© 2018 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 172/18 Bestimmungen zur Fluggastentschädigung Zur Frage der Schaffung einer nationalen Regelung über ein automatisches Entschädigungssystem Sachstand Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 172/18 Seite 2 Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Grenzen für ein nationales System automatisierter Ausgleichsleistungen 7 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 172/18 Seite 4 1. Fragestellung Der vorliegende Sachstand geht auftragsgemäß der Frage nach, ob der Rechtsrahmen der Verordnung (EG) Nr. 261/20041 (Fluggastrechteverordnung) vom 11. Februar 2004 eine nationale Regelung über eine automatische Entschädigungszahlung an Passagiere von Fluggesellschaften zulässt. Die Fragestellung zielt auf die in Art. 7 der Fluggastrechteverordnung bestimmten Ausgleichsansprüche von Flugreisenden. Zu ihrer Erörterung wird zunächst der Unionsrechtsrahmen skizziert , der Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Flugreisende regelt, die nicht befördert oder deren Flüge annulliert wurden bzw. große Verspätungen aufweisen. In einem weiteren Schritt werden sowohl das gestaffelt ausgestaltete System der Ausgleichsansprüche nach Art. 7 mit den Ausnahmeregelungen als auch die den Mitgliedstaaten übertragene Durchsetzung der Fluggastrechteverordnung erörtert, um Anforderungen zu identifizieren, denen ein automatisches Verfahren zur Gewährung von Ausgleichsansprüchen genügen muss. 2. Unionsrechtsrahmen für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste Am 11. Februar 2004 wurde die Fluggastrechteverordnung erlassen; sie entfaltete am 17. Februar 2005 unmittelbare Rechtsgeltung in allen Mitgliedstaaten. Die Verordnung konstituiert Mindestrechte für Flugreisende, die gegen ihren Willen nicht befördert werden, deren Flug annulliert wird oder deren Flug sich verspätet (Art. 1 Abs. 1). Die Bestimmungen der Fluggastrechteverordnung finden Anwendung auf Flugreisende, die auf Flughäfen im Gebiet eines EU-Mitgliedstaats einen Flug antreten, oder – sofern das ausführende Luftfahrtunternehmen ein Luftfahrtunternehmen der EU ist – auf Flugreisende, die von einem Flughafen in einem Drittstaat einen Flug in die EU antreten (Art. 3 Abs. 1). Die Fluggastrechteverordnung regelt Ansprüche auf Ausgleichszahlungen (Art. 7), Ansprüche auf Erstattung oder anderweitige Beförderung (Art. 8) sowie Ansprüche auf Betreuungsleistungen (Art. 9). Diese Ansprüche entstehen bei folgenden als „Störereignis“ („disruptive event“)2 bezeichneten Vorfällen: bei Nichtbeförderung (Art. 4 Abs. 3), d.h. bei Weigerung des Luftfahrtunternehmens, Flugreisende zu befördern, obwohl sie sich unter bestimmten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z. B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen, bei Annullierung des Fluges (Art. 5 Abs. 1), d.h. bei Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war, sowie 1 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91. 2 Europäisches Parlament, Think Tank (EPRS), Case analysis: the transposition and implementation of Regulation 261/2004 on air passenger rights, 26. November 2018, S. 3. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 172/18 Seite 5 bei – das Maß von drei Stunden überschreitender – Verspätung3 des Fluges (Art. 6 Abs. 1), d.h. bei Verzögerung des Abflugs gegenüber der planmäßigen Abflugzeit. Weiterhin bestimmt die Fluggastrechteverordnung für den Fall unfreiwilliger Verlegung in eine höhere Beförderungsklasse (sog. up-grading) den Ausschluss von Aufschlägen oder Zuzahlungen zulasten der betroffenen Passagiere (Art. 10 Abs. 1). Für den Fall einer unfreiwilligen Verlegung in eine niedrigere Beförderungsklasse (sog. down-grading) wird ein Erstattungsanspruch der Betroffenen (Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Art. 7 Abs. 3) bestimmt. Die Luftfahrtunternehmen trifft gemäß Art. 14 Fluggastrechteverordnung eine Verpflichtung zur Information der Flugreisende über ihre Rechte nach dieser Verordnung. Die beschriebenen Rechte sind gemäß Art. 1 als „Mindestrechte“ ausgestaltet. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gilt die Fluggastrechteverordnung nach ihrem Art. 12 unbeschadet eines darüber hinaus gehenden Schadensersatzanspruchs des Flugreisenden. Danach ermögliche es die Bestimmung, im nationalen Rechtsweg den Ersatz des wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrags entstandenen Schadens auf Grundlage anderer Rechtsvorschriften als der Fluggastrechteverordnung zu betreiben, insbesondere unter den Voraussetzungen des Übereinkommens von Montreal4 oder des nationalen Rechts.5 3. Ausgleichsansprüche nach Art. 7 Fluggastrechteverordnung Die Ausgleichsansprüche nach Art. 7 werden in der Fluggastrechteverordnung gestaffelt ausgestaltet ; sie umfassen – je nach Flugentfernung – zwischen 250 und 600 Euro (Art. 7 Abs. 1). Sie können gekürzt werden, wenn das Luftfahrtunternehmen Alternativflüge anbietet, die eine Ankunft am gebuchten Zielort unterhalb einer Verspätungsgrenze zwischen zwei und vier Stunden ermöglichen (Art. 7 Abs. 2). Ausgleichsleistungen sind durch das Luftfahrtunternehmen „unverzüglich“ zu erbringen, wenn es Flugreisenden die Beförderung verweigert (Art. 4 Abs. 3). Bei Annullierung eines Flugs bestehen – neben Ansprüchen auf Erstattung, anderweitige Beförderung oder einen Rückflug gemäß Art. 8 sowie auf Betreuungsleistungen gemäß Art. 9 – Ausgleichsansprüche gemäß Art. 7 unter den Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 lit. c. Diesen liegt das Prinzip zugrunde, dass ein Ausgleich zu zahlen ist, wenn die Flugreisenden nicht hinreichend frühzeitig über die Annullierung unterrichtet wurden. Ausnahmen von der Verpflichtung des Luftfahrtunternehmens zur Zahlung von Ausgleichsleistungen werden in Art. 5 Abs. 3 festgelegt . Danach entfällt die Zahlungsverpflichtung, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen ist, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. 3 Im Falle von Verspätungen greifen keine Ansprüche auf Erstattung. 4 Beschluss des Rates (2001/539/EG) vom 5. April 2001 über den Abschluss des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Übereinkommen von Montreal ) durch die Europäische Gemeinschaft. 5 EuGH, 13. Oktober 2011, Rs. C 83/10 Sousa Rodriguez, Slg. 2011, I-9469 Rn. 37 und 38. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 172/18 Seite 6 In den Bestimmungen der Fluggastrechteverordnung selbst sind keine Ausgleichsleistungen nach Art. 7 für Verspätungen enthalten. Sie sieht – in Abhängigkeit von der Dauer der Verspätung und der Entfernung des Flugs – ausdrücklich nur Ansprüche auf Betreuungsleistungen gemäß Art. 9 sowie auf Erstattung und einen Rückflug gemäß Art. 8 Abs. 1 lit. a vor (Art. 6 Abs. 1). Über den Wortlaut der entsprechenden Bestimmungen der Fluggastrechteverordnung hinaus hat der EuGH in seiner Rechtsprechung Ansprüche auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 entwickelt, wenn aus der Verspätung eines Fluges ein Zeitverlust von mindestens drei Stunden bei der Ankunft erwächst.6 Auch hier besteht kein Anspruch auf Ausgleichsleistungen, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweist, dass die Verspätung außergewöhnliche Umstände zurückzuführen ist, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.7 4. Durchführung der Fluggastrechteverordnung in den Mitgliedstaaten Die Durchsetzung der Fluggastrechteverordnung ist den Mitgliedstaaten übertragen worden. So wurden diese verpflichtet, eine Stelle zu benennen, die für die Durchsetzung der Fluggastrechteverordnung zuständig ist (Art. 16 Abs. 1 S. 1).8 Dieser wird dabei lediglich die generelle Einhaltung der Fluggastrechteverordnung als Aufgabe zugewiesen (ErwGr 22 S. 1 Fluggastrechteverordnung ).9 Die individuelle Durchsetzung der Vorschriften, insbesondere für die Luftfahrtunternehmen bindende Entscheidungen über Beschwerden von Flugreisenden oder über einzelne Ansprüche von Flugreisenden gegen Luftfahrtunternehmen fällt nicht in ihren Aufgabenbereich.10 Die Durchsetzungsstelle ergreift die notwendigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Fluggastrechte gewahrt werden (Art. 16 Abs. 1 S. 2). Sie fungiert darüber hinaus als Beschwerdestelle für behauptete Verstöße gegen die Bestimmungen der Verordnung (Art. 16 Abs. 2), wobei die von den Mitgliedstaaten für solche Verstöße festgelegten Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen (Art. 16 Abs. 3). Nach der Rechtsprechung des EuGH sind von diesem Sanktionsbegriff Maßnahmen der mitgliedstaatlichen Durchsetzungsstelle erfasst, die diese in Ausübung ihrer allgemeinen Aufsicht auf von ihr aufgedeckte Verstöße hin ergreift; verwaltungsrechtliche Durchsetzungsmaßnahmen im Einzelfall sind hiervon ausgeschlossen.11 6 EuGH, 19. November 2009, verb. Rechtssachen C-402/07 und C-432/07 Sturgeon u.a., Slg. 2009, I-10923 Rn. 54, 57 und 61. 7 EuGH, 19. November 2009, Fn. 6, Rn. 69. 8 In Deutschland ist das Luftfahrt-Bundesamt (LBA) die offizielle Durchsetzungs- und Beschwerdestelle für die Rechte der Flugreisenden bei Annullierung, Verspätung und Nichtbeförderung nach der Fluggastrechteverordnung . 9 EuGH, 17. März 2016, verb. Rechtssachen C-145/15 und C-146/15 Ruijssenaars, ECLI:EU:C:2016:187, Rn. 29. 10 EuGH, 17. März 2016, Fn. 9, Rn. 39. 11 EuGH, 17. März 2016, Fn. 9, Rn. 32 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 172/18 Seite 7 5. Grenzen für ein nationales System automatisierter Ausgleichsleistungen Wenngleich die Ausgestaltung der in der Fluggastrechteverordnung bestimmten Ansprüche als Mindestrechte und die Übertragung der Durchführung der Verordnung in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten den Schluss nahelegt, dass die Mitgliedstaaten automatisierte Ausgleichsleistungssysteme im nationalen Recht verankern könnten, müssten entsprechende Forderungen 12 eine Vielzahl rechtlicher Anforderungen genügen: Ein automatisiertes Ausgleichsleistungssystem müsste so ausgestaltet werden können, dass das in der Fluggastrechteverordnung angelegte System wirksamen Rechtsschutzes sowohl für die Flugreisenden als auch für die Luftfahrtunternehmen unangetastet bleibt. Durch die unmittelbare Anwendbarkeit der Fluggastrechteverordnung steht den von einem „Störereignis“ betroffenen Flugreisenden der Zivilrechtsweg und damit wirksamer Rechtsschutz zur Verfügung.13 Das Recht der Luftfahrtunternehmen, Anspruchsforderungen von Flugreisenden zurückzuweisen und damit das Risiko eines Zivilprozesses einzugehen, ist dabei zu gewährleisten.14 Bei der Frage der Anbindung und Operationalisierung eines automatisierten Ausgleichsleistungssystems wäre die vom EuGH unterstrichene Rollenverteilung zwischen den nationalen Durchsetzungsstellen und den nationalen Gerichten zu wahren. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist eine Einbindung der nationalen Durchsetzungsstellen in die einzelfallbezogene Durchsetzung von Ansprüchen Flugreisender gegen Luftfahrtunternehmen nicht angezeigt. Der Gefahr einer „für die Fluggastrechte nachteiligen unterschiedlichen Beurteilung ein und desselben Einzelfalls durch die Stellen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 bei der Bearbeitung der bei ihnen erhobenen individuellen Beschwerden einerseits und durch die mit individuellen Klagen auf Zahlung der Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 befassten nationalen Gerichte andererseits“ sei vorzubeugen.15 In materieller Hinsicht müsste ein automatisiertes Ausgleichsleistungssystem insbesondere den Ausnahmebestimmungen des Art. 5 Abs. 3 Rechnung tragen, wonach ein Luftfahrtunternehmen einer Verpflichtung zur Zahlung von Ausgleichsleistungen nicht unterliegt, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung oder Verspätung eines Fluges auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen ist, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Bei der Frage, ob außergewöhnliche Umstände zu einem „Störereignis “ geführt haben, handelt es sich nach Feststellung des Europäischen Rechnungshofes (EuRH) um den größten Anteil (63%) aller Streitfälle vor den vom EuRH untersuchten nationalen Durchsetzungsstellen.16 Fachbereich Europa 12 So z.B. der Europäische Rechnungshof (EuRH) in seinem Sonderbericht Nr. 30/2018 vom 3. Oktober 2018, „Die Fahr- und Fluggastrechte der EU sind umfassend, ihre Durchsetzung ist für die Reisenden jedoch nach wie vor schwierig“, Empfehlung Nr. 4 Buchst. d. 13 EuGH, 17. März 2016, Fn. 9, Rn. 37. 14 Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht, Tübingen, 2017, S. 461. 15 EuGH, 17. März 2016, Fn. 9, Rn. 34. 16 EuRH, Fn. 12, S. 35.