Deutscher Bundestag EU-rechtliche Zulässigkeit der Pflichtmitgliedschaften in Handwerkssowie Industrie- und Handelskammern für EU-ausländische Dienstleister Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa WD 11 – 3000 - 171/12 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 2 EU-rechtliche Zulässigkeit der Pflichtmitgliedschaften in Handwerks- sowie Industrie- und Handelskammern für EU-ausländische Dienstleister Aktenzeichen: WD 11 – 3000 - 171/12 Abschluss der Arbeit: 04.01.2013 Wissenschaftlicher Dienst: Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 5 2. Niederlassungs-und Dienstleistungsfreiheit 5 2.1. Primärrecht 5 2.1.1. Konvergente Grundstruktur der Grundfreiheiten 6 2.1.2. Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV 7 2.1.3. Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 f. AEUV 9 2.1.4. Zwischenergebnis 11 2.2. Sekundärrecht 12 2.2.1. Dienstleistungsrichtlinie 2006/123 12 2.2.1.1. Anwendungsbereich 12 2.2.1.2. Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer 14 2.2.1.3. Dienstleistungsfreiheit und damit zusammenhängende Ausnahmen 14 2.2.2. Berufsanerkennungsrichtlinie 2005/36 15 2.3. Zwischenergebnis 16 3. Pflichtmitgliedschaft in Handwerks- sowie Industrie- und Handelskammern nach deutschem Recht 16 3.1. Pflichtmitgliedschaft in Handwerkskammern 16 3.2. Pflichtmitgliedschaft in Industrie- und Handelskammern 18 3.3. Zwischenergebnis 18 4. Unionsrechtliche Beurteilung einer Pflichtmitgliedschaft in Handwerks- sowie Industrie- und Handelskammern 18 4.1. Anknüpfungspunkt für Kammermitgliedschaft im Lichte der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit 19 4.2. Konstellation der Niederlassungsfreiheit 20 4.2.1. Berufsanerkennungsrichtlinie 2005/36 20 4.2.2. Dienstleistungsrichtlinie 2006/136 20 4.2.3. Niederlassungsfreiheit nach Art. 46 AEUV 21 4.3. Konstellation der Dienstleistungsfreiheit 23 4.3.1. Berufsanerkennungsrichtlinie 2005/36 23 4.3.2. Dienstleistungsrichtlinie 2006/123 23 4.3.3. Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 f. AEUV 24 5. Zusammenfasssung und Ergebnis 25 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 4 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 5 1. Einleitung Die vorliegende Ausarbeitung geht der Frage nach, ob oder ggf. unter welchen Umständen die Eingliederung von Dienstleistern aus anderen EU-Mitgliedstaaten in deutsche Kammern gegen EU-Recht verstößt. Dabei wird den Vorgaben entsprechend allein die Pflichtmitgliedschaft in den Handwerks- sowie den Industrie- und Handelskammern (IH-Kammern) betrachtet, andere Kammermitgliedschaften , etwa für die Angehörigen freier Berufe1, bleiben vorliegend außer Betracht. Für die Beantwortung der Frage empfiehlt es sich, in einem ersten Schritt die einschlägigen unionsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie im einschlägigen Sekundärrecht in abstrakter Weise darzustellen (siehe unter 2.). In einem zweiten Schritt werden die nach deutschem Recht bestehenden Rechtsgrundlagen und Voraussetzungen der Pflichtmitgliedschaft in den genannten Kammern aufgezeigt (siehe unter 3.). Anschließend werden diese Rahmenbedingungen dann in einem dritten Schritt im Lichte der relevanten unionsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe erörtert (siehe unter 4.) und abschließend zusammengefasst (siehe unter 5.). 2. Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit Der Begriff des Dienstleisters aus einem anderen EU-Mitgliedstaat ist im Kontext des EU-Rechts mehrdeutig. Versteht man ihn in Anknüpfung an die Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt2 (im Folgenden: Dienstleistungsrichtlinie) tätigkeitsbezogen (vgl. Art. 1 Abs. 1, Art. 4 Nr. 1 Dienstleistungsrichtlinie), so kann es sich je nach Art der Grenzüberschreitung um einen Fall der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV oder um einen Fall der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 f. AEUV handeln. Beide Grundfreiheiten gilt es hinsichtlich der aus ihnen folgenden Anforderungen an das nationale Recht zu unterscheiden, wobei zusätzlich zwischen den Ebenen des vertraglichen Primärrechts (siehe unter 2.1.) und des Sekundärrechts zu differenzieren ist (siehe unter 2.2.). 2.1. Primärrecht Bei der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit handelt es sich – ebenso wie bei den anderen Grundfreiheiten des Binnenmarkts3 – um wirtschaftlich geprägte subjektive Rechte4, 1 Vgl. etwa für die Angehörigen heilkundlicher Berufe das Berliner Kammergesetz, online abrufbar unter: http://www.aerztekammerberlin.de/10arzt/30_Berufsrecht/06_Gesetze_Verordnungen/30_Berufsrecht/221_Blne rKammerG_aktuell.pdf (Stand: 04.01.2013). 2 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl.EU 2006 Nr. L 376/36 (online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2006:376:0036:0068:de:PDF – Stand: 04.01.2013). 3 Vgl. Art. 26 Abs. 2 AEUV. Zu den weiteren Grundfreiheiten zählen die Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 ff. AEUV, die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV, die zusammen mit der Niederlassungsfreiheit die Freizügigkeit der Personen in Sinne des Binnenmarktrechts bildet (vgl. Überschrift zu Titel IV des dritten Teils des AEUV) sowie die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 Abs. 1 AEUV. Die Zahlungsverkehrsfreiheit in Art. 63 Abs. 2 AEUV ist überwiegend eine auf alle übrigen Grundfreiheiten bezogene Annexfreiheit, welche die Erbringung einer grenzüberschreitenden Zahlung als Gegenleistung im Rahmen des Grundfreiheitsverkehrs schützt. Siehe von Wilmowsky, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009 (im Folgenden: Ehlers), § 12, Rn. 6. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 6 deren unmittelbar anwendbarer Verbotsgehalt sich primär gegen die Mitgliedstaaten richtet.5 Verstößt mitgliedsstaatliches Recht gegen Grundfreiheiten, ist es aufgrund des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs6 unanwendbar. In ihrer rechtlichen Grundstruktur ähneln die Grundfreiheiten den deutschen Grundrechten: im Rahmen ihres Anwendungs- bzw. Schutzbereiches verbieten sie mitgliedsstaatliche Eingriffe, soweit sich die Mitgliedsstaaten hierbei nicht auf unionsrechtlich vorgegebene Rechtfertigungsgründe berufen können.7 Diese Struktur soll im Folgenden zunächst kurz näher beschrieben werden (siehe unter 2.1.1.), bevor dann in einem weiteren Schritt die jeweiligen Spezifika der Niederlassungs - (siehe unter 2.1.2.) und Dienstleistungsfreiheit (siehe unter 2.1.3.) dargestellt werden . 2.1.1. Konvergente Grundstruktur der Grundfreiheiten Vorbehaltlich der Rechtfertigung verbieten die Grundfreiheiten zum einen (offene und versteckte ) Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Gebot der Inländergleichbehandlung ) und zum anderen sonstige Beschränkungen, die die Ausübung des jeweils grundfreiheitlich geschützten Verhaltens „weniger attraktiv machen“.8 Der Rechtsprechung der Gerichtshofs nicht klar zu entnehmen und daher im Schrifttum umstritten ist die Reichweite des Beschränkungsverbotes (siehe hierzu unter 2.1.2. und 2.1.3.). An ihr kann festgemacht werden, in welchem Umfang mitgliedsstaatliche Maßnahmen, die auf die jeweilige Grundfreiheit nachteilig einwirken, einem unionsrechtlichen Rechtfertigungszwang unterstellt werden. Für die Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Eingriffe sieht der AEUV zum einen die sog. geschriebenen Rechtfertigungsgründe vor, bei denen es sich für die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit um Gründe der öffentliche Sicherheit, Ordnung und Gesundheit handelt (vgl. Art. 52 Abs. 1 AEUV, für die Dienstleistungsfreiheit in Verbindung mit Art. 62 AEUV), die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eng auszulegen sind.9 Insbesondere vor dem Hintergrund des Beschränkungsverbots hat der EuGH zum anderen einen thematisch offenen Katalog ungeschriebener Rechtfertigungsgründe entwickelt, die sog. zwingenden Gründe des Allgemeinwohls, die ursprünglich der Rechtfertigung nicht- 4 Ehlers, in: Ehlers, § 7, Rn. 10. 5 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012 (im Folgenden: Haratsch/Koenig/Pechstein), Rn. 792. 6 Hierzu siehe Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 178 ff. 7 Vgl. zur Struktur und Konvergenz der Grundfreiheiten Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 788 ff., 809. 8 Hierzu Ehlers, in: Ehlers, § 7, Rn. 76 ff.; Streinz, Europarecht, 9. Auflage 2012 (im Folgenden: Streinz, Europarecht ), Rn. 798 ff. 9 Siehe hierzu mit Nachweisen aus der Rechtsprechung, Ehlers, in; Ehlers, § 7, Rn. 96. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 7 diskriminierender und somit unterschiedslos eingreifender mitgliedsstaatlicher Maßnahmen dienen sollen.10 Die Geltendmachung geschriebener wie ungeschriebener Rechtfertigungsgründe unterliegt sodann vor allem dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. In dessen Rahmen kommt es vor allem auf die Erforderlichkeit an, wonach der verfolgte Rechtfertigungsgrund nicht mit milderen Mitteln als der gewählten Maßnahme zu erreichen sein darf. In diesem Zusammenhang untersucht der Gerichtshof auch Aspekte der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, soweit er sie in Vorabentscheidungsverfahren nicht den nationalen Ausgangsgerichten überlässt.11 Maßgeblich für die Abgrenzung der Grundfreiheiten untereinander ist vor allem deren sachlicher Anwendungsbereich, der jeweils eine andere Art wirtschaftlicher Austauschvorgänge erfasst . All diesen Vorgängen ist jedoch gemeinsam, dass sie ein – grundfreiheitsspezifisches – grenzüberschreitendes Element aufweisen müssen. Nach ständiger Rechtsprechung finden die Grundfreiheiten keine Anwendung auf sog. rein innerstaatliche Sachverhalte, bei denen kein Element über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinausreicht.12 In personeller Hinsicht berechtigen die Grundfreiheiten grundsätzlich nur Unionsbürger (im Sinne natürlicher Personen) sowie juristische Personen im Sinne des Art. 54 AEUV.13 2.1.2. Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV Zentral für das Verständnis der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV und ihrer Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit ist der Niederlassungsbegriff. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist darunter die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit zu verstehen.14 Es geht folglich um eine stabile und kontinuierliche Teilnahme am Wirtschaftsleben eines anderen als des Herkunftsstaates des Niederlassungsberechtigten.15 Man spricht insoweit auch von einer dauerhaften Eingliederung in die Volkswirtschaft des Niederlassungsstaates.16 Das grenzüberschreitende Element äußert sich bei der Niederlassungsfreiheit folglich grundsätzlich in der EU- 10 Grundlegend EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649, Rn. 8 – Cassis de Dijon (alle Urteile sind online abrufbar unter Angabe der Rs.-Nr. unter http://curia.europa.eu/juris/recherche.jsf?language=de). Die nachfolgende, nicht einheitliche Rechtsprechung des Gerichtshofs in dieser Frage wird im Schrifttum zum Teil dahingehend bewertet, dass auch versteckt diskriminierende Maßnahmen am Maßstab der zwingenden Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden können, vgl. hierzu etwa Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 801; Frenz, Handbuch Europarecht , Band 1: Europäische Grundfreiheiten (im Folgenden: Frenz, Grundfreiheiten), Rn. 545 ff. 11 Vgl. Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU (im Folgenden: Calliess/Korte), § 3, Rn. 145. 12 Siehe hierzu mit Nachweis aus der Rechtsprechung Ehlers, in: Ehlers, § 7, Rn. 23, 63. 13 Vgl. Ehlers, in: Ehlers, § 7, Rn. 40 ff. 14 EuGH, Rs. C-221/89, Slg. 1991, I-3905, Rn. 20 – Factortame. 15 Vgl. EuGH, Rs. C-70/95, Slg. 1997, I-3395, Rn. 24 – Sodemare. 16 Vgl. Tietje, in: Ehlers, § 10, Rn. 24. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 8 ausländischen Staatsangehörigkeit (oder Staatszugehörigkeit bei juristischen Personen) des Niederlassungsberechtigten . Welcher Art die unter diesen Bedingungen auszuübende wirtschaftliche Tätigkeit ist, ergibt sich aus Art. 49 Abs. 2 AEUV, wonach die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen erfasst. Unter dem Begriff tätigkeitsbezogene Gesichtspunkte fallen hierunter somit auch gewerbliche und handwerkliche Tätigkeiten , soweit sie selbständig erbracht werden. In sachlicher Hinsicht wird in Anlehnung an die Differenzierung in Art. 49 Abs. 1 AEUV ferner zwischen der sog. primären und sekundären Niederlassungsfreiheit unterschieden.Unter der erst genannten versteht man die erstmalige Gründung einer Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat , die auch den Umzug einer bestehenden Niederlassung erfasst.17 Die sekundäre Niederlassungsfreiheit erfasst nach der beispielhaften Aufzählung in Art. 49 Abs. 1 Satz 2 AEUV die Errichtung einer unselbständigen Niederlassung in einem Mitgliedstaat in Gestalt einer Agentur, Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft unter Beibehaltung der (bisherigen) Hauptniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat18. Im Ergebnis führt die sekundäre Niederlassungsfreiheit zu einer zeitgleichen Eingliederung in zwei verschiedene mitgliedsstaatliche Volkswirtschaften. Von Bedeutung für die hier zu untersuchende Frage ist sodann das Beschränkungsverbot der Niederlassungsfreiheit. Unstreitig gilt auch hier, dass nicht nur diskriminierende Regelungen des Niederlassungsstaates erfasst werden, sondern auch sonstige Beschränkungen, soweit sie die Ausübung der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv machen19. Umstritten ist im Schrifttum jedoch die Reichweite des Beschränkungsverbots, insbesondere ob sämtliche mitgliedsstaatlichen Regelungen erfasst werden, die sich negativ auf die Niederlassungsfreiheit auswirken (können)20 oder ob lediglich spezifische Behinderungen des Zugangs zum Markt des Niederlassungsstaates erfasst werden21. Nach letzterem wären vor allem solche mitgliedsstaatlichen Maßnahmen nicht durch das Beschränkungsverbot der Niederlassungsfreiheit erfasst, die sich weniger auf die Aufnahme und damit letztlich auf den Marktzugang als vielmehr auf die Ausübung der selbständigen Erwerbstätigkeit vor Ort beziehen. In diesem Sinne würde die Niederlassungsfreiheit lediglich die freie Standortwahl schützen, nicht aber eine Frei- 17 Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 918. 18 Vgl. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 49 AEUV, Rn. 52 (Stand: März 2011 – im Folgenden. Grabitz/Hilf/Nettesheim); Tietje, in: Ehlers, § 10, Rn. 37. 19 Grundlegend EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165, Rn. 37 – Gebhard; früher schon EuGH, Rs. C-340/89, Slg. 1991, I-2357, Rn. 15 – Vlassopoulou; aus neuerer Zeit siehe EuGH, Rs. C-439/99, Slg. 2002, I-305, Rn. 22 – Kommission/Italien. Siehe dazu Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 49 AEUV, Rn. 88; Tietje, in: Ehlers, § 10, Rn. 53. 20 Für ein derart weites, freiheitsrechtlich zu verstehendes Verständnis etwa Tietje, in: Ehlers, § 10, Rn. 55, mit weiteren Nachweisen. 21 So bspw. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 49 AEUV, Rn. 112, mit weiteren Nachweisen. Ebenfalls in diese Richtung weisend, Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 940. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 9 stellung von vorgefundenen und für die Tätigkeit aus Sicht des Niedergelassenen lediglich unerwünschten Standortbestimmungen ermöglichen22. Der Rechtsprechung lässt sich insoweit eine eindeutige Aussage nicht entnehmen23, zumal auch eine trennscharfe Abgrenzung zwischen Aufnahme und Ausübung einer selbständigen Tätigkeit nicht immer möglich ist. In jedem Fall als Beschränkung angesehen werden von Seiten des EuGH spezifische Zugangsbehinderungen wie etwa Bedürfnisregelungen oder Berufsqualifikationsanforderungen 24 und darüber hinaus jedenfalls solche Maßnahmen, die bei dem Niederlassungsberechtigten aufgrund seiner (wirtschaftlichen) Herkunft aus einem anderen Mitgliedstaat zu Doppelbelastungen führen können.25 Entscheidend ist mithin der jeweilige Einzelfall. Im Übrigen verbleibt die insoweit keine Besonderheiten aufweisende Ebene der Rechtfertigung, um mitgliedsstaatliche Maßnahmen, die eine Beschränkung im eben genannten Sinne darstellen, unionsrechtlich zu legitimieren. 2.1.3. Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 f. AEUV Die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 f. AEUV erfasst in sachlicher Hinsicht die grenzüberschreitende Erbringung sowie die Empfangnahme von Dienstleistungen im Sinne von Art. 57 Abs. 1 und 2 AEUV. Die mit der Niederlassungsfreiheit bestehende Gemeinsamkeit betrifft dabei die tätigkeitsbezogene Dimension des Dienstleistungsbegriffs. Dieser erfasst ebenso wie Art. 46 Abs. 2 AEUV zunächst nur selbständige Erwerbstätigkeiten. Für die Dienstleistungsfreiheit ergibt sich dies aus der Dienstleistungsdefinition in Art. 57 Abs. 1 und 2 AEUV. Nach Abs.1 sind Dienstleistungen Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Hieraus folgt, dass Dienstleistungen nur solche wirtschaftlichen Tätigkeiten sind, die nicht den anderen Grundfreiheiten unterfallen. Hierzu zählt als Personenfreizügigkeitsbestimmung auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 46 AEUV, für die eine abhängige Erwerbstätigkeit charakteristisch ist.26 Zu den von der Dienstleistungsfreiheit erfassten Tätigkeiten gehören nach der beispielhaften Aufzählung in Art. 57 Abs. 2 Buchst. a) und c) AEUV ausdrücklich gewerbliche und handwerkliche Tätigkeiten. Aus der zitierten Dienstleistungsdefinition in Art. 57 Abs. 1 AEUV folgt zugleich aber auch die Notwendigkeit einer Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit – der anderen Personenfreizügigkeitsbestimmung . Nach der im Wortlaut der Art. 56 Abs. 1 und Art. 57 Abs. 3 AEUV zum Aus- 22 Vgl. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 49 AEUV, Rn. 112. 23 Siehe die umfangreichen Rechtsprechungsnachweise bei Frenz, Grundfreiheiten, Rn. 2469 ff.; Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 49 AEUV, Rn. 114 ff. 24 Vgl. Aufzählung bei Tietje, in: Ehlers, § 10, Rn. 54, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 25 So etwa in EuGH, Rs. C-53/95, Slg. 1996, I-703, Rn. 12 ff. – Kemmler, für den Fall einer zusätzlichen Pflichtmitgliedschaft in einer Sozialversicherung neben Versicherung im primären Niederlassungsstaat. 26 Vgl. Frenz, Grundfreiheiten, Rn. 1428 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 10 druck kommenden Grundkonstellation der Dienstleistungsfreiheit kann der Dienstleistungserbringer seine Dienstleistungen in einem anderen Staat als dem seiner Ansässigkeit erbringen, also zumeist in dem Mitgliedsstaat des Dienstleistungsempfängers27. In diesem Fall der sog. aktiven Dienstleistungsfreiheit droht somit die Überschneidung der beiden Grundfreiheiten, die insoweit beide die Ausübung selbständiger Tätigkeit auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates schützen. Die daher notwendige Abgrenzung manifestiert sich in dem Begriff der vorübergehenden Leistungserbringung28, der in Art. 57 Abs. 3 AEUV anklingt. Anders als die Niederlassungsfreiheit sieht die Dienstleistungsfreiheit somit gerade keine dauerhafte Eingliederung in die Volkswirtschaft eines anderen Staates vor, der Dienstleistungsbringer behält seine (wirtschaftliche ) Niederlassung in seinem Herkunftsland. Dem entsprechend kommt das grenzüberschreitende Element der aktiven Dienstleistungsfreiheit in einem vorübergehenden Grenzübertritt des Dienstleistungserbringers zum Ausdruck. Nach der Rechtsprechung entscheidet über die Einordnung der Leistungserbringung als vorübergehend nicht allein die Dauer der fraglichen Tätigkeit, sondern auch ihre Häufigkeit, regelmäßige Wiederkehr oder Kontinuität29. Entscheidend sind somit die Umstände des Einzelfalls, eine abstrakte Festlegung ist nicht möglich.30 Die hierdurch problematische Abgrenzung beider Grundfreiheiten wird noch dadurch verstärkt, dass der Gerichtshof in Anwendung dieser Kriterien auch bei einer über mehrere Jahre hinweg in einem anderen Mitgliedstaat erbrachten Leistung (etwa Verputzarbeiten im Rahmen eines Großbauvorhabens) nicht zwingend von einem Fall der Niederlassungsfreiheit ausgeht.31 Auch schließe die Ausstattung mit einer gewissen Infrastruktur im Staat der Dienstleistungserbringung die Anwendung der Art. 56 f. AEUV nicht notwendig aus.32 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle erwähnt, dass die anderen durch Art. 56 f. AEUV geschützten Modalitäten der Dienstleistungsfreiheit, insbesondere die Erbringung der Dienstleistung über die Grenze hinweg ohne Ortswechsel des Dienstleistungserbringers (sog. Korrespondenzdienstleistung ) und die Empfangnahme der Dienstleistung durch den Empfänger im Land des Dienstleistungserbringers (sog. passive Dienstleistungsfreiheit)33, in diesem Zusammenhang nicht relevant sind: Der Dienstleistungserbringer verbleibt in beiden Fällen jeweils in seinem Ansässigkeitsstaat, so dass eine Überschneidung mit der Niederlassungsfreiheit ausgeschlossen ist34. 27 Daneben ist auch möglich, dass der Dienstleistungserbringer im Auftrag des Empfängers in einem dritten Mitgliedsstaat tätig wird, vgl. hierzu Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 963. 28 Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 959; Pache, in: Ehlers, § 11, Rn. 43. 29 Vgl. EuGH, Rs. C-215/01, Slg. 2003, I-14847, Rn. 30 ff. – Schnitzer. Vgl. hierzu Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 959; Frenz, Grundfreiheiten, Rn. 3135 ff. 30 EuGH, Rs. C-215/01, Slg. 2003, I-14847, Rn. 31 – Schnitzer. 31 EuGH, Rs. C-215/01, Slg. 2003, I-14847, Rn. 30 – Schnitzer. 32 EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165, Rn. 32 ff. – Schnitzer. 33 Siehe hierzu Pache, in: Ehlers, § 11, Rn. 36 ff. 34 Vgl. auch Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 959. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 11 Ebenso wie bei der Niederlassungsfreiheit ist auch im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit die Reichweite des Beschränkungsverbotes umstritten.35 Die dahinter stehende Problematik entspricht im Grunde derjenigen, die auch für die Niederlassungsfreiheit prägend ist, nämlich ob und inwieweit über die (vorübergehende) Aufnahme der Tätigkeit und damit den Zugang zum (Dienstleistungs-)Markt eines anderen Staates hinaus auch die vorgefundenen Rahmenbedingungen für die Ausübung der Dienstleistungstätigkeit dem Beschränkungsverbot unterfallen36. Für eine weitergehende Reichweite des Beschränkungsverbots der Dienstleistungsfreiheit im Vergleich zur Niederlassungsfreiheit könnte jedenfalls bei der aktiven Dienstleistungsfreiheit der Umstand ins Feld geführt werden, dass es sich eben nur um eine vorübergehend ausgeübte Tätigkeit handelt, die bereits den Anforderungen der Rechtsordnung des wirtschaftlichen Herkunftsstaats unterliegt. In der Rechtsprechung wird dieser Aspekt jedoch ersichtlich erst im Rahmen der Rechtfertigung und nicht auf der Eingriffsebene aufgegriffen. In ständiger Rechtsprechung formuliert der Gerichtshof , dass ein Mitgliedstaat die Erbringung von Dienstleistungen in seinem Hoheitsgebiet nicht von der Einhaltung aller Voraussetzungen abhängig machen darf, die für eine Niederlassung gelten, um damit den Bestimmungen des Vertrages, deren Ziel es gerade ist, die Dienstleistungsfreiheit zu gewährleisten, nicht jede praktische Wirksamkeit zu nehmen.37 In der Tendenz erfolgt vor diesem Hintergrund daher eine im Vergleich zur Niederlassungsfreiheit eher schärfere Prüfung der Verhältnismäßigkeit.38 Hieraus folgt insgesamt, dass das „fluktuierende Moment“ die (aktive) Dienstleistungsfreiheit insoweit gegenüber der Niederlassungsfreiheit privilegiert.39 2.1.4. Zwischenergebnis Zusammenfassend lässt sich für das Verhältnis der aktiven Dienstleistungsfreiheit zur Niederlassungsfreiheit festhalten, dass beide Grundfreiheiten nicht nur im Hinblick auf ihren sachlichen Anwendungsbereich (vorübergehende Leistungserbringung einerseits und dauerhafte Eingliederung andererseits) voneinander abzugrenzen sind, sondern auch und gerade hinsichtlich ihres Verbotsgehalts. Beschränkungen der aktiven Dienstleistungsfreiheit unterliegen einer strengeren Verhältnismäßigkeitsprüfung als dies bei der Niederlassungsfreiheit der Fall ist. Hieraus folgt, dass der Spielraum der Mitgliedstaaten bei der Regelung der Aufnahme und Ausübung von Tätigkeiten im Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit geringer ist als bei Konstellationen der Niederlassungsfreiheit. 35 Vgl. hierzu Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 56/57 AEUV, Rn. 97 ff. (Stand: März 2011); Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 984 ff. 36 Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 56/57 AEUV, Rn. 136 ff. 37 EuGH, Rs. C-76/90, Slg. 1991, I-4239, Rn. 13 – Säger; EuGH, Rs. C-58/98, Slg. 2000, I-7943, Rn. 43 – Corsten. Hierzu Calliess/Korte, § 3, Rn. 143; Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 995. 38 Vgl. Frenz, Grundfreiheiten, Rn. 3333. 39 Calliess/Korte, § 3, Rn. 143; Cornils, in: Schlachter/Ohler, Europäische Dienstleistungsrichtlinie, 2008 (im Folgenden : Schlachter/Ohler), Art. 9, Rn. 9. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 12 2.2. Sekundärrecht Die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit wurden in zahlreichen Sekundärrechtsakten konkretisiert. Der überwiegende Teil der Maßnahmen beruht auf der Rechtssetzungskompetenz des Art. 53 Abs. 1 AEUV (vormals Art. 47 Abs. 1 und 2 EG/Nizza), die über Art. 62 AEUV auch für die Dienstleistungsfreiheit Anwendung findet. Zu den auf dieser Grundlage erlassenen und für den Bereich des Gewerbe- und Handwerksrecht relevanten Rechtakten gehören zum einen die Dienstleistungsrichtlinie und zum anderen die Richtlinie 2005/36 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (im Folgenden: Berufsanerkennungsrichtlinie).40 Beiden Richtlinien ist gemeinsam, dass sie bei der Konkretisierung streng zwischen den beiden Grundfreiheiten unterscheiden und hierbei die primärrechtlich angelegte Privilegierung der Dienstleistungsfreiheit im Verhältnis zur Niederlassungsfreiheit fortschreiben und zum Teil ausbauen . Im Ergebnis unterliegen die Mitgliedstaaten bezüglich der Ausgestaltung des nationalen Rechts auch im Anwendungsbereich der Richtlinien somit strengeren Anforderungen hinsichtlich der (aktiven) Dienstleistungsfreiheit als dies für die Niederlassungsfreiheit der Fall ist. 2.2.1. Dienstleistungsrichtlinie 2006/123 Ausweislich ihres Wortlauts enthält die Dienstleistungsrichtlinie allgemeine Bestimmungen, die die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit durch Dienstleistungserbringer sowie den freien Dienstleistungsverkehr erleichtern sollen (Art. 1 Abs. 1 Dienstleistungsrichtlinie). Sie gilt nach Art. 2 Abs. 1 Dienstleistungsrichtlinie für Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden. Hieraus folgt der dem Rechtsakt zugrunde liegende horizontale Ansatz, wonach nicht bestimmte „Dienstleistungen“ sekundärrechtlich konkretisiert, sondern Vorgaben für die Erbringung aller Dienstleistungen gemacht werden, soweit sie von der Richtlinie in sachlicher und personeller Hinsicht erfasst werden.41 Die Umsetzungsfrist der Dienstleistungsrichtlinie lief am 28. Dezember 2009 ab (vgl. Art. 44 Abs. 1 Dienstleistungsrichtlinie). Im Folgenden wird der Rechtsakt kurz in seinen Grundzügen dargestellt, unterteilt nach Anwendungsbereich (siehe 2.2.1.1.), sowie den Abschnitten über die Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer einerseits (Kap. III der Dienstleistungsrichtlinie, siehe 2.2.1.2) und über die Dienstleistungsfreiheit und damit zusammenhängende Ausnahmen andererseits (Kap. IV, Abschnitt 1 Dienstleistungsrichtlinie, siehe unter 2.2.1.3). 2.2.1.1. Anwendungsbereich Ausgangspunkt für den sachlichen Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie ist der Begriff der Dienstleistung. Nach Art. 4 Nr.1 Dienstleistungsrichtlinie ist darunter jede von Art. 57 AEUV (im Original: ex. Art. 50 EG/Nizza) erfasste selbständige Tätigkeit zu verstehen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht wird. Da dieser Begriffsinhalt sowohl für den Abschnitt über die 40 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl.EU 2005 Nr. L 255/22 (online abrufbar unter. http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2005:255:0022:0142:de:PDF – Stand: 04.01.2013) 41 Vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 999. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 13 Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungsempfänger als auch für den über die Dienstleistungsfreiheit gilt, muss der in Art. 4 Nr. 1 Dienstleistungsrichtlinie enthaltende Verweis auf die primärrechtliche Begriffsdefinition einschränkend dahingehend ausgelegt werden, dass es im Hinblick auf die jeweils erbrachte wirtschaftliche Leistung nicht auf die Abgrenzung von (aktiver) Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit ankommt.42 Hiervon abgesehen kann auf die obigen Ausführungen zum primärrechtlichen Dienstleistungsbegriff verwiesen werden (vgl. siehe oben unter 2.1.3.). Somit erfasst der auch Dienstleistungsbegriff im Sinne der Dienstleistungsrichtlinie insbesondere gewerbliche und handwerkliche Tätigkeiten (vgl. insoweit Art. 57 Abs. 2 AEUV). Im Übrigen ist für die Anwendung (bzw. Umsetzung) der Dienstleistungsrichtlinie zwischen beiden Grundfreiheiten streng zu unterscheiden. Im Rechtsakt wird die Abgrenzung zwar nicht ausdrücklich aufgegriffen. Die entsprechende Notwendigkeit folgt indes eindeutig aus systematischen Erwägungen (formal getrennte Regelung beider Bereiche; vgl. ferner Art. 14 Abs. 1 sowie Art. 16 Abs. 1 UAbs. 1 Dienstleistungsrichtlinie43) und aus dem Sinn und Zweck der Dienstleistungsrichtlinie , die für beide Abschnitte jeweils unterschiedliche Regelungen trifft.44 Für den sachlichen Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie von Bedeutung sind darüber hinaus die zahlreichen Ausnahmen. Generelle Ausnahmen vom Anwendungsbereich hinsichtlich bestimmter Dienstleistungen enthalten Art. 2 Abs. 2 Buchst. a) bis l) sowie Abs. 3 Dienstleistungsrichtlinie. Hiervon betroffen sind auch gewerbliche Tätigkeiten wie etwa private Sicherheitsdienste (Buchst. k) oder Dienstleistungen von Leiharbeitsagenturen (Buchst. e). Insoweit bleibt es bei der Anwendung der primärrechtlichen Grundfreiheiten.45 Daneben zählt Art. 1 Abs. 2 bis 7 Dienstleistungsrichtlinie, der den Gegenstand des Rechtsaktes beschreibt, verschiedene Regelungsbereiche auf, auf welche die Dienstleistungsrichtlinie ebenfalls keine Anwendung findet. Das Verhältnis der Dienstleistungsrichtline zu anderen Sekundärrechtsakten regelt Art. 3 Abs. 1 Dienstleistungsrichtlinie. Danach tritt die Dienstleistungsrichtlinie gegenüber kollidierendem EU-Sekundärrecht zurück. Hieraus folgt ihre generelle Subsidiarität.46 Zu den exemplarisch aufgeführten Rechtsakten, die insoweit vorrangig sind, zählt auch die Berufsanerkennungsrichtlinie (vgl. 3 Abs. 1 Buchst. d Dienstleistungsrichtlinie). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der sachliche Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie ungeachtet ihres horizontalen Ansatzes aufgrund zahlreicher Ausnahmen einerseits und des Vorrangs anderer Sekundärrechtsakte andererseits eingeschränkt ist. Soll die Dienstleistungsrichtlinie als Rechtmäßigkeitsmaßstab für nationales Recht zur Anwendung ge- 42 Vgl. Streinz/Leible, in: Schlachter/Ohler, Art. 4, Rn.2; Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 999. 43 Siehe insbesondere zu Art. 16 Abs. 1 UAbs. 1 Dienstleistungsrichtlinie Calliess/Korte, § 6, Rn. 11 ff. 44 Vgl. Cornils, in: Schlachter/Ohler, Art. 9, Rn. 9, 13 ff.; vgl. auch den Erwägungsgrund Nr. 5 der Dienstleistungsrichtlinie sowie Kommission, Handbuch zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie (online abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/services/docs/services-dir/guides/handbook_de.pdf - Stand: 04.01.2013; im Folgenden: Kommission, Handbuch), S. 42. 45 Vgl. Leible, in: Schlachter/Ohler, Art. 2, Rn.102 f. 46 Leible, in: Schlachter/Ohler, Art. 3, Rn. 1, 3; Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 14 langen, bedarf es zuvor einer genauen Prüfung, ob und inwieweit die betreffende nationale Norm in den Anwendungsbereich dieses Rechtsaktes fällt. 2.2.1.2. Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer Die Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer ist in den Art. 9 bis 15 Dienstleistungsrichtlinie (Kap. III) geregelt. Unterteilt ist das Kapitel in einen Abschnitt über Anforderungen, die an mitgliedsstaatliche Genehmigungserfordernisse zu stellen sind (Art. 9 bis 13 Dienstleistungsrichtlinie ) und in einen Abschnitt über unzulässige oder zu prüfende (mitgliedsstaatliche) Anforderungen an die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit (Art. 14 und 15 Dienstleistungsrichtlinie). Für die hier relevante Frage der Kammermitgliedschaft ist allein Art. 14 Abs. 2 Dienstleistungsrichtlinie von Bedeutung (siehe dazu unten unter 4.2.2.). 2.2.1.3. Dienstleistungsfreiheit und damit zusammenhängende Ausnahmen Die Vorgaben der Richtlinie zur Dienstleistungsfreiheit der Dienstleistungserbringer sind in Art. 16 Dienstleistungsrichtlinie enthalten; Art. 17 und 18 Dienstleistungsrichtlinie sehen hingegen weitere, abschnittsspezifische Ausnahmen vor. Allgemeine Vorgaben für die Mitgliedsstaaten bezüglich der Regelung der Aufnahme und Ausübung der Dienstleistungstätigkeit durch Dienstleistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen ihrer Niederlassung enthält Art. 16 Abs. 1 Dienstleistungsrichtlinie. In Gestalt eines wohl absoluten, d.h. keiner Rechtfertigung zugänglichen Diskriminierungsverbots (vgl. Art. 16 Abs. 1 UAbs. 3 Buchst. a Dienstleistungsrichtlinie)47 und einer Reduktion der Rechtfertigungsgründe bei sonstigen (beschränkenden) Eingriffen auf die öffentliche Ordnung, Sicherheit, Gesundheit und den Schutz der Umwelt (vgl. Art. 16 Abs. 1 UAbs. 3 Buchst. c Dienstleistungsrichtlinie ) 48 gehen die Vorgaben des Rechtsaktes über den primärrechtlichen Gehalt der Dienstleistungsfreiheit hinaus.49 Art. 16 Abs. 2 Dienstleistungsrichtlinie beinhaltet eine Liste mit Anforderungen an die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit, die schlechthin unzulässig sind (vgl. Buchst. a bis g). Hier findet sich auch eine Bezugnahme auf Kammermitgliedschaften, auf die unten unter 4.3.2. näher eingegangen wird. Bei den abschnittspezifischen Ausnahmen in Art. 17 Dienstleistungsrichtlinie wird unter Nr. 6 ein weiteres Mal auf die Berufsanerkennungsrichtlinie verwiesen. Danach findet Art. 16 Dienstleistungsrichtlinie generell – also unabhängig von einer Vorschriftenkollision – keine Anwendung auf die Angelegenheiten, die unter Titel II der Berufsanerkennungsrichtlinie („Dienstleistungsfreiheit ) fallen. 47 Vgl. Schmidt-Kessel, in: Schlachter/Ohler, Art. 16, Rn. 45. 48 Vgl. Schmidt-Kessel, in: Schlachter/Ohler, Art. 16, Rn. 33. 49 Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 1000. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 15 2.2.2. Berufsanerkennungsrichtlinie 2005/36 Gegenstand der Berufsanerkennungsrichtlinie, die bis zum 20. Oktober 2007 umzusetzen war (vgl. Art. 63 Abs.1 Berufsanerkennungsrichtlinie), sind unionsrechtliche Vorgaben für die Anerkennung von in einem Mitgliedstaaten erworbenen Berufsqualifikationen für den Zugang zu einem reglementierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat (vgl. Art. 1 Berufsanerkennungsrichtlinie ). Unter einem reglementierten Beruf ist nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a Berufsanerkennungsrichtlinie eine berufliche Tätigkeit oder eine Gruppe beruflicher Tätigkeiten zu verstehen, bei der die Aufnahme oder Ausübung oder eine der Arten der Ausübung direkt oder indirekt durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften an den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen gebunden ist. Berufsqualifikationen sind nach Art. 3 Abs.1 Buchst. b Berufsanerkennungsrichtlinie Qualifikationen, die durch einen Ausbildungsnachweis, einen Befähigungsnachweis (…) und/oder Berufserfahrung nachgewiesen werden. Hierunter fallen eine Vielzahl von Berufen.50 Im Bereich des Handwerks sind dies die sog. zulassungspflichtigen Handwerke nach § 1 Abs. 1 und 2 Handwerksordnung (HwO) in Verbindung mit Anlage A zur HwO. Nicht erfasst werden hingegen die zulassungsfreien Handwerke und die handwerksähnlichen Gewerbe nach § 18 Abs. 1 und 2 HwO in Verbindung mit Anlage B zur HwO. Hinsichtlich sonstiger gewerblicher Tätigkeiten kommt es darauf an, ob die Aufnahme einer solchen durch das nationale Recht an das Vorliegen von Berufsqualifikationen geknüpft wird. Werden derartige Voraussetzungen in einem Mitgliedstaat aufgestellt, so ist im Weiteren danach zu unterscheiden, ob die betreffende berufliche Tätigkeit dort im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit (Titel II der Berufsanerkennungsrichtlinie) oder dauerhaft erbracht werden soll – also im Wege der Niederlassungsfreiheit bei selbständiger Tätigkeit oder in Gestalt der Arbeitnehmerfreizügigkeit bei abhängiger Beschäftigung (Titel III und weitere Titel der Berufsanerkennungsrichtlinie , vgl. auch Art. 2 Abs. 1 Berufsanerkennungsrichtlinie). Hinsichtlich der Abgrenzung beider Konstellationen knüpft der Rechtsakt in Art. 5 Abs. 2 Berufsanerkennungsrichtlinie ausdrücklich an die in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien zur Bestimmung des vorübergehenden Charakters der Dienstleistungsfreiheit (siehe auch oben unter 2.1.3). Während die Richtlinie für den Bereich der dauerhaften Ausübung hinsichtlich der über die reinen Anerkennungsvorgaben hinausgehenden Fragen im Wesentlichen den allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung mit Inländern festschreibt (vgl. Art. 4 Abs. 1 Berufsanerkennungsrichtlinie )51, sieht sie für Fälle der Dienstleistungsfreiheit in Titel II ein gesondertes Regime vor. Wie oben im Zusammenhang mit der Dienstleistungsrichtlinie dargestellt, findet deren Art. 16 hierauf keine Anwendung (siehe oben unter 2.2.1.3.). Nach Art. 5 Abs. 1 Berufsanerkennungsrichtlinie darf die Dienstleistungsfreiheit nicht aufgrund der Berufsqualifikation eingeschränkt werden, wenn der Dienstleister zur Ausübung desselben 50 Siehe Kluth/Rieger, Die neue EU-Berufsanerkennungsrichtlinie – Regelungsgehalt und Auswirkungen für Berufsangehörige und Berufsorganisationen, EuZW 2005, 486 (487). 51 Vgl. Kluth/Rieger, EuZW 2005, 486 (487, 490). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 16 Berufes in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist und – soweit der Beruf dort keiner Reglementierung unterliegt – diesen mindestens zwei Jahre während der vorhergehenden zehn Jahre im Niederlassungsmitgliedstaat ausgeübt hat. Grundlegende Vorgaben für die Berufsausübung enthält sodann Art. 5 Abs. 3 Berufsanerkennungsrichtlinie . Begibt sich der Dienstleister in einen anderen Mitgliedstaat, so gilt danach, dass er im Aufnahmemitgliedstaat den berufsständischen, gesetzlichen oder verwaltungsrechtlichen Berufsregeln, die dort in unmittelbarem Zusammenhang mit den Berufsqualifikationen für Personen gelten, die denselben Beruf wie er ausüben, und den dort geltenden Disziplinarbestimmungen unterliegt. Zu beachten sind allerdings die in Art. 6 Berufsanerkennungsrichtlinie geregelten Befreiungen von diesem Grundsatz, die sich auch auf Kammermitgliedschaften beziehen (dazu unten unter 4.3.1. mehr). 2.3. Zwischenergebnis Fasst man die vorstehenden Ausführungen zu den einschlägigen unionsrechtlichen Rechtsmäßigkeitsmaßstäben für die Beurteilung einer Kammerpflichtmitgliedschaft zusammen, so besteht zum einen die Notwendigkeit zu unterscheiden zwischen den unter die Dienstleistungsfreiheit im Sinne der Art. 56 f. AEUV fallenden Konstellationen einerseits und den von der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV erfassten Fällen andererseits. Hiervon ausgehend sind die Dienstleistungs- und die Berufsanerkennungsrichtlinie in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich als Prüfungsmaßstäbe vorrangig gegenüber den primärrechtlichen Bestimmungen der Art. 56 f. bzw. Art. 49 AEUV. Auf der Ebene des Sekundärrechts wiederrum genießt die Berufsanerkennungsrichtlinie aufgrund ihrer Spezialität Vorrang gegenüber der Dienstleistungsrichtlinie. 3. Pflichtmitgliedschaft in Handwerks- sowie Industrie- und Handelskammern nach deutschem Recht Hinsichtlich der Rechtsgrundlagen und den Voraussetzungen der Pflichtmitgliedschaft nach deutschem Recht ist zwischen der Mitgliedschaft in der Handwerkskammer (siehe unter 3.1.) und der Mitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer zu unterscheiden (siehe unter 3.2.). Beiden Pflichtmitgliedschaften gemeinsam ist die daran geknüpfte Beitragspflicht. Für den Bereich des Handwerks folgt sie aus § 113 HwO und in Fällen der Mitgliedschaft in der IH-Kammer aus § 3 des Gesetzes zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern (IHK-G). 3.1. Pflichtmitgliedschaft in Handwerkskammern Nach deutschem Recht folgt die Pflichtmitgliedschaft in Handwerkskammern aus § 90 Abs. 2 HwO. Danach gehören v.a. die Inhaber eines Betriebs eines Handwerks und eines handwerksähnlichen Gewerbes des Handwerkskammerbezirks zur jeweiligen Handwerkskammer . § 90 Abs. 2 HwO knüpft damit an die Eintragung in die Handwerksrolle für zulassungspflichtige Handwerke nach §§ 1 Abs. 1 und 2, 6 HwO in Verbindung mit der Anlage A zur HwO Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 17 bzw. an die Eintragung in das Verzeichnis für zulassungsfreie Handwerke bzw. handwerksähnliche Gewerbe nach §§ 18 Abs. 1, 19 HwO in Verbindung mit der Anlage B zur HwO.52 Voraussetzung für die Eintragung ist jeweils das Vorliegen einer gewerblichen Niederlassung im betreffenden Kammerbezirk. Für die zulassungspflichtigen Handwerke folgt dies aus der Anknüpfung an den Begriff des stehenden Gewerbes in § 1 Abs. 1 HwO, welchem letztlich eine gewerbliche Niederlassung zugrunde liegt.53 Ausdrücklich aufgegriffen wird diese Voraussetzung in der Sonderregelung des § 9 HwO für die Behandlung u.a. von Staatsangehörigen anderer EU-Mitgliedstaaten. Die Vorschrift enthält in Abs. 1 eine Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen zur Regelung der Ausübung zulassungspflichtiger Handwerke sowohl für die Fälle einer gewerblichen Niederlassung im Inland (§ 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HwO) als auch bei deren Nichtvorhandensein bei lediglich grenzüberschreitender Dienstleistungserbringung (§ 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HwO). Hierdurch wird ausweislich des Wortlauts in § 9 Abs. 1 HwO u.a. die Berufsanerkennungsrichtlinie umgesetzt. Auf dieser Grundlage wurde die EU/EWR-Handwerk-Verordnung (EU/EWR-HwV) erlassen, die zwischen den beiden Konstellationen unterscheidet und für Fälle gewerblicher Niederlassung bei Vorliegen der Anerkennungsvoraussetzungen die Erteilung einer Ausnahmebewilligung zur Eintragung in die Handwerksrolle vorsieht (vgl. §§ 1 bis 6 EU/EWR-HwV). Fehlt es an einer gewerblichen Niederlassung, so ist nach § 7 Abs. 1 EU/EWR-HwV die „vorübergehende und gelegentliche Erbringung von Dienstleistungen“ in einem zulassungspflichtigen Handwerk gestattet, wenn die betreffende Person in einem EU-Mitgliedstaat zur Ausübung vergleichbarer Tätigkeiten rechtmäßig niedergelassen ist. Eine Eintragung in die Handwerksrolle ist in diesen Fällen somit nicht vorgesehen, wie sich auch aus § 9 Abs. 1 Satz 3 HwO ergibt, der für diese Fälle eine Anwendbarkeit des § 1 Abs. 1 HwO ausschließt. Zulassungspflichtige Handwerke unterliegen somit nur dann der Eintragung in die Handwerksrolle und damit der Pflichtmitgliedschaft in der betreffenden Handwerkskammer gemäß § 90 Abs. 2 HwO, wenn sie im Rahmen einer gewerblichen Niederlassung betrieben werden. Gleiches gilt für die zulassungsfreien Handwerke und die handwerksähnlichen Gewerbe, die in das entsprechende Verzeichnis im Sinne des § 19 HwO einzutragen sind, soweit nach mit § 18 Abs. 1 HwO über eine gewerbliche Niederlassung verfügen. Bei Fehlen einer gewerblichen Niederlassung entfällt somit die Eintragung und folglich auch die Kammermitgliedschaft. Eine spezielle Regelung für ausländische EU-Angehörige und den Fall der Dienstleistungsfreiheit enthält die Handwerksordnung insoweit jedoch nicht. Der Begriff der gewerblichen Niederlassung wird in der HwO nicht näher definiert. Als immanenter Bestandteil des Begriffs des stehenden Gewerbes ist er jedoch ebenso wie jener in Anlehnung an die Gewerbeordnung (GewO) zu bestimmen.54 Diese enthält nun in § 4 Abs. 3 GewO eine entsprechende Definition, die sich an die Definition des Niederlassungsbegriffs in 52 Vgl. Detterbeck, Handwerksordnung, 2012 (im Folgenden: Detterbeck), § 90, Rn. 2. 53 Vgl. etwa Hönig/Knörr, Handwerksordnung, 4. Aufl. 2008, § 1 HwO, Rn. 21; Detterbeck, § 1 HwO, Rn. 6 ff. 54 Vgl. allgemein hierzu Detterbeck, Einleitung, Rn. 2. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 18 Art. 4 Nr. 5 Dienstleistungsrichtlinie anlehnt.55 Danach besteht eine Niederlassung dann, wenn eine selbständige gewerbsmäßige Tätigkeit auf unbestimmte Zeit und mittels einer festen Einrichtung von dieser aus tatsächlich ausgeübt wird. 3.2. Pflichtmitgliedschaft in Industrie- und Handelskammern Die Pflichtmitgliedschaft in Industrie- und Handelskammern folgt aus §2 Abs. 1 IHK-G. Danach sind sog. Kammerzugehörige solche Personen, Handelsgesellschaften etc., die zur Gewerbesteuer veranlangt werden und im Bezirk der betreffenden Kammer eine Betriebsstätte unterhalten. Die Mitgliedschaft in der Handwerkskammer ist dabei vorrangig und schließt eine parallele Mitgliedschaft mit demselben Betriebsteil in der IH-Kammer aus, vgl. §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 3 IHK-G.56 Mit dem Begriff der Betriebsstätte knüpft das IHK-G an die steuerrechtliche Regelung in § 12 Abgabenordnung (AO) an.57 Nach § 12 Satz 1 AO ist Betriebstätte jede feste Geschäftseinrichtung oder Anlage, die der Tätigkeit eines Unternehmens dient. § 12 Satz 2 AO enthält eine beispielhafte Aufzählung und führt u.a. folgende Stätten auf: die Stätte der Geschäftsleitung, Zweigniederlassungen , Geschäftsstellen, Fabrikations- oder Werkstätten, Warenlager, Ein- oder Verkaufsstellen . Erfasst werden auch Bauausführungen oder Montagen, auch örtlich fortschreitende oder schwimmende, wenn die einzelne Bauausführung oder Montage oder eine von mehreren zeitlich nebeneinander bestehenden Bauausführungen oder Montagen oder mehrere ohne Unterbrechung aufeinander folgende Bauausführungen oder Montagen länger als sechs Monate dauern. 3.3. Zwischenergebnis Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Pflichtmitgliedschaft in den Handwerks- bzw. IH-Kammern und damit einhergehend auch die Beitragspflicht von dem Vorliegen einer in Deutschland gelegenen festen Einrichtung abhängig ist, von der aus die selbständige Tätigkeit ausgeübt wird. Während sich dies im ersten Fall in dem Begriff der gewerblichen Niederlassung im Sinne des § 4 Abs. 3 GewO manifestiert, kommt es im zweiten Fall auf das Vorliegen einer Betriebsstätte gemäß § 12 AO an. Ausgehend von der beispielhaften Aufzählung, insbesondere mit Blick auf die Fälle der Bauausführungen oder Montagen, scheint der Begriff der Betriebsstätte jedoch weiter zu reichen als der der gewerblichen Niederlassung im Sinne der GewO. 4. Unionsrechtliche Beurteilung einer Pflichtmitgliedschaft in Handwerks- sowie Industrieund Handelskammern Die getrennte Behandlung beider Grundfreiheiten sowie die beschriebene Rangfolge der unionalen Rechtmäßigkeitsmaßstäbe aufgreifend (siehe oben unter 2.3.), soll zunächst der durch das deutsche Recht vorgegebene Anknüpfungspunkt für die Kammermitgliedschaft im Lichte des Unionsrechts beleuchtet werden (siehe unter 4.1.). Hierauf aufbauend ist die Kammermitglied- 55 Siehe zu dieser Frage sowie zur alten Rechtslage Schönleitner, in: Landmann/Rohmer, Gewerbeordnung, 61. Ergänzungslieferung 2012, § 4 GewO, Rn. 31 ff. 56 Vgl. Jahn, in: Frentzel/Jäkel/Junge, Industrie- und Handelskammergesetz, 7. Aufl. 2009 (im Folgenden: Frenztel /Jäkel/Junge), § 2, Rn. 114 ff. 57 Calliess/Korte, § 6, Rn. 39; Jahn, in: Frenztel/Jäkel/Junge, § 2, Rn. 72. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 19 schaft dann getrennt nach den Anwendungsbereichen der Niederlassungsfreiheit einerseits (siehe unter 4.2.) und der (aktiven) Dienstleistungsfreiheit andererseits (siehe unter 4.3.) am Maßstab des einschlägigen Unionsrechts zu beurteilen. 4.1. Anknüpfungspunkt für Kammermitgliedschaft im Lichte der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit Anknüpfungspunkt für die Kammermitgliedschaft ist das Vorliegen einer in Deutschland gelegenen festen Einrichtung in Gestalt einer gewerblichen Niederlassung im Sinne des § 4 Abs. 3 Gew O oder einer Betriebsstätte nach § 12 AO (siehe oben unter 3.). Das Vorliegen einer solchen festen Einrichtung entspricht jedenfalls in der Regel dem Niederlassungsbegriff der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV, wonach darunter die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung auf unbestimmte Zeit zu verstehen ist (siehe oben unter 2.1.2.). Für gemeinhin ist mit der Gründung einer gewerblichen Niederlassung oder einer Betriebsstätte zugleich auch eine dauerhafte Eingliederung in die Volkswirtschaft des betreffenden Staates verbunden. Der Kammermitgliedschaft unterliegen somit uneingeschränkt jedenfalls die Konstellation der Niederlassungsfreiheit, soweit es sich bei der selbständig ausgeübten Wirtschaftstätigkeit um eine gewerbliche oder handwerkliche handelt (im Einzelnen hierzu siehe sogleich unter 4.2.). Fraglich ist, ob der Anknüpfungspunkt einer gewerblichen Niederlassung bzw. Betriebsstätte auch die Konstellation der (aktiven) Dienstleistungsfreiheit erfassen kann. Wie oben ausgeführt (siehe unter 2.1.3.), ist hierfür die vorübergehende Leistungserbringung in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Niederlassung des Dienstleistungserbringers kennzeichnend, die gerade zu keiner dauerhafte Eingliederung in die Volkswirtschaft in diesen Mitgliedsstaat führt. Möglich ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aber auch eine dort längerfristig erbrachte Dienstleistungstätigkeit und auch das Vorhandensein einer gewissen Infrastruktur.58 Soweit man unter diesen Umständen insbesondere von dem Vorliegen einer Betriebsstätte nach § 12 AO ausgeht,59 wäre auch der Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit eröffnet und die hieraus folgende Kammermitgliedschaft am Maßstab des unionalen Dienstleistungsrechts zu messen. Ähnliches ist im Hinblick auf den Begriff der gewerblichen Niederlassung nach § 4 Abs. 3 GewO nicht schlechthin ausgeschlossen, wenngleich die Nähe zur unionsrechtlichen Abgrenzung zwischen Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit aufgrund der Orientierung an der einschlägigen Begriffsdefinition in Art. 4 Nr. 4 Dienstleistungsrichtlinie hier deutlich größer ist. Ungeachtet der Verpflichtung zur unionsrechtkonformen Auslegung des nationalen Rechts,60 soll im Folgenden für die Zwecke der Ausarbeitung unterstellt werden, dass über den Anknüpfungspunkt der gewerblichen Niederlassung nach § 4 Abs. 3 GewO oder den der Betriebsstätte 58 EuGH, Rs. C-215/01, Slg. 2003, I-14871, Rn. 32 ff. – Schnitzer. 59 Vgl. hierzu auch Calliess/Korte, § 6, Rn. 39. 60 Hierdurch könnte bereits auf der Ebene des Anknüpfungspunktes über eine unionsrechtskonforme Auslegung der Begriffe der gewerblichen Niederlassung oder der Betriebsstätte erreicht werden, dass jeweils nur solche Fälle erfasst werden, die unter die Konstellation der Niederlassungsfreiheit fallen. Allgemein zum Rechtsinstitut der unionsrechtkonformen Auslegung, siehe Koenig/Haratsch/Pechstein, Rn 188 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 20 nach § 12 AO im Einzelfall auch eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der (aktiven) Dienstleistungsfreiheit aufgrund ihrer Dauer sowie der Nutzung einer gewissen Infrastruktur erfasst werden könnte. Zu den möglichen Konsequenzen hierzu siehe unter 4.3. Verneint man hingegen im Regelfall eine Erfassung von (aktiven) Dienstleistungskonstellationen über die Anknüpfungspunkte der gewerblichen Niederlassung oder der Betriebsstätte, so sind die für diese Grundfreiheiten bestehenden unionsrechtlichen Rechtmäßigkeitsmaßstäbe bereits nicht anwendbar, so dass auch der Frage nach der Vereinbarkeit von Pflichtmitgliedschaft und Dienstleistungsfreiheit nicht weiter nachgegangen werden braucht61. 4.2. Konstellation der Niederlassungsfreiheit 4.2.1. Berufsanerkennungsrichtlinie 2005/36 Erstreckt sich die Kammermitgliedschaft auf eine gewerbliche oder handwerkliche (zulassungspflichtige ) Tätigkeit, die an Berufsqualifikationen geknüpft ist, so ist als Rechtmäßigkeitsmaßstab zunächst die Berufsanerkennungsrichtlinie zu berücksichtigen (vgl. oben unter 2.2.2.). Für den sachlichen Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit im Sinne des Art. 46 AEUV enthält die Berufsanerkennungsrichtlinie allerdings – anders als für die Konstellation der (aktiven ) Dienstleistungsfreiheit – keine ausdrücklichen Vorgaben zur Kammermitgliedschaft. Für die Berufsausübung wird in Art. 4 Abs. 1 Berufsanerkennungsrichtlinie allgemein nur auf den Grundsatz der Inländergleichbehandlung verwiesen. Da die Kammermitgliedschaft nach § 90 Abs. 2 HwO bzw. § 2 Abs. 1 IHK-G bei Vorliegen der Voraussetzung einer gewerblichen Niederlassung bzw. einer Betriebsstätte in gleicher Weise auch für Inländer gilt, steht Art. 4 Abs. 1 Berufsanerkennungsrichtlinie einer Kammermitgliedschaft in der Konstellation der Niederlassungsfreiheit folglich nicht entgegen. 4.2.2. Dienstleistungsrichtlinie 2006/136 Ist die selbständige gewerbliche oder handwerkliche Tätigkeit (zulassungsfreie Handwerke und handwerksähnliche Gewerbe) nicht an Berufsqualifikationen gebunden, so ist die Kammermitgliedschaft am Maßstab des Kapitels III der Dienstleistungsrichtlinie über die Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer (siehe oben unter 2.2.1.2.) zu messen. Eine Regelung zu Kammermitgliedschaften findet sich lediglich in Art. 14 Nr. 2 Dienstleistungsrichtlinie . Danach handelt es sich bei dem Verbot der Registrierung bei Berufsverbänden oder - vereinigungen in mehr als einem Mitgliedstaat um eine sog. unzulässige Anforderung, die von den Mitgliedstaaten nicht aufgestellt werden darf. Anders als es der leicht missverständliche Wortlaut auf den ersten Blick suggerieren mag, wird hierdurch nicht die doppelte, also in zwei EU-Mitgliedstaaten parallel erfolgende Registrierung verboten, die im Fall einer sekundären Niederlassung eintreten kann (siehe hierzu oben unter 2.1.2.), sondern das Erfordernis einer ex- 61 Vgl. etwa Geerlings/Leuze, Pflichtmitgliedschaften in Kammern im Lichte des Europäischen Gemeinschaftsrechts , Verwaltungsrundschau 2004, 113 (117), die allerdings das missverständliche Ergebnis formulieren, wonach ein Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit nicht vorliegt. Vgl. ferner Jahn, in: Frenztel/Jäkel/Junge, § 2, Rn. 7. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 21 klusiven Registrierung in nur einem Mitgliedstaat.62 Eine derartige Bedingung, wonach eine deutsche Kammermitgliedschaft die Mitgliedschaft in einer EU-ausländischen Kammer ausschließt , liegt den einschlägigen Vorschriften der HwO und des IHK-G jedoch nicht zugrunde. Da anderweitige Vorgaben des betreffenden Kapitels der Dienstleistungsrichtlinie für die Frage der Kammermitgliedschaft nicht einschlägig sind, verstößt die Kammermitgliedschaft für die Konstellation der Niederlassungsfreiheit somit auch nicht gegen die Dienstleistungsrichtlinie. 4.2.3. Niederlassungsfreiheit nach Art. 46 AEUV Unterfällt eine gewerbliche oder handwerkliche Tätigkeit weder der Berufsanerkennungs- noch der Dienstleistungsrichtlinie, ist die Rechtmäßigkeit einer Kammermitgliedschaft am Maßstab der primärrechtlichen Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 46 AEUV zu prüfen. Ausgehend von der Eröffnung des sachlichen und personellen Anwendungsbereichs stellt sich zunächst die Frage nach dem Vorliegen eines Eingriffs. Wie oben bereits dargestellt, unterscheiden die einschlägigen Vorschriften über die Kammermitgliedschaft nicht zwischen Inländern und EU-Ausländern, so dass hierin jedenfalls keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit vorliegt. In Betracht kommt allein das Vorliegen einer unterschiedslosen Beschränkung. Über eine solche hat der Gerichtshof im Hinblick auf die Kammermitgliedschaft nach deutschem Recht für den Fall der Niederlassungsfreiheit bisher nicht ausdrücklich entschieden. Lediglich in den zur Dienstleistungsfreiheit ergangenen Urteilen Corsten und Schnitzer äußerte sich der Gerichtshof zur Mitgliedschaft in der deutschen Handwerkskammer und der daraus resultierenden Beitragspflicht .63 Allerdings erfolgte dies in beiden Fällen im Zusammenhang mit der Prüfung von Berufsqualifikationen und der davon abhängigen Eintragung in die Handwerksrolle als Voraussetzung für die Ausübung der betreffenden Tätigkeit. Ein solches Eintragungserfordernis sah der Gerichtshof als Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit an.64 Die Kammermitgliedschaft einschließlich der daraus resultierenden Beitragspflicht wurde lediglich als (notwendige) Folge der Eintrag angesehen und im Rahmen der Rechtfertigung aufgegriffen.65 Inwieweit vor diesem Hintergrund in der Kammermitgliedschaft im Bereich der Niederlassungsfreiheit stets eine (unterschiedslose) Beschränkung anzusehen ist, lässt sich daher nicht mit Sicherheit feststellen66. Wie oben dargestellt, ist die Reichweite des Beschränkungsverbots der Niederlassungsfreiheit im Schrifttum umstritten (siehe oben unter 2.1.2). Versteht man die Nie- 62 Vgl. Cornils, in: Schlachter/Ohler, Art. 14, Rn. 11; siehe zu diesem Verständnis auch Kommission, Handbuch, S. 35. Siehe ferner EuGH, Rs. C-106/91, Slg. 1992, I-3351, Rn. 22 – Ramrath. 63 EuGH, Rs. C-58/98, Slg. 2000, I-7942 – Corsten; EuGH, Rs. C-215/01, Slg. 2003, I-14871 – Schnitzer. 64 EuGH, Rs. C-58/98, Slg. 2000, I-7942, Rn. 34 – Corsten; EuGH, Rs. C-215/01, Slg. 2003, I-14871, Rn. 34 – Schnitzer . 65 Vgl. EuGH, Rs. C-58/98, Slg. 2000, I-7942, Rn. 45 ff. – Corsten; EuGH, Rs. C-215/01, Slg. 2003, I-14871, Rn. 37 – Schnitzer. 66 Vgl. hierzu Diefenbach, Einwirkungen des EU-Rechts auf das deutsche Kammerrecht, GewArch 2006, 217 (220 f.); Kluth, IHK-Pflichtmitgliedschaft weiterhin mit dem Grundgesetz vereinbar, NVwZ 2002, 298 (301); Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 22 derlassungsfreiheit lediglich als Recht auf freie Standortwahl, so spricht einiges dafür, die Kammermitgliedschaft jedenfalls dann nicht als Beschränkung im Sinne des Art. 46 AEUV anzusehen , wenn diese nicht zugleich auch mit Fragen der Aufnahme der betreffenden Tätigkeit und damit des Marktzugangs verknüpft wird. Ist die Kammermitgliedschaft – wie in den Fällen Corsten und Schnitzer – Folge einer ansonsten zwingenden, wenngleich im Ergebnis formalen Prüfung der Berufsqualifikation67, so mag aufgrund der Gesamtbeurteilung eine andere Einschätzung gerechtfertigt sein. Mangels einschlägiger EuGH-Rechtsprechung soll an dieser Stelle jedoch generell für den Fall einer Kammermitgliedschaft von dem Vorliegen einer unterschiedslosen Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ausgegangen werden. Entscheidend für die Rechtmäßigkeit ist dann die Ebene der Rechtfertigung. Zieht man auch insoweit eine Parallele insbesondere zur Entscheidung Corsten, so stellt das Ziel der Pflichtmitgliedschaft in Kammern, nämlich die Qualität der durchgeführten handwerklichen Arbeiten zu sichern und deren Abnehmer vor Schäden zu bewahren – so die deutsche Regierung in dem Verfahren –, jedenfalls einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar, der die hierdurch zugleich erfolgende (unterstellte) Beschränkung rechtfertigen könnte68, soweit auch die Kammermitgliedschaft einschließlich der Beitragspflicht als Mittel zur Erreichung dieses Ziels verhältnismäßig wäre. Zwar hatte der Gerichthof in der Entscheidung Corsten hierüber nicht zu entscheiden . Gleichwohl findet sich zur Konstellation der Niederlassungsfreiheit die Aussage, wonach „das Erfordernis einer Eintragung in die Handwerksrolle, die die Pflichtmitgliedschaft der betroffenen Unternehmen in der Handwerkskammer und damit die Zahlung von entsprechenden Beiträgen zur Folge hat, im Fall einer Niederlassung im Aufnahmeland - um den es im Ausgangsverfahren aber nicht geht - gerechtfertigt sein [könnte]“.69 Daraus kann geschlossen werden, dass die Kammermitgliedschaft einschließlich der Beitragspflicht als notwendige Folge einer auf die Berufsqualifikationen bezogenen Prüfung für den Fall der Niederlassungsfreiheit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Dies müsste dann auch für Kammerpflichtmitgliedschaften gelten, die an eine voraussetzungslose Tätigkeitsaufnahme anknüpfen, wie dies etwa bei zulassungsfreien Handwerken oder handwerksähnlichen Gewerben der Fall ist. Für ein solches Verständnis spricht auch, dass der Gerichtshof in den Urteilen Corsten und Schnitzer für die Dienstleistungsfreiheit einem anderen Ergebnis zuneigte , wobei dies im Urteil Corsten unter der bereits oben erwähnten Prämisse erfolgte, wonach die Erbringung von Dienstleistungen nicht von der Einhaltung aller Voraussetzungen abhängig gemacht werden kann, die für eine Niederlassung gelten.70 Würde man die Kammermitgliedschaft auch für die Niederlassungsfreiheit in Frage stellen, bestünde kein Unterschied mehr zur privilegierten Dienstleistungsfreiheit (vgl. oben unter 2.1.3.). Hieraus kann insgesamt der Schluss gezogen werden, dass eine Kammermitgliedschaft einschließlich der Beitragspflicht mit der Niederlassungsfreiheit nach Art. 46 AEUV vereinbar ist. 67 Vgl. EuGH, Rs. C-58/98, Slg. 2000, I-7942, Rn. 41 – Corsten. 68 Vgl. EuGH, Rs. C-58/98, Slg. 2000, I-7942, Rn. 36, 38 – Corsten. 69 EuGH, Rs. C-58/98, Slg. 2000, I-7942, Rn. 45 – Corsten. 70 EuGH, Rs. C-58/98, Slg. 2000, I-7942, Rn. 43- 45 – Corsten. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 23 Eine derartige Auffassung entspricht – soweit ersichtlich – der allgemeinen Ansicht im Schrifttum 71 und auch der bisherigen Rechtsprechung deutscher Gerichte.72 4.3. Konstellation der Dienstleistungsfreiheit Wie oben vorgegeben (siehe unter 4.1.), wird im Folgenden unterstellt, dass mit Blick auf einen großen Umfang der Dienstleistungstätigkeit sowie einer Infrastruktur im betreffenden Mitgliedstaat eine Kammermitgliedschaft nach deutschem Recht auch für die Konstellation der Dienstleistungsfreiheit begründet werden könnte. 4.3.1. Berufsanerkennungsrichtlinie 2005/36 Anders als für den Bereich der Niederlassungsfreiheit enthält die Berufsanerkennungsrichtlinie für die Situation der Dienstleistungsfreiheit in ihrem Titel II eine Sonderregelung für die Mitgliedschaft bei Berufsorganisationen. Nach Art. 6 Buchst. a Berufsanerkennungsrichtlinie können die Mitgliedstaaten eine Mitgliedschaft vorsehen, allerdings nur in Gestalt einer automatischen vorübergehenden Eintragung oder einer Pro-Forma-Mitgliedschaft und nur sofern diese die Erbringung der Dienstleistung in keiner Weise verzögert oder erschwert und für den Dienstleister keine zusätzlichen Kosten verursacht. Mit diesen Vorgaben wäre die Pflichtmitgliedschaft nach § 90 Abs. 2 HwV bzw. § 2 Abs. 1 IHK-G bereits mit Blick auf die sich hieran knüpfende Beitragspflicht nach § 103 HwO bzw. § 3 IHK-G unvereinbar. 4.3.2. Dienstleistungsrichtlinie 2006/123 Auch in der Dienstleistungsrichtlinie findet sich im Abschnitt über die Dienstleistungsfreiheit eine ausdrückliche Regelung zur Mitgliedschaften in Berufsverbänden oder Berufsvereinigungen. Art. 16 Abs. 2 Buchst. b Dienstleistungsrichtlinie verbietet den Mitgliedsstaaten die Aufrechterhaltung einer Pflicht zur Mitgliedschaft in solchen, soweit eine solche in dieser Richtlinie oder in anderen Rechtsvorschriften des Unionsrechts nicht vorgesehen ist. Somit untersagt die Dienstleistungsrichtlinie hiernach insbesondere außerhalb des soeben dargestellten Rahmens der Berufsanerkennungsrichtlinie (vgl. auch Art. 17 Nr. 6 Dienstleistungsrichtlinie)73 die Pflichtmitgliedschaft in Berufskammern.74 Auch danach wäre die Pflichtmitgliedschaft nach § 90 Abs. 2 HwV bzw. § 2 Abs. 1 IHK-G für Dienstleistungserbringer im Sinne der Art. 56 f. AEUV somit unionsrechtlich unzulässig. 71 Vgl. etwa Kluth, in: Kluth, Handbuch des Kammerrechts, 2. Auflage 2009, Rn. 216; Diefenbach, GewArch 2006, 217 (221); Frenz, Fällt der Handwerksmeister durch die Berufsanerkennungsrichtlinie?, DVBl. 2007, 347(353 f.); Geerlings/Leuze, Verwaltungsrundschau 2004, 113 (117). 72 Siehe VG Augsburg, Gerichtsbescheid vom 27.11.2012, Az. Au 2 K 10.519, BeckRS 2012, 60456, Rn. 27, mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 73 Vgl. Schmidt-Kessel, in: Schlachter/Ohler, Art. 16, Rn. 56. 74 Siehe auch Calliess/Korte, § 6, Rn. 39. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 24 4.3.3. Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 f. AEUV Sind weder die Berufsanerkennungsrichtlinie noch die Dienstleistungsrichtlinie anwendbar, weil für die Tätigkeit an keine Berufsqualifikation angeknüpft wird (vgl. oben unter 2.2.2.) bzw. eine der Ausnahmen der Dienstleistungsrichtlinie nach Art. 2 oder Art. 17 Dienstleistungsrichtlinie vorliegt (vgl. oben unter 2.2.1.1.), kommt eine Prüfung der Kammermitgliedschaft am Maßstab der primärrechtlichen Dienstleistungsfreiheit in Betracht. Insoweit ist auf die Entscheidungen des Gerichtshofs in den Rechtsachen Corsten und Schnitzer zu verweisen.75 Wie soeben bei der Niederlassungsfreiheit dargestellt (4.2.3.), hatte der EuGH das Erfordernis der Eintragung in die Handwerksrolle, welches die Pflichtmitgliedschaft und die Beitragspflicht nach sich zog, als Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit angesehen.76 Ob Gleiches auch für eine von der Eintragung in die Handwerksrolle und damit von einer Prüfung der Berufsqualifikationen losgelösten Kammermitgliedschaft gilt, hat der Gerichtshof zwar nicht entschieden . Die mit einer Mitgliedschaft verbundene Beitragspflicht spricht aber dafür, dass auch in diesem Fall von einer Beschränkung auszugehen wäre, insbesondere, wenn bereits aufgrund einer möglichen Kammermitgliedschaft im Herkunftsland bereits eine Beitragspflicht besteht (Verbot der Doppelbelastung, siehe oben unter 2.1.3). Hinsichtlich der Rechtfertigung kommt es sodann – ebenso wie bei der Niederlassungsfreiheit (4.2.3.) – entscheidend auf die Verhältnismäßigkeit einer Pflichtmitgliedschaft einschließlich der Beitragspflicht an. Für die Situation in den Rechtssachen Corsten und Schnitzer hat der Gerichtshof ausdrücklich festgestellt, dass die Eintragung in die Handwerksrolle u.a. nicht „die obligatorische Zahlung von Beiträgen an die Handwerkskammern nach sich ziehen [darf]“77 Damit lässt der EuGH die Kammermitgliedschaft als solche zwar unangetastet, sieht die daraus folgende Beitragspflicht jedoch als unzulässig an. Dies dürfte erst recht auch dann gelten, wenn die Kammermitgliedschaft nicht an eine Prüfung von Berufsqualifikationen gebunden ist, sondern an die faktische Tätigkeitsaufnahme wie dies bei zulassungsfreien Handwerken und handwerksähnlichen Gewerben der Fall ist. Nicht von Bedeutung ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Entscheidung Schnitzer auch, in welchem Umfang die Dienstleistungstätigkeit auf dem Gebiet des betreffenden Mitgliedstaates erfolgt. Das Verbot der Beitragszahlungen „gilt nicht nur für Leistende, die die Absicht haben, nur gelegentlich oder sogar nur ein einziges Mal in einem Aufnahmemitgliedstaat Dienstleistungen zu erbringen, sondern auch für Leistende, die wiederholt oder mehr oder weniger regelmäßig Dienstleistungen erbringen oder erbringen wollen.“78 75 EuGH, Rs. C-58/98, Slg. 2000, I-7942 – Corsten; EuGH, Rs. C-215/01, Slg. 2003, I-14871 – Schnitzer. 76 EuGH, Rs. C-58/98, Slg. 2000, I-7942, Rn. 34, 45– Corsten; EuGH, Rs. C-215/01, Slg. 2003, I-14871, Rn. 34 – Schnitzer. 77 EuGH, Rs. C-58/98, Slg. 2000, I-7942, Rn. 48 – Corsten; EuGH, Rs. C-215/01, Slg. 2003, I-14871, Rn. 37 – Schnitzer . 78 EuGH, Rs. C-215/01, Slg. 2003, I-14871, Rn. 38 – Schnitzer. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung WD 11 – 3000 - 171/12 Seite 25 Aus alledem kann geschlossen werden, dass die Kammermitgliedschaft nach § 90 Abs. 2 HwO sowie § 2 Abs. 1 IHK-G nur dann mit der primärrechtlichen Dienstleistungsfreiheit vereinbar wäre, wenn sich hieran keine Beitragspflicht knüpft79. Angesichts der zwingenden Kopplung der Beitragspflicht an die Kammermitgliedschaft wären diese Vorschriften im Fall ihrer Erstreckung auf Konstellation der aktiven Dienstleistungsfreiheit mit Art. 56 f. AEUV unvereinbar. Möglich wäre allenfalls eine beitragsfrei pro-forma-Mitgliedschaft, wie sie etwa in Art. 6 Buchst. a Berufsanerkennungsrichtlinie vorgesehen ist. 5. Zusammenfasssung und Ergebnis Hinsichtlich der Pflichtmitgliedschaft in Handwerks- sowie in Industrie- und Handelskammern und ihrer Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht gilt es zunächst zwischen der Konstellation der Niederlassungsfreiheit nach Art. 46 AEUV und der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 f. AEUV zu unterscheiden. Im Regelfall unterliegt allein der Fall der Niederlassungsfreiheit der Kammermitgliedschaft nach § 90 Abs. 2 HwO oder § 2 Abs. 1 IHK-G. Denn die Pflichtmitgliedschaft nach diesen Vorschriften knüpft an eine in Deutschland gelegene gewerbliche Niederlassung bzw. eine Betriebsstätte , die bei einem EU-ausländischen Dienstleister zugleich eine Niederlassung im Sinne des Art. 46 AEUV begründet. Mit den insoweit einschlägigen Vorgaben aus der Berufsanerkennungsund der Dienstleistungsrichtlinie sowie dem Primärrecht aus Art. 46 AEUV ist eine Mitgliedschaft in Handwerks- sowie in Industrie- und Handelskammern einschließlich der daraus resultierenden Beitragspflicht jedoch vereinbar. Anders verhält es sich hingegen in der Konstellation der Dienstleistungsfreiheit, wenn man unterstellt , dass die Kammermitgliedschaft einschließlich der Beitragspflicht nach § 90 Abs. 2 HwO oder § 2 Abs. 1 IHK-G auch in diesen Fällen in Betracht kommt – was im Regelfall nicht gegeben sein wird. Anlass für ersteres besteht allenfalls in den Situationen, in denen Dienstleistungstätigkeiten größeren Umfangs in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübt werden und auch eine Infrastruktur dort vorhanden ist. Beides schließt nach der Rechtsprechung des EuGH den sachlichen Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit nicht per se aus. Nimmt man eine Pflichtmitgliedschaft in Handwerks- sowie in Industrie- und Handelskammern aufgrund einer weiten Auslegung der Begriff der gewerblichen Niederlassung bzw. Betriebsstätte insoweit an, ist jedenfalls die daran geknüpfte Beitragspflicht mit den einschlägigen Bestimmungen aus der Berufsanerkennungs - und der Dienstleistungsrichtlinie sowie mit den primärrechtlichen Vorgaben in Art. 56 f. AEUV nicht vereinbar. Um einen möglichen Verstoß gegen Unionsrecht im Einzelfall bei der Anwendung der deutschen Vorschriften zu vermeiden, bietet sich in Zweifelsfällen ihre unionsrechtskonforme Auslegung an, um bereits die für eine Kammermitgliedschaft und damit Beitragspflicht notwendige Annahme einer gewerblichen Niederlassung bzw. Betriebsstätte abzulehnen . - Fachbereich Europa - 79 So auch Meyer, Überlegungen zu den Auswirkungen des EuGH-Urteils vom 3. Oktober 200 – Rs- C-58/98 – (GewArch 2000, 476) auf das deutsche Handwerksrecht, GewArch 2001, 265 (269 f.); Diefenbach, GewArch 2006, 217 (218).