondere periodisch wiederkehrende Wahlen unerlässlich für eine demokratische Gesellschaft, um es der politischen Minderheit zu ermöglichen, die Mehrheit zu bilden und die zumindest den Grundsätzen der Allgemeinheit, Gleichheit und Freiheit entsprechen müssen.3 3.1.2. Kooperations- und Überwachungsmechanismen Auch nach ihrem Beitritt unterliegen neue EU-Mitgliedstaaten einem Kooperations- und Überwachungsmechanismus . Angesichts der zum Zeitpunkt des Beitritts fortbestehenden Defizite und um den notwendigen rechtsstaatlichen Mindeststandard zu erreichen, um die Grund- und Menschenrechte auch effektiv schützen zu können, gingen Bulgarien und Rumänien mit Beitritt zur EU spezifische Verpflichtungen im Bereich Justiz und Inneres ein.4 Hierzu wurde im Rahmen der Beitrittsverträge das Kooperations- und Kontrollverfahren vereinbart, das durch regelmäßige Überprüfungen sicherstellen soll, dass der neue Mitgliedstaat die Grundwerte und Grundrechte der Union effektiv achtet.5 Dies betrifft beispielsweise weitere Maßnahmen zur Gewährleistung 2 Für die weiteren wirtschaftlichen und rechtlichen Beitrittskriterien vgl. Ohler, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 52. EL 2014, Art. 49 EUV Rn. 19 ff. 3 Vgl. hierzu zuletzt die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Erweiterungsstrategie und wichtigste Herausforderungen 2013-2014, KOM(2013) 700 endg./2, S. 9 ff., online abrufbar unter http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2013/package/strategy_paper_2013_de.pdf, hinsichtlich des Beitritts der mittel- und osteuropäischen Staaten die Mitteilung der Kommission Agenda 2000 - Teil I: Eine stärkere und erweiterte Union - Teil II: Die Erweiterung der Union - Eine Herausforderung, KOM(97) 2000/endg., Bd. 1, 52 sowie Ohler, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 52. EL 2014, Art. 49 EUV Rn. 18. 4 Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Republik Bulgarien und Rumänien über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (ABl. L 157/11); Protokoll über die Bedingungen und Einzelheiten der Aufnahme der Republik Bulgarien und Rumäniens in die Europäische Union (ABl. L 157/29); Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht (ABl. L 157/203); zu der Ratifizierung des am 25. April 2005 in Luxemburg unterzeichneten Beitrittsvertrages zwischen Bulgarien und Rumänien und den EU-Mitgliedstaaten sowie der in der Schlussakte aufgeführten Erklärungen vom selben Tag vgl. BT-Drs. 16/2293 und das Gesetz zu dem Vertrag vom 25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (BGBl. II 2006, S. 1146); Anhang IX (Spezifische Verpflichtungen und Anforderungen, die Rumänien beim Abschluss der Beitrittsverhandlungen am 14. Dezember 2004 übernommen bzw. akzeptiert hat (nach Artikel 39 des Protokolls) (L 157/201)) des Protokolls über die Bedingungen und Einzelheiten der Aufnahme der Republik Bulgarien und Rumäniens in die Europäische Union, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2005:157:0201:0202:DE:PDF. 5 Vgl. die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung, K (2006) 6569 (ABl. L 354/56); vgl. auch die Berichte des Kooperations- und Kontrollverfahrens, online abrufbar unter http://ec.europa.eu/cvm/progress_reports _en.htm; Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 205/14 Seite 6 von transparenten und effizienten Gerichtsverfahren, zur allgemeinen Verbesserungen der Judikative sowie zur Bekämpfung von Korruption und organisiertem Verbrechen.6 Über die Erfüllung der konkreten Bedingungen wacht die Kommission und erstattet spätestens alle sechs Monate Bericht über die Fortschritte.7 Nachdem Kroatien die noch ausstehenden Benchmarks erfüllt hatte, wurden die Verhandlungen im Juni 2011 abgeschlossen und ein entsprechender Mechanismus vereinbart.8 Zum Abschluss der Beitrittsverhandlungen im Jahre 2011 hat die Kommission festgestellt, dass Kroatien die politischen Kriterien für einen Beitritt erfüllt.9 In allen Bereichen, einschließlich im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, seien grundlegende Fortschritte erzielt worden. Insbesondere seien Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gestärkt worden. Nach Auffassung der Kommission arbeiten Regierung und Parlament effizient. Weitere Anstrengungen seien erforderlich, um diese Ergebnisse zu konsolidieren. Im Hinblick auf die Vorbereitung des Beitritts hat sich Kroatien dazu verpflichtet, die verbleibenden Beitrittsvorbereitungen fortzuführen. Dieser Fortschrittsbericht ist Teil der Monitoring -Maßnahmen der Kommission hinsichtlich der Fähigkeit Kroatiens, seine im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten und die Kontinuität der Vorbereitungen auf die aus der EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zu gewährleisten.10 6 Vgl. beispielsweise den Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 30.1.2013 über Rumäniens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens, KOM(2013) 47 endg., abrufbar unter http://ec.europa.eu/cvm/docs/com_2013_47_de.pdf. 7 C (2006) 6570 final Art. 2; C (2006) 6569 final Art.2. 8 Ergänzend ist anzumerken, dass die Kommission Kroatien zur Vorbereitung des Beitritts finanzielle und technische Unterstützung geleistet hat. Die Hilfe wird vor allem im Rahmen des Instruments für Heranführungshilfe (Instrument for Pre-Accession Assistance – IPA) bereitgestellt, das für den Zeitraum 2007-2013 mit Mitteln in Höhe von insgesamt 11,6 Milliarden EUR ausgestattet wurde und auf der Verordnung (EG) Nr. 1085/2006 des Rates vom 17. Juli 2006 zur Schaffung eines Instruments für Heranführungshilfe (IPA), ABl. L 210/82 beruht. Seit 2010 hat die Kommission die Finanzhilfe nach und nach von der Unterstützung einzelner Projekte auf ein umfassender angelegtes sektorweites Konzept verlagert und sich dabei auf Schlüsselbereiche der Reformagenda der Empfängerländer konzentriert. Die Regierungen in den Erweiterungsländern wurden ermutigt, umfassende und tragfähige politische Strategien in Schwerpunktsektoren wie Justiz, Inneres sowie der öffentlichen Verwaltung anzunehmen. In den indikativen Mehrjahresplanungsdokumenten (MIPD) für den Zeitraum 2011-2013 werden für jedes Land unter Berücksichtigung seiner spezifischen Gegebenheiten und seiner Fortschritte im Beitrittsprozess Schlüsselsektoren festgelegt. Besondere Aufmerksamkeit wird der Korruptionsbekämpfung, der Entwicklung der Zivilgesellschaft und der freien Meinungsäußerung gewidmet. 9 Stellungnahme der Kommission vom 12. Oktober 2011 zum Antrag der Republik Kroatien auf den Beitritt zur Europäischen Union, KOM(2011) 667 endg., online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52011DC0667&rid=1. 10 Mitteilung der Kommission vom 26. März 2013 an das Europäische Parlament und den Rat, Monitoring-Bericht über die Beitrittsvorbereitungen Kroatiens, KOM(2013) 171 endg., online abrufbar unter http://eur-lex.europa .eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52013DC0171&qid=1402508852832&from=DE sowie zuvor die Mitteilung der Kommission vom 24. April 2012 an das Europäische Parlament und den Rat, Monitoring-Bericht über die Beitrittsvorbereitungen Kroatiens, online abrufbar unter http://ec.europa.eu/commission_2010- 2014/fule/docs/news/20120424_report_final.pdf. Vgl. mit Blick auf den Beitritt Kroatiens zum 1. Juli 2013 http://www.delhrv.ec.europa.eu/files/file/articles-st14409.en11-1323455241.pdf sowie den Überblick unter http://www.delhrv.ec.europa.eu/?lang=en&content=3935#course. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 205/14 Seite 7 Der Kooperations- und Überwachungsmechanismus entspricht dem Grundgedanken des Art. 49 EUV, wonach ein Beitrittskandidat der EU an die geltenden Grundwerte und Grundrechte herangeführt werden muss, bevor er in die Union aufgenommen wird. Er stellt somit einen staatenspezifischen Kontrollmechanismus dar, der jedoch nicht auf die übrigen Mitgliedstaaten Anwendung findet.11 Es bietet zudem weder dem Rat noch einzelnen Mitgliedstaaten eine Grundlage, Maßnahmen gegen den betreffenden Mitgliedstaat zu ergreifen. Auch ist das Verfahren nicht gleichzusetzen mit dem Schengen-Evaluierungsverfahren, welches sich auf technische Kriterien (Luftgrenzen, Landgrenzen, polizeiliche Zusammenarbeit, Datenschutz, Schengener Informationssystem , Seegrenzen und Visa) im Zusammenhang mit dem Schengen-Besitzstand stützt, der jedoch keine verbindlichen Vorschriften beispielsweise zur Korruptionsbekämpfung enthält.12 3.2. Beitrittsunabhängige Verfahren und Gewährleistungen 3.2.1. Justizielle Gewährleistungen Sanktionen auf Grundlage des Art. 7 EUV sind der Überprüfung durch die europäische Gerichtsbarkeit weitgehend entzogen.13 Der gerichtlichen Überprüfung unterliegen nach Art. 269 AEUV nur die Einhaltung der in Art. 7 EUV i.V.m. Art. 354 AEUV genannten Verfahrensbestimmungen .14 Die europäische Gerichtbarkeit kann mithin nicht angerufen werden zur Feststellung der Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte i.S.d. Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 EUV. Diese ist auch nicht berufen zur Prüfung, ob die Gründe für entsprechende Feststellungen vorliegen oder fortbestehen (Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 und Abs. 4 EUV).15 Die der Gerichtsbarkeit des EuGH unterliegende Überprüfung der Verfahrensbestimmungen umfasst die Einhaltung der Regeln über Anträge und Abstimmungen, namentlich die Beachtung der erforderlichen Quoren sowie die Beachtung der notwendigen Mitwirkungsrechte und Beteiligungsrechte des betroffenen Mitgliedstaates. Gerichtlich überprüft werden kann auch die Einhaltung der Pflicht des Rates, seine Maßnahmen regelmäßig zu überprüfen (Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 EUV).16 11 Bogdandy/Ioannidis, ZAöRV 2014, S.315. 12 Vgl. Rat der Europäischen Union, Dok. 9167/11 Rev. 3 v. 9.6.2011 sowie die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. Oktober 2011 zu dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien zu Schengen (P7_TA- PROV(2011)0443). 13 Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 53. EL 2014, Art. 7 EUV Rn. 50 f. 14 Art. 269 UAbs. 1 S. 1 AEUV; dazu Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 53. EL 2014, Art. 269 EUV Rn. 2 15 Zu Vorstehendem vgl. Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 53. EL 2014, Art. 7 EUV Rn. 51 16 Dazu auch der Überblick von Schorkopf, Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 53. EL 2014, Art. 269 AEUV Rn. 4 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 205/14 Seite 8 3.2.2. EU-Justizbarometer Im März 2013 stellte die Kommission ein EU-Justizbarometer vor,17 welches zur Effizienzsteigerung der Justizsysteme und zum Wirtschaftswachstum in der EU beitragen soll. Dieser Index soll „als Frühwarnsystem dienen und die EU und die Mitgliedstaaten in ihren Bemühungen um eine leistungsfähigere Justiz im Dienste der europäischen Bürger und Unternehmen unterstützen“.18 Hierzu werden durch die Kommission des Europarats für die Wirksamkeit der Justiz (CEPEJ) bereitgestellte Daten verwendet, um eine aussagekräftiges Barometer über die Funktionsfähigkeit der Justiz in den einzelnen Mitgliedstaaten zu entwickeln. Die hierbei verwendeten Indikatoren sind: - Länge der Gerichtsverfahren, - Verfahrensabschlussquote, - Zahl der anhängigen Verfahren, - Beobachtung und Bewertung gerichtlich angeordneter Maßnahmen, - Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) bei Gerichten, - Alternative Streitbeilegungsverfahren, - Richterfortbildung, - Finanz- und Humanressourcen der Gerichte. In Folge der Befunde des ersten Justizbarometers erließ der Rat sodann Empfehlungen an zehn Mitgliedstaaten, um Verbesserungen in den als defizitär ausgewiesenen Bereichen vorzunehmen .19 Im März 2014 wurde das zweite EU-Justizbarometer vorgestellt, in welchem die Justizsysteme der einzelnen Mitgliedstaaten erneut anhand der dargestellten Indikatoren untersucht wurden . Das Justizbarometer ist mit dem Kontrollverfahren des „europäischen Semesters“20 verbunden . Dieses wurde im Rahmen des im Juni 2010 verabschiedeten Programms „Europa 2020“ eingeführt und dient der regelmäßigen Analyse der im Zuge von „Europa 2020“ beschlossenen Ziele. In einem jährlichen Zyklus untersucht die Kommission die haushaltspolitischen, makroökonomischen und strukturellen Reformpläne der Mitgliedstaaten und gibt Empfehlungen für die nächsten 12 bis 18 Monate ab. 3.2.3. Art. 7-Verfahren Im europäischen Primärrecht ist schließlich in Art. 7 EUV ein Sanktionsverfahren bei schwerwiegenden Verletzungen der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorgesehen. Gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV kann der Europäische Rat „mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht.“ Zuvor hat er jedoch den betroffenen Mitgliedstaat anzuhören. Hat der Europäische 17 KOM (2013) 160 final vom 27.03.2013. 18 Vgl. EU-Justizkommissarin V. Reding auf http://europa.eu/rapid/press-release_IP-13-285_de.htm. 19 Vgl. KOM(2014) 158 endg., S. 5, Fn. 20 mit Verweis auf die einzelnen Empfehlungen. 20 ABl. C 165 E/24 vom 11.06.2011. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 205/14 Seite 9 Rat den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert, so kann er gemäß Abs. 2 in einem nächsten Schritt „nach Zustimmung des Europäischen Parlaments (…) einstimmig feststellen , dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt“. Gemäß Abs. 3 kann er in einem weiteren Schritt „mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten“. Dieses Sanktionsverfahren bezweckt, die Homogenität der Union zu bewahren und sie als „streitbare Demokratie“ dazu zu befähigen, gegen die Abkehr einzelner Mitgliedstaaten von ihren Grundwerten vorzugehen.21 Dennoch wächst die Überzeugung, dass es sich um ein langwieriges Verfahren handelt, welches zur Behebung rechtsstaatlicher Defizite in den Mitgliedstaaten im Einzelfall nur bedingt geeignet ist.22 Diese Tendenz unterstützt auch die in der Literatur verbreitete Auffassung, durch eine im Zuge von Art. 7 EUV vorgenommene Suspendierung von Rechten eines Mitgliedstaats ließen sich nicht dessen institutionelle Schwächen im Bereich der Grundwerde und/oder Grundrechte beheben.23 Das Problem bei der Anwendung des Art. 7 EUV bleibt jedoch, die Grenze zwischen grundsätzlichen Systemmängeln und vereinzelten “Ausreißern” zu bestimmen, und dafür die Einstimmigkeit von 28 Staats- und Regierungschefs zu bekommen. 4. Weiterentwicklung von Mechanismen zur Wahrung der Grundwerte und Grundrechte in der EU Die ehemalige EU-Kommissarin Viviane Reding prägte den Begriff des „Copenhagen Dilemma“, um das Phänomen zu beschreiben, dass nach dem Beitritt eines Staats zur EU nur unzureichende Instrumentarien bestehen, um sicherzustellen, dass die Grundwerte der Union und insbesondere der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit geachtet und nicht durch systemische Änderungen in den nationalen Verfassungsordnungen gefährdet werden.24 4.1. Vorschlag KOM(2014) 158 endg. der Kommission vom 11. März 2014 Um dem „Kopenhagen-Dilemma“ entgegenzuwirken, hat die Kommission am 11. März 2014 den Vorschlag für einen Rechtsstaatsmechanismus vorgelegt. Mit der Entwicklung eines Rechtsstaatsmechanismus soll die Lücke zwischen schlichten Verhandlungen und der Anwendung des Art. 7-Verfahrens überwunden und damit das „Kopenhagen-Dilemma“ einer Lösung zugeführt werden . Das Verfahren soll bei innerstaatlichen Rechtsentwicklungen Anwendung finden, die über 21 Schorkopf in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 7, Rn. 11. 22 Vgl. V. Reding in ihrer Rede „Safeguarding the rule of law and solving the "Copenhagen dilemma": Towards a new EU-mechanism” qm 12.09.2012, online abrufbar unter; http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-13- 348_de.htm (letzter Abruf am 20.11.2014). 23 Bogdandy/Ioannidis, ZAöRV 2014, S.287, 313. 24 Vgl. Bogdandy/Ioannidis, ZAöRV 2014, S.287 ff. m.w.N.; Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 205/14 Seite 10 einzelne Grundrechtsverstöße hinaus auf eine „systemimmanente“ Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat hindeuten. In einem solchen Fall tritt die Kommission mit dem betroffenen Staat in einen dreistufigen Dialog. Im ersten Schritt gibt die Kommission eine „Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit“ ab, in welcher sie ihre Bedenken dem betreffenden Staat darlegt und diesem die Gelegenheit gibt, sich zu diesen zu äußern. In diesem ersten Schritt arbeitet die Kommission mit Einrichtungen des Europarats und der Europäischen Agentur für Grundrechte zusammen.25 Im zweiten Schritt richtet die Kommission eine „Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit“ an den betreffenden Mitgliedstaat und setzt eine Frist, innerhalb der die Probleme zu beheben sind.26 Im dritten Schritt überwacht die Kommission, ob eine fristgerechte Problembehebung von Statten geht. Ist dies nicht der Fall, prüft die Kommission die Möglichkeit eines Verfahrens nach Art. 7 EUV.27 In diesem Modell ist explizit die Zusammenarbeit der Kommission mit der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, sowie Organen des Europarats vorgesehen.28 Die Venedig-Kommission ist eine Einrichtung des Europarats, welche Staaten im Themengebiet des Verfassungsrechts berät. Ihr werden in der Rechtsordnung der Union keine Kompetenzen zugewiesen, dennoch kann ihr eine extern beratende Rolle zukommen.29 Eine aktive Beteiligung der weiteren EU-Organe sieht das Modell der Kommission nicht vor, dennoch werden der Rat und das Europäische Parlament über die in den einzelnen Verfahrensabschnitten erzielten Fortschritte regelmäßig informiert .30 4.2. Primärrechtliche Rahmenbedingungen Der Vorschlag der Kommission stellt ein mögliches Konzept zur regelmäßigen Überprüfung der Grundwerte und Grundrechte in den Mitgliedstaaten dar, das dem Mechanismus des Art. 7 EUV vorgeschaltet ist. Im Zuge seiner Anwendung kommt es zur Kooperation mit der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, sowie gegebenenfalls der Venedig-Kommission. Des Weiteren werden Rat und Europäisches Parlament über die in den Verfahrensabschnitten erzielten Fortschritte informiert. Es ist anzunehmen, dass die Kommission bei der Ausarbeitung des Konzepts im Rahmen ihrer allgemeinen Zuständigkeiten gemäß Art. 17 EUV gehandelt hat. Art. 17 EUV regelt die Befugnisse der Kommission als Exekutiv- und Regierungsorgan der Union zur Förderung 25 KOM (2014) 158 endg., S. 8. 26 KOM (2014) 158 endg., S. 9. 27 KOM (2014) 158 endg., S. 9. 28 KOM (2014) 158 endg., S. 8. 29 So bspw. in der Beurteilung über die Unvereinbarkeit der vierten Änderung der ungarischen Verfassung mit europäischen Standards. 30 KOM (2014) 158 endg., S. 9. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 205/14 Seite 11 der allgemeinen Interessen der EU. Aufgrund der Relevanz der Grundwerte und Grundrechte für den Bestand der Union ist anzunehmen, dass die Schaffung eines derartigen Kontrollmechanismus innerhalb der allgemeinen Interessen der Union liegt und es keiner weiteren Ermächtigungsgrundlage bedarf. Sollte ein anderes Konzept angestrebt werden, welches die Mitgliedstaaten weitergehend verpflichtet, kommt zwar nach primärer Betrachtung ein Tätigwerden der Union nach Art. 352 AEUV in Betracht. Art. 352 AEUV lockert das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, indem der Union eine zusätzliche Handlungsmöglichkeit zugesprochen wird.31 Grundsätzlich gilt, dass die Union nur im Rahmen der ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Kompetenzen handeln kann. Dementsprechend darf die Union ohne Beteiligung der Mitgliedstaaten nur tätig werden, wenn sie in den Verträgen dazu ermächtigt wurde. Unter den Voraussetzungen des Art. 352 AEUV ist jedoch auch ohne ausdrückliche Ermächtigung der Union in den Verträgen ein Tätigwerden möglich. Dies setzt voraus, dass die Union zur Verwirklichung ihrer Ziele handelt und ihr Tätigwerden erforderlich erscheint, ohne dass die diesbezüglichen Befugnisse im Vertrag vorgesehen sind. Zuletzt ist Voraussetzung eines Tätigwerdens nach Art. 352 AEUV, dass der Artikel nicht als Vertragsänderung , sondern als Vertragsergänzung zum Einsatz kommt.32 Die Bestimmung verleiht der EU nicht die Kompetenz, sich eigenmächtig neue Kompetenzen zu schaffen.33 Die Schaffung eines rechtsverbindlichen Überwachungsmechanismus, der für die Mitgliedstaaten Verpflichtungen mit sich brächte, die über die Bestimmungen des Rechtsstaatlichkeitsaufsichtsverfahrens der Kommission hinausgingen, wäre jedoch nicht mehr von Art. 352 AEUV umfasst. Die „Flexibilitätsklausel“ des Art. 352 AEUV soll zur Lockerung, nicht aber zur Durchbrechung des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung führen.34 5. Ausblick Die Grundwerte und Grundrechte spielen im Rahmen des Rechtssystems der Europäischen Union eine zentrale Rolle. Die Schaffung einer supranationalen Organisation mit eigenen, ihr durch die Mitgliedstaaten übertragenen Souveränitätsrechten konnte nur durch den stetigen Ausbau eben dieser Werte und Rechte erfolgen. Für den Fortbestand und die Weiterentwicklung der Union ist es von elementarer Bedeutung, die Justiziabilität dieser Werte und Rechte in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten. An dieser Gewährleistung wurden in der Vergangenheit Zweifel laut, die in die rechtliche Debatte als „Kopenhagen-Dilemma“ Eingang fanden. 31 Vgl. Rossi in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV Art. 352, Rn. 11 m.w.N. 32 Rossi in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV Art. 352, Rn.74. 33 Zur Kompetenzkompetenz vgl. Rossi in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV Art. 352, Rn. 12 m.w.N. 34 Rossi in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV Art. 352, Rn. 12. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 205/14 Seite 12 Mit der Schaffung eines Rechtsstaatlichkeitsaufsichtsverfahrens stellte die Kommission kürzlich einen Ansatz vor, systemische Defizite im Bereich der Grundwerte und Grundrechte in den Mitgliedstaaten zu beheben. Hierbei handelt die Kommission innerhalb der ihr im Rahmen von Art. 17 EUV erteilten Befugnisse, die „allgemeinen Interessen“ der Union zu fördern. Ein Tätigwerden der Union auf der Grundlage von Art. 352 AEUV ist nur im Rahmen der hierdurch eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten zulässig. - Fachbereich Europa -