© 2016 Deutscher Bundestag PE 6 -3000 – 184/14 Europarechtliche Spielräume zur Befragung und Auskunftspflicht nach § 22 Abs. 1a BPolG Sachstand Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Sachstand PE 6-3000-184/14 Seite 2 Europarechtliche Spielräume zur Befragung und Auskunftspflicht nach § 22 Abs. 1a BPolG Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 184/14 Abschluss der Arbeit: 22. Oktober 2014 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6-3000-184/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Prüfungsgegenstand und Prüfungsmaßstab 4 2.1. Freizügigkeit als Prüfungsmaßstab für Maßnahmen zur Sicherung der Binnengrenze 4 2.2. Möglichkeiten der Durchführung von Personenkontrollen bei Grenzübertritt nach dem Schengener Grenzkodex 5 3. Ergebnis 8 Fachbereich Europa Sachstand PE 6-3000-184/14 Seite 4 1. Fragestellung Der Fachbereich Europa wird um Beantwortung folgender Frage ersucht: „Ist § 22 Absatz 1a BPolG mit europarechtlichen Vorschriften wie dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union oder dem Schengener Grenzkodex mit dem Grundgesetz vereinbar?“ Nachfolgend wird die Vereinbarkeit vorstehender Regelung mit dem Recht der Europäischen Union untersucht. 2. Prüfungsgegenstand und Prüfungsmaßstab § 22 Abs. 1a BPolG hat folgenden Wortlaut: „Zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet kann die Bundespolizei in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes (§ 3), soweit auf Grund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung anzunehmen ist, daß diese zur unerlaubten Einreise genutzt werden, sowie in einer dem Luftverkehr dienenden Anlage oder Einrichtung eines Verkehrsflughafens (§ 4) mit grenzüberschreitendem Verkehr jede Person kurzzeitig anhalten, befragen und verlangen, daß mitgeführte Ausweispapiere oder Grenzübertrittspapiere zur Prüfung ausgehändigt werden, sowie mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen.“ Die in § 22 Abs. 1a BPolG normierte Kontrolle und Dokumentenvorlagepflicht im grenzüberschreitenden Verkehr unterliegt den Vorgaben vorrangigen europäischen Rechts. Dazu sollen zunächst die europarechtlichen Prüfungsmaßstäbe dargestellt und anhand dieser die Vereinbarkeit des § 22 Abs. 1a BPolG hiermit geprüft werden. 2.1. Freizügigkeit als Prüfungsmaßstab für Maßnahmen zur Sicherung der Binnengrenze Nach Art. 21 Abs. 1 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Nach Art. 45 Abs. 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) haben Unionsbürgerinnen und Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Nach Art. 45 Abs. 2 GRCh kann Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates aufhalten, nach Maßgabe der Verträge Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit gewährt werden. Die in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Schranken für die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit begrenzen mit Blick auf Art. 52 Abs. 2 GRCh auch das in Art. 45 Abs. 1 GRCh gewährleistete Freizügigkeitsrecht.1 1 Magiera, in: Meyer (Hg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 45 Rn. 11 Fachbereich Europa Sachstand PE 6-3000-184/14 Seite 5 Weitere unionsrechtliche Regelungen sehen darüber hinaus im Grundsatz vor, dass an den Binnengrenzen keine Grenzkontrollen stattfinden. Nach Art. 67 Abs. 2 AEUV stellt die Union „sicher, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden…“. Nach Art. 77 Abs. 1 a) AEUV muss die Union mit der von ihr zu entwickelnden Politik sicherstellen, „dass Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit nicht kontrolliert werden.“ Aus der Freizügigkeits-Richtlinie ließe sich hingegen auf sekundärrechtlicher Ebene keine Beschränkung von Personenkontrollen ableiten. Die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen , sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei bewegen und aufzuhalten (Freizügigkeits -RL)2, konkretisiert das Recht auf Ausreise und Einreise von Unionsbürgern und ihrer Familienangehörigen sowie deren Aufenthaltsrecht. Die Freizügigkeits-RL weist nur den Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt zu. Kontrollen und Überprüfungen werden durch diese Richtlinie nicht ausgeschlossen. Ein- und Ausreise stehen bereits unter dem Vorbehalt der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften (Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 Freizügigkeits-RL). Kontrollen während des Aufenthalts werden durch die Freizügigkeits-RL nicht ausgeschlossen, da diese keine Beschränkungen des Aufenthaltsrechts darstellen sondern der Feststellung der Rechtmäßigkeit des jeweiligen Aufenthalts dienen. 2.2. Möglichkeiten der Durchführung von Personenkontrollen bei Grenzübertritt nach dem Schengener Grenzkodex Gemäß Art. 20 Schengener Grenzkodex3 dürfen die Binnengrenzen „unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden .“ Die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen im Schengenraum schließt polizeiliche Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebietes nicht aus. Polizeiliche Befugnisse nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaates bleiben prinzipiell möglich, auch in Grenzgebieten (Art. 21 lit. a) Satz 1 2. HS Schengener Grenzkodex). Sie dürfen aber nicht in gleicher Weise wirken wie Grenzübertrittskontrollen . Art. 21 lit. a) Satz 2 Schengener Grenzkodex nennt – nicht abschließend - 2 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten , zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG vom 29.04.2004, ABl. L 158/77 3 Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl. L 105/1, online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/?qid=1413897822709&uri=CELEX:32006R0562 Fachbereich Europa Sachstand PE 6-3000-184/14 Seite 6 polizeiliche Maßnahmen, die nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt sein sollen. Hiernach sind mithin solche polizeilichen Maßnahmen der Mitgliedstaaten prinzipiell zulässig, die keine Grenzkontrollen zum Ziel haben auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden. Im Umkehrschluss zu Art. 21 lit. a) Satz 1 2. HS Schengener Grenzkodex wären demgemäß systematische Personenkontrollen, so wie sie an den Außengrenzen durchgeführt werden, an den Binnengrenzen der Schengenstaaten unzulässig. Solche wären nur bei Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen zulässig, was aber nach Art. 22 Abs. 1 Schengener Grenzkodex eine schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit voraussetzte und auch nur eine zeitlich begrenzte Grenzkontrolle zuließe. An den Binnengrenzen der Schengenstaaten sind – wie bereits dargelegt - Maßnahmen generell unzulässig, die die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben. Damit stellt sich die Frage, wie die an sich zulässige Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten von unzulässigen Grenzübertrittskontrollen abzugrenzen sind. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat in seiner Entscheidung vom 22.06.20104 in der Rechtssache Melki dazu festgestellt, dass solche Regelungen im Polizeirecht der Mitgliedstaaten Art. 21 lit a) Satz 1 2. HS Schengener Grenzkodex) unvereinbar sind, „die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, in einem Gebiet mit einer Tiefe von 20 km entlang der Landgrenze dieses Staates zu den Vertragsstaaten des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, zu kontrollieren, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen, ohne dass diese Regelung den erforderlichen Rahmen für diese Befugnis vorgibt, der gewährleistet, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann.“ Nach dieser Entscheidung sind verhaltensunabhängige systematische Personenkontrollen in einer Tiefe von 20 km entlang der Binnengrenzen des Schengenraumes unzulässig, weil sie nach 4 RS C-188/10 und C-189/10 Fachbereich Europa Sachstand PE 6-3000-184/14 Seite 7 Ansicht des EuGH die gleiche Wirkung hätten wie Grenzkontrollen. Mit dem Schengener-Grenzkodex wird deutlich, dass die Staaten des Schengenraumes mit der Abschaffung der Grenzkontrollen nicht mehr die Möglichkeit haben, systematische Kontrollen an den Binnengrenzen der EU durchzuführen.5 Unionsrechtlich wird damit eine Grenze für systematische polizeiliche Kontrollen im grenznahen Bereich gezogen, nicht aber jenseits dieses Bereichs ausgeschlossen.6 Identitätskontrollen im Hinterland werden nach Art. 21 lit. a) Schengener Grenzkodex zugelassen und nicht als europarechtswidrig angesehen7, da sie – unabhängig von Intensität und Eingriffstiefe - nicht als Grenzkontrolle gelten. Diese Abgrenzung zulässiger Ausübung polizeilicher Befugnisse von unzulässigen Grenzübertrittskontrollen hat der EuGH in seiner Entscheidung vom 19. Juli 2012 in der Rechtssache Adil8 bestätigt. Personenkontrollen werden hiernach als mit dem Schengener Grenzkodex vereinbar angesehen, wenn diese Kontrollen auf allgemeinen Informationen und Erfahrungen im Zusammenhang mit dem illegalen Aufenthalt von Personen an den Orten der Kontrollen beruhen, wenn sie in begrenztem Umfang auch zu dem Zweck durchgeführt werden dürfen, solche allgemeinen Informationen und Daten über die Erfahrung in diesem Bereich zu erlangen, und wenn ihre Durchführung bestimmten Beschränkungen insbesondere hinsichtlich ihrer Intensität und Häufigkeit unterliegt.9 Mit Blick auf diese Deutung des Schengener Grenzkodexes durch die europäische Rechtsprechung spricht viel für die Annahme, dass die Regelung in § 22 Abs. 1 a BPolG mit Art. 21 lit. a) Schengener Grenzkodex vereinbar ist. Der Normbereich des in § 22 Abs. 1 a BPolG ermächtigt nicht zwingend zur Durchführung systematischer, Grenzübertrittskontrollen gleich stehender Personenkontrollen. Art. 21 lit. a) Schengener Grenzkodex verbietet die Ausübung solcher polizeilicher Befugnisse, die die Wirkung wie Grenzübergangskontrollen haben, nicht aber die gesetzliche Ermächtigung hierzu, so dass ohnehin eine Unvereinbarkeit einer polizeiliche Ermächtigungsnorm mit vorstehender Regelung des Schengener Grenzkodexes von vornherein ausgeschlossen wäre.10 Die Ausübung der durch § 22 Abs. 1a BPolG vorgesehenen Befugnisse darf allerdings nur innerhalb der durch Art. 21 lit a) Schengener Grenzkodex vorgezeichneten Grenzen erfolgen. Die Ausübung polizeilichen Maßnahmen nach Art. 21 lit a) Satz 2 Schengener Grenzkodex darf keine Grenzkontrollen zum Ziel haben muss auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen 5 Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 358 6 Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 77 AEUV, Rn. 42 7 Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 225 8 EuGH, Rs. C-278/12 (Adil), Urt. V. 19.07.2012 9 EuGH, Rs. C-278/12 (Adil), Urt. V. 19.07.2012, Rn. 88 10 Vgl. dazu Trennt, DÖV 2012, S. 216 (218) Fachbereich Europa Sachstand PE 6-3000-184/14 Seite 8 muss in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet, und muss auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden. 3. Ergebnis Gründe, die für eine Unvereinbarkeit des § 22 Abs. 1 a BPolG mit europäischen Primär- und Sekundarrecht sprechen, sind nicht ersichtlich. Die Ausübung der durch § 22 Abs. 1a BPolG vorgesehenen Befugnisse darf allerdings nur innerhalb der durch Art. 21 lit a) Schengener Grenzkodex vorgezeichneten Grenzen erfolgen. Die Ausübung von polizeilichen Maßnahmen nach Art. 21 lit a) Satz 2 Schengener Grenzkodex • darf keine Grenzkontrollen zum Ziel haben • muss auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen • muss in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet, und • muss auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden. - Fachbereich Europa -