Deutscher Bundestag Möglichkeiten des freiwilligen Ausscheidens bzw. des Ausschlusses eines Mitgliedstaats aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 11 – 3000 – 178/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 2 Möglichkeiten des freiwilligen Ausscheidens bzw. des Ausschlusses eines Mitgliedstaats aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion Aktenzeichen: WD 11 – 3000 – 178/11 Abschluss der Arbeit: 10. November 2011 Fachbereich: WD 11: Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Hintergrund 4 2.1. Die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion 4 2.2. Teilnahme an der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion – die Konvergenzkriterien 8 3. Ausscheiden eines Mitgliedstaats aus der Europäischen Union gemäß Art. 50 des Vertrags über die Europäische Union 9 4. Freiwilliges Ausscheiden aus der dritten Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion/Eurozone? 10 4.1. Ausscheiden im Konsens 11 4.2. Einseitiges Ausscheiden 13 4.2.1. Unionsrechtliche Zulässigkeit eines einseitigen Ausscheidens 13 4.2.2. Auffassung des Bundesverfassungsgerichts im Maastricht-Urteil 15 4.2.3. Modelle eines einseitigen Ausscheidens 16 4.2.3.1. Einseitiges Ausscheiden als Minus gegenüber dem Vollaustritt aus der EU nach Art. 50 des Vertrags über die Europäische Union? 16 4.2.3.2. Einseitiges Ausscheiden aufgrund völkerrechtlicher Bestimmungen? 17 4.2.3.2.1. Anwendbarkeit völkerrechtlicher Bestimmungen? 18 4.2.3.2.2. Clausula Rebus Sic Stantibus (Art. 62 Wiener Vertragsrechtskonvention) 19 4.2.4. Faktisches Ausscheiden eines Mitgliedstaats 21 5. Ausschluss eines Mitgliedstaats aus der Europäischen Union bzw. der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion? 22 6. Zusammenfassung 23 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 4 1. Einleitung Seit Ausbruch der Staatsschuldenkrise in der Euro-Zone wird in Politik, Rechtswissenschaft und Medien zum einen über die Möglichkeiten diskutiert, einen Mitgliedstaat gegen seinen Willen aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), d. h. der Eurozone, auszuschließen . Zum anderen wird darüber nachgedacht, unter welchen Bedingungen ein Mitgliedstaat freiwillig den gemeinsamen Währungsraum verlassen kann. Mit der später wieder zurückgenommenen Ankündigung des griechischen Ministerpräsidenten Giorgios Papandreou, eine Volksabstimmung über die Beschlüsse des Euro-Gipfels vom 26. und 27. Oktober für ein sog. zweites Griechenlandpaket abhalten zu wollen, ist diese Frage erneut virulent geworden – hätte doch bei einem ggf. negativen Ergebnis der Volksabstimmung als letzte wirtschaftliche Option ggf. nur der Austritt aus der Eurozone im Raum gestanden.1 Diese Ausarbeitung beschäftigt sich ausschließlich mit der rechtlichen Zulässigkeit eines Austritts bzw. Ausschlusses eines Mitgliedstaats aus der Eurozone. Sie geht nicht auf die technischpraktischen und ökonomischen Hinderungsgründe und Folgen für einen solchen Schritt ein. 2 Im Folgenden wird zunächst ein allgemeiner Überblick über die dritte Stufe der WWU gegeben, sodann wird die rechtliche Zulässigkeit eines einvernehmlichen und eines einseitigen Ausscheidens aus der dritten Stufe der WWU diskutiert. Abschließend wird der Frage nachgegangen, ob eine rechtliche Möglichkeit existiert, einen Mitgliedstaat auch gegen seinen Willen aus der Europäischen Union (EU) bzw. dem Euro-Währungsgebiet auszuschließen. 2. Hintergrund 2.1. Die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion3 Die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die auch eine stabile einheitliche Währung umfasst, gehört seit dem Vertrag von Maastricht, der zum 1. Januar 1993 in Kraft trat, zu den vorrangigen Zielen der EU. Der WWU liegen die Prinzipien stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz zugrunde, auf die sich die Mitgliedstaaten der EU mit Vertragsschluss verständigten. 1 S. z. B. Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 2. November 2011, „Merkel und Sarkozy pochen auf Einhaltung der Brüsseler Beschlüsse“; Artikel in der Süddeutschen Zeitung (SZ) vom 2. November 2011, „Euro-Dämmerung in Hellas“. 2 S. hierzu z. B. Herrmann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413 (417); Herdegen , Die Währungsunion als dauerhafte Rechtsgemeinschaft, in: Deutsche Bank Research (Hrsg.), EWU-Monitor Nr. 52 vom 22.6.1998, online abrufbar unter: http://www.dbresearch.de/PROD/DBR_INTERNET_DE- PROD/PROD0000000000011059.pdf (letzter Abruf. 7.11.2011); Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S.39 ff., online abrufbar unter: http://www.ecb.int/pub/pdf/scplps/ecblwp10.pdf (letzter Abruf: 8.11.2011). 3 Die folgenden Ausführungen sind im Wesentlichen der Ausarbeitung , Modelle für das Ausscheiden eines Teilnehmerstaates der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, WD 11 – 3000 – 63/10, entnommen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 5 Die WWU stellt sich als dreistufiger Prozess der Harmonisierung der Wirtschafts- und Währungspolitik der Mitgliedstaaten dar, mit dem am Ende die Einführung des Euro als gemeinsame Währung ermöglicht werden soll. Während der ersten Stufe, die den Zeitraum bis zum 31. Dezember 1993 umfasste, wurde der Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten liberalisiert, die Mitgliedstaaten stimmten ihre Wirtschaftspolitiken enger ab und die Zentralbanken der Mitgliedstaaten verstärkten ihre Zusammenarbeit. Nach der Ratifizierung des Vertrags von Maastricht begann zum 1. Januar 1994 die zweite Stufe der WWU. Sie diente als Übergangsphase der direkten Vorbereitung auf die Einführung der gemeinsamen Währung. Mit dem Ziel der Sicherung der Preisstabilität und der Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite wurden Kriterien für die Konvergenz der nationalen Wirtschafts- und Währungspolitiken entwickelt. Zugleich wurden Mechanismen etabliert, mit denen zunächst die Erfüllung dieser Kriterien abgesichert und später ihre dauerhafte Einhaltung überwacht werden konnte: die Koordinierung der nationalen Wirtschafts- und Haushaltspolitiken und das Verfahren bei übermäßigem öffentlichen Defizit. Um diese zu garantieren, schlossen die Mitgliedstaaten 1997 den sog. Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP)4, in dem die im Primärrecht vorgesehenen Instrumente der Koordinierung und das Defizitverfahren präzisiert wurden. Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich, übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden und mittelfristig einen nahezu ausgeglichenen oder Überschüsse aufweisenden Haushalt zu erreichen. Mit Beginn der dritten Stufe der WWU zum 1. Januar 1999 wurden die Wechselkurse der Währungen der Mitgliedstaaten5 unwiderruflich festgelegt, in denen an demselben Tage die gemeinsame Währung (Euro) eingeführt wurde. Betraf diese Währungseinführung zunächst nur die Devisenmärkte sowie den elektronischen Zahlungsverkehr, trat der Euro zum 1. Januar 2002 auch als Bargeld an die Stelle der Währungen dieser Mitgliedstaaten. Vier der seinerzeit 15 Mitgliedstaaten der EU nahmen nicht an der dritten Stufe der WWU teil: auf Dänemark und das Vereinigte Königreich fanden zwei Ausnahmeklauseln6 des Vertrags von Maastricht Anwendung, mit denen sie von der Teilnahme an der dritten Stufe der WWU befreit sind. Griechenland und Schweden erfüllten den Konvergenzberichten der Europäischen Kommission 4 Der ursprünglich als völkerrechtlicher Vertrag („Pakt“) zwischen den Mitgliedstaaten der EU konzipierte und schließlich sekundärrechtlich kodifizierte SWP besteht formal aus der Entschließung des Europäischen Rates vom 17. Juni 1997 und den Verordnungen des Rates (EG) 1466/977 sowie (EG) 1467/978, die beide zum 1. Januar 1999 in Kraft traten. Beide Verordnungen wurden mit Erlass der Verordnungen des Rates (EG) Nr. 1055/2005 sowie (EG) Nr. 1056/2005 am 27. Juni 2005 mit Wirkung vom 27. Juli 2005 geändert. Die Verordnungen sind jüngst erneut geändert worden. Am 28. September 2011 hat das Europäische Parlament einen Standpunkt festgelegt im Hinblick auf den Erlass einer Änderungsverordnung betreffend die Verordnung 1467/97; der Rat billigte die Änderungen am 4. Oktober 2011, http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=- //EP//TEXT+TA+P7-TA-2011-0425+0+DOC+XML+V0//DE&language=DE#BKMD-22 (letzter Abruf: 9.11.2011). 5 Vom 1. Januar 1999 an nahmen Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Österreich , die Niederlande, Portugal und Spanien an der dritten Stufe der WWU teil. 6 Das sog. Opt-Out Dänemarks ist Gegenstand des dem Vertrag von Maastricht beigefügten Protokolls (Nr. 14) über einige Bestimmungen betreffend Dänemark. Es garantiert Dänemark, dass der Übergang zur dritten Stufe der WWU nicht automatisch erfolgt, selbst wenn die Bedingungen dafür erfüllt sind. Nach der dänischen Verfassung muss über die Teilnahme an der dritten Stufe der WWU eine Volksabstimmung durchgeführt werden. Das Protokoll (Nr. 25) über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland enthält die Opt-out-Regelung für das Vereinigte Königreich. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 6 (Kommission) und des Europäischen Währungsinstituts7 vom 25. März 1998 zufolge die Bedingungen für die Einführung der gemeinsamen Währung zu diesem Zeitpunkt nicht.8 Mit der Entscheidung 98/317/EG des Rates vom 3. Mai 1998 gemäß Art. 109j Abs. 4 EGV verwehrte der Rat Griechenland und Schweden die Einführung der gemeinsamen Währung und gewährte beiden Staaten Ausnahmeregelungen gemäß Art. 109k EGV in der Fassung des Vertrags von Amsterdam (Art. 122 EGV in der Fassung des Vertrags von Nizza), die insbesondere ein Ruhen des Stimmrechts dieser Staaten im Rat bei bestimmten Entscheidungen vorsieht, die die WWU betreffen. Am 9. März 2000 beantragte Griechenland die Aufhebung der Ausnahmeregelung gemäß Art. 109k EGV, woraufhin die Kommission und die EZB mit ihren Untersuchungen hinsichtlich der Erfüllung der Konvergenzkriterien begannen. Auf der Grundlage der Konvergenzberichte der Kommission vom 3. Mai 20009 und der EZB vom 28. April 200010 gelangte der Rat in seiner Entscheidung vom 19. Juni 200011 zu der Feststellung, dass Griechenland die Konvergenzkriterien erfüllt.12 Der Rat beschloss, die aufgrund seiner Entscheidung 98/317/EG vom 3. Mai 1998 geltende Ausnahmeregelung zum 1. Januar 2001 aufzuheben und machte damit den Weg frei für die Einführung der gemeinsamen Währung in Griechenland.13 7 Das EWI ist der institutionelle Vorläufer der EZB. 8 Griechenland erfüllte keines der für die Teilnahme an der dritten Stufe der WWU erforderlichen Konvergenzkriterien ; Schweden verfehlte eines dieser Kriterien. Die Inflationsrate in Griechenland lag mit 5,2 % über dem erforderlichen Referenzwert. Die Entscheidung des Rates vom 26. September 1994 über das Bestehen eines übermäßigen öffentlichen Defizits war zu diesem Zeitpunkt nicht aufgehoben. Die griechische Währung nahm im Referenzzeitraum bis einschließlich Februar 1998 nicht am Wechselkursmechanismus teil. Der durchschnittliche langfristige Zinssatz in Griechenland lag im Beobachtungszeitraum mit 9,8 % über dem Referenzwert. Schweden verletzte durch seine Nichtteilnahme am Wechselkursmechanismus das entsprechende Konvergenzkriterium . Vgl. Entscheidung 98/317/EG des Rates vom 3. Mai 1998, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/Lex UriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:1998:139:0030:0035:DE:PDF (letzter Abruf: 9.11.2011). 9 Kommission, Vorschlag für eine Entscheidung des Rates gemäß Art. 122 Abs. 2 EGV, KOM(2000) 274, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2000:248E:0124:0125:DE:PDF (letzter Abruf : 9.11.2011). 10 EZB, Konvergenzbericht 2000, abrufbar unter: http://www.ecb.int/pub/pdf/conrep/cr2000de.pdf (letzter Abruf: 9.11.2011) 11 Entscheidung 2000/427/EG des Rates vom 19. Juni 2000 gemäß Art. 122 Abs. 2 EGV, abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2000:167:0019:0021:DE:PDF (letzter Abruf: 9.11.2011). 12 Die Inflationsrate lag im Prüfungszeitraum mit 2 % unter dem Referenzwert von 2,4 %. Eine Ratsentscheidung über das Bestehen eines übermäßiges öffentliches Defizit lag nicht mehr vor; das Verhältnis des jährlichen öffentlichen Defizits zum BIP unterschritt den Referenzwert von 3 % und der öffentliche Schuldenstand im Verhältnis zum BIP näherte sich rasch genug dem Referenzwert von 60 %. Weiterhin nahm Griechenland seit März 1998 am Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems teil, ohne den Leitkurs seiner Währung abzuwerten. Schließlich erfüllte Griechenland das Kriterium des langfristigen Zinssatzes, da der Zinssatz im Referenzzeitraum 6,4 % betragen und damit den festgelegten Referenzwert von 7,2 % unterschritten habe. Darüber hinaus waren die innerstaatlichen Rechtsvorschriften Griechenlands einschließlich der Satzung der nationalen Zentralbank mit dem Vertrag sowie mit der Satzung des ESZB vereinbar. 13 Für einen Überblick über den Weg Griechenlands in die dritte Stufe der WWU und die in diesem Zusammenhang aufgedeckten fehlerhaften statistischen Daten zur Beurteilung des Defizitkriteriums vgl. Griechenlands Teilnahme an der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, Wissenschaftliche Dienste des Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 7 Die griechische Regierung gab am 21. September 2004 bekannt, dass die von Griechenland an die Kommission gemeldeten statistischen Daten zur Ermittlung des jährlichen öffentlichen Defizits für die Jahre 2000 bis 2003 nicht zutreffend waren. Daraufhin forderte der Rat Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN) am 21. Oktober 2004 die Kommission auf, einen ausführlichen Bericht über die Daten zu Defizit und Schuldenstand Griechenlands für den Zeitraum ab 1997 vorzulegen.14 Den am 15. November 2004 veröffentlichten Ausführungen des Statistischen Amts der EU (EUROSTAT) zufolge hatte Griechenland auch in den Jahren 1997 bis 1999 unzutreffende Daten über das jährliche öffentliche Defizit an die Kommission gemeldet. Das tatsächliche öffentliche Defizit hatte in jedem dieser Jahre deutlich über dem Referenzwert von 3 % des BIP gelegen (1997: 6,4 % statt der gemeldeten 4,0 %; 1998: 4,1 % statt 2,5 %; 1999: 3,4 % statt 1,8 %).15 Die für die Jahre 1998 und 1999 festgestellten Abweichungen betreffen den für die Beurteilung des Konvergenzkriteriums „Finanzlage der öffentlichen Hand“ bedeutsamen Zeitraum. Hätten Kommission und EZB ihren Untersuchungen zur wirtschaftlichen Konvergenz die tatsächlichen Daten zum öffentlichen Defizit zugrunde gelegt, hätten sie nicht zu der Feststellung gelangen können, Griechenland habe die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung der gemeinsamen Währung erfüllt. In den zum 1. Mai 2004 und zum 1. Januar 2007 der EU beigetretenen Staaten waren durch die Übernahme des acquis communautaire die Mechanismen der ersten und zweiten Stufe der WWU im Beitrittszeitpunkt in Kraft gesetzt. Für die neuen Mitgliedstaaten gilt die Verpflichtung zur Einführung der gemeinsamen Währung, sobald sie die für die Teilnahme an der dritten Stufe der WWU erforderlichen Konvergenzkriterien erfüllen, uneingeschränkt. Da diese Staaten zum Beitrittszeitpunkt diese Voraussetzungen noch nicht erfüllten, wurden ihnen Ausnahmeregelungen gemäß Art. 122 Abs. 1 EGV gewährt. Als erster der neuen Mitgliedstaaten beantragte Slowenien am 2. März 2006 eine erneute Bewertung der Konvergenzkriterien, um die Aufhebung der Ausnahmeregelung und die Aufnahme in die dritte Stufe der WWU zu erreichen. Slowenien führte die gemeinsame Währung zum 1. Januar 2007 ein. Es folgten Malta und Zypern zum 1. Januar 2008 sowie die Slowakei zum 1. Januar 2009. Estland ist zum 1. Januar 2011 das 17. Mitglied der Euro-Zone geworden.16 Deutschen Bundestages (WD 11 – 3000 – 06/10), im Intranet des Deutschen Bundestages abrufbar unter: http://www.bundestag.btg/Wissen/Dossiers/Ablage/2219/Ausarbeitung_2219_2.pdf (letzter Abruf: 9.11. 2011). 14 Tagung des Rates Wirtschaft und Finanzen vom 21. Oktober 2004, Schlussfolgerungen des Rates zu den von Griechenland vorgelegten Haushaltsdaten, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs /cms_data/docs/pressdata/de/ecofin/82464.pdf (letzter Abruf: 10.11.2011). 15 „Griechenland erschwindelte Euro-Beitritt“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. November 2004 sowie „Griechenland kommt ungestraft davon“, Handelsblatt vom 16. November 2004. 16 Beschluss des Rates vom 13. Juli 2010 gemäß Artikel 140 Absatz 2 des Vertrags über die Einführung des Euro in Estland zum 1. Januar 2011, 2010/416/EU, ABl. L 196 S. 24, online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/Lex UriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2010:196:0024:0026:DE:PDF (letzter Abruf: 10.11.2011). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 8 2.2. Teilnahme an der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion – die Konvergenzkriterien 17 Für die Teilnahme an der dritten Stufe der WWU muss jeder Mitgliedstaat bestimmte Kriterien erfüllen , damit sichergestellt ist, dass der für die Einführung der gemeinsamen Währung in diesem Mitgliedstaat erforderliche hohe Grad dauerhafter wirtschaftlicher Konvergenz erreicht ist. Diese sog. Konvergenzkriterien sind in Art. 140 Abs. 1 AEUV (zuvor Art. 121 Abs. 1 EGV) verankert und werden in dem zum Vertrag von Lissabon gehörenden Protokoll über die Konvergenzkriterien18 konkretisiert . Die ihnen zugrundeliegenden Maßstäbe sind folgende:19 1. Der Mitgliedstaat muss einen hohen Grad an Preisstabilität erreichen, der an der Inflationsrate gemessen wird. Diese muss der Inflationsrate der drei Mitgliedstaaten mit der höchsten Preisstabilität nahe kommen (Art. 140 Abs. 1 S. 3 erster Gedankenstrich AEUV i.V.m. Art. 1 des Protokolls über die Konvergenzkriterien). 2. Der Mitgliedstaat muss über eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand verfügen , die festgestellt wird, wenn die öffentliche Haushaltslage des zu überprüfenden Mitgliedstaats kein übermäßiges Defizit aufweist (Art. 140 Abs. 1 S. 3 zweiter Gedankenstrich AEUV i.V.m. Art. 2 des Protokolls über die Konvergenzkriterien). 3. Über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg muss der Mitgliedstaat am Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems teilgenommen haben und dabei die normalen Bandbreiten dieses Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems einhalten, d. h. seine Währung muss sich länger als zwei Jahre innerhalb dieser Bandbreiten ohne Abwertung gegenüber der Währung eines anderen Mitgliedstaats bewegen (Art. 140 Abs. 1 S. 3 dritter Gedankenstrich AEUV). 4. Das Niveau der langfristigen Zinssätze von Staatsschuldverschreibungen muss in diesem Mitgliedstaat dauerhaft nahe dem der drei preisstabilsten Mitgliedstaaten verlaufen (Art. 140 Abs. 1 S. 3 vierter Gedankenstrich AEUV i.V.m. Art. 4 des Protokolls über die Konvergenzkriterien). Darüber hinaus müssen die Mitgliedstaaten ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften einschließlich der Satzung ihrer nationalen Zentralbank so angepasst haben, dass sie mit den grundlegenden Verträgen der EU sowie mit der Satzung des ESZB und der EZB in Einklang stehen (Art. 131 17 Die folgenden Ausführungen sind im Wesentlichen der Ausarbeitung , Modelle für das Ausscheiden eines Teilnehmerstaates der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, WD 11 – 3000 – 63/10, entnommen. 18 Protokoll (Nr. 13) über die Konvergenzkriterien, Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Rats-Dok. 6655/08, S. 364, abrufbar unter : http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/st06655.de08.pdf (letzter Abruf: 9.11.2011). 19 Für eine ausführliche Darstellung der Aspekte der Prüfung der vier Konvergenzkriterien vgl. EZB, Konvergenzbericht 2000, S. 8ff. abrufbar unter: http://www.ecb.int/pub/pdf/conrep/cr2000de.pdf, sowie das Analyseschema in: EZB, Konvergenzbericht Mai 2008, S. 7 ff. abrufbar unter: http://www.ecb.int/pub/pdf/conrep /cr200805de.pdf (letzter Abruf: 9.11.2011). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 9 AEUV). Dies ist die Voraussetzung für die vollständige Integration der jeweiligen nationalen Zentralbank in das ESZB. Die Kommission und die EZB prüfen mindestens einmal im Turnus zweier Jahre oder auf Antrag eines Mitgliedstaats, inwieweit die Mitgliedstaaten, für die eine Ausnahmeregelung gilt, ein hohes Maß dauerhafter wirtschaftlicher Konvergenz erreicht und ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften so angepasst haben, dass ihre jeweiligen nationalen Zentralbanken integraler Bestandteil des ESZB werden können. Die Ergebnisse werden in Form sog. Konvergenzberichte dem Rat vorgelegt (Art. 140 Abs. 1 S. 1 AEUV), der entscheidet, ob die Voraussetzungen für die Teilnahme an der dritten Stufe der WWU erfüllt sind, oder aber die Ausnahmeregelung fort gilt. Die Konvergenzkriterien sind als Hürden konstruiert, die ein Mitgliedstaat überwinden muss, um an der dritten Stufe der WWU teilnehmen und die gemeinsame Währung einführen zu können. Sie bilden die Grundlage für die Prüfungen durch die Kommission und die EZB und sollen das hohe Maß dauerhafter wirtschaftlicher Konvergenz sicherstellen und die Vereinbarkeit der innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit den grundlegenden Verträgen der EU garantieren, die für die Einführung der gemeinsamen Währung erforderlich sind. Die grundlegenden Verträge der EU ordnen den Konvergenzkriterien die Funktion von „Eintrittsvoraussetzungen “ im Sinne von Hürden für die Teilnahme an der dritten Stufe der WWU zu. Daneben haben sie nicht etwa auch eine zusätzliche Funktion als Maßstäbe innerhalb eines Überwachungs - und Sanktionsprozesses, in dem das Verbleiben eines Mitgliedstaates im Kreis der Teilnehmer der dritten Stufe der WWU zum Gegenstand einer permanenten Untersuchung gemacht würde. Insbesondere kommt ihnen nicht die Bedeutung von benchmarks zu, deren Verfehlen sanktioniert und als sog. ultima ratio mit dem Ausschluss aus der dritten Stufe der WWU geahndet würde. 20 Für die Staaten, die die Hürden der Konvergenzkriterien genommen haben und an der dritten Stufe der WWU teilnehmen, kommt die Aufgabe der Sicherung des hohen Grades dauerhafter wirtschaftlicher Konvergenz den Überwachungs- und Sanktionsmechanismen zu, die in den Kernbestimmungen zur Wirtschafts- und Währungspolitik der EU in Titel VIII des AEUV festgelegt und im Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) präzisiert sind. Diese Bestimmungen enthalten keine Regelung über ein Ausscheiden aus der dritten Stufe der WWU. Dies gilt sowohl für das freiwillige Ausscheiden eines Teilnehmerstaates im Einvernehmen mit den übrigen Teilnehmerstaaten, als auch für das Ausscheiden im Sinne einer Sanktion für ein bestimmtes Fehlverhalten eines Teilnehmerstaates der dritten Stufe der WWU. 3. Ausscheiden eines Mitgliedstaats aus der Europäischen Union gemäß Art. 50 des Vertrags über die Europäische Union Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 sieht mit Art. 50 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) erstmals eine primärrechtliche Norm den Austritt 20 So Seidel, Der Euro – Schutzschild oder Falle, Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI), ZEI-Working Paper, Bonn, 2010, S. 24, abrufbar unter: http://www.zei.de/download/zei_wp/B10-01.pdf (letzter Abruf: 9.11.2011). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 10 eines Mitgliedstaats aus der EU vor.21 In Art. 50 Abs. 1 EUV heißt es, dass jeder Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften aus der Union austreten kann. Art. 50 Abs. 2 und 4 EUV regeln den Abschluss des Austrittsverfahrens: Danach muss der betreffende Mitgliedstaat dem Europäischen Rat seine Austrittsabsicht mitteilen. Art. 50 EUV verlangt dafür nicht die Darlegung besonderer Gründe.22 Nach der Mitteilung handelt die EU mit diesem Staat ein Austrittsabkommen aus. Der Rat der EU beschließt über das Abkommen mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments. Findet sich kein Konsens über den Abschluss eines Austrittsabkommens, findet das Unionsrecht nach Art. 50 Abs. 2 EUV zwei Jahre nach der Mitteilung des austrittswilligen Mitgliedstaats an den Europäischen Rat keine Anwendung mehr. Der Austritt erfolgt damit – falls kein Konsens über das Austrittsabkommen erreicht wird – allein durch Zeitablauf. Ein Mitgliedstaat, der aus der EU austreten will, kann den Erfolg also letztlich erzwingen.23 Es besteht folglich neben dem mit der EU konsensual vereinbarten Austritt letztlich ein einseitiges Austrittsrecht aus der EU insgesamt.24 4. Freiwilliges Ausscheiden aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion/Eurozone ? Fraglich ist, ob unabhängig von einem Vollaustritt aus der EU auch ein Austritt aus der Eurozone , d.h. aus der dritten Stufe der WWU, rechtlich zulässig ist. Hierfür müsste der betreffende Mitgliedstaat in die Gruppe der Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung gem. Art. 139 AEUV zurückgestuft werden.25 Dies würde wiederum eine Aufhebung des Ratsbeschlusses gem. Art. 140 AEUV über die Aufnahme des Mitgliedstaats in die Eurozone und die Aufhebung der Ausnahmeregelung erfordern.26 Zu beachten ist, dass die Aufhebung des Ratsbeschlusses gem. Art. 140 AEUV allein noch nicht ausreichen würde, denn der Ratsbeschluss gem. Art. 140 AEUV ist nicht identisch mit der Einführung des Euros in dem betreffenden Mitgliedstaat. 27 Die betreffenden Euro-Staaten müssten 21 Vgl. zur Debatte über die Zulässigkeit des Austritts aus der EU vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon: Bruha/Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union?, AVR (42) 2004, S. 1 ff. m.w.N.; Zeh, Recht auf Austritt, Zeitschrift für Europarechtliche Studien (ZEuS) 2004, S. 173 (176 ff.). 22 Booß, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, 5. Auflage 2010, Art. 50 EUV, Rdnr. 1. 23 Bruha/Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union?, AVR 42 (2004), S. 1 (7); Calliess, in: Calliess /Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 50 EUV, Rdnr. 5. 24 Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 24, online abrufbar a.a.O. 25 Heß, Finanzielle Unterstützung von EU-Mitgliedstaaten in einer Finanz- und Wirtschaftskrise und die Vereinbarkeit mit EU-Recht, ZJS 2010, S. 473 (478). 26 Heß, Finanzielle Unterstützung von EU-Mitgliedstaaten in einer Finanz- und Wirtschaftskrise und die Vereinbarkeit mit EU-Recht, ZJS 2010, S. 473 (478); Behrens, Ist ein Ausschluss aus der Euro-Zone ausgeschlossen?, EuZW 2010, S. 121. 27 Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 140 AEUV, Rdnr. 45. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 11 zusätzlich aus dem Anwendungsbereich der währungsrechtlichen Vorschriften des Sekundärrechts ausgeschlossen werden. Die Grundlage für die Einführung des Euros als Währung ist die Verordnung (EG) Nr. 974/98 über die Einführung des Euro.28 Mit verschiedenen Änderungsverordnungen ist der Euro für diejenigen Staaten eingeführt worden, die erst nach Inkrafttreten der Euro-Einführungsverordnung die Voraussetzungen für die Ersetzung ihrer Währung erfüllten.29 Als actus contrarius müssten also auch die einschlägigen (Änderungs-) Verordnungen für einen betreffenden Mitgliedstaat wieder aufgehoben werden.30 Eine weitere Frage neben der Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit des Austritts wäre demnach, auf welche Rechtsgrundlagen der EU dieser actus contrarius gestützt werden könnte; hierauf soll an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen werden.31 Es wird im Folgenden stattdessen untersucht, ob das Primärrecht der EU überhaupt einen Austritt zulassen würde. Eine Sprecherin der Europäischen Kommission ist am 4. November 2011 in den Medien mit der Aussage zitiert worden, dass der EU-Vertrag keinen Austritt aus der Eurozone ohne ein Verlassen der EU vorsehe.32 Diese Aussage ist inhaltlich richtig, schließlich sehen weder EUV noch AEUV eine explizite Austrittsnorm für die dritte Stufe der WWU vor. Daraus muss allerdings nicht zwangsläufig gefolgert werden, dass ein solcher Austritt rechtlich unmöglich wäre.33 4.1. Ausscheiden im Konsens Als rechtlich unproblematisch wird der Weg angesehen, dass der ausstiegswillige Mitgliedstaat mit den übrigen Mitgliedstaaten der EU eine vertragliche Vereinbarung über seinen Ausstieg aus 28 Verordnung (EG) Nr. 974/98 des Rates vom 3. Mai 1998 über die Einführung des Euro, ABl. 1998 L 139/1, konsolidierte Fassung online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONS- LEG:1998R0974:20110101:DE:PDF (letzter Abruf: 7.11.2011). 29 Beispielsweise für Griechenland s. Verordnung (EG) Nr. 2596/2000 des Rates vom 27. November 2000 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 974/98 über die Einführung des Euro, ABl. 2000 L 300/2, online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2000:300:0002:0003:DE:PDF (letzter Abruf: 7.11.2011). 30 So Herrmann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413 (417). 31 S. hierzu Herrmann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413 (417). Herrmann zieht die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV in Betracht. 32 Z. B. Gottschalk, „Mit gutem Willen ist alles möglich“, in. Stuttgarter-Zeitung.de vom 4.11.2011, online abrufbar unter: http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.euro-krise-mit-gutem-willen-ist-alles-moeglich.93c0c6f5-2fcd- 4030-b0e1-3cc8c83e7947.html (letzter Abruf: 4.11.2011). Diese Auffassung hat die Kommission vor Inkrafttreten der ausdrücklichen Austrittsklausel (Art. 50 EUV) mit dem Vertrag von Lissabon auch bzgl. eines Gesamtaustritts aus der EU vertreten: „Da die Verträge keine Bestimmungen über das einseitige Ausscheiden vorsehen, besteht auch keine gemeinschaftliche Rechtsgrundlage für derartiges Vorgehen.“ [Hervorhebung durch Verfasserin], zitiert nach Götting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, 2000, S. 113. 33 Vgl. Herdegen, Die Währungsunion als dauerhafte Rechtsgemeinschaft, in: Deutsche Bank Research (Hrsg.), EWU-Monitor Nr. 52 vom 22.6.2998, online abrufbar a.a.O. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 12 der dritten Stufe der WWU trifft.34 Dabei wird überwiegend davon ausgegangen, dass hierfür notwendigerweise die europäischen Verträge nach den Verfahren des Art. 48 EUV geändert werden müssten, um dem Mitgliedstaat entweder eine Ausnahmegenehmigung von der grundsätzlichen Pflicht zur Mitgliedschaft in der Eurozone bei Erfüllung der Konvergenzkriterien zu ermöglichen oder eine einvernehmliche Kündigungsmöglichkeit zu gestatten.35 Die Vertragsänderung müsste von allen Mitgliedstaaten der EU ratifiziert werden und würde daher voraussichtlich geraume Zeit in Anspruch nehmen. Herdegen schlägt als flexiblere Lösung einen Konsens der nationalen Regierungen über das Ausscheiden aus der dritten Stufe der WWU vor.36 Er geht dabei davon aus, dass „wenn die übrigen Partner einen Teilnehmerstaat im eigenen währungspolitischen Interesse oder aus anderen politischen Gründen aus der Euro-Zone ziehen lassen wollen, […] [sich] das Recht einer solchen Lösung nicht entgegenstellen“ werde.37 Eine „einvernehmliche Entlassung“38 ist folglich nach allen Auffassungen rechtlich zulässig. Der Abschluss einer vertraglichen Vereinbarung über den Austritt eines Mitgliedstaats aus der dritten Stufe der WWU wäre nicht vollkommen neu, denn mit Grönland wurde im Jahr 1984 zwar nicht ein Mitgliedstaat der EU, aber als ein teilweise autonomes Territorium eines Mitgliedstaats (Dänemarks) aus der EU mittels eines einvernehmlichen Vertrages zur Änderung der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften bezüglich Grönland entlassen.39 34 Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 21, online abrufbar a.a.O. 35 Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 30, online abrufbar a.a.O.; Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 140 AEUV, Rdnr. 62; Herrmann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone , EuZW 2010, S. 413 (417); Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, 1998, S. 535; Herdegen, Die Währungsunion als dauerhafte Rechtsgemeinschaft, in: in: Deutsche Bank Research (Hrsg.), EWU-Monitor Nr. 52 vom 22.6.2998, online abrufbar a.a.O; vgl. Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 312 EGV, Rdnr. 4, 8. 36 Herdegen, Die Währungsunion als dauerhafte Rechtsgemeinschaft, in: Deutsche Bank Research (Hrsg.), EWU- Monitor Nr. 52 vom 22.6.1998, S. 8, online abrufbar a.a.O. 37 Herdegen, Die Währungsunion als dauerhafte Rechtsgemeinschaft, in: Deutsche Bank Research (Hrsg.), EWU- Monitor Nr. 52 vom 22.6.1998, S. 8, online abrufbar a.a.O. 38 Wölker, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 121 EGV, Rdnr. 43. 39 Ausführlich hierzu Waldemathe, Austritt aus der EU, 2000, S. 26 f.; Hilf, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 5. Auflage 1997, Art. 250 EGV, Rdnr. 15; Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 22, online abrufbar a.a.O.; Weiss, Greenland’s Withdrawal from the European Communities , European Law Review 1985, S. 173 ff.; Harhoff, Greenland’s Withdrawal from the European Communities , Common Market Law Review 1983, S. 13 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 13 4.2. Einseitiges Ausscheiden Fraglich ist, ob neben dem einvernehmlichen auch ein einseitiges Ausscheiden aus der dritten Stufe der WWU zulässig ist. 4.2.1. Unionsrechtliche Zulässigkeit eines einseitigen Ausscheidens Zum Teil wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur in Deutschland auf das früher dem EG- Vertrag beigefügte, durch den Vertrag von Lissabon aufgehobene40 Protokoll über den Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion verwiesen. Hier hieß es: „Die hohen Vertragsparteien erklären mit der Unterzeichnung der neuen Vertragsbestimmungen über die Wirtschafts - und Währungsunion die Unumkehrbarkeit des Übergangs der Gemeinschaft zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion. […], damit die Gemeinschaft am 1. Januar 1999 unwiderruflich in die dritte Stufe eintreten kann […].“41 Diese ehemalige Vorschrift über die Unumkehrbarkeit des Übergangs in die dritte Stufe der WWU wird in unterschiedliche Richtungen interpretiert. Die wohl überwiegende Auffassung in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur folgert u.a. aus diesem früheren Protokoll, dass es für Eurozonenmitglieder keine (unionsrechtliche) Möglichkeit gibt, aus der Währungsunion einseitig wieder „ausscheren“ zu können.42 Die Vorschrift über die Unumkehrbarkeit des Übergangs der Gemeinschaft zur dritten Stufe der WWU wird jedoch auch in die entgegengesetzte Richtung ausgelegt. So gehen Heß und Behrens in Aufsätzen aus dem Jahr 2010 davon aus, dass das Protokoll einem Austritt bzw. Ausschluss aus der dritten Stufe der WWU nicht entgegenstehe, da „dieser kollektive Integrationsschritt der Gemeinschaft als solcher nicht rückgängig gemacht würde, sondern nur die Beteiligung eines Mitgliedstaats.“43 Diese sehr eng am Wortlaut orientierte Interpretation („die Gemeinschaft“) scheint jedoch zu kurz zu greifen, da sie verkennt, dass bei kumulierten Austritt verschiedener Mitgliedstaat letztlich doch der kollektive Integrationsschritt rückgängig gemacht würde. Das Protokoll über den Übergang zur dritten Stufe der WWU ist jedenfalls durch den Vertrag von Lissabon zum 1. Dezember 2009 aufgehoben worden und damit auch nicht länger gem. Art. 51 40 ABl. 2007 C 306/169. 41 Hervorhebungen durch Verfasserin. 42 So Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, 1998, S. 534; vgl. Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 140 AEUV, Rdnr. 59; Potacs, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 122 EGV, Rdnr. 8; Bandilla, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, EGV Protokoll Nr. 24 über den Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion (1992), Rdnr. 2; Wölker, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 121 EGV/Protokoll Nr. 24, Rdnr. 43; Emmerich-Fritsche, Wie verbindlich sind die Konvergenzkriterien?, Europäisches Wirtschaftsund Steuerrecht (EWS) 1996, S. 77 (86) m.w.N. 43 Heß, Finanzielle Unterstützung von EU-Mitgliedstaaten in einer Finanz- und Wirtschaftskrise und die Vereinbarkeit mit EU-Recht, ZJS 2010, S. 473 (478); Behrens, Ist ein Ausschluss aus der Euro-Zone ausgeschlossen?, EuZW 2010, S. 121. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 14 EUV als Bestandteil der Verträge geltendes Primärrecht. Die dauerhafte Konzeption kam neben dem Übergangsprotokoll auch in den Artikeln 11844 sowie 123 Abs. 4 S. 145 EGV in der Fassung des Vertrags von Nizza zum Ausdruck. Da auch diese Vorschriften durch die Existenz des Euros ihren Anwendungsbereich verloren, sind diese Vorschriften durch den Vertrag von Lissabon ebenfalls aufgehoben worden.46 Es fragt sich daher, inwieweit die oben dargestellten Argumente zur Begründung der Unumkehrbarkeit der Übergangs in die dritte Stufe der WWU noch greifen können. Allein aus der Aufhebung kann jedoch wohl umgekehrt auch nicht geschlossen werden, dass die Währungsunion nicht mehr als dauerhafte Einrichtung unumkehrbar sein sollte.47 Hierfür spricht, dass die gesamte Konzeption der WWU nach wie vor auf den Beitritt zur dritten Stufe angelegt ist. So besteht bei Erfüllung der Konvergenzkriterien eine Pflicht zur Teilnahme an der dritten Stufe der WWU (vgl. Art. 140 Abs. 1 AEUV, wonach Kommission und EZB mindestens alle zwei Jahre ein Prüfungsverfahren über die Erfüllung der Konvergenzkriterien einzuleiten haben ).48 Die einschlägigen Normen über den Beitritt zum Euro-Währungsgebiet und die Regelungen über die „Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung“ befinden sich außerdem systematisch im Kapitel 5 des dritten Teils des AEUV, der unter der Überschrift „Übergangsbestimmungen“ steht. Verschiedene Autoren berufen sich für ihre Argumentation der unionsrechtlichen Unzulässigkeit des Austritts (zusätzlich) auf die auch heute noch geltenden Freistellungsprotokolle für Dänemark 49 und das Vereinigte Königreich50.51 Diese Freistellungsprotokolle sichern Dänemark und 44 Art. 118 EGV-Nizza [Hervorhebung durch Verfasserin]: „Die Zusammensetzung des ECU-Währungskorbs wird nicht geändert. Mit Beginn der dritten Stufe wird der Wert des ECU nach Artikel 123 Absatz 4 unwiderruflich festgesetzt.“ 45 Art. 123 Abs. 4 S. 1 EGV-Nizza [Hervorhebungen durch Verfasserin]: „Am ersten Tag der dritten Stufe nimmt der Rat aufgrund eines einstimmigen Beschlusses der Mitgliedstaaten, für die keine Ausnahmeregelung gilt, auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der EZB die Umrechnungskurse , auf die ihre Währungen unwiderruflich festgelegt werden, sowie die unwiderruflich festen Kurse, zu denen diese Währungen durch den ECU ersetzt werden, an und wird der ECU zu einer eigenständigen Währung .“ 46 S. hierzu Potacs, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 118 EGV, Rdnr. 2 f.; Art. 123 EGV, Rdnr. 6. Kokott weist darüber hinaus darauf hin, dass die genannten Vorschriften in erster Linie auf die Schaffung rechtsverbindlicher Vorgaben für die Finanzmärkte zielten und keine konstitutionelle Bedeutung für die Gemeinschaft gehabt hätten, s. Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 312 EGV, Rdnr. 8. 47 Herrmann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413 (417), Fn. 47. 48 Potacs, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 122 EGV, Rdnr. 2; Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 28, online abrufbar a.a.O. 49 Protokoll (Nr. 16) über einige Bestimmungen betreffend Dänemark. 50 Protokoll (Nr. 15) über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland . 51 Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, 1998, S. 534 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 15 dem Vereinigten Königreich trotz Erfüllung der Konvergenzkriterien ein autonomes Entscheidungsrecht über die Einführung des Euros zu (Opt-outs), s. Ziffer 2.1.52 Es ist in den Freistellungsprotokollen jedoch auch festgehalten, dass nach Aufhebung der Freistellung dieses Protokoll nicht mehr anwendbar ist.53 Hieraus wird gefolgert, dass beide Staaten nach Eintritt in die Währungsunion keine Rechte mehr geltend machen könnten, aus dieser wieder entlassen zu werden .54 Ein „währungspolitischer Rückzieher“ sei dann – wie auch für die übrigen Mitglieder der Eurozone – nicht mehr möglich.55 4.2.2. Auffassung des Bundesverfassungsgerichts im Maastricht-Urteil In seinem Maastricht-Urteil (1993) äußert sich das BVerfG folgendermaßen zur Möglichkeit einer Lösung aus der Währungsunion: „Der Vertrag setzt langfristige Vorgaben, die das Stabilitätsziel zum Maßstab der Währungsunion machen, die durch institutionelle Vorkehrungen die Verwirklichung dieses Ziels sicherstellen suchen und letztlich – als ultima ratio – beim Scheitern der Stabilitätsgemeinschaft auch einer Lösung aus der Gemeinschaft nicht entgegenstehen .“56 „Diese Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft ist Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes. Sollte die Währungsunion die bei Eintritt in die dritte Stufe vorhandene Stabilität nicht kontinuierlich im Sinne des vereinbarten Stabilitätsauftrags fortentwickeln können, so würde sie die vertragliche Konzeption verlassen.“57 In der deutschen Literatur werden die betreffenden Passagen mehrheitlich so interpretiert, dass es nach Auffassung des BVerfG ein außerhalb der expliziten Vertragsbestimmungen bestehendes Recht geben solle, sich einseitig aus der Währungsunion zu lösen.58 Wie sich das BVerfG die 52 Vgl. Khan, in: Geiger/Khan/Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 140 AEUV, Rdnr. 2. 53 Ziffer 3 des Protokolls (Nr. 16) über einige Bestimmungen betreffend Dänemark, Ziffer 9, letzter Satz des Protokolls (Nr. 15) über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland. 54 Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, 1998, S. 534 f. 55 Khan, in: Geiger/Khan/Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 140 AEUV, Rdnr. 2; Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 140 AEUV, Rdnr. 61. 56 BVerfGE 89, 155 (204). Hervorhebung durch Verfasserin. 57 BVerfGE 89, 155 (205). 58 Kirchhof, Die Mitwirkung Deutschlands an der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Kirchhof/Offerhaus/Schöberle (Hrsg.), Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik, Festschrift für Franz Klein, 1994, S. 61 (81); Bruha/Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union?, Archiv des Völkerrecht (AVR) 42 (2004), S. 1 (5) m.w.N.; Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität,1998, S. 536; Lenz, Der Vertrag von Maastricht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1993, S. 3038 (3038); Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 312 EGV, Rdnr. 5, 8; Potacs, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar , 2. Auflage 2009, Art. 121 EGV, Rdnr. 8; Khan, in: Geiger/Khan/Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Auflage 2010, Art. 141 AEUV, Rdnr. 11; Waldemathe, Austritt aus der EU, 2000, S. 118; Winkelmann, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, 1994, S. 60; Weber, Die Wirtschafts- und Währungsunion nach dem Maastricht-Urteil des BVerfG, JZ 1994, S. 53 (58). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 16 rechtliche Konstruktion einer solchen einseitigen Lösung vorstellt, z. B. ob es hierfür einen völkerrechtlichen Ansatz wählen würde, ergibt sich aus dem Urteil jedoch nicht (s. hierzu Ziffer 4.2.3). Die Auslegung des BVerfG kann hier letztlich nur als eine von mehreren denkbaren Auffassungen zur Möglichkeit der einseitigen Lösung aus der dritten Stufe der WWU dargestellt werden. Die Auslegung des Unionsrechts durch das BVerfG ist aufgrund der Stellung des Gerichts als nationales und nicht als gemeinschaftliches Verfassungsgericht nicht gleichzeitig für die gesamte EU ausschlaggebend.59 4.2.3. Modelle eines einseitigen Ausscheidens Nachfolgend werden zwei in der Literatur diskutierte Modelle aufgezeigt, über die ein einseitiger Austritt aus der Währungsunion – hielte man ihn nicht für insgesamt ausgeschlossen (s. Ziffer 4.2.1) – rechtlich konstruiert werden könnte: 4.2.3.1. Einseitiges Ausscheiden als Minus gegenüber dem Vollaustritt aus der EU nach Art. 50 des Vertrags über die Europäische Union? Nach Einfügung der Austritts-Vorschrift des Art. 50 EUV durch den Vertrag von Lissabon (2009) findet sich in der Rechtswissenschaft die Auffassung, dass ein Austritt aus der dritten Stufe der WWU als ein Teilaustritt gem. Art. 50 EUV als Minus gegenüber einem Vollaustritt rechtlich denkbar sei (a maiore ad minus-Schluss).60 Folgt man dieser Auffassung, müsste das Austrittsverfahren aus der dritten Stufe analog Art. 50 EUV ablaufen und der Austritt ggf. einseitig alleine durch zweijährigen Zeitablauf erfolgen (s. Ziffer 3). Gegen diese Argumentation spricht, dass ein Eurozonen-Mitgliedstaat, der die Konvergenzkriterien erfüllt, die WWU nicht verlassen könnte, ohne in der Folge gegen die rechtliche Pflicht zur Teilnahme an der dritten Stufe der WWU zu verstoßen.61 Anders verhält es sich natürlich, wenn der Staat zumindest in der direkten Zeit nach seinem Austritt aus der Eurozone die Konvergenzkriterien nicht mehr erfüllen würde. Vgl. auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage aus dem Deutschen Bundestag zu den Konsequenzen aus dem Urteil, BT-Drs. 12/6520, Frage 13: „Nach Auffassung der Bundesregierung bedeutet dies, dass zunächst alle gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Verfahren auszuschöpfen und Vertragsverhandlungen zu führen sind und notfalls der Europäische Gerichtshof anzurufen ist.“ 59 Vgl. Emmerich-Fritsche, Wie verbindlich sind die Konvergenzkriterien, EWS 1996, S. 77 (84); Bruha/Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union?, AVR 42 (2004), S. 1 (13). 60 Herrmann , Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413 (417); Khan, in: Geiger /Khan/Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Auflage 2010, Art. 140 AEUV, Rdnr. 11; Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 29, online abrufbar a.a.O. 61 Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 28, online abrufbar a.a.O. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 17 Als Contra-Argument wird außerdem angeführt, dass der Austritt aus der Eurozone zu weitreichende und komplexe Folgen auch für die anderen Euro-Staaten hätte, als dass er – wie im Rahmen des Austrittsverfahrens nach Art. 50 EUV – letztlich nach Zeitablauf von zwei Jahren auch einseitig bewirkt werden könnte.62 So könnte die Stabilität der gemeinsamen Währung leiden.63 Hiergegen kann wiederum angeführt werden, dass das Verfahren des Austritts aus der gesamten EU nach Art. 50 EUV uneingeschränkt auch für die Staaten gilt, die Mitglieder der Eurozone sind. Ein Austritt aus der EU, der notwendigerweise für Eurozonen-Staaten immer mit dem Verlassen der dritten Stufe der WWU verbunden ist, könnte also die gleichen rechtlichen und wirtschaftlichen negativen Folgen für die anderen Eurozonen-Mitglieder bewirken, ohne dass hierfür besondere Vorkehrungen getroffen sind. Wieso sollte dann nicht auch ein isolierter Austritt aus der Eurozone möglich sein?64 Als weiteres Argument gegen die Möglichkeit des einseitigen Ausscheidens analog Art. 50 EUV kann außerdem auf die Gefahr hingewiesen werden, dass durch eine solche Auslegung die bislang nicht gewollte Option von „Teilmitgliedschaften“ in der EU durch die Hintertür des Austritts oder ggf. auch nur der Drohung mit ihr eingeführt würde.65 4.2.3.2. Einseitiges Ausscheiden aufgrund völkerrechtlicher Bestimmungen? Andere Stimmen in der Literatur verweisen auf allgemeine völkerrechtliche Bestimmungen, insbesondere auf die Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK)66, die die Möglichkeit für einen einseitigen Austritt eröffnen könnten.67 62 Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 29, online abrufbar a.a.O. 63 Smit, The European Constitution and EMU: An Appraisal, Common Market Law Review (CMLR) (42) 2005, s. 425 (465). 64 Vgl. Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 29, online abrufbar a.a.O. 65 Bruha/Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union?, AVR 42 (2004), S. 1 (24). 66 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, BGBl. 1985 II S. 926. 67 Khan, in: Geiger/Khan/Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Auflage 2010, Art. 140 AEUV, Rdnr. 11; Häde, in: Calliess /Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 140 AEUV, Rdnr. 63; Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, 1998, S. 537 ff.; Herdegen, Die Währungsunion als dauerhafte Rechtsgemeinschaft, in: Deutsche Bank Research (Hrsg.), EWU-Monitor Nr. 52 vom 22.6.2998, S. 9, online abrufbar a.a.O.; Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series , No 10, December 2009, S. 12 ff., online abrufbar a.a.O. Vgl. auch den Diskussionsstand zum Austritt aus der EU vor Inkrafttreten von Art. 50 EUV: Zeh, Recht auf Austritt, ZEuS 2004, S. 173 (180 ff.); Bruha/Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union?, AVR 42 (2004), S. 1 (8 ff.); ausführlich: Götting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, 2000, S. 113 ff.; Waldemathe, Austritt aus der EU, 2000, S. 90 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 18 4.2.3.2.1. Anwendbarkeit völkerrechtlicher Bestimmungen? Es stellt sich dabei zunächst die Frage, ob die allgemeinen völkerrechtlichen Regeln neben dem Unionsrecht überhaupt Anwendung finden können. Dies ist in der rechtswissenschaftlichen Literatur umstritten; die Argumente können an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden.68 Die wohl überwiegende Auffassung in der Literatur hält es zumindest dann nicht für ausgeschlossen auf völkerrechtliche Grundsätze zurückzugreifen, wenn im akuten Fall keine spezifische unionsinterne Lösung vorhanden ist.69 Schon diese Voraussetzung erscheint jedoch zweifelhaft, denn schließlich sieht Art. 50 EUV eine Vorschrift über den Austritt eines Mitgliedstaats aus der EU vor – und ggf. bewusst keine Vorschrift über den Austritt eines Mitgliedstaats aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion . So gehen verschiedene Autoren auch davon aus, dass der neu eingeführte Art. 50 EUV als lex specialis gegenüber den völkerrechtlichen Beendigungstatbeständen für einen völkerrechtlichen Vertrag anzusehen sei,70 so dass hiernach auf die Beendigungstatbestände für die hier gegenständliche Frage auch nicht zurückgegriffen werden kann. Hierfür sprechen neben der Existenz der Austrittsnorm des Art. 50 EUV auch die im Primärrecht statuierten Streitbeilegungsmechanismen und das Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 EUV.71 Andererseits enthält das Unionsrecht auch keine ausdrückliche Klausel für den Austritt aus der dritten Stufe der WWU, so dass an dieser Stelle in beide Richtungen argumentiert werden kann. Zur Vervollständigung des Bildes wird im Folgenden die von den Befürwortern am häufigsten herangezogene völkerrechtliche Norm des Art. 62 WVK geprüft72: 68 Ausführlich z. B. Schwarze, Das allgemeine Völkerrecht in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen, Europarecht (EuR) 1983, S. 1 ff.; Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections , in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 12 ff., online abrufbar a.a.O; 69 Zeh, Recht auf Austritt, ZEuS 2004, S. 173 (182); Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 312 EGV, Rdnr. 5. 70 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 50 EUV, Rdnr. 13; Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 312 EGV, Rdnr. 6; Herrmann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone , EuZW 2010, S. 413 (417); vgl. auch Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 12 ff. , online abrufbar a.a.O. 71 Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003 Art. 312 EGV, Rdnr. 6. 72 Teilweise wird zusätzlich auch noch ein Ausscheiden auf der Grundlage von Art. 60 WVK bei erheblichen Vertragsverletzungen diskutiert, z. B. Herdegen, Die Währungsunion als dauerhafte Rechtsgemeinschaft, in: Deutsche Bank Research (Hrsg.), EWU-Monitor Nr. 52 vom 22.6.1998, S. 9, online abrufbar a.a.O.; ablehnend wegen der spezifischen Vorschriften des Rechtsschutzes und der Rechtsdurchsetzung in der Union, Bruha/Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union?, AVR 42 (2004), S. 1 (12); ausführlich Götting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, 2000, S. 127 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 19 4.2.3.2.2. Clausula Rebus Sic Stantibus (Art. 62 Wiener Vertragsrechtskonvention) Art. 62 WVK normiert den allgemeinen anerkannten völkerrechtlichen Grundsatz des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (clausula rebus sic stantibus).73 Hiernach kann ein Mitgliedstaat von einem völkerrechtlichen Vertrag zurücktreten, wenn eine bei Vertragsschluss nicht vorhergesehene Änderung grundlegender Umstände eintritt, die eine wesentliche Grundlage der Zustimmung zum Vertrag ausmachten und deren Änderung eine tiefgreifende Umgestaltung der zu erfüllenden Verpflichtungen zur Folge hätte. Teilweise wird ohne nähere Konkretisierung der Voraussetzungen angenommen, der Zusammenbruch der stabilitätsorientierten Natur der Währungsunion stelle eine Änderung i.S.d. Art. 62 WVK dar, die ggf. zum Rücktritt berechtige.74 Herdegen entwickelt konkretisierend als Grund für einen solchen möglichen Wegfall der Geschäftsgrundlage die sog. Überforderungshypothese, worunter er eine Flucht eines Teilnehmerstaates aus der sanktionsgeschützten Haushaltsdisziplin versteht.75 Der Autor stellt an diese „Überforderung“ jedoch strenge Voraussetzungen: Ein Mitgliedstaat mit schlechter Haushaltsdisziplin dürfe sich auf einen dramatischen Wandel höchstens dann berufen, wenn unvorhersehbare Entwicklungen zu einem gravierenden Wirtschaftsabschwung führten. Hierfür fordert Herdegen eine negative Wirtschaftsentwicklung, die massiv über dem Schwellenwert liegt, bei dem das Sanktionspotenzial des Stabilitäts- und Wachstumspaktes automatisch ausgesetzt würde. Zur Konkretisierung beruft sich Herdegen auf die alten Werte der Verordnung (EG) Nr. 1467/97, also 73 Art. 62 WVK lautet: 1. Eine grundlegende Änderung der beim Vertragsschluss gegebenen Umstände, die von den Vertragsparteien nicht vorausgesehen wurde, kann nicht als Grund für die Beendigung des Vertrags oder den Rücktritt von ihm geltend gemacht werden, es sei denn: a) das Vorhandensein jener Umstände bildete eine wesentliche Grundlage für die Zustimmung der Vertragsparteien , durch den Vertrag gebunden zu sein, und b) die Änderung der Umstände würde das Ausmaß der auf Grund des Vertrags noch zu erfüllenden Verpflichtungen tiefgreifend umgestalten. 2. Eine grundlegende Änderung der Umstände kann nicht als Grund für die Beendigung des Vertrags oder den Rücktritt von ihm geltend gemacht werden, a) wenn der Vertrag eine Grenze festlegt oder b) wenn die Vertragspartei, welche die grundlegende Änderung der Umstände geltend macht, diese durch Verletzung einer Vertragsverpflichtung oder einer sonstigen, gegenüber einer anderen Vertragspartei bestehenden internationalen Verpflichtung selbst herbeigeführt hat. 3. Kann eine Vertragspartei nach Absatz 1 oder 2 eine grundlegende Änderung der Umstände als Grund für die Beendigung des Vertrags oder den Rücktritt von ihm geltend machen, so kann sie die Änderung auch als Grund für die Suspendierung des Vertrags geltend machen. 74 S. hierzu Waldemathe, Austritt aus der EU, 2000, S. 99. 75 Herdegen, Die Währungsunion als dauerhafte Rechtsgemeinschaft, in: Deutsche Bank Research (Hrsg.), EWU- Monitor Nr. 52 vom 22.6.1998, S. 4 f., 9 online abrufbar a.a.O. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 20 auf einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um deutlich mehr als 2 %76 innerhalb eines Jahres .77 Unabhängig davon, ob dieser Auffassung von Herdegen zu folgen ist, räumt der Autor ein, dass in einem solchen außergewöhnlichen Fall wohl auch die anderen Mitglieder der Eurozone kein nachhaltiges Interesse an einem Verbleib des betreffenden Mitgliedstaats hätten, so dass sich auch in diesem Fall eine einvernehmliche Lösung aufdränge.78 Die herrschende Meinung sieht Art. 62 WVK nur als ultima ratio nach dem Scheitern als unionsrechtlichen Instrumente zur Streitbeilegung und Vertragsanpassung anwendbar.79 Eine Situation, welche die Voraussetzungen eines „Wegfalls der Geschäftsgrundlage“ nach Art. 62 WVK erfüllen würde, sei nur „schwer vorstellbar“.80 Auch das BVerfG sieht eine Lösung aus der Währungsunion nur als ultima ratio an (s. Ziffer 4.2.2). Als Beispiele für eine Lösung aus der EU über Art. 62 WVK werden notstandsartige Ausnahmefälle, hervorgerufen zum Beispiel durch eine radikale Veränderung der Weltwirtschaftslage, genannt.81 Andere gehen wiederum davon aus, dass bei Scheitern der Stabilitätsgemeinschaft eine einseitige Aufkündigung, Sezession oder das Ausscheiden eines Mitgliedstaats aus der WWU unter Berufung auf die clausula rebus sic stantibus, d. h. den Wegfall der Geschäftsgrundlage, nicht zulässig sei.82 76 Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1467/97 des Rates vom 7. Juni 1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, alte Fassung online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUri- Serv/LexUriServ.do?uri=OJ:L:1997:209:0006:0011:DE:PDF (letzter Abruf: 9.11.2011). Mit der Modifizierung des SWP im Jahr 2005 ist dieser Wert weicher gefasst worden; es ist nur noch von „negativen jährlichen Wachstumsrate des BIP-Volumens“ bzw. „einem Produktionsrückstand über einen längeren Zeitraum mit einem am Potenzial gemessen äußerst geringen jährlichen Wachstum des BIP-Volumens“ die Rede, s. Verordnung (EG) Nr. 1056/2005 des Rates vom 27. Juni 2005 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABl. 2005 L 174/5, online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2005:174:0005:0009:DE:PDF (letzter Abruf: 9.11.2011). Die Verordnung 1467/97 ist jüngst erneut geändert worden; von der Änderung ist Art. 2 Abs. 2 der Verordnung nicht betroffen. Am 28. September 2011 hat das Europäische Parlament einen Standpunkt festgelegt im Hinblick auf den Erlass einer Änderungsverordnung betreffend die Verordnung 1467/97; der Rat billigte die Änderungen am 4. Oktober 2011, http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2011- 0425+0+DOC+XML+V0//DE&language=DE#BKMD-22 (letzter Abruf: 9.11.2011). 77 Herdegen, Die Währungsunion als dauerhafte Rechtsgemeinschaft, in: Deutsche Bank Research (Hrsg.), EWU- Monitor Nr. 52 vom 22.6.1998, S. 9 online abrufbar a.a.O. 78 Herdegen, Die Währungsunion als dauerhafte Rechtsgemeinschaft, in: Deutsche Bank Research (Hrsg.), EWU- Monitor Nr. 52 vom 22.6.1998, S. 9 online abrufbar a.a.O. 79 Zeh, Recht auf Austritt, ZEuS 2004, S. 173 (184 f.); Bruha/Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union?, AVR 42 (2004), S. 1 (13); Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, 1998, S. 539 mit Auswertung der einschlägigen Literatur; Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 312 EGV, Rdnr. 6; kritisch auch Becker , in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 312 EGV, Rdnr. 9; 80 Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 49 EUV, Rdnr. 17; vgl. zu denkbaren Situationen: Waldemathe , Austritt aus der EU, 2000, S. 98 ff.; Zeh, Recht auf Austritt, ZEuS 2004, S. 173 (184 f.). 81 Zeh, Recht auf Austritt, ZEuS 2004, S. 173 (185). 82 Weber, Die Wirtschafts- und Währungsunion nach dem Maastricht-Urteil des BVerfG, JZ 1994, S. 53 (58). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 21 Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 62 Abs. 2 lit. b WVK eine Partei eines völkerrechtlichen Vertrages sich nicht auf einen Wegfall der Geschäftsgrundlage berufen kann, wenn sie die Änderung der Umstände durch Verletzung einer Vertragsverpflichtung oder einer sonstigen , gegenüber einer anderen Vertragspartei bestehenden internationalen Verpflichtung selbst herbeigeführt hat. Hier könnte auch an einen Verstoß gegen die sog. Maastricht-Kriterien gedacht werden. 4.2.4. Faktisches Ausscheiden eines Mitgliedstaats In der Literatur wird bei aller Diskussion um die rechtliche Zulässigkeit eines einseitigen Ausscheidens jedoch auch darauf hingewiesen, dass die „faktische Kündigung“ bzw. ein „faktischer Austritt“ eines Mitgliedstaats kaum zu verhindern sei. 83 Die EU verfüge über keine effektiven Zwangsmittel, ein tatsächliches Ausscheiden aus der Eurozone zu verhindern.84 Als Zwangsmittel sind zumindest die Suspendierung anderer Mitgliedsrechte nach Art. 7 EUV oder die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens vor dem Gerichtshof der EU (EuGH) denkbar.85 83 So zum Ausscheiden aus der EU Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 49 EUV, Rdnr. 17; Hilf, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 5. Auflage 1997, Art. 240 EGV, Rdnr. 6 84 Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, 1998, S. 539 m.w.N.; Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 22: „As one commentator has observed, [A]s a practical matter if a Member State were determined to withdraw, the EEC has no sanctions that can be applied to compel lawful compliance with the Treaty. Thus, from this point of view, it really is of no consequence whether a legal right of withdrawal exists. “,online abrufbar a.a.O.; zum Ausscheiden aus der EU Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 49 EUV, Rdnr. 17; 85 Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, 1998, S. 539 m.w.N Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 22 5. Ausschluss eines Mitgliedstaats aus der Europäischen Union bzw. der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion? Die europäischen Verträge enthalten keine Normen, die einen Ausschluss eines Mitgliedstaats aus der EU bzw. der Eurozone gegen seinen Willen vorsehen. Da eine Vertragsänderung nach Art. 48 EUV die Zustimmung aller Mitgliedstaaten der EU voraussetzt, ist es auch nicht denkbar eine solche Norm gegen den Willen des betreffenden Mitgliedstaats einzuführen.86 Umstritten ist wiederum, ob mangels einer Ausschlussnorm in den grundlegenden Verträgen auf das Instrumentarium des allgemeine Völkerrechts zurückgegriffen werden kann. In Betracht wird Art. 60 Abs. 2 WVK gezogen, nach dem die erhebliche Verletzung eines mehrseitigen Vertrages die übrigen Vertragsparteien zur ganz oder teilweisen Suspendierung oder Beendigung des Vertrags im Verhältnis zur vertragsbrüchigen Partei ermächtigt.87 Folgte man dieser Ansicht, käme bezogen auf einen Ausschluss aus der Eurozone ggf. nur eine teilweise Suspendierung des AEUV in Betracht. Eine Auffassung geht davon aus, dass ein Rückgriff auf die Ausschlussnormen des Völkerrechts insgesamt nicht in Betracht komme, weil die Verfahren im Fall der schwerwiegenden Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten durch Art. 344 AEUV sowie Art. 7 EUV i.V.m. Art. 354 AEUV abschließend geregelt seien.88 Art. 344 AEUV verpflichtet die Mitgliedstaaten, Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung der Verträge nicht anders als in den Verträgen vorgesehen zu regeln . Dies bedeutet, dass sie bei Vertragsverletzungen anderer Mitgliedstaaten den EuGH im Wege eines Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 259 AEUV anrufen müssen. Art. 7 EUV statuiert einen Sanktionsmechanismus gegen einen Mitgliedstaat, der schwerwiegend und anhaltend die Werte des Art. 2 EUV verletzt. Zu den Werten des Art. 2 EUV gehören die Achtung der Menschenwürde , Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte , einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Nach einstimmiger Feststellung der schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der Werte des Art. 2 EUV im Rat kann der Rat gem. Art. 7 Abs. 3 AEUV mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im 86 Haratsch/König/Pechstein, Europarecht, 7. Auflage 2010, Rdnr. 112; Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 32, online abrufbar a.a.O.; Götting, die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, 2000, S. 153. 87 Haratsch/König/Pechstein, Europarecht, 7. Auflage 2010, Rdnr. 112. 88 Booß, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, 5. Auflage 2010, Art. 50 EUV, Rdnr. 7; Herrmann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413 (418); Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 140 AEUV, Rdnr. 62; vgl. Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 312 EGV, Rdnr. 9; ausführlich Götting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, 2000, S. 153 ff.; Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 312 EGV, Rdnr. 9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 23 Rat. Der Schutz anderer Grundsätze oder Werte ist nach dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 EUV nicht möglich.89 Eine andere Auffassung hält zumindest dann den Rückgriff auf die Ausschlussnormen des Völkerrechts für zulässig, wenn die in den Verträgen vorgesehenen Verfahren sich als dauerhaft unzulänglich erweisen sollten und unerträgliche Zustände einträten.90 Von einigen Autoren wird in diesem Zusammenhang auch ein Ausschluss aus der Eurozone erwogen . So fragt Behrens, ob speziell die Teilnahme an der dritten Stufe der WWU, die keine zwingende Folge der EU-Mitgliedschaft sei, in Extremfällen, die den Bestand der gemeinsamen Währung gefährden, nicht doch völkerrechtlichen Erwägungen zugänglich sei.91 In die gleiche Richtung argumentierte schon Herdegen in einem Aufsatz aus dem Jahr 1998: In ganz extremen Fällen einer beharrlichen Missachtung der Haushaltsdisziplin sei sogar an einen Ausschluss des betreffenden Mitgliedstaats zu denken. Denn ein solcher Verstoß gegen elementare Rechtspflichten nehme der solidarischen Duldung eines Staates als Glied der Währungsgemeinschaft ihrerseits die Grundlage. Herdegen macht jedoch die Einschränkung, dass ein Ausschluss rechtlich erst dann in Betracht komme, wenn alle ausgeschöpften Kontrollmechanismen versagen, etwa wenn die Befolgung von finanziellen Sanktionen nach dem Stabilitäts- und Wachstumspakts verweigert würde.92 6. Zusammenfassung Seit dem Vertrag von Lissabon besteht mit Art. 50 EUV eine primärrechtliche Norm, die das Ausscheiden eines Mitgliedstaats aus der EU insgesamt ermöglicht. Einigkeit besteht in der rechtswissenschaftlichen Literatur darüber, dass ein Ausscheiden eines Mitgliedstaats aus der dritten Stufe der WWU im Konsens durch Abschluss einer vertraglichen Vereinbarung und Änderung der europäischen Verträge im Verfahren nach Art. 48 EUV rechtlich zulässig ist. Ein einseitiges Ausscheiden aus der dritten Stufe der WWU ist nach überwiegender Auffassung aufgrund der dauerhaften Konzeption der WWU unionsrechtlich unzulässig. Das BVerfG hat in seinem Maastricht-Urteil (1993) die Möglichkeit einer Lösung aus der Währungsunion als ultima ratio angesprochen. Einzelne Vertreter in der Literatur diskutieren Modelle eines einseitigen 89 Schmitt von Sydow, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 7 EUV, Rdnr. 6. 90 Streinz, Europarecht, 8. Auflage 2008, Rdnr. 105; Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 312 EGV, Rdnr. 9; Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 51 EUV, Rdnr. 18; Puttler, Sind die Mitgliedstaaten noch „Herren der Verträge“ – Stellung und Einfluss der Mitgliedstaaten nach dem Entwurf des Verfassungsvertrages der Regierungskonferenz, EuR 2004, S. 669 (678) mit der Einschränkung, dass ein Ausschluss nur bei Verletzung der Grundwerte der Union in Betracht käme. 91 Behrens, Ist ein Ausschluss aus der Euro-Zone ausgeschlossen?, EuZW 2010, S. 121. 92 Herdegen, Die Währungsunion als dauerhafte Rechtsgemeinschaft, in: Deutsche Bank Research (Hrsg.), EWU- Monitor Nr. 52 vom 22.6.1998, S. 10, online abrufbar unter: http://www.dbresearch.de/PROD/DBR_INTER- NET_DE-PROD/PROD0000000000011059.pdf (letzter Abruf: 7.11.2011) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 178/11 Seite 24 Ausscheidens aus der dritten Stufe der WWU. Hierbei wird zum einen ein Teilaustritt gem. Art. 50 EUV als Minus gegenüber einem Vollsaustritt (a maiore ad minus-Schluss) in Betracht gezogen ; zum anderen ein Rückgriff auf Art. 62 WVK (clausula rebus sic stantibus). Ein Ausschluss eines Mitgliedstaats aus der dritten Stufe der WWU ist im Unionsrecht nicht vorgesehen . Eine entsprechende Vertragsänderung nach Art. 48 EUV würde am entgegenstehendem Votum des betreffenden Mitgliedstaats scheitern. Umstritten ist, ob und unter welchen Voraussetzungen mangels einer Ausschlussnorm in den grundlegenden Verträgen auf das Instrumentarium des allgemeinen Völkerrechts zurückgegriffen werden kann.