Deutscher Bundestag Zur Vereinbarkeit einer steuerlichen Anlaufhemmung für nicht erklärte ausländische Kapitalerträge mit Unionsrecht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa ©2015 Deutscher Bundestag PE 6 – 3000 –177/14 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 177/14 Seite 2 Zur Vereinbarkeit einer steuerlichen Anlaufhemmung für nicht erklärte ausländische Kapitalerträge mit Unionsrecht Aktenzeichen: PE 6 – 3000 – 177/14 Abschluss der Arbeit: 15.10.2014 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Unterabteilung Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Hausleitung, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 177/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Zur geplanten Regelung in der Abgabenordnung und Aufgabenstellung 4 2. Europarechtlicher Prüfungsmaßstab 5 3. Die Kapitalverkehrsfreiheit 6 3.1. Anwendbarkeit 6 3.2. Der Schutzbereich 6 3.3. Grenzüberschreitender Sachverhalt 7 3.4. Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit 7 3.5. Rechtfertigung 8 3.5.1. Geschriebener Rechtfertigungsgrund nach Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV 8 3.5.2. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe 10 3.5.3. Rechtfertigungsschranken 13 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 177/14 Seite 4 1. Zur geplanten Regelung in der Abgabenordnung und Aufgabenstellung Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung1 sieht vor, künftig § 170 Abs. 6 AO-E wie folgt zu fassen: „(6) Für die Steuer, die auf Kapitalerträge entfällt, die 1. aus Staaten oder Territorien stammen, die nicht Mitglieder der Europäischen Union oder der Europäischen Freihandelsassoziation sind, und 2. nicht nach Verträgen im Sinne des § 2 Absatz 1 oder hierauf beruhenden Vereinbarungen automatisch mitgeteilt werden, beginnt die Festsetzungsfrist frühestens mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem diese Kapitalerträge der Finanzbehörde durch Erklärung des Steuerpflichtigen oder in sonstiger Weise bekannt geworden sind, spätestens jedoch zehn Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres , in dem die Steuer entstanden ist.“ Ausweislich der Gesetzesbegründung soll § 170 Absatz 6 AO-E „gewährleisten, dass für bestimmte ausländische Kapitalerträge, die den deutschen Finanzbehörden nicht durch Erklärung des Steuerpflichtigen oder in sonstiger Weise bekannt geworden sind, diese zukünftig zutreffend besteuert werden können. Dies soll dadurch erreicht werden, dass die bislang geltenden Verjährungsfristen durch ihren späteren Beginn deutlich hinausgeschoben werden. Gegenwärtig erlangen in der Praxis die Finanzbehörden häufig nur zufällig über ausländische Kapitalerträge Kenntnis (z. B. im Rahmen der Auswertung einer Daten-CD). Diese ausländischen Kapitalerträge wurden häufig jahrelang den Finanzbehörden gegenüber verschwiegen, obwohl sie hätten erklärt werden müssen. Aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Verjährung kann weder die Steuer auf diese Kapitalerträge festgesetzt werden , noch kommt eine Bestrafung wegen Steuerhinterziehung in Betracht. Durch die Neuregelung soll für einen längeren Zeitraum die Durchsetzung des Steueranspruchs ermöglicht werden.“ 2 Der Fachbereich wird um Klärung folgender Frage ersucht: „Inwieweit begegnet die geplante steuerliche Anlaufhemmung für bestimmte nicht erklärte ausländische Kapitalerträge gem. § 170 Absatz 6 AO-E, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung, europarechtlichen Bedenken gegen die Kapitalverkehrsfreiheit und/oder Niederlassungsfreiheit, infolge der Ungleichbehandlung zwischen in- und ausländischen Kapitalerträgen?“ 1 Vom 24.09.2014, online abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Gesetze/2014-09-24-Aenderung- AO.pdf?__blob=publicationFile&v=3 2 Vgl. Gesetzesbegründung S. 9 f. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 177/14 Seite 5 2. Europarechtlicher Prüfungsmaßstab Aufgrund der beabsichtigten Neuregelung in § 170 Abs. 6 AO-E werden hinsichtlich der Festsetzungsfrist nach § 170 AO innerhalb der EU erzielte Kapitalerträge und solche, die aus Staaten oder Territorien stammen, die nicht Mitglieder der Europäischen Union oder der Europäischen Freihandelsassoziation sind, und nicht nach Doppelbesteuerungsabkommen (§ 2 Absatz 1 AO) oder hierauf beruhenden Vereinbarungen automatisch mitgeteilt werden, unterschiedlich behandelt . Nach § 169 AO ist eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Die in Frage stehende Neuregelung würde dazu führen, dass außerhalb der EU erzielte Kapitalerträge der Besteuerung unterliegen könnten während ansonsten unter den gleichen Voraussetzungen Einkünfte, die aus Deutschland, aus der EU oder aus Staaten oder Territorien außerhalb der EU stammen, die allerdings aufgrund von Doppelbesteuerungsabkommen verpflichtet sind, derartige Einkünfte automatisch zu melden, nach § 169 AO nicht mehr festgesetzt werden dürften. Der Bereich der direkten Steuern ist die Domäne der Mitgliedstaaten. Dem Recht der Europäischen Union lassen sich keine Strukturvorgaben für die Ausgestaltung des nationalen Besteuerungssystems im Bereich der direkten Steuern entnehmen. Die Gestaltungsfreiheiten der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern sind allerdings unter Wahrung des Unionsrechts auszuüben und finden ihre Grenzen in den Grundfreiheiten der EU. Die Grundfreiheiten dienen der Durchsetzung des Binnenmarkt-Konzepts und sollen ungerechtfertigte Beschränkungen verhindern und beseitigen.3 Der EuGH misst das nationale Steuerrecht demgemäß am Maßstab der Grundfreiheiten und prüft im jeweiligen Einzelfall, ob die jeweiligen Normen zu Diskriminierungen oder Beschränkungen führen.4 Auch in den Bereichen, in denen das Steuerrecht noch nicht harmonisiert ist, schützt das Unionsrecht Steuerzahler „in vergleichbarer Situation“ unionsweit vor materieller Ungleichbehandlung, die sich bei der Anwendung des Steuerrechts ergeben kann.5 Als primärrechtlicher Prüfungsmaßstab für grenzüberschreitende Besteuerung kommen die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union [AEUV]) oder die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) in Betracht. Die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) schützt allerdings nur die Niederlassung eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates in einem anderen Mitgliedstaat. Da sich aus § 170 Abs. 6 AO-E eine Ungleichbehandlung aus der unterschiedlichen Festsetzung von außerhalb der EU erzielten und im Inland bzw. innerhalb der EU erzielten Kapitalerträge ergibt, die Niederlassungsfreiheit aber nur für Angehörige eines EU-Mitgliedstaates gilt, mithin auf Niederlassungen in einem Drittland keine Anwendung findet, kommt diese als Prüfungsmaßstab für die vorliegend untersuchte Fragestellung nicht in Betracht. Da die Kapitalverkehrsfreiheit auch Sachverhalte mit Drittstaatsbezug in ihren Schutzbereich einschließt, kommt sie hingegen als Prüfungsmaßstab dafür, ob vorstehende Ungleichbehandlung mit EU-Recht vereinbar ist, grundsätzlich in Betracht. 3 Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 2005, S. 43 f. 4 Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, Deutsches Steuerrecht (DStR) 2009, S. 1229; dazu auch mit zahlreichen Nachweisen Strassburger, Die Dogmatik der EU-Grundfreiheiten, 2012, S. 126 ff. 5 Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 2005, S. 215. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 177/14 Seite 6 3. Die Kapitalverkehrsfreiheit 3.1. Anwendbarkeit Auch soweit die Niederlassungsfreiheit nicht die Niederlassung in einem Drittstaat schützt, stellt sich die Frage, ob ein Vorrangverhältnis der Niederlassungsfreiheit gegenüber der Kapitalverkehrsfreiheit besteht, was zur Folge haben könnte, dass Sachverhalte, die der Niederlassungsfreiheit unterfallen, dem Normbereich der Kapitalverkehrsfreiheit entzogen sein könnten. Nach der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH kann eine steuerliche Behandlung von Erträgen sowohl dem Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit als auch der Freiheit des Kapitalverkehrs unterfallen.6 Eine nationale Regelung, die ausschließlich auf Beteiligungen Anwendung findet, auf Grund derer einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft ausgeübt werden kann, unterliegt dem Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit.7 Der Gerichtshof hat allerdings klargestellt, dass in einem Mitgliedstaat ansässige Personen sich unabhängig von der Höhe einer Beteiligung an einer Drittstaatengesellschaft auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen können.8 Für den Bereich der steuerlichen Behandlung von Dividenden mit Ursprung in einem Drittstaat hat der EuGH jüngst entschieden, dass die steuerliche Behandlung entsprechender Dividenden an der Kapitalverkehrsfreiheit zu messen ist, soweit die nationalen Rechtsvorschriften zur Behandlung von Dividenden nicht ausschließlich für Situationen Anwendung finden , in denen eine Muttergesellschaft maßgebenden Einfluss auf die Dividenden ausschüttende Muttergesellschaft ausübt.9 In diesem durch die Rechtsprechung des EuGH vorgezeichneten Rahmen kann die Kapitalverkehrsfreiheit als Prüfungsmaßstab für die Besteuerung von außerhalb der EU erzielten Kapitalerträge Anwendung finden.10 3.2. Der Schutzbereich Die Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 63 Abs. 1 AEUV verbietet alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern. Allgemein werden unter „Kapital“ alle Vermögenswerte verstanden.11 Der EuGH beschreibt Kapitalverkehr als „Transfer von Vermögenswerten“.12 Hierunter fällt Geldkapital, wie Wertpapiere, Kredite und Darlehen, sowie Sachkapital, wie Immobilien und Unternehmensbeteiligungen.13 6 EuGH, verb. Rs. C-436/08, C-437/08, Urt. v. 10.02.2011, Rs. C-35/11, Urt. v. 13.11.2012 7 EuGH, Rs. C-35/11, Urt. v. 13.11.2012, Rn. 37 8 EuGH, Rs. C-35/11, Urt. V. 13.11.2012, Rn. 99 9 EuGH, Rs. C-47/12, Urt. v. 11.09.2014 10 Eingehend zu dieser Abgrenzungsproblematik Möhrwald, Nreka, EWS 2014, S. 76 (79 f.) 11 Bröhmer, in: Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 63 Rn. 8 12 EuGH, verb. Rs. C-358/93 und 416/93, Urt. v. 23.02.1993, Rn. 13. 13 Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 2005, S. 99; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2014, Rn. 1041; Bröhmer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 63 AEUV, Rn. 8; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2014, § 30, Rn. 2 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 177/14 Seite 7 Zur näheren Konkretisierung des Begriffs Kapital greift der EuGH in ständiger Rechtsprechung auf die Kapitalverkehrs-Richtlinie 88/36114 zurück, deren Anhang I eine nicht abschließende „Nomenklatur für den Kapitalverkehr“ enthält.15 Der Schutz der Kapitalverkehrsfreiheit dürfte sich daher auf alle denkbaren Gegenstände der Besteuerung erstrecken. 3.3. Grenzüberschreitender Sachverhalt Die Grundfreiheiten gelangen nur zur Anwendung, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt. Nationale Regelungen stellen einen grenzüberschreitenden Bezug her, wenn sie sich in mehr als nur einem Mitgliedstaat auswirken. Es reicht aus, dass über einen besteuerungsrelevanten Anknüpfungspunkt wie dem Wohnsitz bzw. gewöhnlichem Aufenthalt, der Belegenheit eines Grundstücks im EU-Ausland, das Bankkonto im EU-Ausland oder eine ähnliche Verbindung ein grenzüberschreitender Bezug hergestellt wird.16 Dieses Erfordernis ist durch das Regelungsvorhaben in § 170 Abs. 6 AO-E erfüllt, da diese Norm an Kapitalerträge in einem Drittstaat anknüpft. 3.4. Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit Art. 63 Abs. 1 AEUV verbietet alle Beschränkungen des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und gegenüber dritten Ländern. Der Begriff der Beschränkung in Art. 63 Abs. 1 AEUV umfasst sowohl diskriminierende nationale Regelungen als auch solche Maßnahmen, die unterschiedslos für grenzüberschreitende und innerstaatliche Transaktionen gelten.17 Unter Beschränkung wird jede nationale Maßnahme verstanden, die geeignet ist, von der Wahrnehmung der Freiheit abzuschrecken oder grenzüberschreitenden Kapitalverkehr weniger attraktiv zu machen.18 Alle nationalen Regelungen sind hiernach demgemäß unzulässig, die In- und Auslandssachverhalte prima facie zwar gleich behandeln, aber grenzüberschreitende Betätigungen faktisch gegenüber den innerstaatlichen erschweren.19 14 Richtlinie 88/361 des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages, ABl. L 178 S. 5, online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:31988L0361:DE:HTML (letzter Abruf: 8.10.2010). 15 Vgl. z. B. EuGH, verb. Rs. C-163/94, C-165/94 und C-250/94, Urt. v. 14.12.1995, Rn. 34. 16 Wilms/Maier, Europarechtliche Kapitalverkehrsfreiheit und deutsches Erbschaftsteuerrecht – Teil 1, Umsatzsteuer - und Verkehrssteuer-Recht (UVR) 2004, S. 327 (332 f.). 17 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2014, § 30, Rn. 14. 18 Ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. z. B. Rs. C-439/97, Urt. v. 14.10.1999, Rn. 19; Rs. C-484/93, Urt. v. 14.11.1995, Rn. 10; Rs. C-222/97, Urt. v. 16.03.1999, Rn. 26 f.; Rs. C-478/98, Urt. v. 26.09.2000, Rn. 18 f.; Rs. C- 483/99, Urt. v. 4.06.2002, Rn. 41; Rs. C-463/00, Urt. v. 13.05.2003, Rn. 61. 19 Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, 2014, Rn. 825 mit Verweis auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache de Groot, C-385/00, Urt v. 12.12.2002, Rn. 78: „Vorschriften, die einen Staatsangehörigen eines Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 177/14 Seite 8 Des Weiteren sind erst recht alle Diskriminierungen verboten, die den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr offen oder versteckt stärker einschränken als den innerstaatlichen.20 Knüpft eine staatliche Maßnahme ausdrücklich an die Herkunft bzw. das Ziel einer Kapitalbewegung an, handelt es sich um eine direkte Diskriminierung. Eine indirekte Diskriminierung liegt demgegenüber vor, wenn die staatliche Maßnahme nicht unmittelbar auf die Herkunft des Kapitals abstellt , sondern zum Beispiel auf die Herkunft des Inhabers, z. B. anhand der Nationalität oder des Wohnorts.21 Eine Anwendung des nationalen Steuerrechts auf gebietsfremde EU-Bürger/Unternehmen mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaat bzw. die Besteuerung von Auslandsvermögen von Inländern wird dadurch zu einer Regelung bzw. Maßnahme im Bereich des Kapitalverkehrs, dass sie Auswirkungen hat auf den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr. Für Gebietsfremde anwendbare steuerrechtliche Regelungen führen im Grundsatz zu einer Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit, wenn sie dazu geeignet sind, diese davon abzuhalten, Investitionen in einem Mitgliedstaat oder außerhalb der EU vorzunehmen bzw. solche Investitionen weniger attraktiv machen22; für Gebietsangehörige dadurch, dass durch eine Besteuerung Anreize entstehen, Investitionen in einem anderen Mitgliedstaat oder Drittland nicht zu tätigen. Nach diesem Maßstab führte § 170 Abs. 6 AO-E zu einer Beschränkung des Kapitalverkehrs, indem die daraus folgende unterschiedliche Festsetzungsfrist Anreize schaffen könnte, Kapital nicht in ein Drittland oder in Territorien zu transferieren, für diese Regelung Anwendung finden soll. 3.5. Rechtfertigung Eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit kann gerechtfertigt sein. Es kommen dabei geschriebene als auch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe in Betracht: 3.5.1. Geschriebener Rechtfertigungsgrund nach Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV Nach Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV ist es den Mitgliedstaaten gestattet, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln. Damit ist im Rahmen des Steuerrechts nach dieser Vorschrift eine Ungleichbehandlung von In- und Ausländern bzw. in- und ausländischem Vermögen grundsätzlich zulässig. Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV trägt dem Umstand Rechnung, dass die Steuerhoheit zu den wesentlichen Grundlagen staatlicher Souveränität gehört und es der Union Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen daher eine Beschränkung dieser Freiheit dar, auch wenn sich unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden.“ 20 Strassburger, Die Dogmatik der EU-Grundfreiheiten, 2012, S. 115 f. 21 Hindelang, Direktinvestitionen und die Europäische Kapitalverkehrsfreiheit im Drittstaatenverhältnis, JZ 2009, S. 829 (834). 22 EuGH, Rs. C-512/03, Urt. v. 8.09.2005, Rn. 36. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 177/14 Seite 9 bisher nicht gelungen ist, insbesondere auf dem Gebiet der direkten Steuern, eine weitgehende Harmonisierung zu erreichen.23 Der Vorbehalt der Ungleichbehandlung durch nationale Steuerregeln gilt jedoch nicht uneingeschränkt : Er gilt zunächst nur für Steuerpflichtige. Eine unionsrechtliche Ungleichbehandlungsoption für die angestrebte steuerliche Anlaufhemmung für nicht erklärte ausländische Kapitalerträge aus einem Drittstaat ohne Doppelbesteuerungsabkommen nach dieser Regelung setzte zunächst voraus , dass das in Frage stehende Regelungsvorhaben dem Steuerrecht i.S.d. Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV unterfiele. Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV legt erkennbar nicht fest, durch welche Merkmale eine „Steuer“ gekennzeichnet sein soll sondern verweist auf die „einschlägigen Vorschriften“ des mitgliedsstaatlichen Steuerrechts. Eine Definition des Steuerbegriffs fehlt auf primärrechtlicher Ebene gänzlich .24 Die Regelung in Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV erfasst zunächst das Recht der Mitgliedstaaten, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln. Diese können Besonderheiten ihres nationalen Steuerrechts, die nach Steuerinländern und –ausländern unterschiedlich behandeln, beibehalten, solange nicht eine Harmonisierung der betreffenden (direkten) Steuern erreicht wurde.25 Man könnte damit zu der Auffassung gelangen, dass der Vorbehalt für nationale Steuerregeln des Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV grundsätzlich auch auf die vorgeschlagene Neuregelung in § 170 Abs. 6 AO-E anwendbar sein könnte. Allerdings ist der Anwendungsbereich dieser Norm durch eine zum Vertrag von Maastricht aufgenommene Erklärung Nr. 7 zu Art. 73d des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) (später Art. 58 EGV, jetzt Art. 65 AEUV) erheblich eingeschränkt worden: Hiernach gilt das in Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV erwähnte Recht der Mitgliedstaaten, „die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, nur für die einschlägigen Vorschriften (…), die Ende 1993 bestehen“ (sog. Stillhalteerklärung).26 Solche Erklärungen sind bei der Auslegung der Verträge zu berücksichtigen.27 Neue, erst nach 1993 erlassene Regelungen im Kapital- und Zahlungsverkehr der Mitgliedstaaten, die nach Wohnort oder Anlageort differenzieren, können damit nicht auf Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV gestützt und gerechtfertigt werden.28 Folglich spricht viel für die Annahme, dass auch § 170 Abs. 6 AO-E nicht auf diese Vorschrift gestützt werden kann. 23 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2014, Rn. 1052 24 Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (42) 25 Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union (53. ErgLief 2014), Art. 65 Rn. 20 26 ABl. 1992 Nr. C 191, S. 99. 27 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2014, § 30, Rn. 19 28 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2014, Rn. 1052 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 177/14 Seite 10 3.5.2. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe Richterrechtlich hat der EuGH seit seiner Cassis de Dijon-Entscheidung29 ungeschriebene Rechtfertigungsgründe entwickelt, die „zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls/-interesses“.30 Es handelt sich hierbei um einen nicht abgeschlossenen Kanon, der weiterhin richterrechtlich fortgebildet wird und hinter dem kein bestimmtes System zu erkennen ist.31 Eine Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses kommt jedoch nur bei Maßnahmen in Betracht , „die für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten“32. Dieses Erfordernis würde das zu begutachtende Regelungsvorhaben erfüllen, da unterschiedslos alle Steuerpflichtigen, für die die Abgabenordnung Anwendung findet, von der angestrebten steuerlichen Anlaufhemmung für nicht erklärte ausländische Kapitalerträge aus einem Drittstaat ohne Doppelbesteuerungsabkommen betroffen wären. Die damit verbundene Ungleichbehandlung hinsichtlich der steuerlichen Anlaufhemmung könnte damit durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses grundsätzlich gerechtfertigt sein. Als Beschränkungen des Kapitalverkehrs im Bereich der direkten Steuern rechtfertigende Allgemeininteressen haben in der Rechtsprechung des EuGH folgende Gründe Anerkennung gefunden :33 Als zwingende Grund des Allgemeininteresses wurde sowohl das Interesse der Mitgliedstaaten an der Bekämpfung missbräuchlicher Gestaltungen durch die Verhinderung der Steuerflucht als auch das Interesse an wirksamer Steueraufsicht anerkannt.34 Beschränkungen des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs erachtet der EuGH zur Abwehr von Gestaltungsmissbräuchen für rechtens, soweit im Einzelfall eine „künstliche Konstruktion “ ohne wirtschaftliche Substanz gewählt wird und die Wahrnehmung einer Grundfreiheit nur dem äußeren Anschein nach erfolgen soll.35 Bedeutsam ist diese Rechtsprechung für Kapitalanlagen aus oder in Drittstaaten. Da die Kapitalverkehrsfreiheit kein gewerbliches oder berufliches Engagement voraussetzt und durch diese auch schlichte Kapitalanlagen geschützt sind, gelten Portfolioanlagen in ausländischen Beteiligungen, 29 EuGH, Rs. 120/78, Urt. v. 20.02.1979, Rn. 8. 30 Zur Herleitung solcher zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses durch den EuGH vgl. Haratsch /Koenig/Pechstein, Europarecht, 2014, Rn. 1060 ff. 31 Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, 2014, Rn. 835. 32 EuGH, Rs. C-302/97, Urt. v. 1.06.1999, Rn. 40 f.; Rs. C-503/99, Urt. v. 4.06.2002, Rn. 45. 33 Vgl. zu möglichen Rechtfertigungsgründen ausführlich Berberich, Europarechtliche Kapitalverkehrsfreiheit und deutsches Erbschaftsteuerrecht, 2008, S. 173 ff. 34 Schießl, Der Einfluss der Kapitalverkehrsfreiheit des EG-Vertrags auf das nationale Steuerrecht, Die Steuerwarte 2005, S. 211 (212) unter Verweis auf EuGH, Rs. C-324/00, Urt. v. 12.12.2002, EuGH, Rs. C-254/97, Urt. v. 8.07. 1999, Rn. 18 35 Dazu EuGH, Rs. C-264/96, Urt. v. 16.07.1998, Rn. 26; EuGH, Rs. C-324/00, Urt. v. 12.12.2002; Schön, Der Kapitalverkehr mit Drittstaaten und das internationale Steuerrecht, in: Gocke/Gosch/Lang (Hrsg.), Festschrift für Franz Wassermeyer, 2005, S. 489 (517). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 177/14 Seite 11 Fremdkapitaltiteln, Investmentfonds oder Beteiligungen an Gesellschaften, die lediglich Kapital verwalten, nicht generell als missbräuchlich.36 Bedürfnisse der Steueraufsicht erkennt der EuGH im Grundsatz als Legitimation für eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit an37, lässt in seinen Entscheidungen hierfür aber im Kapitalverkehr zwischen Mitgliedstaaten aufgrund der bestehenden Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Rechtshilfe praktisch keinen Raum. Größere Bedeutung erlangt dieser Rechtfertigungsgrund im Verhältnis zu Drittstaaten. Mitgliedstaaten sollen geltend machen können, dass ohne Beschränkungen des Kapitalverkehrs eine angemessene Sachverhaltsaufklärung und Steuerdurchsetzung nicht möglich sei. Dem trägt die Begründung des Gesetzentwurfs Rechnung, indem diese das hier zu begutachtende Regelungsvorhaben wie folgt begründet: Hiernach soll § 170 Abs. 6 AO-E „gewährleisten, dass für bestimmte ausländische Kapitalerträge, die den deutschen Finanzbehörden nicht durch Erklärung des Steuerpflichtigen oder in sonstiger Weise bekannt geworden sind, diese zukünftig zutreffend besteuert werden können. Dies soll dadurch erreicht werden, dass die bislang geltenden Verjährungsfristen durch ihren späteren Beginn deutlich hinausgeschoben werden. Gegenwärtig erlangen in der Praxis die Finanzbehörden häufig nur zufällig über ausländische Kapitalerträge Kenntnis (z. B. im Rahmen der Auswertung einer Daten -CD). Diese ausländischen Kapitalerträge wurden häufig jahrelang den Finanzbehörden gegenüber verschwiegen, obwohl sie hätten erklärt werden müssen. Aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Verjährung kann weder die Steuer auf diese Kapitalerträge festgesetzt werden, noch kommt eine Bestrafung wegen Steuerhinterziehung in Betracht. Durch die Neuregelung soll für einen längeren Zeitraum die Durchsetzung des Steueranspruchs ermöglicht werden.“ Hinfällig wird diese Eingriffsmöglichkeit allerdings dann, wenn zwischenstaatliche Regelungen – etwa im Rahmen von Doppelbesteuerungsabkommen – wirksame Instrumente der Informationsgewinnung oder zur Durchsetzung von Steueransprüchen bestehen.38 Diesem Erfordernis trägt der Gesetzentwurf Rechnung, indem § 170 Abs. 6 AO-E nur Anwendung finden soll, soweit die Informationsgewinnung zur angemessenen Besteuerung nicht aufgrund von entsprechenden vertraglichen Verpflichtungen des Drittlandes gewähreistet ist. Das Regelungsvorhaben könnte nach hiesiger Einschätzung auf diesen Rechtfertigungsgrund gestützt werden. Die Kohärenz des Steuersystems kann eine Beschränkung des Kapitalverkehrs durch eine differenzierte Anwendung steuerrechtlicher Regelungen für Steuerin- und Steuerausländer rechtfertigen, soweit Vorteile und Nachteile innerhalb des nationalen Steuersystems 36 Schön, Der Kapitalverkehr mit Drittstaaten und das international Steuerrecht, in: Gocke/Gosch/Lang (Hrsg.), Festschrift für Franz Wassermeyer, 2005, S. 489 (518). 37 EuGH, Rs. C-478/98, Urt. v. 26.09.2000, Rn. 38 38 Schön, Der Kapitalverkehr mit Drittstaaten und das international Steuerrecht, in: Gocke/Gosch/Lang (Hrsg.), Festschrift für Franz Wassermeyer, 2005, S. 489 (517). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 177/14 Seite 12 in einem untrennbaren Zusammenhang stehen.39 Der Gesichtspunkt der Kohärenz geht von der Abgeschlossenheit eines nationalen Besteuerungssystems aus. Dieses sei geprägt durch eine wechselseitige Abhängigkeit steuerlicher Vergünstigungen und Belastungen, mit der wirtschaftliche Doppelbesteuerungen eines Steuerpflichtigen vermieden werden sollen. Würde der nationale Steuergesetzgeber durch europarechtliche Freiheiten wie der Kapitalverkehrsfreiheit dazu verpflichtet, dem grenzüberschreitend tätigen Steuerpflichtigen entweder nur eine Vergünstigung wie z. B. einen Steuerfreibetrag zu gewähren oder ihn von einer steuerlichen Belastung auszunehmen, geriete ein ausgewogenes Steuersystem aus dem Gleichgewicht.40 Der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz für eine Ungleichbehandlung findet in der Rechtsprechung des EuGH allerdings nur einen sehr begrenzten Anwendungsbereich. Der EuGH beschränkt die Anwendung dieses Rechtfertigungsgrunds auf die Situation eines einzelnen Steuerpflichtigen.41 Steuerliche Regelungen müssten also zu einem Vorteilsausgleich bei derselben Person führen.42 Zum Tragen kam dieser Rechtfertigungsgrund bislang, soweit ersichtlich, jedoch nur in einem einzigen Fall, nämlich einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Belgien wegen einer Einkommensteuerregelung , die einen inländischen Sachverhalt besser behandelte als einen grenzüberschreitenden .43 Dieser Rechtfertigungsgrund erscheint für das hier in Frage stehende Regelungsvorhaben nicht einschlägig zu sein. Auch das allgemeine Territorialitäts- oder Quellenprinzip kann eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit rechtfertigen. Unter diesem Gesichtspunkt könnten mitgliedstaatliche steuerliche Vorschriften gerechtfertigt sein, die Ausdruck der Beschränkung der Ausübung der Besteuerungshoheiten auf die im jeweiligen Inland belegenen Quellen sind.44 Der EuGH hat es unter diesem Gesichtspunkt als gerechtfertigt angesehen, einen Verlustvortrag eines beschränkt Steuerpflichtigen von einem wirtschaftlichen Zusammenhang der Verluste mit Einkünften in dem betreffenden Staat abhängig zu machen.45 In jüngeren Entscheidungen übte der EuGH zu diesem Rechtfertigungsgrund jedoch deutliche Zurückhaltung.46 Der Gedanke der „Besteuerungsbefugnisaufteilung wird in der einschlägigen Entscheidung Marks & Spencer47 als Rechtfertigungsgrund für grundfreiheitli- 39 EuGH, Rs. C-204/90, Urt. v. 28.01.1992 ; Rs. C-300/90, Urt. v. 28.01.1992; Schön, Der Kapitalverkehr mit Drittstaaten und das internationale Steuerrecht, in: Gocke/Gosch/Lang (Hrsg.), Körperschaftsteuer, Internationales Steuerrecht, Doppelbesteuerung, Festschrift für Franz Wassermeyer zum 65. Geburtstag, 2005, S. 489 (518). 40 So die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 18.03.2004 im Verfahren Rs. C-319/02, Rn. 49 ff. 41 EuGH, Rs. C-168/01, Urt. v. 18.09.2003, Rn. 29 ff. 42 EuGH, Rs. C-324/00, Urt. v. 12.12.2002, Rn. 42. 43 Von Wilmowsky, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten, 2009, § 12 IV 1, Rn. 18. 44 Berberich, Europarechtliche Kapitalverkehrsfreiheit und deutsches Erbschaftsteuerrecht, 2008, S. 175. 45 EuGH, Rs. C-250/95, Urt. v. 15.05.1997, Rn. 18 ff.; Rs. C-168/01, Urt. v. 18.09.2003, Rn.37 ff.; dazu Berberich, Europarechtliche Kapitalverkehrsfreiheit und deutsches Erbschaftsteuerrecht, 2008, S. 175. 46 EuGH, Rs. C-471/04, Urt. v. 23.02.2006, Rn. 44. 47 EuGH, Rs. C-446/03, Urt. v. 13.12.2005, Rn. 55. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 177/14 Seite 13 che Beschränkungen in Kombination mit der Möglichkeit der doppelten Verlustberücksichtigung und der Steuerfluchtgefahr gestützt, so dass derzeit nicht seriös einzuschätzen ist, in welchem Maß das Territorialitäts- bzw. Quellenprinzip nach der Rechtsprechung des EuGH Beschränkungen von Grundfreiheiten rechtfertigen können. Nicht als Rechtfertigungsgrund für Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit anerkannt hat der EuGH die fehlende Steuerharmonisierung und die fehlende Reziprozität mitgliedstaatlicher steuerrechtlicher Regelungen.48 Der EuGH begründet dies mit der unbedingten Geltung der Grundfreiheiten . Ein Mitgliedstaat könne ihre Beachtung nicht vom Inhalt eines mit einem anderen Mitgliedstaat vereinbarten Abkommens – insb. eines Doppelbesteuerungsabkommens – abhängig machen oder einer sonstigen Gegenseitigkeitsbedingung unterwerfen, um in einem anderen Mitgliedstaat entsprechende Vorteile zu erhalten.49 Rein wirtschaftliche und haushaltspolitische Gründe stellen ebenfalls keinen zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar.50 Das gilt für den mit einer diskriminierenden Steuerregelung verfolgten Zweck, die Wirtschaft des Landes durch Investitionsanreize zu fördern, ebenso wie für den Schutz der nationalen Ertragshoheit durch Vermeidung von Steuermindereinnahmen.51 Damit steht zu vermuten, dass eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit jedenfalls nicht allein mit dem Argument gerechtfertigt werden könnte, dass hiermit die Belastung des Staatshaushalts durch Konjunkturpakete und Rettungsschirme für Banken und Unternehmen abgefedert werden soll. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass sich das hier untersuchte Regelungsvorhaben nach hiesiger Einschätzung unter dem Aspekt der angemessenen Sachverhaltsaufklärung und Steuerdurchsetzung , die nach der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH als Rechtfertigungsgrund für eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit anerkannt ist, rechtfertigen ließe. 3.5.3. Rechtfertigungsschranken Kann eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit durch ungeschriebene Gründe gerechtfertigt werden, muss darüber hinaus auch gewährleistet sein, dass an sich einschlägige Rechtfertigungsgründe ihrerseits nicht gegen Schrankenregelungen verstoßen. Beschränkungen des Kapitalverkehrs sind wie alle Grundfreiheiten auch bei Vorliegen von zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses nur zulässig, soweit sie geeignet und erforderlich sind, diesem Ziel zu dienen und angemessen erscheinen (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit).52 Da allerdings weniger ein- 48 EuGH, Rs. 270/83, Urt. v. 28.01.1986 49 EuGH, Rs. 270/83, Urt. v. 28.01.1986 50 EuGH, Rs. C-35/98, Urt. v. 6.06.2000, Rn. 48, 59; Rs. C- 319/02, 7.09.2004, Rn. 49; Rs. C-194/06, 20.05.2008; Rn. 84; Berberich, Europarechtliche Kapitalverkehrsfreiheit und deutsches Erbschaftsteuerrecht, 2008, S. 172 mit weiteren Verweisen auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH in Fn. 867. 51 EuGH, Rs. C-35/98, Urt. v. 6.06.2000, Rn. 48, 59; Rs. C-319/02, 7.09.2004, Rn. 49; Rs. C-194/06, 20.05.2008; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, 2009, Rn. 835. 52 Vgl. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, Deutsches Steuerrecht (DStR) 2009, S. 1229 (1232); Berberich, Europarechtliche Kapitalverkehrsfreiheit und deutsches Erbschaftsteuerrecht, 2008, S. 188 f. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 177/14 Seite 14 griffsintensive Maßnahmen, soweit ersichtlich, nicht zur Verfügung stehen, das mit § 170 Abs. 6 AO-E verfolgte Ziel der effektiven Besteuerung von Kapitalerträgen aus solchen Drittländern oder Territorien, zu denen keine vertraglichen Verpflichtungen bestehen, auf Grund derer die Steuerbehörden von entsprechenden Kapitalerträgen Kenntnis erlangen, dürfte dieses Regelungsvorhaben auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. All dies spricht dafür, dass das hier untersuchte Gesetzesvorhaben mit den europarechtlichen Verbürgungen der Kapitalverkehrsfreiheit und Niederlassungsfreiheit vereinbar ist. - Fachbereich Europa -