© 2016 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 201/14 Vereinbarkeit des Vorschlags zur Neufassung von § 7 Abs. 2 Freizüg G/EU-E im Hinblick auf die Einführung von Wiedereinreisesperren mit dem Unionsrecht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 2 Vereinbarkeit des Vorschlags zur Neufassung von § 7 Abs. 2 FreizügG/EU-E im Hinblick auf die Einführung von Wiedereinreisesperren mit dem Unionsrecht Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 201/14 Abschluss der Arbeit: 5. November 2014 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 5 2. Prüfungsmaßstab 6 2.1. Vorbemerkung 6 2.2. Allgemeines Freizügigkeitsrecht, Art. 21 AEUV 6 2.3. RL 2004/38/EG 7 3. Eingriff 8 4. Maßstäbe der Rechtfertigung 8 5. Rechtfertigung des Eingriffs aus § 7 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU-E 9 5.1. Rechtfertigung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit 10 5.1.1. Täuschung als Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung 10 5.1.1.1. Bestimmung der Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung 10 5.1.1.2. Folgerungen für freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen 11 5.1.1.3. Folgerungen für den Tatbestand der Täuschung 12 5.1.2. Ergebnis 13 5.2. Rechtfertigung durch Art. 35 RL 2004/38/EG 13 5.2.1. Art. 35 RL 2004/38/EG als Eingriffsermächtigung 13 5.2.1.1. Sachlicher Anwendungsbereich 13 5.2.1.2. Zulässige Rechtsfolgen 14 5.2.1.3. Zusammenfassung 15 5.2.2. Beschränkung des Art. 35 RL 2004/38/EG durch Art. 15 RL 2004/38/EG 15 5.2.2.1. Regelungsgehalt von Art. 15 RL 15 5.2.2.2. Verhältnis von Art. 35 RL 2004/38/EG und Art. 15 RL 2004/38/EG 16 5.2.2.2.1. Argumente gegen eine Anwendbarkeit des Art. 15 RL 2004/38/EG auf Art. 35 RL 2004/38/EG 17 5.2.2.2.2. Argumente für eine Anwendbarkeit des Art. 15 RL 2004/38/EG auf Art. 35 RL 2004/38/EG 17 5.2.2.3. Stellungnahme 19 5.3. Zusammenfassung 20 6. Rechtfertigung des Eingriffs aus § 7 Abs. 2 S. 3 1. Alt. FreizügG/EU-E 20 6.1. Regelungsgehalt 20 6.2. Rechtfertigung 20 6.3. Zusammenfassung 21 7. Rechtfertigung des Eingriffs aus § 7 Abs. 2 S. 3 2. Alt. FreizügG/EU-E 21 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 4 7.1. Regelungsgehalt 21 7.2. Rechtfertigung 22 8. Verhältnismäßigkeit 22 9. Zusammenfassung 23 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 5 1. Einleitung Nach derzeit geltendem Recht kann in Deutschland der Verlust des Freizügigkeitsrechts von Unionsbürgern festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts in den ersten fünf Jahren des Aufenthalts entfallen sind (§ 5 Abs. 4 FreizügG/EU1), beim Vorliegen von Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (§ 6 Abs. 1 FreizügG/EU) oder im Falle eines Vortäuschens des Vorliegens der Voraussetzungen für dieses Recht (§ 2 Abs. 7 FreizügG/EU). Während in allen Fällen eine Ausweisung der betroffenen Person möglich ist (§ 7 Abs. 1 Freizüg G/EU), kann ein Verbot der Wiedereinreise nur bei einem Verlust des Freizügigkeitsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, nicht aber bei der Feststellung des Nichtbestehens des Rechts gemäß § 2 Abs. 7 FreizügG/EU ausgesprochen werden (§ 7 Abs. 2 FreizügG/EU). Wird das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts gemäß § 2 Abs. 7 FreizügG/EU festgestellt, so leben vielmehr grundsätzlich unmittelbar nach einer Ausreise das Freizügigkeitsrecht und damit auch das Recht auf (Wieder-)Einreise wieder auf.2 Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU- E3) sieht in Art. 1 Nr. 5 lit. a vor, dass infolge einer Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU einem Unionsbürger die (Wieder-)Einreise und der Aufenthalt in das Bundesgebiet untersagt werden kann. Konkret soll § 7 Abs. 2 FreizügG/EU dahingehend geändert werden, dass nach S. 1 folgende Sätze eingefügt werden: „Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, bei denen das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Absatz 7 festgestellt worden ist, kann untersagt werden, erneut in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten. Dies soll untersagt werden, wenn ein besonders schwerer Fall, insbesondere ein wiederholtes Vortäuschen des Vorliegens der Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt, vorliegt oder wenn ihr Aufenthalt die öffentliche Ordnung und Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland in erheblicher Weise beeinträchtigt. Bei einer Entscheidung nach den Sätzen 2 und 3 findet § 6 Absatz 3, 6 und 8 entsprechend Anwendung.“ In allen Fallgruppen sollen die Verbote von Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet von Amts wegen befristet werden (Art. 1 Nr. 5 lit. b Gesetzentwurf), wobei die Frist unter Berücksichtigung 1 Freizügigkeitsgesetz/EU vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950, 1986), zuletzt geändert durch Artikel 8 des Gesetzes vom 17. Juni 2013 (BGBl. I S. 1555). 2 Vgl. hierzu die Feststellung in BMI/BMAS, Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses zu „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU- Mitgliedstaaten“, August 2014, abrufbar unter http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren /2014/abschlussbericht-armutsmigration.pdf?__blob=publicationFile. 3 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften , BT-Drs. 2581/14. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 6 der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 überschreiten darf (Art. 1 Nr. 5 lit. c Gesetzentwurf). Vor diesem Hintergrund geht die Ausarbeitung auf die Frage ein, ob die Reform des FreizügG/EU mit dem Unionsrecht insgesamt und insbesondere mit Art. 15 der Richtlinie 2004/38/EG4 (im Folgenden: RL 2004/38/EG) vereinbar ist. 2. Prüfungsmaßstab 2.1. Vorbemerkung Grundsätzlich gehen die besonderen, aus den Grundfreiheiten resultierenden Freizügigkeitsrechte für erwerbstätige Unionsbürger (Art. 45 ff. AEUV) dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger (Art. 20 Abs. 2 lit. a, 21 AEUV) als die spezielleren Regelungen vor. Als besondere Ausprägung der in Art. 21 AEUV gewährleisteten allgemeinen Freizügigkeit bleiben die wirtschaftlichen Grundfreiheiten jedoch integraler Bestandteil der Unionsbürgerschaft, so dass auch ihre Beschränkungsmöglichkeiten entsprechend der allgemeinen Freizügigkeit auszulegen sind.5 Im Hinblick auf das in Art. 45 GRCh garantierte Unionsgrundrecht auf Freizügigkeit ist anzumerken , dass dessen Ausübung gemäß Art. 52 Abs. 2 GRCh im Rahmen der unionsvertraglich und damit insbesondere durch Art. 21 AEUV festgelegten Bedingungen und Grenzen erfolgt. Vor dem Hintergrund der gegenüber den Grundfreiheiten allgemeineren Beschränkungsmöglichkeiten der allgemeinen Freizügigkeit aus Art. 21 AEUV sowie der Maßstäblichkeit dieser Norm für die Anwendung von Art. 45 GRCh6 beschränkt sich die nachfolgende Prüfung auf die Vereinbarkeit von § 7 Abs. 2 FreizügG/EU-E mit dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 AEUV und den Vorgaben der RL 2004/38/EG. 2.2. Allgemeines Freizügigkeitsrecht, Art. 21 AEUV Art. 21 AEUV verleiht den Unionsbürgern ein eigenständiges subjektives Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.7 Das Freizügigkeitsrecht des Art. 21 AEUV ist Ausdruck der Unionsbürgerschaft als der grundlegende Status der Angehörigen der 4 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten , zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl. L 158/77, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02004L0038- 20110616&qid=1410176189399&from=DE. 5 Magiera, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 21 AEUV, Rn. 7 mit Verweis u.a. auf EuGH, Rs. C-424/98 (Kommission/Italien), Rn. 35; EuGH, Rs. C-138/02 (Collins), Rn. 63; EuGH, Rs. C-258/04 (Ioannidis), Rn. 22. 6 Vgl. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, 2007, S. 130 ff., 370 ff. 7 EuGH, Rs. C-413/99 (Baumbast), Rn. 80 ff.; EuGH, Rs. C-456/02 (Trojani), Rn. 31; EuGH, Rs. C-162/09 (Lassal), Rn. 29. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 7 Mitgliedstaaten8 und im Gegensatz zu den grundfreiheitlich garantierten Freizügigkeitsrechten keine Annexgewährleistung zu einer Marktfreiheit, sondern ein eigenständig geschütztes Recht.9 Die Ausübung des durch Art. 21 AEUV gewährten Rechts steht unter dem Vorbehalt der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen . 2.3. RL 2004/38/EG Die Konditionierung des Freizügigkeitsrechts in Art. 21 AEUV impliziert nicht, dass entsprechendes Sekundärrecht eine konstituierende Funktion für das Entstehen des Bewegungs- und Aufenthaltsrechts hätte.10 Vielmehr ergibt sich aus Art. 21 Abs. 2 AEUV, dass das auf die Freizügigkeit bezogene Sekundärrecht dessen Ausübung erleichtern soll. Dementsprechend soll die RL 2004/38/EG die Ausübung des jedem Unionsbürger unmittelbar verliehenen, elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern und verstärken.11 Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung betrifft ihr Regelungsgegenstand gem. Art. 1 lit. a RL 2004/38/EG die Bedingungen, unter denen dieses Recht ausgeübt wird.12 Die RL 2004/38/EG konkretisiert das durch Art. 21 AEUV gewährleistete Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger im Hinblick auf das Recht auf Aus- und Einreise (Kapitel II) sowie das Aufenthaltsrecht (Kapitel III bis V) durch spezifische, mit der Dauer des Aufenthalts verbundene Anforderungen an einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat.13 Gegenüber diesen freiheitskonkretisierenden Vorschriften ermöglicht Kapitel VI Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit; die Art. 35 f. des Kapitels VII (Schlussbestimmungen) ermöglichen den Mitgliedstaaten darüber hinausgehende Maßnahmen zur Beschränkung des Einreise- und Aufenthaltsrechts. Das Vorliegen eines unter den ordre- 8 EuGH, Rs. C-34/09 (Ruiz Zambrano), Rn. 41. 9 Eingehend Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, 2007, S. 126 ff., 10 Vgl. Thym, Unionsbürgerfreiheit und Aufenthaltsrecht, ZAR 2014, S. 220 ff. 11 EuGH, Rs. C-127/08 (Metock), Rn. 59, 82; EuGH, Rs. C-145/09 (Tsakouridis), Rn. 23; EuGH, Rs. C-162/09 (Lassal ), Rn. 30; EuGH, Rs. C-456/12 (O.), Rn. 34 f. 12 EuGH, Rs. C-434/09 (McCarthy), Rn. 29 f.; EuGH, Rs. C-456/12 (O.), Rn. 41 f. Zur Förderung der grenzüberschreitenden Mobilität bestehen darüber hinaus besondere Arbeitnehmerrechte gemäß der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141/1) sowie ergänzende Rechte im Bereich der Sozialversicherung gemäß der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166/1) und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 284/1) sowie im Bereich der Gesundheitsversorgung gemäß der Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (ABl. L 88/1). 13 Zu den Voraussetzungen eines rechtmäßigen Aufenthalts gem. Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG vgl. EuGH, verb. Rs. C-424/10 und C-425/10 (Ziolkowski und Szeja), Rn. 46 f.; EuGH, Rs. C-529/11 (Alarape und Tijani), Rn. 35. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 8 public-Vorbehalt fallenden Grundes berührt dabei nicht das Aufenthaltsrecht an sich, sondern berechtigt lediglich die Mitgliedstaaten, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu ergreifen.14 3. Eingriff Der Vorschlag zur Neufassung von § 7 Abs. 2 FreizügG/EU-E sieht in Art. 1 Nr. 5 lit. a die Einführung von Wiedereinreiseverboten für drei verschiedene Fallgruppen vor: Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, bei denen das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Absatz 7 festgestellt worden ist, kann untersagt werden, erneut in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten. [§ 7 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU-E] Dies soll untersagt werden, wenn ein besonders schwerer Fall, insbesondere ein wiederholtes Vortäuschen des Vorliegens der Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt , vorliegt [§ 7 Abs. 2 S. 3 1. Alt. FreizügG/EU-E] oder wenn ihr Aufenthalt die öffentliche Ordnung und Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland in erheblicher Weise beeinträchtigt. [§ 7 Abs. 2 S. 3 2. Alt. FreizügG/EU-E] Alle drei Fallgruppen des § 7 Abs. 2 S. 2 und 3 FreizügG/EU-E haben zur Folge, dass der betroffene Unionsbürger sein Recht auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet Deutschlands für eine gewisse Dauer nicht ausüben kann. Trotz der jeweiligen Befristung bedeutet das Verbot der Wiedereinreise einen besonders schweren Eingriff in die allgemeine unionsrechtliche Freizügigkeit gem. Art. 21 AEUV, da für die Dauer der Einreisesperre das Recht auf Freizügigkeit im Hinblick auf den konkreten Aufnahmemitgliedstaat vollständig entzogen wird.15 Kein weitergehender Eingriff in das Freizügigkeitsrecht resultiert hingegen aus der projektierten Dauer der Wiedereinreisesperre.16 In Art. 1 Nr. 5 lit. b und c des Gesetzentwurfs ist ausdrücklich eine nunmehr von Amts wegen vorzunehmende Befristung der Wiedereinreisesperre vorgesehen. 4. Maßstäbe der Rechtfertigung Die Einführung von Wiedereinreisesperren könnte unionsrechtlich gerechtfertigt sein. Das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten, wird nicht uneingeschränkt gewährt, sondern unterliegt den in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen .17 Dementsprechend ermöglicht die RL 2004/38/EG in den Art. 27 ff. Maßnahmen der 14 Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, 2007, S. 162 mit Verweis auf EuGH, Rs. 48/75 (Royer), Rn. 28 ff.; EuGH, Rs. 118/75 (Watson), Rn. 20; EuGH, Rs. 157/79 (Pieck), Rn. 9; Zu der Wirkung und dem Verfahren aufenthaltsbeendender Maßnahmen nach dem FreizügG/EU vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 30. April 2014, Az. 11 S 244/14. 15 Für die Qualifizierung einer Wiedereinreisesperre als besonders drastische Einschränkung des europäischen Freizügigkeitsrechts vgl. EuGH, Rs. C-348/96 (Calfa), Rn. 18 sowie KOM (2013) 837 endg. S. 10f. 16 Für entsprechende Fallgruppen vgl. EuGH, Rs. C-348/96 (Calfa), Rn. 29. 17 EuGH, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01 (Orfanopoulos und Oliveri), Rn. 47. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 9 Mitgliedstaaten zur Einschränkung der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit. Darüber hinaus gibt Art. 35 RL 2004/38/EG den Mitgliedstaaten auch die Möglichkeit, im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen zu erlassen. In diesem Rahmen ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für Unionsbürger grundsätzlich rechtfertigungsfähig. Hat ein Mitgliedstaat einen Unionsbürger unionsrechtlich wirksam ausgewiesen und diese Ausweisung mit der Rechtsfolge verbunden, dass dem Betroffenen das Betreten des Hoheitsgebiets des betreffenden Staates verboten ist, so hat der betreffende Unionsbürger kein Recht auf Zugang zum Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates.18 Entsprechend der Vorgabe, dass das Freizügigkeitsrecht den in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen unterliegt, müssen freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen der Mitgliedstaaten den unionsrechtlichen Anforderungen genügen. Das Recht auf Freizügigkeit begrenzt als grundlegendes Prinzip des Unionsrechts den primär- und sekundärrechtlich eröffneten Ermessensspielraum einschließlich der Befugnis zur Ausweisung aus dem bzw. zum Verbot der Wiedereinreise in das Hoheitsgebiet, über den die Mitgliedstaaten in Bezug auf Ausländer aus der Union verfügen.19 Die Mitgliedstaaten dürfen diesen Ermessensspielraum nicht in einer Weise nutzen, die das Hauptziel der RL 2004/38/EG, die Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu erleichtern und zu verstärken, sowie die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen würde.20 Angesichts des Freizügigkeitsrechts als grundlegendes Prinzip des Unionsrechts sind die Bestimmungen der RL 2004/38/EG, auf deren Grundlage die Freizügigkeit gewährt wird, dementsprechend weit auszulegen, während die Grundlagen für aufenthaltsbeendende oder aufenthaltsunterbindende Maßnahmen restriktiv zu handhaben und als Ausnahmen vom fundamentalen Grundsatz der Freizügigkeit eng auszulegen sind.21 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Varianten der Wiedereinreisesperren des § 7 Abs. 2 S. 2 und 3 FreizügG/EU-E im Rahmen der primär- und sekundärrechtlich vorgegebenen Schranken gerechtfertigt werden können. 5. Rechtfertigung des Eingriffs aus § 7 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU-E Gemäß § 7 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU-E kann Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, bei denen das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 7 festgestellt worden ist, untersagt werden, erneut in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten. Durch den Verweis auf § 2 Abs. 7 FreizügG/EU kann eine Wiedereinreisesperre somit im Falle eines Vortäuschens des Vorliegens der Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht22 oder beim Nichtvorliegen 18 EuGH, verb. Rs. 115/81 und 116/81 (Adoui und Cornuaille), Rn. 12. 19 EuGH, Rs. C-140/12 (Brey), Rn. 70. 20 EuGH, Rs. C-140/12 (Brey), Rn. 70 f. 21 EuGH, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01 (Orfanopoulos und Oliveri), Rn. 64; EuGH, Rs. C-33/07 (Jipa) Rn. 23; EuGH, Rs. C-127/08 (Metock), Rn. 84 sowie EuGH, Rs. C-140/12 (Brey), Rn. 70 f. zu den Anforderungen an Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG. 22 Dies ist beispielsweise der Fall bei einer Vorspiegelung falscher Tatsachen über existenzsichernde Mittel oder bei Fälschung eines Arbeitsvertrags. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 10 der Voraussetzungen für einen Familiennachzug ergehen. Dabei liegt der Erlass einer Wiedereinreisesperre im pflichtgemäßen, durch § 7 Abs. 2 S. 4 FreizügG/EU-E konkretisierten Ermessen der zuständigen Behörde. Fraglich ist, ob dieser konkrete Eingriff in das Freizügigkeitsrecht unionsrechtlich gerechtfertigt werden kann. 5.1. Rechtfertigung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit Als Rechtfertigungsgrund für das befristete Wiedereinreiseverbot gem. § 7 Abs. 2 S. 2 Freizüg G/EU-E kommen zunächst die Vorgaben der Art. 27 ff. RL 2004/38/EG in Betracht. Danach kann eine Wiedereinreisesperre gem. Art. 32 RL 2004/38/EG als beschränkende Maßnahme im Rahmen des Freizügigkeitsrechts erlassen werden, sofern dies aus Gründen der die öffentliche Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit23 erforderlich ist. Die diesbezügliche Handlungsbefugnis der Mitgliedstaaten setzt entsprechend der Systematik der Richtlinie voraus, dass sich die staatliche Maßnahme auf ebendiese Gründe stützt. 5.1.1. Täuschung als Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Im Hinblick auf den Erlass einer Wiedereinreisesperre von Unionsbürgern stellt § 7 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU-E durch den Verweis auf § 2 Abs. 7 FreizügG/EU lediglich auf das Vorliegen einer Täuschung des grundsätzlich freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers bzw. auf das Nichtvorliegen der Voraussetzungen für einen Familiennachzug ab. Somit stellt sich die Frage, ob insbesondere der Tatbestand des Vortäuschens einen Grund der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit darstellen kann, sodass der Eingriff in das Freizügigkeitsrecht durch die Handlungsoptionen der Art. 27 ff. AEUV gerechtfertigt werden kann. 5.1.1.1. Bestimmung der Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Grundsätzlich dürfen die Mitgliedstaaten nach ihren nationalen Bedürfnissen bestimmen, was von den Begriffen der „öffentlichen Sicherheit“ und „öffentlichen Ordnung“ umfasst ist.24 Die Mitgliedstaaten können festgelegen, welche Interessen der Gesellschaft zu schützen sind und ob im konkreten Einzelfall mit einer hinreichend schweren Gefährdung dieser Grundinteressen zu rechnen ist.25 Bei der mitgliedstaatlichen Definition der Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Anwendungsbereich des Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 AEUV sind jedoch die unionsrechtlich autonom zu bestimmenden Maßstäbe für das Vorliegen eines Grundes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung maßgeblich zu berücksichtigen. Diese Begriffe sind eng auszulegen 23 Für die folgenden Ausführungen bleiben Aspekte der öffentlichen Gesundheit im Sinne von Art. 29 RL 2004/38/EG mangels Relevanz für die Fragestellung außer Betracht. 24 EuGH, Rs. C-33/07 (Jipa) Rn. 23; EuGH, Rs. C-430/10 (Gaydarov). 25 KOM (2009) 313 endg. S. 11. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 11 und setzen voraus, dass eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr besteht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.26 Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats.27 Die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung können ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren.28 Demgegenüber kann ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung bereits dann vorliegen, wenn innerstaatliche Rechtsvorschriften und die in diesen zum Ausdruck kommenden sittlichen Grundüberzeugungen des Mitgliedstaates verletzt werden. Eine Verletzung innerstaatlicher Rechtsvorschriften beeinträchtigt jedoch nicht automatisch die öffentliche Ordnung, sondern es muss – entsprechend der Klarstellung in Art. 27 Abs. 2 RL 2004/38/EG – eine tatsächliche und hinreichende Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.29 Zudem sind Maßnahmen der öffentlichen Ordnung nur dann gerechtfertigt, wenn sie ausschließlich auf das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelperson gestützt sind.30 5.1.1.2. Folgerungen für freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen Vor diesem Hintergrund ist die soziale Störung, die jeder (ausländerrechtlichen) Gesetzesverletzung immanent ist, allein nicht ausreichend, um eine freiheitsbeschränkende Maßnahme zu rechtfertigen. Ein Verstoß gegen Einreisebestimmungen rechtfertigt regelmäßig keine Ausweisung , sofern nicht weitere Handlungen hinzutreten, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellen.31 In einer auslegungsleitenden Mitteilung stellt die Kommission fest, dass in Ausnahmefällen eine Vielzahl kleinerer Straftaten, die für sich allein genommen nicht 26 EuGH, Rs. 41/74 (Van Duyn), Rn. 18; EuGH, Rs. 36/75 (Rutili) Rn. 27; EuGH, Rs. 30/77 (Bouchereau), Rn. 35; EuGH, Rs. C-348/96 (Calfa), Rn. 23; EuGH, Rs. C-348/09 (P. I.), Rn. 23, 34; EuGH, Rs. C-434/10 (Aladzhov), Rn. 34. 27 EuGH, Rs. C-273/97 (Sirdar), Rn. 17; EuGH, Rs. C-285/98 (Kreil), Rn. 17; EuGH, Rs. C-423/98 (Albore), Rn. 18; EuGH, Rs. C-186/01 (Dory), Rn. 32. 28 EuGH, Rs. 72/83 (Campus Oil u. a.), Rn. 34 f.; EuGH, Rs. C-70/94 (Werner), Rn. 27; EuGH, Rs. C-423/98 (Albore), Rn. 22; EuGH, Rs. C-398/98 (Kommission/Griechenland), Rn. 29. 29 EuGH, Rs. 30/77 (Bouchereau), Rn. 33; EuGH, Rs. C-348/96 (Calfa), Rn. 21; EuGH, Rs. C-355/98 (Kommission /Belgien), Rn. 28. 30 EuGH, Rs. C-145/09 (Tsakouridis), Rn. 50; EuGH, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01 (Orfanopoulos), Rn. 66. 31 EuGH, Rs. C-245/03 (Oulane), Rn. 42; EuGH, Rs. C-60/00 (Carpenter), Rn. 44 ff.; EuGH, Rs. C-459/99 (MRAX), Rn. 79. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 12 geeignet sind, eine hinreichend schwere Gefährdung zu begründen, eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellen könne.32 Die Tatsache, dass eine Person bereits mehrfach verurteilt worden ist, reicht als solche jedoch nicht aus, um eine schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu begründen. Vielmehr müssten die nationalen Behörden darlegen, dass das persönliche Verhalten des Betreffenden eine hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt .33 Zudem könne nur in schweren Fällen zusammen mit dem Erlass einer Ausweisungsverfügung ein Wiedereinreiseverbot verhängt werden, wenn vom Straftäter nachweislich wohl auch künftig eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung ausgehen wird.34 Wenn das Recht auf Freizügigkeit missbraucht oder auf betrügerische Weise erlangt werde, hinge es von der Schwere der Straftat ab, ob davon auszugehen ist, dass die betreffende Person eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, was eine Ausweisung und unter Umständen ein Wiedereinreiseverbot rechtfertigen könne.35 5.1.1.3. Folgerungen für den Tatbestand der Täuschung Nach Maßgabe der hohen Anforderungen an das Vorliegen von Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung kann eine Täuschungshandlung im Sinne von § 2 Abs. 7 FreizügG/EU, auch wenn sie eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit darstellt, für sich genommen keinen Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellen, der freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen zu begründen vermag.36 Die Systematik der RL 2004/38/EG und die besonderen Regelungen des Kapitels IV einerseits und des Art. 35 RL 2004/38/EG andererseits lassen darauf schließen, dass zwischen „einfachem“ und „qualifiziertem“ Missbrauch bzw. Betrug zu differenzieren ist. Eine Täuschung im Sinne von § 2 Abs. 7 FreizügG/EU vermag zwar einen Rechtsmissbrauch im Sinne des Art. 35 RL 2004/38/EG und mangels Vorliegens der freizügigkeitsrechtlichen Voraussetzungen auch eine Ausweisung zu begründen.37 Ist nach der Rechtsprechung des EuGH der Umstand, dass eine Person bereits mehrfach verurteilt worden ist, als solche nicht ausreichend, um eine hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu begründen, so erscheint a maiore ad minus ein einmaliges Vorspiegeln von Tatsachen im Sinne von § 2 Abs. 7 FreizügG/EU erst recht als nicht ausreichend, um eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung zu begründen .38 Vielmehr muss außer der sozialen Störung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine 32 KOM (2009) 313 endg. S. 13 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-349/06 (Polat), Rn. 35. 33 EuGH, Rs. C-348/09 (P.I.), Rn. 29 f.; EuGH, Rs. C-371/08 (Ziebell), Rn. 82; EuGH, Rs. C-349/06 (Kommission /Spanien), Rn. 46; EuGH, Rs. C-145/09 (Tsakouridis), Rn. 50. 34 KOM (2013) 837 endg. S. 10 mit Bezugnahme auf Art. 32 RL 2004/38/EG. 35 KOM (2013) 837 endg. S. 11. 36 Dem entspricht die derzeitige Systematik des FreizügG/EU, wonach bei einer Täuschungshandlung lediglich das tatsächliche Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts festgestellt wird (§ 2 Abs. 7 FreizügG/EU), woraus wiederum eine Ausreisepflicht resultiert (§ 7 Abs. 1 FreizügG/EU). 37 Vgl. die dementsprechende Begründung in Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften, BT-Drs. 17/10746, S. 9. 38 EuGH, Rs. C-348/96 (Calfa), Rn. 27f. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 13 tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.39 5.1.2. Ergebnis Da § 7 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU-E eine Gefahr von öffentlicher Ordnung und Sicherheit nicht zur Voraussetzung für eine Wiedereinreisesperre macht, erscheint vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH eine Rechtfertigung durch die Art. 27 ff. RL 2004/38/EG nicht möglich. 5.2. Rechtfertigung durch Art. 35 RL 2004/38/EG Entsprechend der Begründung des Gesetzentwurfs40 könnte sich die freizügigkeitsbeschränkende Maßnahme durch Art. 35 RL 2004/38/EG gerechtfertigt sein. Danach können die Mitgliedstaaten die in der Richtlinie verliehenen Rechte im Falle eines Rechtsmissbrauchs oder Betrugs verweigern , aufheben oder widerrufen, sofern diese Maßnahmen verhältnismäßig sind und die Verfahrensgarantien der Art. 30, 31 wahren. 5.2.1. Art. 35 RL 2004/38/EG als Eingriffsermächtigung 5.2.1.1. Sachlicher Anwendungsbereich Der sachliche Anwendungsbereich von Art. 35 RL 2004/38/EG umfasst Missbrauch und Betrug.41 Dabei bedeutet Betrug eine arglistige Täuschung oder sonstiges manipulatives Verhalten mit dem Ziel, in den Genuss des Rechts auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt auf der Grundlage des EU- Rechts zu gelangen.42 Gängige Formen von Betrug sind die Fälschung von Identitäts- oder Aufenthaltsdokumenten oder die Vorspiegelung falscher Tatsachen in Bezug auf die an das Aufenthaltsrecht geknüpften Bedingungen, zum Beispiel die falsche Behauptung, über ausreichende Mittel zu verfügen oder selbstständig zu sein. Rechtsmissbrauch bedeutet demgegenüber ein Verhalten, das allein dem Zweck dient, das EUrechtlich garantierte Aufenthalts- und Freizügigkeitsrecht zu erlangen, und das zwar formal den unionsrechtlichen Kriterien zur Erlangung eines Aufenthaltsstatus genügt, aber nicht mit dem Zweck der EU-Vorschriften vereinbar ist.43 Der Nachweis eines Missbrauchs setzt zum einen voraus , dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und erfordert 39 EuGH, Rs. C-50/06 (Kommission/Niederlande) Rn. 43; EuGH, Rs. 36/75 (Rutili) Rn. 28. 40 BT-Drs. 2581/14, S. 31. 41 Zum Anwendungsbereich des Art. 35 RL 2004/38/EG vgl. GA Szpunar, Schlussanträge zu Rs. C-202/13 (McCarthy), Rn. 125. 42 KOM (2009) 313 endg. S. 8 f. 43 KOM (2013) 837 endg. S. 9; vgl. hierzu EuGH, Rs. C-63/99 (Gloszczuk), Rn. 75; EuGH, Rs. C-110/99 (Emsland- Stärke), Rn 52 ff.; EuGH, Rs. C-212/97 (Centros), Rn. 25. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 14 zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden.44 Diese Definition erfasst mithin die Fälle des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU, so dass der sachliche Anwendungsbereich des Art. 35 RL 2004/38/EG dem Grunde nach eröffnet ist.45 Mit diesem sachlichen Anwendungsbereich ist Art. 35 RL 2004/38/EG sowohl im Hinblick auf die Feststellung betreffend das Vorliegen der Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts, die Feststellung betreffend den Verlust des Freizügigkeitsrechts wegen Wegfalls der Voraussetzungen für ein unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht als auf im Hinblick auf eine Entscheidung für die Beendigung bzw. Entziehung des Freizügigkeitsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit anwendbar. 5.2.1.2. Zulässige Rechtsfolgen Art. 35 S. 1 RL 2004/38/EG sieht als Maßnahmen zur Bekämpfung des Rechtsmissbrauchs die Verweigerung, Aufhebung oder den Widerruf des Rechts auf Einreise und Aufenthalt vor. Maßnahmen im Rahmen von Art. 35 RL 2004/38/EG beziehen sich auf das konkrete, den Bedingungen und Voraussetzungen der RL 2004/38/EG entsprechende Recht auf Einreise und Aufenthalt ungeachtet seiner primärrechtlichen Grundlage. Hierauf bezogen können Maßnahmen im Rahmen von Art. 35 RL 2004/38/EG somit einerseits auf die Beseitigung eines bereits durch die Richtlinie verliehenen Rechts (Aufhebung und Widerruf), andererseits auf die Versagung eines durch die Richtlinie zu verleihenden Rechts (Verweigerung) abzielen.46 Die Bestimmung des Art. 35 RL 2004/38/EG umfasst damit sowohl Maßnahmen anlässlich der Feststellung eines Verlusts der Freizügigkeitsberechtigung (vgl. §§ 2 Abs. 1, 6 Abs. 1 FreizügG/EU) als auch Maßnahmen anlässlich der Feststellung des Nichtbestehens eines Einreise- und Aufenthaltsrechts von Unionsbürgern und deren Familienangehörigen (vgl. § 2 Abs. 7 FreizügG/EU). In beiden Fallgruppen kann beim Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs oder Betrugs eine Ausweisung auf Art. 35 RL 2004/38/EG gestützt werden. Während eine Ausweisung grundsätzlich bereits bei der Feststellung des Nichtvorliegens des Freizügigkeitsrechts entsprechend den Bestimmungen der Kapitel III bis V der RL 2004/38/EG verfügt werden kann, geht jedoch ein Wiedereinreiseverbot von seiner Eingriffsqualität über die Ausweisung hinaus und setzt diese notwendig voraus. Mit anderen Worten lässt sich ein Wiedereinreiseverbot der Sache nach als eine qualifizierte Ausweisung beschreiben und erfordert als besonders schwerer Eingriff in das Freizügigkeitsrecht das Vorliegen besonderer, über die Bedingungen für eine Ausweisung hinausgehende 44 EuGH, Rs. C-456/12 (O.), Rn. 58; EuGH, Rs. C-364/10 (Ungarn/Slowakei), Rn. 58; EuGH, Rs. C-110/99 (Emsland- Stärke), Rn 52 f.; vgl. auch GA Szpunar, Schlussanträge zu Rs. C-202/13 (McCarthy), Rn. 108 ff. 45 Zum situativen Anwendungsbereich vgl. Thym, Unionsbürgerfreiheit und Aufenthaltsrecht, ZAR 2014, S. 220 (226). 46 Vgl. insoweit den entsprechenden englischen (to refuse, terminate or withdraw any right conferred by this Directive ) und französischen (refuse, annuler ou retirer tout droit conféré par la présente directive) Wortlaut des Art. 35 S. 1 RL 2004/38/EG. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 15 Voraussetzungen. Dem entspricht die Richtlinie in Kapitel VI, wonach der Erlass einer Ausweisungsverfügung nur dann zusammen mit einem Wiedereinreiseverbot verhängt werden kann, wenn dies auf der Prognose einer auch künftig erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung beruht.47 Vor diesem Hintergrund hat die Kommission festgestellt, dass auch Art. 35 RL 2004/38/EG herangezogen werden kann, um eine Wiedereinreisesperre zu rechtfertigen. Jedoch ist nach Auffassung der Kommission im Falle eines Rechtsmissbrauchs die Gefahr für die öffentliche Ordnung eine notwendige Voraussetzung für die Einführung einer Wiedereinreisesperre.48 Ohne eine hinreichende Gefahr für die öffentliche Ordnung sei die Verhängung einer Wiedereinreisesperre nach Art. 35 RL 2004/38/EG nicht gerechtfertigt. Insoweit erscheint Art. 35 RL 2004/38/EG im Hinblick auf eine Wiedereinreisesperre als eine tatbestandliche Ergänzung zu den Eingriffstatbeständen der Art. 27 ff. RL/2004/38/EG. 5.2.1.3. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass eine Wiedereinreisesperre grundsätzlich auch gemeinsam mit einer Ausweisung auf Art. 35 RL 2004/38/EG gestützt und das Freizügigkeitsrecht im Sinne von Art. 21 AEUV gerechtfertigt beschränkt werden kann. Mit Blick auf die damit einhergehende Schwere des Eingriffs in das allgemeine Freizügigkeitsrecht müssen hierfür jedoch grundsätzlich die weitergehenden Voraussetzungen einer auch künftig erheblichen Gefahr für die öffentliche Ordnung vorliegen. Insoweit erscheint bereits fraglich, ob der von § 7 Abs. 2 S. 2 Freizüg G/EU-E in den Blick genommene Tatbestand diesen Anforderungen entspricht. 5.2.2. Beschränkung des Art. 35 RL 2004/38/EG durch Art. 15 RL 2004/38/EG Der aus Art. 35 RL 2004/38/EG folgende Gestaltungsspielraum kann nicht isoliert, sondern muss im Gesamtzusammenhang der RL 2004/38/EG bewertet werden. Unabhängig von der Frage, ob auch eine Gefahr für die öffentliche Ordnung vorliegen muss, stellt sich die Frage, ob Art. 15 RL 2004/38/EG die Möglichkeit der Mitgliedstaaten beschränkt, sich zur Verhängung von Wiedereinreisesperren im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug entsprechend den in § 7 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU-E vorgesehenen Tatbeständen auf Art. 35 RL 2004/38/EG zu stützen. 5.2.2.1. Regelungsgehalt von Art. 15 RL Der Regelungsgehalt von Art. 15 Abs. 1 RL 2004/38/EG zielt zunächst darauf ab, dass die prozeduralen Garantien der Art. 30, 31 RL 2004/38/EG 49 sinngemäß auf jede Entscheidung Anwen- 47 Vgl. KOM (2013) 837 endg. S. 10. 48 KOM (2013) 837 endg. S. 11: „Wenn das Recht auf Freizügigkeit missbraucht oder auf betrügerische Weise erlangt wird, hängt es von der Schwere der Straftat ab, ob davon auszugehen ist, dass die betreffende Person eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, was eine Ausweisung und unter Umständen ein Wiedereinreiseverbot rechtfertigen kann.“; vgl. hierzu oben 5.1.1.3. 49 Zu den Art. 30 f. RL 2004/38/EG und ihrem Verhältnis zu Art. 47 GRCh vgl. EuGH, Rs. C-300/11 (ZZ), Rn. 46 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 16 dung finden, „die die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen beschränkt und die nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen wird.“ Dies umfasst insbesondere aufenthaltsbeendende Maßnahmen, die auf einer Feststellung beruhen, dass die Voraussetzungen für ein Freizügigkeitsrecht nicht bestehen oder weggefallen sind. Die Bestimmung gewährleistet mithin die Verfahrensgarantien des Kapitels VI auch für Aufenthaltsberechtigte, gegen die ein Mitgliedstaat aus anderen als den in Kapitel VI vorgesehenen Gründen eine Ausweisungsverfügung erlässt. Dieser Gleichlauf der Gewährleistungen dient dem Zweck zu verhindern, dass ein Unionsbürger gegen Ausweisungen aus administrativen Gründen weniger geschützt ist als gegen Ausweisungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung – und um dadurch letztlich Unionsbürger gegen willkürliche Verfügungen der Behörden zu schützen .50 Darüber hinaus ordnet Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38/EG an, dass eine Entscheidung gemäß Abs. 1, mit der eine Ausweisung verfügt wird, nicht mit einem Einreiseverbot des Aufnahmemitgliedstaates 51 verbunden werden darf. Diese Differenzierung beruht auf dem wesensmäßigen Unterschied zwischen einer sog. Administrativausweisung (d.h. einer Ausweisung nach der Feststellung , dass die Voraussetzungen für ein Freizügigkeitsrecht nicht bestehen oder weggefallen sind, vgl. § 7 Abs. 1 FreizügG/EU) und einer Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung (vgl. § 7 Abs. 2 FreizügG/EU).52 Indem Art. 15 RL 2004/38/EG aufenthaltsbeschränkende Maßnahmen, die sich nicht auf Gründe der öffentlichen Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit stützen, somit einerseits den prozeduralen Anforderungen der Art. 30, 31 RL 2004/38/EG unterwirft und für Administrativausweisungen zugleich ein Kopplungsverbot einer Ausweisungsanordnung mit einem Einreiseverbot vorsieht, enthält Art. 15 RL 2004/38/EG einen eigenständigen, über die Anwendbarkeitserklärung der Art. 30, 31 RL 2004/38/EG hinausgehenden materiellen Gehalt für die Ausgestaltung aufenthaltsbeschränkender Maßnahmen der Mitgliedstaaten. 5.2.2.2. Verhältnis von Art. 35 RL 2004/38/EG und Art. 15 RL 2004/38/EG Fraglich ist, in welchem Verhältnis das Kopplungsverbot in Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38/EG zu dem mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielraum des Art. 35 RL 2004/38/EG steht und ob sich aus Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38/EG Grenzen für die Handlungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten auf Grundlage von Art. 35 RL 2004/38/EG ergeben. 50 Erläuterung der Kommission zu Art. 24 des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, KOM(2001) 257 endg., ABl. Nr. 270 E v. 25. September 2001, S. 150, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=uriserv:OJ.CE.2001.270.01.0150.01.DEU. 51 Aufnahmemitgliedstaat ist gem. Art. 2 Nr. 3 RL 2004/38/EG der Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt , um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben. 52 Erläuterung der Kommission zu Art. 24 des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, KOM(2001) 257 endg., ABl. Nr. 270 E v. 25. September 2001, S. 150, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=uriserv:OJ.CE.2001.270.01.0150.01.DEU. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 17 5.2.2.2.1. Argumente gegen eine Anwendbarkeit des Art. 15 RL 2004/38/EG auf Art. 35 RL 2004/38/EG Einerseits ließe sich argumentieren, dass Art. 15 Abs. 3 RL keine Wirkungen auf die Handlungsoptionen des Art. 35 RL 2004/38/EG zeitigt. Dies könnte sich daraus ergeben, dass Art. 15 RL 2004/38/EG primär einen Gleichlauf der Verfahrensgarantien bei aufenthaltsbeschränkenden Maßnahmen gewährleisten soll. Für den konkreten Fall von freizügigkeitsbeschränkenden Maßnahmen bei Rechtsmissbrauch oder Betrug verweist auch Art. 35 RL 2004/38/EG auf die Verfahrensgarantien der Art. 30, 31 RL 2004/38/EG. Wegen des insoweit parallelen Verweises auf Verfahrensgarantien sowie des spezielleren Anwendungsbereichs des Art. 35 RL 2004/38/EG könnten beide Normen isoliert voneinander betrachtet werden und keine Wirkungen füreinander entfalten – mit der Folge, dass das Kopplungsverbot des Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38/EG keine Anwendung findet bei freizügigkeitsbeschränkenden Maßnahmen auf Grundlage von Art. 35 RL 2004/38/EG. Darüber hinaus ließe sich vertreten, dass der Anwendungsbereich des Art. 15 RL 2004/38/EG bei Maßnahmen nach Art. 35 RL 2004/38/EG im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug nicht berührt werde. Dies könnte daraus folgen, dass eine auf Art. 35 RL 2004/38/EG gestützte Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung ergehen kann.53 5.2.2.2.2. Argumente für eine Anwendbarkeit des Art. 15 RL 2004/38/EG auf Art. 35 RL 2004/38/EG - Wortlaut Diesem Befund lässt sich zunächst der Wortlaut des Art. 15 RL 2004/38/EG entgegenhalten, wonach unter das Kopplungsverbot ausdrücklich jede Entscheidung fällt, mit der eine Ausweisung verfügt wird und die nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen wird. Umgekehrt entfällt das Kopplungsverbot nur dann, wenn die Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erfolgt. Die Norm differenziert mithin nur zwischen Maßnahmen im Sinne der Art. 27 ff. RL 2004/38/EG und sonstigen Maßnahmen, nicht aber zwischen Maßnahmen wegen Rechtsmissbrauchs und sonstigen freizügigkeitsbeschränkenden Maßnahmen. - Systematische Auslegung In systematischer Hinsicht lässt sich anführen, dass Art. 15 RL 2004/38/EG Teil der Bestimmungen über das Aufenthaltsrecht ist, Art. 35 RL 2004/38/EG hingegen Teil der Schlussbestimmungen , die generalklauselartig die vorausgehenden Bestimmungen der Richtlinie ergänzen. Wird somit eine freizügigkeitsbeschränkende Maßnahme im Bereich des Aufenthaltsrechts (auch) auf Art. 35 RL 2004/38/EG gestützt, nicht aber zugleich auch auf Gründe der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit im Sinne des Kapitels VI der Richtlinie, so fällt sie unter den Entscheidungsbegriff gemäß Art. 15 Abs. 1 RL 2004/38/EG. Folglich findet auch das Kopplungsverbot des Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38/EG auf eine solche Maßnahme Anwendung. 53 Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage Nr. 35 in BT-Drs. 18/2481, S. 22. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 18 Für eine Anwendbarkeit des Art. 15 RL 2004/38/EG auf Art. 35 RL 2004/38/EG spricht zudem, dass Art. 35 RL 2004/38/EG sowohl von seinem Wortlaut als auch von seiner Stellung her umfassend auf die Bestimmungen der Richtlinie Anwendung finden kann. Der Normgehalt des Art. 35 RL 2004/38/EG ist nicht in einer Weise abschließend bestimmt, dass seine Anwendung nicht auch vom Kopplungsverbot des Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38/EG erfasst werden könnte. Schließlich spricht in systematischer Hinsicht für eine Wirkung des Art. 15 RL 2004/38/EG auf Art. 35 RL 2004/38/EG die Spezialität des Art. 15 RL 2004/38/EG aufgrund seiner Stellung im Kapitel III, wohingegen Art. 35 RL 2004/38/EG Teil der allgemeinen Schlussbestimmungen ist. Ein darüber hinausgehendes Spezialitätsverhältnis der Vorschriften zueinander dürfte hingegen schwerlich zu begründen sein. Art. 35 RL 2004/38/EG erfasst als Ermächtigungsgrundlage für Maßnahmen der Mitgliedstaaten alle Fälle von Rechtsmissbrauch oder Betrug. Art. 15 RL 2004/38/EG begrenzt hingegen die mitgliedstaatlichen Handlungsspielräume und erfasst hierfür alle Entscheidungen, die die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen beschränken und die nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen werden. Mit Blick auf die divergierenden Tatbestände und Wirkrichtungen der Normen bleibt uneindeutig, welcher der Tatbestände im Verhältnis zueinander spezieller ist. - Teleologische Auslegung Auch eine teleologische Auslegung der Richtlinienbestimmungen spricht für eine Anwendbarkeit des Kopplungsverbots aus Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38/EG auf Art. 35 RL 2004/38/EG. Vor dem Hintergrund, dass das Freizügigkeitsrecht ein grundlegendes Prinzip des Unionsrechts ist und die Bestimmungen der Richtlinie dem Ziel dienen, die Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu erleichtern und zu verstärken, sind die Bestimmungen, auf deren Grundlage die Freizügigkeit gewährt wird, weit auszulegen, während die Grundlagen für aufenthaltsbeendende oder aufenthaltsunterbindende Maßnahmen restriktiv zu handhaben und als Ausnahmen vom fundamentalen Grundsatz der Freizügigkeit eng auszulegen sind.54 Hieraus folgt für das Verhältnis der Art. 15 und 35 RL 2004/38/EG, dass Art. 35 RL 2004/38/EG als freizügigkeitsbeschränkende Norm eng, Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38/EG als freizügigkeitsabsichernde Norm hingegen weit auszulegen ist und mithin jede freizügigkeitsbeschränkende Maßnahme erfasst, mit der eine Ausweisung verfügt und die nicht aus den Gründen der Art. 27 ff. RL 2004/38/EG erlassen wird. Die Anwendung des Kopplungsverbots auf alle Ausweisungsentscheidungen, die nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen werden, hat zwar zur Folge, dass eine Ausweisung durch eine anschließende Wiedereinreisemöglichkeit weniger effektiv sein kann als eine gleichzeitig mit der Ausweisung verbundene Wiedereinreisesperre.55 Jenseits der rechtspolitischen Frage nach der Notwendigkeit effektiver Maßnahmen56 ist die Frage der Effekti- 54 Siehe oben unter 4. 55 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften , BT-Drs. 18/2581, S. 31. 56 Vgl. Thym, Unionsbürgerfreiheit und Aufenthaltsrecht, ZAR 2014, S. 220 (226). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 19 vität einer Maßnahme ist jedoch für sich genommen kein zwingender Grund für eine Beschränkung der Freizügigkeit.57 Zudem sind die Bestimmungen über die Freizügigkeit gerade darauf gerichtet , die Ausübung des Freizügigkeitsrechts zu ermöglichen und zu erleichtern. Dem entspricht die durch Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38/EG vorgegebene Rechtsfolge, da sich die Umstände, die die Einschränkung des Freizügigkeitsrechts einst rechtfertigten, jederzeit ändern können und die im Unionsrecht wurzelnde Freizügigkeit nur ohne Wiedereinreisesperre im konkreten Fall jederzeit neu aufleben kann.58 - Historische Auslegung Schließlich spricht auch die Entstehungsgeschichte der RL 2004/38/EG dafür, dass eine Maßnahme im Rahmen von Art. 35 RL 2004/38/EG, sofern sie nicht auch auf Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gestützt wird, in den Anwendungsbereich des Art. 15 RL 2004/38/EG fällt. Der ursprüngliche Richtlinienvorschlag der Kommission59 hat in Art. 24 bereits eine Bestimmung vorgesehen, die entsprechend Art. 15 RL 2004/38/EG in Abs. 1 Verfahrensgarantien gewährt und in Abs. 2 ein Kopplungsverbot statuiert. Dementsprechend konnte lediglich bei Ausweisungen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit die Ausweisungsentscheidung mit einem Einreiseverbot verbunden werden. Eine Vorschrift für Maßnahmen bei Rechtsmissbrauch oder Betrug war in dem ursprünglichen Richtlinienvorschlag nicht vorgesehen und wurde systematisch nicht in den Abschnitt der Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, sondern in die allgemeinen Schlussbestimmungen zugeordnet. Hieraus lässt sich schließen, dass die von Art. 35 RL 2004/38/EG angesprochenen Fälle von Rechtsmissbrauch oder Betrug auch, aber nicht zwingend , den Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit entsprechen müssen und die Norm des Art. 35 RL 2004/38/EG den mitgliedstaatlichen Handlungsspielraum für alle Entscheidungen im Rahmen der Richtlinie eröffnet. 5.2.2.3. Stellungnahme Angesichts des Wortlauts, der Systematik, des Zwecks und der Entstehungsgeschichte der Richtlinie sprechen überwiegende Gründe dafür, dass Art. 15 RL 2004/38/EG grundsätzlich dazu geeignet ist, den Anwendungsbereich von Art. 35 RL 2004/38/EG zu begrenzen. Dies hat nach hiesiger Ansicht zur Folge, dass eine Entscheidung nach Maßgabe des Art. 35 RL 2004/38/EG, die sich zugleich auf Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung stützen kann, nicht in den Anwendungsbereich des Art. 15 RL 2004/38/EG fällt und somit sowohl eine Ausweisung als auch eine Einreisesperre vorsehen kann. Stützt sich eine Entscheidung im Rahmen von Art. 35 RL 2004/38/EG hingegen lediglich auf Fälle des Rechtsmissbrauchs oder des Betrugs, die nicht zugleich auch Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellen, so fällt diese 57 Vgl. EuGH, Rs. 205/84 (Kommission/Deutschland), Rn. 54; EuGH, Rs. C-101/94 (Kommission/Italien), Rn. 22-24. 58 Vgl. Dienelt in: Renner/Bergmann/Dienelt Ausländerrecht, § 5 FreizügG/EU, Rn. 58 sowie EuGH, verb. Rs. 115/81 und 116/81 (Adoui und Cornuaille), Rn. 12. 59 KOM(2001) 257 endg. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 20 Maßnahme in den Anwendungsbereich des Art. 15 RL 2004/38/EG mit der Folge, dass zwar Ausweisungen wegen Missbrauchs oder Betrug durch Art. 35 RL 2004/38/EG gerechtfertigt sein können , diese jedoch nicht zugleich mit einem Wiedereinreiseverbot verbunden werden dürfen. 5.3. Zusammenfassung Da § 7 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU-E lediglich von den Fällen des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU und somit nicht auch auf eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit abstellt und zudem dem Wortlaut nach grundsätzlich auch bereits ein einmaliges Täuschen die projektierten Rechtsfolgen des § 7 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU-E auszulösen vermag, bestehen sowohl mit Blick auf den Anwendungsbereich des Art. 35 RL 2004/38/EG als auch hinsichtlich der Beschränkung durch Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38/EG Zweifel an der Vereinbarkeit des § 7 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU-E mit dem Unionsrecht. 6. Rechtfertigung des Eingriffs aus § 7 Abs. 2 S. 3 1. Alt. FreizügG/EU-E 6.1. Regelungsgehalt Gemäß § 7 Abs. 2 S. 3 1. Alt. FreizügG/EU-E soll Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, bei denen das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 7 festgestellt worden ist, untersagt werden, erneut in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten, wenn ein besonders schwerer Fall, insbesondere ein wiederholtes Vortäuschen des Vorliegens der Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt vorliegt. Da sich erst der zweite Halbsatz, der mit einem „oder“ eingeleitet wird, auf eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bezieht, ist im Umkehrschluss davon auszugehen, dass im ersten Halbsatz solche Fälle gemeint sind, die die öffentlichen Ordnung und Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigen. 6.2. Rechtfertigung Die in Art. § 7 Abs. 2 S. 3 1. Alt. FreizügG/EU-E vorgesehene Regeleinreisesperre beim Vorliegen eines besonders schweren Falles könnte durch Art. 35 RL 2004/38/EG gerechtfertigt sein. Gemäß der hiesigen Auffassung findet Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38/EG auf eine freizügigkeitsbeschränkende Entscheidung im Rahmen von Art. 35 RL 2004/38/EG Anwendung, sofern die tatbestandlichen Fälle des Rechtsmissbrauchs oder des Betrugs nicht zugleich auch Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellen. In diesen Fällen können zwar Ausweisungen wegen Missbrauchs oder Betrug durch Art. 35 RL 2004/38/EG gerechtfertigt sein. Diese dürfen jedoch nicht zugleich mit einem Wiedereinreiseverbot verbunden werden. Ist der tatbestandsbegründende Missbrauch oder Betrug hingegen von einer Qualität, die über den einfachen Verstoß gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften hinausgeht und eine tatsächliche und hinreichende Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt,60 so fällt eine Entscheidung nach 60 EuGH, Rs. 30/77 (Bouchereau), Rn. 33; EuGH, Rs. C-348/96 (Calfa), Rn. 21; EuGH, Rs. C-355/98 (Kommission /Belgien), Rn. 28. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 21 Maßgabe des Art. 35 RL 2004/38/EG nicht in den Anwendungsbereich des Art. 15 RL 2004/38/EG und kann somit sowohl eine Ausweisung als auch eine Einreisesperre vorsehen. Insofern stellt sich die Frage, wann insbesondere ein wiederholtes Vortäuschen des Vorliegens der Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt eine hinreichende Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Unter Berücksichtigung der Freizügigkeit als grundlegendes Prinzip des Unionsrechts dürfte eine mehrfache Täuschung oder strafrechtliche Verurteilung für sich genommen schwerlich ausreichen, um eine solche Gefahr zu begründen.61 Vielmehr muss einerseits eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.62 Wenn das Recht auf Freizügigkeit missbraucht oder auf betrügerische Weise erlangt wird, hängt es von der Schwere der Straftat ab, ob davon auszugehen ist, dass die betreffende Person eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, was eine Ausweisung und unter Umständen ein Wiedereinreiseverbot rechtfertigen kann.63 Insoweit bedarf es einer konkreten Prüfung im Einzelfall, ob das wiederholte Vortäuschen gemeinsam mit dem persönlichen Verhalten des jeweiligen Unionsbürgers von einer Qualität ist, die eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und damit auch eine auf Art. 35 RL 2004/38/EG gestützte Wiedereinreisesperre zu rechtfertigen vermag. 6.3. Zusammenfassung Die in Art. § 7 Abs. 2 S. 3 1. Alt. FreizügG/EU-E vorgesehene Regeleinreisesperre beim Vorliegen eines besonders schweren Falles kann grundsätzlich auf Art. 35 RL 2004/38/EG gestützt werden und damit den Eingriff in das Freizügigkeitsrecht rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass Art. 35 RL 2004/38/EG nicht in den Anwendungsbereich des Art. 15 RL 2004/38/EG fällt. Das wiederum setzt voraus, dass sich insbesondere das von Art. § 7 Abs. 2 S. 3 1. Alt. FreizügG/EU-E als Regelbeispiel in den Blick genommene wiederholte Vortäuschen im konkreten Einzelfall sowohl im Hinblick auf die schwere des Rechtsverstoßes als auch hinsichtlich der persönlichen Vorwerfbarkeit als Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. 7. Rechtfertigung des Eingriffs aus § 7 Abs. 2 S. 3 2. Alt. FreizügG/EU-E 7.1. Regelungsgehalt Gemäß § 7 Abs. 2 S. 3 2. Alt. FreizügG/EU-E soll Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, bei denen das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 7 festgestellt worden ist, untersagt werden, erneut in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten, wenn ihr Aufenthalt die öffentliche Ordnung und Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland in erheblicher Weise beeinträchtigt. 61 KOM (2013) 837 endg. S. 10; EuGH, Rs. C-349/06 (Polat) Rn. 39. 62 EuGH, Rs. C-50/06 (Kommission/Niederlande) Rn. 43; EuGH, Rs. 36/75 (Rutili) Rn. 28. 63 KOM (2009) 313 endg. S. 11. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 22 7.2. Rechtfertigung Die in § 7 Abs. 2 S. 3 2. Alt. FreizügG/EU-E vorgesehene Regeleinreisesperre beim Vorliegen einer erheblichen Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland könnte durch Art. 35 RL 2004/38/EG gerechtfertigt sein. Indem der Tatbestand des Art. § 7 Abs. 2 S. 3 2. Alt. FreizügG/EU-E auf Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung aufbaut, findet Art. 15 RL 2004/38/EG keine Anwendung, so dass die vorgesehene Regeleinreisesperre grundsätzlich durch Art. 35 RL 2004/38/EG gerechtfertigt ist. Darüber hinaus erfordert eine unionsrechtskonforme Beschränkung der Freizügigkeit durch § 7 Abs. 2 S. 3 2. Alt. FreizügG/EU-E, dass bei der Bestimmung der konkreten Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die autonome unionsrechtliche Definition maßgeblich berücksichtigt wird.64 Zudem erfordert ein unionsrechtlich gerechtfertigter Eingriff in das Freizügigkeitsrecht , dass die tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft auf dem persönlichen Verhalten des Unionsbürgers beruhen muss und beispielweise nicht automatisch an eine strafrechtliche Verurteilung geknüpft wird.65 8. Verhältnismäßigkeit Sofern jedenfalls die Wiedereinreisesperren gemäß § 7 Abs. 2 S. 3 FreizügG/EU-E dem Grunde nach unionsrechtlich gerechtfertigt sind, stellt sich abschließend die Frage, ob die darin vorgesehene Regelausweisung mit dem Unionsrecht und insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.66 Dem Wortlaut nach soll die zuständige Behörde im Regelfall eine Wiedereinreisesperre verhängen. Wegen der besonderen Bedeutung des Freizügigkeitsrechts erfordert ein besonders schwerer Eingriff wie der einer Wiedereinreisesperre jedoch, dass ein durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strukturierter Ermessensspielraum bei Einschränkungen des Freizügigkeitsrechts besteht und immer eine Einzelfallprüfung bzw. individuelle Abwägung durchgeführt wird.67 Dies gilt auch bei Entscheidungen im Rahmen von Art. 35 RL 2004/38/EG, da die hier genannten Maßnahmen individuelle Maßnahmen sind, die eine systematische Aussetzung der durch die Richtlinie verliehenen Rechte nicht rechtfertigt.68 Diese Abwägungsentscheidung dürfte sich auch nicht auf die Vorstufe des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU vorverlagern lassen, da die dort zu treffende Entscheidung eine Tatsachenfrage ist, während erst auf der Rechtsfolgen- 64 Siehe hierzu oben 5.1.1.1. Zu der – nicht die Unionsrechtskonformität der Bestimmung berührenden – Frage, ob nicht bereits mit den § 2 Abs. 7 und § 6 FreizügG/EU diese Fälle abschließend geregelt sind vgl. Brinkmann. Zehn Jahre Freizügigkeitsgesetz. ZAR 2014, 213, S. 216. 65 KOM (2009) 313 endg., S. 11 f.; EuGH, Rs. 67/74 (Bonsignore) Rn 5 ff.; EuGH, Rs. 30/77 (Bouchereau) Rn. 27/28. 66 EuGH, Rs. 205/84 (Kommission/Deutschland), Rn. 54; EuGH, Rs. C-101/94 (Kommission/Italien), Rn. 22-24; EuGH, Rs. C-145/09 (Tsakouridis), Rn. 53. 67 EuGH, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01 (Orfanopoulos und Oliveri), Rn. 95; EuGH, Rs. C-367/96 (Kefalas), Rn. 28; KOM (2009) 313 endg. S. 11 ff. 68 Zur Anwendung von Art. 35 RL 2004/38/EG vgl. GA Szpunar, Schlussanträge zu Rs. C-202/13 (McCarthy), Rn. 125. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 201/14 Seite 23 seite in § 7 Abs. 2 S. 3 FreizügG/EU-E ein Entschließungsermessen vorgesehen ist. Für eine Berücksichtigung einer einzelfallbezogenen und damit verhältnismäßigen Entscheidung spricht der Umstand, dass in § 7 Abs. 2 S. 4 FreizügG/EU-E ausdrücklich die entsprechenden Bestimmungen des FreizügG/EU für anwendbar erklärt werden. Bedenken gegen die Verhältnismäßigkeit einer Wiedereinreisesperre gemäß § 7 Abs. 2 S. 3 Freizüg G/EU-E könnten sich schließlich daraus ergeben, dass die Schutzklauseln gem. Art. 28 Abs. 2 und 3 RL 2004/38/EG nicht ausdrücklich auf die neuen Eingriffsmöglichkeiten Anwendung finden . Danach werden Daueraufenthaltsberechtigte69 und Minderjährige dadurch geschützt, dass eine Ausweisung – und a minori ad maius auch eine daran gekoppelte Wiedereinreisesperre – nur aus schwerwiegenden bzw. zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erfolgen darf. Diese Vorgaben wurden zwar in § 6 Abs. 4 und 5 FreizügG/EU für die Fälle des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU umgesetzt. § 7 Abs. 2 S. 4 FreizügG/EU-E verweist hingegen nur auf § 6 Abs. 3, 6 und 8 FreizügG/EU. Ohne eine Berücksichtigung des durch Art. 28 Abs. 2 und 3 RL 2004/38/EG auch bei Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gewährten Schutzes könnte sich eine entsprechende Wiedereinreisesperre als unverhältnismäßig darstellen. Zudem bestünde die Gefahr, dass der Schutz von Minderjährigen und Daueraufenthaltsberechtigten dadurch umgangen werden könnte, dass eine Ausweisung und ein Wiedereinreiseverbot gegenüber Personen dieser Gruppen auf § 7 Abs. 2 S. 3 FreizügG/EU-E anstatt auf § 6 Abs. 1 Freizüg G/EU i.V.m. § 7 Abs. 2 S. 1 FreizügG/EU gestützt wird. 9. Zusammenfassung Da § 7 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU-E lediglich von den Fällen des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU und somit nicht auch auf eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit abstellt und zudem dem Wortlaut nach grundsätzlich auch bereits ein einmaliges Täuschen die projektierten Rechtsfolgen des § 7 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU-E auszulösen vermag, bestehen sowohl mit Blick auf den Anwendungsbereich des Art. 35 RL 2004/38/EG als auch hinsichtlich der Beschränkung durch Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38/EG Zweifel an der Vereinbarkeit des § 7 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU-E mit dem Unionsrecht.70 § 7 Abs. 2 S. 3 1. Alt. FreizügG/EU-E kann hingegen grundsätzlich auf Art. 35 RL 2004/38/EG gestützt und der Eingriff in das Freizügigkeitsrecht dadurch gerechtfertigt werden. Dies setzt jedoch voraus, dass Art. 35 RL 2004/38/EG nicht in den Anwendungsbereich des Art. 15 RL 2004/38/EG fällt. Das wiederum setzt voraus, dass sich insbesondere das von Art. § 7 Abs. 2 S. 3 1. Alt. Freizüg G/EU-E als Regelbeispiel in den Blick genommene wiederholte Vortäuschen im konkreten Einzelfall sowohl im Hinblick auf die schwere des Rechtsverstoßes als auch hinsichtlich der persönlichen Vorwerfbarkeit als Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Die in § 7 Abs. 2 S. 3 2. Alt. FreizügG/EU-E vorgesehene Regeleinreisesperre ist grundsätzlich mit dem Unionsrecht vereinbar . - Fachbereich Europa - 69 Vgl. hierzu EuGH, Rs. C-378/12 (Onuekwere), Rn. 24 f. 70 Vgl. Dienelt, Stellungnahme in der Öffentlichen Anhörung des Innenausschusses vom 13. Oktober 2014.