Deutscher Bundestag Die neue EU-Tierversuchsrichtlinie Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit und der Erlass strengerer Maßnahmen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 11 – 3000 – 176/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 2 Die neue EU-Tierversuchsrichtlinie Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit und der Erlass strengerer Maßnahmen Aktenzeichen: WD 11 – 3000 – 176/10 Abschluss der Arbeit: 8. September 2010 Fachbereich: WD 11: Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Das Subsidiaritätsprinzip 6 2.1. Der Grundgedanke des Subsidiaritätsprinzips im Recht der Europäischen Union 6 2.2. Verankerung im Primärrecht 7 2.3. Zur Prüfung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips 8 3. Prüfung des Richtlinienentwurfs 9 3.1. Prüfungsgegenstand 9 3.2. Keine ausschließliche Zuständigkeit der Union 9 3.3. Keine ausreichende Verwirklichung der Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten 10 3.3.1. Ziele des Richtlinienentwurfs 10 3.3.2. Grenzüberschreitende Aspekte 10 3.3.3. Gefährdung der Vertragsziele 11 3.3.4. Bessere Verwirklichung der Ziele auf der Ebene der Europäischen Union: Begründungskontrolle 12 3.4. Ergebnis 14 4. Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit 14 5. Zur rechtlichen Beurteilung von Art. 2 des Ratsentwurfs und der Möglichkeit des Erlasses strengerer nationaler Vorschriften 15 5.1. Die Richtlinie als Mittel zur Rechtsangleichung 15 5.2. Die Harmonisierungsintensität einer Richtlinie 16 5.2.1. Vollharmonisierung 16 5.2.2. Teilharmonisierung 16 5.3. Harmonisierungsgrad des Ratsentwurfs unter Berücksichtigung von Art. 2 17 5.4. Zur Rechtmäßigkeit von Art. 2 des Ratsentwurfs 17 5.5. Der nationale Alleingang nach Art. 114 Abs. 5 AEUV 17 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 4 1. Einleitung Am 28. November 1986 trat die Richtlinie 86/609/EWG1 zum Schutz der für Versuchszwecke verwendeten Tiere in Kraft. Mit dieser Richtlinie sollten die Verfahren auf dem Gebiet der Tierversuche innerhalb der Europäischen Union (EU) vereinheitlicht werden. Einzelne Mitgliedstaaten ergriffen daraufhin bei der nationalen Umsetzung der Richtlinie 86/609/EWG deutlich weitreichendere Maßnahmen als andere Mitgliedstaaten. Um diese Unterschiede zu beseitigen und um die Richtlinienbestimmungen in Hinblick auf das Tierschutzniveau auf einen der gegenwärtigen Forschung entsprechenden Stand zu bringen, legte die Europäische Kommission (Kommission) am 5. November 2008 einen Entwurf für eine (neue) Richtlinie zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere2 (Kommissionsvorschlag) vor . Mit der Neufassung der Richtlinie bezweckte die Kommission innerhalb der EU eine Harmonisierung der geltenden Vorschriften zum Schutz von Versuchstieren. Inhaltlich sieht der Kommissionsvorschlag im Vergleich zur Richtlinie 86/609/EWG eine Verschärfung des Tierschutzes bei gleichzeitiger Stärkung des EU- Binnenmarktes vor. Der Kommissionsvorschlag durchlief das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 294 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV): Er ist durch den am 3. Juni 2010 angenommenen Standpunkt des Rates der Europäischen Union (Rat) in erster Lesung in verschiedenen Punkten überarbeitet worden.3 Nachdem der federführende Ausschuss des Europäischen Parlaments (EP) am 12. Juli 2010 den Standpunkt des Rates billigte,4 hat das Plenum des EP den Kommissionsvorschlag in der durch den Standpunkt des Rates geänderten Fassung (im Folgenden : Ratsentwurf) am 8. September 2010 angenommen. Die Frage, ob das im Ratsentwurf vorgegebene Schutzniveau für die zu Versuchszwecke verwendeten Tiere ausreicht, ist derzeit Gegenstand einer regen öffentlichen Debatte.5 1 Richtlinie 86/609/EWG des Rates vom 24. November 1986 zur Annäherung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=CELEX:31986L0609:DE:HTML (Stand: 8.9.2010). 2 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere vom 5. November 2008, KOM(2008) 543, online abrufbar unter http://eur-lex.europa .eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2008:0543:FIN:DE:PDF (Stand: 8.9.2010). 3 Vgl. Standpunkt (EU) Nr. 12/2010 des Rates in erster Lesung im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, vom Rat am 3. Juni 2010, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=OJ:C:2010:203E:0019:0069:DE:PDF (Stand: 8.9.2010). 4 Empfehlung für die zweite Lesung, betreffend den Standpunkt des Rates in erster Lesung im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (06106/2010 – C7-0147/2010 – 2008/0211(COD)), Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, vom 13.7.2010, online abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pub- Ref=-//EP//NONSGML+REPORT+A7-2010-0230+0+DOC+PDF+V0//DE (Stand: 8.9.2010). 5 Für strengere Tierschutzvorschriften in der Richtlinie (Auswahl) vgl. „12 Millionen Gründe für eine bessere EU- Richtlinie“, Pressemitteilung, Ärzte gegen Tierversuche e.V. , online abrufbar unter http://www.aerzte-gegentierversuche .de/infos/eu/160-12-millionen-gruende-fuer-eine-bessere-eu-richtlinie (Stand: 8.9.2010); „Keine Umsetzung ausreichenden Tierschutzes durch aktuelle Richtlinien: Richtlinie zum Schutz von Versuchstieren, Stellungnahme der Deutschen Juristischen Gesellschaft für Tierschutzrecht e.V. vom 4.8.2010, online abrufbar Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 5 Inhaltlich sah nur die Begründung des Kommissionsvorschlags vor, dass die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene strengere als die in dem Entwurf vorgesehenen Maßnahmen zum Schutz von Versuchstieren treffen können, sofern sie den Anforderungen des Art. 114 Abs. 4 AEUV (ex-Art. 95 Abs. 4 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft) genügen.6 Ein entsprechender Artikel war im Kommissionsvorschlag nicht vorgesehen. Im Ratsentwurf vom 3. Juni 20107 sind dagegen in Art. 2 Regelungen zum Erlass nationaler strengerer Maßnahmen verankert.8 So können die Mitgliedstaaten unter Einhaltung der allgemeinen Bestimmungen des Vertrags geltende Vorschriften aufrechterhalten, die die Gewährleistung eines umfassenderen Schutzes der unter diese Richtlinie fallenden Tiere zum Ziel haben, als die in dieser Richtlinie festgelegten Bestimmungen. Hierzu teilen die Mitgliedstaaten der Kommission die entsprechenden einzelstaatlichen Vorschriften mit. Die Kommission unterrichtet die anderen Mitgliedstaaten von diesen Maßnahmen (Art. 2 Absatz 1). Im Folgenden wird untersucht, inwieweit der Ratsentwurf mit dem Subsidiaritätsprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar ist: In einem ersten Schritt werden das Subsidiaritätsprinzip und seine Vorgaben näher erläutert. Im Anschluss daran erfolgt die eigentliche Prüunter http://www.djgt.de/system/files/29/original/Stellungnahme_DJGT_Europ%C3%A4ische_Tierschutz politik__deutsche_Fassung_.pdf (Stand: 8.9.2010). Für weniger strenge Tierschutzvorschriften (Auswahl) vgl. „Tierversuche in der pharmazeutischen Forschung“, Positionspapier, Die forschenden Pharmaunternehmen, online abrufbar unter http://www.vfa.de/de/wirtschaftpolitik /positionen/pos-tierversuche-2.html (Stand: 8.9.2010); „Novellierung der EU-Tierversuchsrichtlinie 86/609/EWG“, Stellungnahme der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (für die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften), online abrufbar unter http://www.leopoldina-halle.de/cms/fileadmin/user_upload/Stellungnahme-Tierversuchsrichtlinie -DE.pdf (Stand: 8.9.2010). 6 Nach Art. 114 Abs. 4 AEUV kann ein Mitgliedstaat nach dem Erlass einer Harmonisierungsmaßnahme der Kommission mitteilen und Gründe dafür nennen, dass er beabsichtigt, einzelstaatliche (z.B. strengere) Bestimmungen beizubehalten. Die Kommission entscheidet nach dem Verfahren des Art. 114 Abs. 6 AEUV, ob sie die einzelstaatlichen Bestimmungen billigt oder ablehnt. Die Möglichkeit der Einführung neuer strengerer Vorschriften ist nicht in Art. 114 Abs. 4 AEUV, sondern in Art. 114 Abs. 5 AEUV vorgesehen. Auf Abs. 5 wurde jedoch in der Begründung des Kommissionsvorschlags nicht verwiesen. Die Mitgliedstaaten sollten daher nach dem Kommissionsvorschlag nicht die Möglichkeit erhalten, neue (strengere) Maßnahmen zu treffen, sondern bereits geltende Vorschriften beizubehalten. Der Kommissionsvorschlag nennt noch Art. 95 Abs. 4 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV). Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13. Dezember 2007, Amtsblatt der Europäischen Union 2007, C 306, S. 1 ff.) wurde die Europäische Gemeinschaft (EG) von der EU als deren Rechtsnachfolgerin abgelöst. Der EGV ist im Zuge dieser Reform in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) umbenannt worden. Der überwiegende Teil der Regelungen des EGV ist in dem AEUV aufgegangen. Art. 95 EGV entspricht inhaltlich Art. 114 Abs. 4 AEUV. 7 Siehe Fn. 4. 8 In früheren Richtlinienentwürfen des Rates waren die Vorgaben zum Erlass strengerer nationaler Vorschriften noch in einem Art. 2a enthalten. In der Entwurfsfassung der Richtlinie vom 3. Juni 2010 wurde Art. 2a durch den inhaltsgleichen Art. 2 ersetzt. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 6 fung des Ratsentwurfs. Abschließend wird der Frage nachgegangen, ob Art. 2 Absatz 1 des Ratsentwurfs mit dem geltenden Unionsrecht vereinbar ist und künftig der Erlass strengerer nationaler Vorschriften möglich sein wird. 2. Das Subsidiaritätsprinzip 2.1. Der Grundgedanke des Subsidiaritätsprinzips im Recht der Europäischen Union Zusammen mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bildet das Subsidiaritätsprinzip eine „europarechtliche Schrankentrias“ für jede Kompetenzausübung seitens der EU.9 Der Begriff „Subsidiarität“ lässt sich dabei dahingehend definieren, dass der kleineren Einheit der Vorrang im Handeln („Zuständigkeitsprägorative“) gegenüber der größeren Einheit nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit zukommt.10 Hierin liegt – trotz des hohen Abstraktionsgrades – der materielle Gehalt des Subsidiaritätsprinzips.11 Das Subsidiaritätsprinzip wird im Hinblick auf die EU ganz überwiegend unter dem Gesichtspunkt der Begrenzung unionsrechtlicher Kompetenzen diskutiert. Es geht aber insofern nicht um die Kompetenzverteilung, bei der das Subsidiaritätsprinzip lediglich eine politische Leitlinie sein kann12, sondern um die Frage der Kompetenzausübung im Hinblick auf die durch die Verträge der EU bereits verteilte und damit vorgegebene Kompetenz.13 Dies klarstellend bezeichnet Art. 5 Abs. 1 S. 2 des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon (EUV) das Subsidiaritätsprinzip als einen der Grundsätze für die „Ausübung der Zuständigkeiten der Union.“ Bei der Diskussion über das Subsidiaritätsprinzip ist weiterhin zu berücksichtigen, dass es sich dabei um einen Relationsbegriff handelt, dessen Inhalt angesichts unbestimmter Rechtsbegriffe („nicht ausreichend“, „besser“) erst in Bezug zu dem Kontext, in den er eingeordnet wird, konkretisiert werden kann.14 Weiterhin ist darauf zu achten, dass sich einerseits die Organe der EU den Pflichten, die ihnen das Subsidiaritätsprinzip auferlegt, nicht formalistisch entledigen und 9 Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, in: ders. (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Auflage 1994, S. 77 (78). 10 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2. Auflage 1999, S. 25 ff. 11 Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht, 2. Auflage 2001, S. 73. 12 Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung , in: Juristenzeitung (JZ) 2004, S. 8 (8). Schröder spricht insofern von einer „zusätzlichen verfassungspolitischen Aufgabe“ des Subsidiaritätsprinzips. 13 Schröter, Arbeitspapiere – Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung 54/2002, S. 1 (3). 14 So Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-11, Rn. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 7 dass andererseits die Mitgliedstaaten den Grundsatz der Subsidiarität nicht schematisch und sachfremd geltend machen.15 2.2. Verankerung im Primärrecht Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zum 1. Dezember 2009 legt Art. 5 Abs. 1 S. 2 EUV fest, dass für die Ausübung der Zuständigkeiten der EU die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gelten. Art. 5 Abs. 3 EUV regelt, dass nach dem Subsidiaritätsprinzip die EU in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig wird, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr mittels ihres Umfangs oder ihrer Wirkung auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. Dabei sollen die Organe der EU das Subsidiaritätsprinzip nach dem Protokoll Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Protokoll Nr. 2) anwenden.16 Die nationalen Parlamente sollen auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nach dem in diesem Protokoll vorgesehenen Verfahren achten. Durch das Protokoll Nr. 2 erfährt das Subsidiaritätsprinzip eine Konkretisierung. Schon der Subsidiaritätsgrundsatz nach Art. 5 Abs. 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) war durch das mit dem Vertrag von Amsterdam eingeführte Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Protokoll Nr. 30)17 näher definiert worden. Wesentliche Neuerungen hinsichtlich der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips ergeben sich bei einem Vergleich dieser Protokolle18: Während das Protokoll Nr. 30 nicht nur die verfahrensrechtlichen Prüfvorgaben definierte, sondern darüber hinaus auch eine Präzisierung der für die Subsidiaritätsprüfung bedeutsamen materiellen Kriterien enthielt, beschränkt sich das neue Protokoll Nr. 2 weitgehend auf die Festlegung rein prozeduraler Anwendungsbedingungen . Diese „Entmaterialisierung der Subsidiaritätsprüfung“ stellt eine – mit Blick auf Praktikabilität und Justitiabilität – Verschlechterung dar.19 Zusammen mit dem Protokoll Nr. 1 über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union (Protokoll Nr. 1)20 wird ein ex-ante-Kontrollverfahren zur Überwachung des Subsidiaritätsprinzips bereitgestellt. 15 So Streinz, Europarecht, 8. Auflage 2005, Rn. 166. 16 ABl. Nr. C 306 S. 148. Gemäß Art. 51 EUV sind die Protokolle Bestandteil der Verträge. 17 ABl. Nr. C 340, S. 105. 18 Das Protokoll Nr. 30 beruhte inhaltlich weitgehend auf dem auf der Tagung des Europäischen Rates von Edinburgh am 11. und 12. Dezember 1992 vereinbarten Gesamtkonzept für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips [COM.SI (92) 1050] sowie auf der Interinstitutionellen Vereinbarung vom 25. Oktober 1993 zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission über die Verfahren zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips . 19 Calliess, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-11, Rn. 23. So auch Mayer, Der Vertrag von Lissabon im Überblick, Juristische Schulung (JuS) 2010, 189, Rn. 192, der das Protokoll Nr. 2 als „unschärfer“ bezeichnet. 20 ABl. Nr. C 306, S. 146. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 8 2.3. Zur Prüfung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips Ein allgemein gültiges Schema zur Überprüfung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips existiert nicht. Unklar ist insbesondere, inwieweit bei einer allein auf die Subsidiarität beschränkten Prüfung die für den Gesetzgebungsakt gewählte Rechtsgrundlage zu untersuchen ist. Diese Frage stellt sich bei einer Subsidiaritätsklage, die nunmehr von den nationalen Parlamenten und dem Ausschuss der Regionen gemäß Art. 8 Protokoll Nr. 2 erhoben werden kann, da Art. 8 Protokoll Nr. 2 die gerichtliche Kontrolle ausdrücklich auf das Subsidiaritätsprinzip begrenzt. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) griff diesen Aspekt in seinem Urteil vom 30. Juni 2009 auf, indem es feststellte, dass es auch darauf ankommen wird, ob das Klagerecht der nationalen Parlamente und des Ausschusses der Regionen auf die der Überprüfung des Subsidiaritätsgrundsatzes vorgelagerte Frage erstreckt wird, ob die EU über eine Zuständigkeit für das konkrete Rechtssetzungsverfahren verfügt.21 Als Kontrollmaßstab für das Handeln der EU ist das Subsidiaritätsprinzip insgesamt schwer fassbar.22 Der EuGH hat in seinen zu Art. 5 EGV ergangenen Urteilen eine konkrete Subsidiaritätsprüfung zumeist vermieden.23 Er hat sich, sowohl was die Anzahl der Urteile angeht, in denen er das Subsidiaritätsprinzip erwähnt, als auch was die konkrete inhaltliche Ausgestaltung der Prüfung im Einzelfall betrifft, sehr zurückgehalten.24 Einer richterlichen Überprüfung erschließen sich allenfalls evidente Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip, in denen die Unionsorgane nicht einmal einen plausiblen Begründungsansatz für eine Regelung liefern. Ausgehend vom Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 EUV ergibt sich – wie bereits unter 2.2. erwähnt – jedenfalls eine Subsidiaritätsprüfung in drei Schritten: Zunächst ist die Art der Zuständigkeit festzulegen . Danach ist zu prüfen, ob und inwieweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können. Insofern handelt es sich um ein Negativkriterium. Hinzu tritt ein Positivkriterium, wonach die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.25 Diesbezüglich ist Art. 5 Abs. 3 EUV im Vergleich zu Art. 5 EGV sprachlich klarer gefasst worden, da durch die Formulierung „sondern“ deutlich wird, dass die beiden letzten Prüfungspunkte separat voneinander zu berücksichtigen sind. Durch die Wortwahl in Art. 5 EGV „und daher“ wurde suggeriert, es müsse nur ein Element geprüft werden. Von Bedeutung ist dies insbesondere für die Begründungspflichten der Kommission bei Gesetzgebungsvorschlägen gemäß Art. 5 Protokoll Nr. 2, aber auch für die Subsidiaritätsprüfung durch den EuGH.26 21 BVerfG, Entscheidung vom 30. Juni 2009, 2 BvE/08, Rn. 305. 22 Herdegen, Europarecht, 6. Auflage 2004, Rn. 102. 23 So z.B. EuGH, Rs. C-84/94, Slg. 1996, I-5755, Rn. 46ff.; EuGH, Rs. C-233/94, Slg. 1997, I-2405, Rn. 22 ff. 24 Calliess, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ) 2003, S. 181 (187). 25 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-11, Rn. 27. 26 Koch/Kullas, Subsidiarität nach Lissabon – Scharfes Schwert oder stumpfe Klinge?, Centrum für Europäische Politik (cep), Studie, März 2010, S. 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 9 3. Prüfung des Richtlinienentwurfs 3.1. Prüfungsgegenstand Die Kommission hat am 5. November 2008 einen Entwurf für eine Richtlinie zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere27 vorgelegt. Nachdem das EP am 5. Mai 2009 in erster Lesung den Vorschlag der Kommission in geänderter Fassung billigte28, hat der Rat am 3. Juni 2010 seinen Standpunkt in erster Lesung angenommen und den Kommissionsentwurf in verschiedenen Punkten überarbeitet.29 Der federführende Ausschuss des Europäischen Parlaments (EP) hat am 12. Juli 2010 den Standpunkt des Rates gebilligt.30 Am 8. September wurde der Kommissionsvorschlag in der vom Rat geänderten Fassung (Ratsentwurf) vom EP in zweiter Lesung angenommen. Prüfungsgegenstand ist die Richtlinie in der Fassung des Ratsentwurfs. 3.2. Keine ausschließliche Zuständigkeit der Union Art. 5 Abs. 3 EUV legt fest, dass das Subsidiaritätsprinzip allein auf die Bereiche Anwendung findet , die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen. Der Ratsentwurf nennt als Rechtsgrundlage Art. 114 AEUV. Nach Art. 114 Abs. 1 AEUV erlassen das EP und der Rat im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben. Der Bereich Binnenmarkt gehört zu den von der Union mit den Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeiten gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. a AEUV. Im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung kann dahinstehen, ob sich der Entwurf auf die richtige Kompetenzgrundlage stützt. Es ist jedenfalls möglich, die in einem Gesetzgebungsakt angegebene 27 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere vom 5. November 2008, KOM(2008) 543, online abrufbar unter http://eur-lex.europa .eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2008:0543:FIN:DE:PDF (Stand: 8.9.2010). 28 Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 5. Mai 2009 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (KOM(2008)0543 – C6-0391/2008 – 2008/0211(COD)) http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=- //EP//TEXT+TA+P6-TA-2009-0343+0+DOC+XML+V0//DE (Stand: 8.9.2010). 29 Vgl. Standpunkt (EU) Nr. 12/2010 des Rates in erster Lesung im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, vom Rat am 3. Juni 2010, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=OJ:C:2010:203:0019:01:DE:HTML (Stand: 8.9.2010). 30 Empfehlung für die zweite Lesung, betreffend den Standpunkt des Rates in erster Lesung im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (06106/2010 – C7-0147/2010 – 2008/0211(COD)), Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, vom 13.7.2010, online abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pub- Ref=-//EP//NONSGML+REPORT+A7-2010-0230+0+DOC+PDF+V0//DE (Stand: 8.9.2010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 10 Rechtsgrundlage als gegeben zu betrachten und davon ausgehend zu untersuchen, ob das Subsidiaritätsprinzip eingehalten wurde.31 Eine Überprüfung anhand des Subsidiaritätsprinzips ist damit grundsätzlich möglich. 3.3. Keine ausreichende Verwirklichung der Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten Gemäß Art. 5 Abs. 3 EUV darf die EU nur tätig werden, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können. 3.3.1. Ziele des Richtlinienentwurfs Die EU ist auf dem Gebiet des Schutzes der für Versuchszwecke verwendeten Tiere bereits tätig geworden. Der Ratsentwurf stellt im Wesentlichen eine Überarbeitung der Richtlinie 86/609/EWG32 dar. In der Vergangenheit haben einige Mitgliedstaaten nationale Durchführungsvorschriften erlassen, die ein hohes Schutzniveau für Tiere, die für wissenschaftliche Zwecke verwendet werden, gewährleisten, während andere Mitgliedstaaten nur die Mindestanforderungen der Richtlinie 86/609/EWG anwenden. Diese Unterschiede können Hindernisse für den Handel mit Erzeugnissen und Stoffen darstellen, bei deren Entwicklung Tierversuche durchgeführt wurden. Die Richtlinie soll diese Handelshemmnisse durch die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften in diesem Bereich reduzieren und ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes gewährleisten.33 Weiter liegen neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu Faktoren vor, die das Wohlergehen von Tieren beeinflussen. Durch den Erlass einer neuen Richtlinie in der Fassung des Ratsentwurfs soll das Wohlergehen von Tieren, die in wissenschaftlichen Verfahren eingesetzt werden, erhöht werden, indem die Mindeststandards für ihren Schutz in Übereinstimmung mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen angehoben werden.34 3.3.2. Grenzüberschreitende Aspekte Obwohl das neue Subsidiaritätsprotokoll Nr. 2 im Gegensatz zum Protokoll Nr. 30 nicht mehr ausdrücklich einen transnationalen Bezug erfordert, bleibt die Frage hiernach unentbehrlich: Gerade aufgrund der stark dehnbaren Zielformulierungen gibt der Rückgriff auf die Natur des zugrundeliegenden Sachverhalts die entscheidenden Hinweise, ob die Mitgliedstaaten aufgrund des 31 Vgl. Koch/Kullas, Subsidiarität nach Lissabon – Scharfes Schwert oder stumpfe Klinge?, cep-Studie, März 2010, S. 15. 32 Siehe Fn. 1. 33 Erwägungsgrund 1 des Richtlinienentwurfs. 34 Erwägungsgrund 5 des Richtlinienentwurfs. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 11 grenzüberschreitenden Bezugs schon rein faktisch nicht in der Lage sind, die Ziele des Unionsgesetzgebers hinreichend selbst zu verwirklichen.35 Ziele des Unionsgesetzgebers ist das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes und die Anhebung des Schutzniveaus der für Versuchszwecke verwendeten Tiere.36 Die Mehrzahl der Tierversuche in der EU wird durchgeführt von - Forschungseinrichtungen, die aus Kostengründen oder aufgrund ihrer Fachkenntnis von anderen Unternehmen beauftragt werden, Tierversuche durchzuführen, - Universitäten, die um Forschungsgelder mit der Industrie konkurrieren, Angebote für öffentliche Aufträge abgeben und zum Teil eigene gewerbliche Abteilungen gründen, - Wirtschaftsunternehmen, die eigene Forschungsarbeit zu Zwecken der Produktentwicklung leisten. Auf dem EU-Binnenmarkt stehen diese Akteure im Bereich des Handels und der Forschung in einem grenzüberschreitenden Wettbewerb.37 3.3.3. Gefährdung der Vertragsziele Nach den Leitlinien des Protokolls Nr. 30 kam es des Weiteren darauf an, ob alleinige Maßnahmen der Mitgliedstaaten oder das Fehlen von Maßnahmen auf Unionsebene gegen die Anforderungen des Vertrages verstoßen oder auf sonstige Weise die Interessen der Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen würden. Einheitlichkeit mit einer Unionsrechtsnorm sollte dann angestrebt werden, wenn „Gleichberechtigung oder Wettbewerb eindeutig gefährdet werden könnten.“38 Bislang vertritt die Kommission die Auffassung, dass dieses Kriterium auch künftig zu beachten ist.39 Aufgrund von unterschiedlichen Tierschutzstandards in den Mitgliedstaaten leiden nach den Erkenntnissen der Kommission Einrichtungen der Industrie und Forschung in Ländern mit hohen Tierschutzstandards unter Wettbewerbsnachteilen, die zum einen durch Preisunterschiede sowie unterschiedliche Regulierungs- und Zulassungsverfahren in den Mitgliedstaaten entstehen. Ähn- 35 Vgl. Koch/Kullas, Subsidiarität nach Lissabon – Scharfes Schwert oder stumpfe Klinge?, cep-Studie, März 2010, S. 17. 36 Siehe Punkt 3.3.1. 37 Commission staff working paper accompanying the proposal for a directive of the European Parliament and of the Council on the protection of animals used for scientific purposes - Impact assessment {COM(2008) 543} {SEC(2008) 2411}, S.10, online (leider nur auf Englisch) abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/Lex- UriServ.do?uri=SEC:2008:2410:FIN:EN:PDF (Stand: 8.9.2010). 38 Europäisches Parlament, Ausschuss für konstitutionelle Fragen, Bericht vom 24. April 2002, A5-0133/2002, S. 12. 39 In der Folgenabschätzung zum Aktionsplan urbane Mobilität stellt die Kommission – ausgehend von der Rechtslage nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon – weiterhin darauf ab; vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Aktionsplan urbane Mobilität, 30. September 2009, KOM (2009) 490 endg. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 12 liche Probleme lassen sich der Kommission zufolge bei Züchtern und Anbietern von Versuchstieren feststellen.40 Die o. g. Schilderungen lassen nicht erwarten, dass die Mitgliedstaaten ohne die Schaffung eines zentralen einheitlichen Regelungs- und Koordinierungsinstrumentariums in der Lage wären, die Binnenmarktnachteile durch eigene nationale Anstrengungen auszugleichen. Von einer spürbaren Gefährdung des Wettbewerbs kann daher ausgegangen werden. 3.3.4. Bessere Verwirklichung der Ziele auf der Ebene der Europäischen Union: Begründungskontrolle Dieses Prüfungsmerkmal erfährt in Art. 5 Protokoll Nr. 2 insofern eine Konkretisierung, als festgelegt ist, dass „die Feststellung, dass ein Ziel der Union besser auf Unionsebene erreicht werden kann, auf qualitativen und, soweit möglich, quantitativen Kriterien“ beruhen muss. Die Entwürfe von Gesetzgebungsakten sollen dabei berücksichtigen, dass die finanzielle Belastung und der Verwaltungsaufwand der EU, der nationalen Regierungen, der regionalen und lokalen Behörden, der Wirtschaftsteilnehmer und der Bürgerinnen und Bürger so gering wie möglich gehalten werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen müssen. Die finanziellen Auswirkungen beziffert die Folgenabschätzung des unabhängigen Ausschusses für Folgenabschätzung der Kommission (impact assessment board)41 wie folgt: Die Gesamtkosten für Tierversuche liegen innerhalb der EU-25 bei ca. 2,9 Mrd. Euro.42 Dem Ausschuss zufolge erhöht sich der Anstieg der jährlichen Kosten für die Mitgliedstaaten um 143,7 Mio. Euro. Diese Zahl beinhalte die zusätzlichen Verwaltungskosten von ca. 45 Mio. Euro pro Jahr, die im Schwerpunkt auf die verstärkte Prüfung von Projektanträgen zurückzuführen wäre. Im Gegensatz dazu würde die durch den Ratsentwurf ermöglichte Ausstellung von Sammelgenehmigungen für Gruppen von Projekten die durchschnittlichen Verwaltungskosten für diese Art von Projekten durch Skaleneffekte senken. Dank flexiblerer und effizienterer Handhabung der Verfahren sei auch von positiven Auswirkungen auf der Ebene von Versuchs-Genehmigungsstellen in den Mitgliedstaaten auszugehen. 40 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere vom 5. November 2008, KOM(2008) 543, S. 11, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2008:0543:FIN:DE:PDF (Stand: 2.9.2010). 41 Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere - Zusammenfassung der Folgenabschätzung {KOM(2008) 543} {SEK(2008) 2410}, S.13, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/Lex UriServ/LexUriServ.do?uri=SEC:2008:2411:FIN:DE:PDF (Stand: 8.9.2010); Commission staff working paper accompanying the proposal for a directive of the European Parliament and of the Council on the protection of animals used for scientific purposes - Impact assessment {COM(2008) 543} {SEC(2008) 2411}, S.5, 42ff., online (leider nur auf Englisch) abrufbar unter http://eur-ex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=SEC:2008: 2410:FIN:EN:PDF (Stand: 8.9.2010), S. 10; vgl. auch die Begründung des Kommissionsentwurfs, KOM(2008) 543, S. 8ff. 42 Dieser wie alle nachfolgenden Werte gelten für die Mitgliedstaaten der EU-25. Zuverlässige Datenerhebungen für Rumänien und Bulgarien waren zum Zeitpunkt der Durchführung der Folgenabschätzung nicht vorhanden, da die bislang geltende Richtlinie 86/609/EWG eine Evaluierungsperiode von 3 Jahren vorsieht. Die ersten systematisch nutzbaren Datenerhebungen waren erst für das Jahr 2009, mithin nach Abschluss der Folgenabschätzung , vorhanden. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 13 Die zu erwartenden Einsparungen liegen nach der Folgenabschätzung bei 22 Mio. Euro. Die Einsparungen , die sich aus sinkendem Verwaltungsaufwand und der Vermeidung unnötiger Versuche ergäben, beliefen sich auf 90 Mio. Euro. Diese Beträge seien in den geschätzten jährlichen Kosten noch nicht enthalten. Die entstehenden Kosten seien dem Ausschuss für Folgenabschätzung zufolge den Vorzügen für den Tierschutz, Innovationen und für die Wissenschaft sowie für die Gesellschaft im Hinblick auf eine erhöhte Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit gegenüberzustellen. Das Protokoll Nr. 30 legte fest, dass zur Erfüllung des Kriteriums der besseren Verwirklichung auf Unionsebene die fraglichen Maßnahmen auf der Ebene der EU aufgrund ihrer Größenordnung oder ihrer Auswirkungen im Verhältnis zu einem Tätigwerden auf der mitgliedstaatlichen Ebene deutliche Vorteile erbringen müssten. Auch die überwiegende Meinung in der Literatur nimmt an dieser Stelle eine vergleichende Abwägung vor: Danach sind die Befugnisse der EU dort nicht voll auszuüben, wo der zusätzliche Integrationsgewinn minimal, der Eingriff in die verbliebenen Zuständigkeitsbereiche der Mitgliedstaaten jedoch beträchtlich ist.43 Somit stellt sich auch unter diesem Aspekt die Frage, ob durch eine verstärkte Vereinheitlichung der rechtlichen Vorgaben auf dem Gebiet der Tierversuche auf EU-Ebene tatsächlich ein Mehrwert gegenüber einer Regelung auf Ebene der Mitgliedstaaten sichergestellt wird. Zu beurteilen, ob die Ziele einer Maßnahme besser bzw. ausreichend auf Unionsebene verwirklicht werden können, ist rechtlich schwierig, da eine Einschätzung der Wirksamkeit von Maßnahmen nur durch eine Prognoseentscheidung möglich ist. Die rechtliche Kontrolle richtet sich daher vielmehr auf die Begründung zur Vereinbarkeit von Gesetzentwürfen mit der Subsidiarität, welche die Kommission gemäß Art. 5 Protokoll Nr. 2 zwingend vorlegen muss.44 Pauschale Formeln und abstrakte Rechtserwägungen auf Seiten der Kommission können ebenso wenig genügen wie salvatorische Klauseln, da gerade diese Begründungskontrolle die fehlenden rechtlichen Maßstäbe durch zu unbestimmte Begriffe und mangelnde Anhaltspunkte kompensieren muss.45 Auch kann die mit einem Gesetzgebungsakt angestrebte Harmonisierung der unterschiedlichen Vorschriften in den Mitgliedstaaten nicht per se als Zielsetzung genannt werden. Zu benennen ist vielmehr das mit einer Maßnahme materiell verfolgte Ziel, wie beispielsweise die Einführung bestimmter Standards für Dienstleistungen. Auf Zieldefinition und Ausübung der Kompetenz können sich Querschnittsklauseln auswirken, die bestimmte Wertvorstellungen widerspiegeln.46 Der Ratsentwurf hat zum Ziel, durch Harmonisierung der geltenden Vorschriften zum Schutz von Versuchstieren innerhalb der EU zum einen den grenzüberschreitenden Handelsfluss mit Erzeugnissen und Stoffen zu verbessern, bei deren Entwicklung Tierversuche durchgeführt wurden. 43 Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, S. 19. 44 Koch/Kullas, Subsidiarität nach Lissabon – Scharfes Schwert oder stumpfe Klinge?, cep-Studie, März 2010, S. 18. 45 Von Danzwitz, Der Vertrag von Lissabon und der Fortgang der Integration, DIJV, 10. Oktober 2008, S. 10. 46 Koch/Kullas, Subsidiarität nach Lissabon – Scharfes Schwert oder stumpfe Klinge?, cep-Studie, März 2010, S. 16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 14 Zum anderen sollen innerhalb der EU die Mindestanforderungen für den Schutz der für Versuchszwecke verwendeten Tiere angehoben werden.47 Die bislang geltende Richtlinie 86/609/EWG orientierte sich in weiten Teilen an dem Wortlaut eines internationalen Übereinkommens. Sie weist daher unklare Vorschriften, Unstimmigkeiten und Mehrdeutigkeiten auf.48 Auch aus diesen Gründen ist im EU-Binnenmarkt im Wege einer unterschiedlichen nationalen Implementierung der Richtlinie 86/609/EWG ein sehr ungleiches Wettbewerbsumfeld für die Industrie und die Forschungsgemeinschaft entstanden. Hinsichtlich der Einhaltung der Subsidiarität führt die Kommission die europäische Dimension der Harmonisierung der Regelungsinstrumentarien bei Tierversuchen als Element des Binnenmarktes an.49 Wegen der grenzüberschreitend agierenden Unternehmen und Forschungseinrichtungen könne nur eine Maßnahme der EU die für die Entfaltung des Wettbewerbs und den Schutz der Versuchstiere erforderlichen vergleichbaren Anforderungen aufstellen. Die Ausführungen der Kommission überzeugen in Hinblick auf das Ziel einer verbesserten Funktionsweise des Binnenmarktes. Zugleich erscheint das in dem Ratsentwurf bekundete Ziel, den Mindeststandard für den Tierschutz innerhalb der EU anzuheben, realisierbar. Ein rückläufiges Tierschutzniveau ist nicht zu erwarten, da nach Art. 2 des Ratsentwurfs die Mitgliedstaaten strengere nationale Tierschutzbestimmungen beibehalten können. Ob das Schutzniveau durch den Ratsentwurf in ausreichendem Maße angehoben bzw. dem Funktionieren des Binnenmarktes genügend Rechnung getragen wurde, entzieht sich einer rechtlichen Bewertung. 3.4. Ergebnis Der Richtlinienentwurf verstößt nicht gegen das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 3 EUV. 4. Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Neben dem Subsidiaritätsprinzip bildet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine weitere Ausübungsschranke für das Handeln der Gemeinschaft. Art. 5 Abs. 4 EUV fordert, dass die Maßnahmen der Union „inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß“ hinausgehen dürfen. Hier geht es also darum, wie die Gemeinschaft ihre Kompetenz ausübt. Dies soll, in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Grundsatz der Begrenzung des 47 Ratsentwurf, Erwägungsgründe 1 und 6. 48 SEK(2008) 2410, S. 2 49 Zum Folgenden vgl. die Begründung des Kommissionsvorschlags KOM(2008) 543, S. 11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 15 unionsrechtlichen Handelns in einer die Mitgliedstaaten möglichst schonenden Weise geschehen .50 Ähnlich wie bei der gerichtlichen Überprüfung des Subsidiaritätsprinzips hält sich der EuGH bisher bei der Würdigung der Erforderlichkeit der Maßnahme zurück: „Was die gerichtliche Nachprüfbarkeit […] betrifft, so verfügt der [Unions-]gesetzgeber über ein weites Ermessen in einem Bereich wie dem hier betroffenen, in dem von ihm politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen verlangt werden und in dem er komplexe Prüfungen durchführen muss. Folglich ist eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme nur dann rechtswidrig, wenn sie zur Erreichung des Zieles, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist“.51 Er gesteht dem Gemeinschaftsgesetzgeber also einen weiten Beurteilungsspielraum zu und prüft mithin nur, ob die gesetzgeberische Entscheidung offenkundig fehlerhaft ist. In Anbetracht des Umstandes, dass die geplante Richtlinie eine Weiterentwicklung einer bereits erlassenen Richtlinie ist, deren Schwäche durch das Ungleichgewicht der nationalen Schutzregelungen für Versuchstiere deutlich geworden ist, kann nicht von einer evidenten Fehlerhaftigkeit ausgegangen werden. Die Beurteilung, ob es auch andere Möglichkeiten zur inhaltlichen Regelung der Materie gibt, ist dem Handlungs- und Ermessensspielraum des Gesetzgebers überlassen und somit einer richterlichen Kontrolle entzogen. Der Ratsentwurf ist mit dem unionsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar. 5. Zur rechtlichen Beurteilung von Art. 2 des Ratsentwurfs und der Möglichkeit des Erlasses strengerer nationaler Vorschriften 5.1. Die Richtlinie als Mittel zur Rechtsangleichung Um das Funktionieren des EU-Binnenmarktes voranzutreiben, bedienen sich die Organe der EU nach Art. 114 AEUV des Instruments der Rechtsangleichung der nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften durch den Erlass von Rechtsakten. Ob es einem nationalen Gesetzgeber erlaubt ist, bei der Richtlinienumsetzung Regelungen zu erlassen, die über das eigentliche Regelungsniveau der Richtlinie hinausgehen, bestimmt sich nach der mit dem Erlass der Richtlinie angestrebten Intensität der Harmonisierung. Art. 114 AEUV gestattet dem Unionsgesetzgeber dabei sowohl eine Minimal- wie auch eine Maximalharmonisierung.52 Ob eine Richtlinie eine komplette oder nur teilweise Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme beabsichtigt, muss durch 50 Vgl. Fischer, Hans Georg, Europarecht, München 2005, Rn. 176. 51 EuGH, Urteil vom 10.12.2002, C-491/01, British American Tobacco, Rn. 123. 52 Manfred A. Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 24. Ergänzungslieferung 2009, Rn 40. Innerhalb der Grenzen des Art. 114 AEUV steht es dem Unionsgesetzgeber frei, die Intensität der Harmonisierung zu bestimmen . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 16 Auslegung ermittelt werden. Anhaltspunkte bieten der Wortlaut, die Zielsetzung, die Rechtsgrundlage sowie die Regelungssystematik der Richtlinie.53 5.2. Die Harmonisierungsintensität einer Richtlinie 5.2.1. Vollharmonisierung Eine Richtlinie kann beabsichtigen, abschließende Regelungen in Bezug auf einen bestimmten Rechtsbereich einzuführen. In diesem Fall ist den Mitgliedstaaten jeglicher Erlass von Regelungen , die von den Richtlinienvorgaben abweichen, verwehrt. Jede dennoch abweichende nationale Regelung der Mitgliedstaaten, wie etwa der Erlass strengerer Vorschriften, wäre in der Folge unzulässig . Ausnahmen sind nur in den engen Grenzen des Verfahrens nach Art. 114 Abs. 4 und 5 AEUV gestattet. 5.2.2. Teilharmonisierung Eine Richtlinie kann auch nur eine Teilharmonisierung bezwecken.54 Unter eine Teilharmonisierung fallen alle Harmonisierungsformen, die unterschiedliche Regelungsregime für nationale Produkte oder sonstige Abweichungen von den Vorgaben einer Richtlinie zulassen.55 So kann die Richtlinie lediglich einen allgemeinen Regelungsrahmen festlegen und es den Mitgliedstaaten überlassen, ihrem Rechtssystem angepasste Ausführungsbestimmungen zu erlassen (Teilangleichung ). Gleichfalls kann eine Richtlinie den Mitgliedstaaten erlauben, parallel zu den unionsrechtlichen Bestimmungen für nationale Sachverhalte strengere Regelungen beizubehalten oder einzuführen (optionelle Harmonisierung).56 Ebenso kann eine Richtlinie es vorsehen, dass es den Produzenten oder Händlern gestattet ist, sich wahlweise an den nationalen oder an den Richtlinienvorgaben zu orientieren (fakultative Harmonisierung). Schließlich ist es auch möglich, in einer Richtlinie Mindeststandards vorzugeben, und den Mitgliedstaaten einzuräumen, strengere Vorschriften beizubehalten (Mindestharmonisierung). Bei einer Mindestharmonierung finden sich in einer Richtlinie meist sog. Mindestklauseln, die explizit auf die Möglichkeit der Beibehaltung strengerer Vorschriften hinweisen.57 53 Stefan Leible in: Rudolf Streinz, EUV/EGV, Kommentar, Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der europäischen Gemeinschaft, Art. 95 EGV, Rn. 39. 54 Anders liegt die Situation bei der Verordnung, die bereits aufgrund ihrer unmittelbaren Geltung originär zu einer abschließenden Regelung von Sachkomplexen und zu einer Rechtsvereinheitlichung führt. 55 Stefan Leible a.a.O., Rn. 41. 56 H. G. Fischer in: Otto Lenz/Klaus-Dieter Borchardt, EU-Verträge, Kommentar nach dem Vertrag von Lissabon, Vorb. Art. 114-118, Rn. 10. 57 Oliver Remien in: Reiner Schulze/Manfred Zuleeg, Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, § 14 VII. Mitunter weisen Mindestklauseln auch darauf hin, dass der nachträgliche Erlass strengerer Maßnahmen möglich ist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 17 5.3. Harmonisierungsgrad des Ratsentwurfs unter Berücksichtigung von Art. 2 Der Ratsentwurf nennt insbesondere in Erwägungsgrund Nr. 6 als Ziel, die „Mindeststandards“ für den Schutz von Versuchstieren in Übereinstimmung mit den neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen anzuheben. Diese Aussage legt zunächst den Schluss nahe, dass von einer Teilharmonisierung auszugehen ist. Nach Art. 2 Abs. 1 des Ratsentwurfs wird zum Harmonisierungsgrad genauer Stellung bezogen: Demnach können die Mitgliedstaaten – „unter Einhaltung der allgemeinen Bestimmungen des Vertrags […] [national] geltende Vorschriften aufrechterhalten , die die Gewährleistung eines umfassenderen Schutzes der unter diese Richtlinie fallenden Tiere zum Ziel haben , als die in dieser Richtlinie festgelegten Bestimmungen.“ Art. 2 stellt in diesem Sinne eine sog. Mindestklausel58 dar, die auf den Harmonisierungsgrad in Form einer Mindestharmonisierung hinweist. Art. 2 des Ratsentwurfs macht keine Aussage zu der Frage, ob man nach Erlass der Richtlinie auch strengere nationale Maßnahmen ergreifen kann. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass nachträglich ergriffene strengere Maßnahmen eines Mitgliedstaats einen Verstoß gegen die Bestimmungen des Ratsentwurfs und somit gegen Unionsrecht darstellen würden. 5.4. Zur Rechtmäßigkeit von Art. 2 des Ratsentwurfs Die Aufnahme des Inhalts von Art. 2 in den Ratsentwurfs ist rechtmäßig, da Art. 2 als Mindestklausel nur auf die verbindlichen Vorgaben hinweist, die der Unionsgesetzgeber – unter Beachtung des Rechtsrahmens seiner ihm aus Art. 114 AEUV zustehenden Kompetenzen – gewählt hat. Kollisionen mit dem Subsidiaritätsprinzip ergeben sich nicht, da dieses der Frage nachgeht, „ob“ die EU oder die Mitgliedstaaten einen konkreten Rechtsakt erlassen dürfen (s.o.). Der Regelungsinhalt von Art. 2 des Ratsentwurfs macht dagegen keine Aussage zu der grundsätzlichen Möglichkeit des Tätigwerdens, sondern bestimmt das Regelungsinhalt/-grad näher. Zu der Frage, inwieweit Art. 2 des Ratsentwurfs mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Sinne des Art. 5 Abs. 4 EUV vereinbar ist, gilt das unter Punkt 4 Gesagte entsprechend. 5.5. Der nationale Alleingang nach Art. 114 Abs. 5 AEUV Hat die EU durch eine Richtlinie nach Art. 114 AEUV einen bestimmten Bereich einer abschließenden Regelung zugeführt, ist es den Mitgliedstaaten grundsätzlich verwehrt, gegenüber dieser Maßnahme einseitig abweichende einzelstaatliche Bestimmungen anzuwenden, da sonst dieser Maßnahme ihre Wirkung genommen würde.59 58 Siehe dazu Punkt 5.2.2. 59 Vgl. EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, C-319/97, Kortas, Rn. 28. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 176/10 Seite 18 Der nationale Alleingang nach Maßgabe des Art. 114 Abs. 5 AEUV durchbricht diesen Grundsatz als eng auszulegende Ausnahmeregel.60 Hierzu müssen folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein: 1. Die einzelstaatlichen Bestimmungen müssen auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt sein, die erst nach dem Erlass der Harmonisierungsmaßnahme bekannt geworden sind. 2. Die einzelstaatlichen Maßnahmen müssen einem spezifischen Problem61 begegnen. 3. Die nationalen Maßnahmen dürfen nur eingeführt werden, wenn der Mitgliedstaat dies zum Schutz der Umwelt oder der Arbeitsumwelt für erforderlich hält.62 4. Der Kommission ist die Einführung abweichender einzelstaatlicher Bestimmungen vorab mitzuteilen (siehe dazu Art. 114 Abs. 6 AEUV) Bezogen auf den Ratsentwurf stellt sich in Hinblick auf die obigen Anforderungen zum einen die Frage, ob der Tierschutz als Untergruppe des Schutzguts „Umwelt“ gelten kann. Zum anderen bestehen Zweifel daran, ob die strengeren Maßnahmen eines Mitgliedstaats aufgrund eines spezifischen (nationalen) Problems erforderlich werden. Gegebenenfalls wären diese Punkte von der Kommission im Einzelfall zu prüfen. - Fachbereich Europa - 60 H. G. Fischer in: Otto Lenz/Klaus-Dieter Borchardt, EU-Verträge, Kommentar nach dem Vertrag von Lissabon, Art. 114, Rn. 24. 61 Ein spezifisches Problem muss seine Ursache in den geografischen, geologischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Besonderheiten des Mitgliedstaats haben. Tritt das Problem allgemein in der EU oder in mehreren Mitgliedstaaten auf, fehlt es an dem Spezifikum. Vgl. Leible, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 95 EGV, Rn. 78. 62 Die Aufzählung der Schutzgüter ist insoweit abschließend. Der Umweltbegriff wird in Art. 191 AEUV näher bestimmt . Str. ist, ob auch der Tierschutz unter den weiten Begriff der Umwelt zu fassen ist. Dagegen (wohl überwiegende Ansicht): EuGH, C-189/01, Jippes, Rn. 73; H. G. Fischer in: Otto Lenz/Klaus-Dieter Borchardt, EU- Verträge, Kommentar nach dem Vertrag von Lissabon, Art. 191, Rn. 7. Dafür: Scheuing, EuR 2002, 622.