PE 6 - 3000 - 174/18 (09.01.19) © 2019 Deutscher Bundestag Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Der Fachbereich wird um die Beantwortung mehrerer Fragen ersucht, die sich anlässlich der geplanten Reform des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) stellen, insbesondere seiner Heranziehung als Letztsicherung (sog. backstop) in der Bankenunion bzw. für den Einheitlichen Abwicklungsfonds.1 Gefragt wird in diesem Zusammenhang, auf welcher juristischen Grundlage der ESM-Vertrag2 geändert werden müsste (1), ob ein backstop auch ohne ESM-Vertragsänderung erfolgen kann (2), ob der Bundestag einer entsprechenden Vertragsänderung zustimmen (3) und mit welcher Mehrheit er dies ggf. tun müsste (4). Die mit diesen Fragen angesprochenen Themen sind u. a. Gegenstand eines EU-Sachstandes des Referats PE 2 vom 23. Oktober 2018 (im Folgenden: EU-Sachstand).3 Nachfolgend wird daher schwerpunktmäßig der rechtliche Kontext der Fragen erörtert und im Übrigen weitgehend auf den EU-Sachstand verwiesen. 1. Juristische Grundlage für eine Änderung des ESM-Vertrags Aus Sicht des Unionsrechts stellt sich die Frage nach einer Rechtsgrundlage für eine Änderung des ESM-Vertrags nicht. Denn bei dem ESM-Vertrag handelt es sich um einen (intergouvernementalen ) völkerrechtlichen Vertrag der Euro-Staaten. Weder ist die EU Vertragspartei, noch ist 1 Siehe hierzu allgemein auch die Angaben auf den Internetseiten des ESM „Explainer on ESM reform“ (letztmaliger Abruf am 11.01.19). Siehe ferner auch den EU-Sachstand „Reform des ESM: Überarbeitung der Vorsorglichen Finanzhilfen“ vom 22.11.18, PE-Dok 356/2018 (letztmaliger Abruf am 11.01.19). Dieser Sachstand ist als „VS – nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft. 2 BGBl. 2012 II S. 981, 983. 3 EU-Sachstand „Schaffung einer Letztsicherung in der Bankenunion: Verhandlungen auf europäischer Ebene und Beteiligungsrechte des Bundestages“ vom 23.10.18, PE-Dok 313/2018 (letztmaliger Abruf am 11.01.19). Dieser Sachstand ist als „VS – nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Kurzinformation ESM-Vertrag und Letztsicherung in der Bankenunion Kurzinformation ESM-Vertrag und Letztsicherung in der Bankenunion Fachbereich Europa (PE 6) Seite 2 dieser Vertrag auf Grundlage des EU-Rechts geschlossen worden. Er steht daher in formaler Hinsicht außerhalb des EU-Rechts, ist also (bisher4) kein Teil der EU-Rechtsordnung. Der für das Unionsrecht und ein Tätigwerden der EU-Organe geltende Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 Abs. 1 u. 2 EUV greift in Bezug auf den ESM-Vertrag und eventuelle Änderungen daher nicht. Dies gilt unbeschadet des Umstands, dass dieser Vertrag in materieller Hinsicht in einem engen sachlichen Zusammenhang mit dem EU-Recht steht, insbesondere dem Bereich der Wirtschaftsund Währungspolitik (Art. 119 bis 144 AEUV). Deutlich wird dies nicht nur im Hinblick auf die geplante Verankerung der Letztsicherung für das EU-Abwicklungsregime. Es zeigt sich bereits an Art. 136 Abs. 3 AEUV, der die Einrichtung eines solchen Mechanismus durch die Mitgliedstaaten zulässt und zugleich gewisse Vorgaben an die Gewährung von Finanzhilfen beinhaltet. Hierin kommt letztlich jedoch nur der unionsrechtliche Grundsatz zum Ausdruck, dass die Mitgliedstaaten auch im Rahmen ihrer Zuständigkeiten alleine oder gemeinsam handelnd stets – und damit auch im Rahmen ihres Tätigwerdens in Bezug auf den ESM – die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Grenzen zu wahren haben.5 Fragen danach, ob diese Grenzen im Zusammenhang mit der jetzt diskutierten Reform eingehalten werden, stellen sich bisher – soweit ersichtlich – nicht. Vor diesem Hintergrund bleibt als Bezugspunkt für die Frage nach der Rechtsgrundlage für eine Änderung des ESM-Vertrags allein das jeweilige nationale Recht der beteiligten Mitgliedstaaten, mithin das Grundgesetz (GG) aus deutscher Perspektive. Nach diesem bedarf es für den Abschluss völkerrechtlicher Verträge zwar keiner materiell-inhaltlichen Rechtsgrundlage, wie dies im EU-Recht angesichts des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung der Fall ist. Das Grundgesetz enthält jedoch mehrere Bestimmungen zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die in Abhängigkeit von der Art des Vertrags unterschiedliche Vorgaben meist formaler Natur zum innerstaatlichen Verfahren enthalten. Diese Vorgaben betreffen in erster Linie die Art und Weise der Einbindung der Legislativorgane vor Abschluss entsprechender Verträge. Im vorliegenden Kontext stehen der auf den EU-Kontext bezogene Art. 23 Abs. 1 GG sowie der allgemein den Abschluss völkerrechtlicher Verträge betreffende Art. 59 Abs. 2 GG im Vordergrund. Der die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen außerhalb des EU-Zusammenhangs regelnde Art. 24 Abs. 1 GG ist hingegen nicht von Bedeutung. Der Frage nach der Einschlägigkeit der beiden erstgenannten GG-Artikel für eine Änderung des ESM-Vertrags wird unten unter 3. nachgegangen. 2. Zur Notwendigkeit einer ESM-Vertragsänderung Hinsichtlich der Notwendigkeit einer ESM-Vertragsänderung für den Fall der Heranziehung des ESM zur Letztsicherung wird auf den EU-Sachstand verwiesen.6 4 Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf die Diskussion um eine zukünftige Einbindung des ESM in die EU-Architektur , vgl. dazu etwa die deutsch-französische Erklärung von Meseberg vom 19.6.2018 zum Themenpunkt „Europäischer Stabilitätsmechanismus“ (letztmaliger Abruf am 11.01.19). 5 Vgl. hierzu v. a. EuGH, Urt. v. 27.11.2012, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 68 f. 6 Siehe oben Fn. 3, Pkt. V. 1., S. 6 f. Kurzinformation ESM-Vertrag und Letztsicherung in der Bankenunion Fachbereich Europa (PE 6) Seite 3 Ergänzend sei hinzugefügt, dass der ESM-Vertrag nach seiner Zweckbeschreibung in Art. 3 bisher (ausschließlich) darauf gerichtet ist, den ESM-Mitgliedern, also den Euro-Mitgliedstaaten, unter bestimmten Bedingungen Finanzmittel als Stabilitätshilfe bereitzustellen. Die Letztsicherung soll dem Einheitlichen Abwicklungsfonds zugutekommen, der rechtlich im Eigentum des Abwicklungsausschusses steht, einer sekundärrechtlich begründeten EU-Agentur.7 Auch dieser Umstand spricht für die Notwendigkeit einer Änderung des ESM-Vertrags. Im Ergebnis handelt es sich hierbei um eine Auslegungsfrage. Vorgaben zur Auslegung und Streitbeilegung im Fall einer Uneinigkeit über die Auslegung und Anwendung des ESM-Vertrags sind in seinem Art. 37 geregelt. Über Streitigkeiten in diesem Zusammenhang entscheidet der Gouverneursrat (vgl. Absatz 2), dessen Entscheidungen durch die ESM-Mitglieder vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängig gemacht werden können; sein Urteil hierzu ist für die Streitparteien verbindlich (vgl. Absatz 3).8 3. Zustimmung des Bundestages zu einer ESM-Vertragsänderung Geht man von der Notwendigkeit einer ESM-Vertragsänderung aus, so stellt sich die Frage, nach welcher Vorschrift des Grundgesetzes sich die Frage der Beteiligung des Bundestages richtet, Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG oder Art. 23 Abs. 1 GG. Das Verhältnis beider Bestimmungen ist generell umstritten, nach der Rechtsprechung des BVerfG ist die letztgenannte Norm in ihrem Anwendungsbereich gegenüber der erstgenannten lex specialis.9 Beide Bestimmungen setzen ein Zustimmungsgesetz des Bundestages voraus. Abweichungen in der Sache ergeben sich zum einen in Bezug auf die Beteiligung des Bundesrates (zwingend im Fall von Art. 23 Abs. 1 GG) und hinsichtlich der ggf. erforderlichen Abstimmungsmehrheit im Bundestag, soweit ein Fall nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG vorliegt, der eine Zwei-Drittel-Mehrheit nach Art. 79 Abs. 2 GG vorsieht. Im Übrigen genügt sowohl für ein Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG als auch für ein solches nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG eine einfache Mehrheit. Besondere Fragen wirft das Verhältnis von Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 23 Abs. 1 GG in Fällen wie dem ESM-Vertrag auf, der formal außerhalb des Unionsrechts steht, aber mit diesem in sachlicher Hinsicht eng verknüpft ist. Ob Art. 23 Abs. 1 GG auch den Abschluss anderer als der EU- Verträge umfasst, die zudem keine Übertragung von Hoheitsrechten im Wortsinne vorsehen, ist 7 Vgl. Art. 42 ff., Art. 67 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2014 zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds sowie zur Änderung […], ABl.EU 2014 Nr. L 225/1 (letztmaliger Abruf am 11.01.19). 8 Eine solche Möglichkeit der Befassung des Gerichtshofs der Europäischen Union ergibt sich aus Art. 273 AEUV, wonach dieser für jede mit dem Gegenstand der Verträge in Zusammenhang stehende Streitigkeit zwischen den Mitgliedstaaten zuständig ist, wenn diese bei ihm aufgrund eines Schiedsvertrags anhängig gemacht wird. 9 Vgl. BVerfG, Urt. v. 30.06.09, 2 BvE 2/08 (sog. Lissabon-Urteil), Rn. 312. Siehe zum Verhältnis beider Vorschriften etwa Rathke, in: von Arnauld/Hufeld (Hrsg.), Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen, 2. Aufl. 2018, § 7, Rn. 50 ff.; Wollenschläger, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 2, 3. Aufl. 2015, Art. 23 GG, Rn. 179, jeweils mit weiteren Nachweisen. Kurzinformation ESM-Vertrag und Letztsicherung in der Bankenunion Fachbereich Europa (PE 6) Seite 4 unklar, wird im Schrifttum aber überwiegend befürwortet.10 Rechtsprechung des BVerfG zu dieser Frage liegt – soweit ersichtlich – bisher nicht vor. Die damit verbundenen Unsicherheiten zeigten sich bereits bei dem Zustimmungsgesetz zum ESM-Vertrag aus dem Jahre 2012. Während der Gesetzesentwurf noch allein auf Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG abstellte,11 beruhte der spätere Gesetzesbeschluss (zumindest auch12) auf Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG.13 Im Zusammenhang mit dem Vorhaben einer Letztsicherung durch den ESM und die damit einhergehende Änderung des ESM-Vertrags wird auf die Ausführungen im EU-Sachstand verwiesen, wonach ein entsprechendes Zustimmungsgesetz auf Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG zu stützen wäre.14 4. Abstimmungsmehrheit Geht man von einer Einschlägigkeit (auch) des Art. 23 Abs. 1 GG für das Zustimmungsgesetz des Bundestages im Fall einer entsprechenden Änderung des ESM-Vertrages aus, so hängt die dafür erforderliche Abstimmungsmehrheit davon ab, ob Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG oder Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG einschlägig ist. Auch das Verhältnis dieser beiden Varianten ist in genereller Hinsicht umstritten , nicht zuletzt weil es auch insoweit an aussagekräftiger Rechtsprechung des BVerfG fehlt.15 Dies gilt erst recht in einer Konstellation wie dieser, in der ein formal außerhalb des EU-Rechts stehender Vertrag geändert werden soll. Dem Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG nach könnte allenfalls der Fall einer der Begründung oder Änderung der EU-Verträge „vergleichbaren Regelung “ gegeben sein, „durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden.“ Welche Kriterien eine derartige Verfassungsrelevanz ausmachen, ist unklar. Schaut man insoweit auf das Zustimmungsgesetz zum ESM-Vertrag aus dem Jahre 2012, so entschied man sich zwar für die nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG 10 Vgl. etwa Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG-Kommentar, 15. Aufl. 2018, Rn. 3; Wollenschläger, in: Dreier (Fn. 9), Art. 23 GG, Rn. 41, 46; Rathke, in: von Arnauld/Hufeld (Fn. 9), § 7, Rn. 32, jeweils mit weiteren Nachweisen . 11 Vgl. BT-Drs. 17/9045, S. 4. 12 Ob Zustimmungsgesetze im EU-Kontext eine Doppelfunktion im Sinne von Art. 23 Abs. 1 und zugleich Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG aufweisen, ist umstritten, vgl. bspw. Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 23 GG, Rn. 63 (ja), Wollenschläger, in: Dreier (Fn. 9), Art. 23 GG, Rn. 179 (nein). 13 Vgl. BT-Drs. 17/10172, S. 10. 14 Siehe oben Fn. 3, Pkt. V. 1., S. 7 f. 15 Siehe hierzu etwa Rathke, in: von Arnauld/Hufeld (Fn. 9), § 7, Rn. 43 ff.; Wollenschläger, in: Dreier (Fn. 9), Art. 23 GG, Rn. 55 ff. Kurzinformation ESM-Vertrag und Letztsicherung in der Bankenunion Fachbereich Europa (PE 6) Seite 5 gebotene Zwei-Drittel-Mehrheit.16 In dem Bericht des damals federführenden Haushaltsausschusses findet sich insoweit allerdings der einschränkende Hinweis, dass dies lediglich „vorsorglich zur Vermeidung eventueller verfassungsrechtlicher Risiken [erfolgt].“17 Zudem stehe „der ESM- Vertrag in einem solch engen sachlichen und politischen Zusammenhang mit dem einer Zweidrittelmehrheit unterliegenden Vertragsgesetz zum Fiskalpakt. Daraus können keine Folgerungen für andere europarechtliche Fallgestaltungen gezogen werden.“18 Insbesondere der letztzitierte Satz unterstreicht den Umstand, dass der Einzelfall entscheidend ist. Unterstellt man, dass auch Konstruktionen wie der ESM und darauf bezogene Änderungen die tatbestandlichen Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 S 3 GG im Grundsatz erfüllen können, so kommt es entscheidend auf die konkrete Ausgestaltung der Letztsicherung ab. Über diese wurde bisher keine endgültige Verständigung erzielt, insbesondere liegen noch keine Vertragsänderungsvorschläge vor. Dessen ungeachtet ist anzumerken, dass der Einführung einer Letztsicherung für die Bankenunion als weitere Aufgabe des ESM nicht das gleiche (rechtliche) Gewicht zukommt, wie der ursprünglichen Einrichtung des Stabilitätsmechanismus und der erstmaligen Begründung der damit einhergehenden finanziellen Verpflichtungen. Im Übrigen wird auf die Ausführungen im EU-Sachstand verwiesen.19 – Fachbereich Europa – 16 Vgl. die Eingangsformel des ESM-Zustimmungsgesetzes, BGBl. 2012 II S. 981. 17 BT-Drs. 17/10172, S. 10. 18 Vgl. BT-Drs. 17/10172, S. 10. 19 Siehe oben Fn. 3, Pkt. V. 2., S. 7 f.