WD 11 – 3000 – 166/12 Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag Ausarbeitung Vereinbarkeit der Einführung eines fahrscheinlosen ÖPNV mit dem Europarecht WD 11 – 3000 – 166/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 2 WD 11 – 3000 – 166/12 Vereinbarkeit der Einführung eines fahrscheinlosen ÖPNV mit dem Europarecht Aktenzeichen: WD 11 – 3000 – 166/12 Abschluss der Arbeit: 18.12.2012 Fachbereich: WD 11: Europa Telefon: +49 (30) 227 -37426,-33615 Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. WD 11 – 3000 – 166/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 3 WD 11 – 3000 – 166/12 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Überblick über das Europäische Beihilfenrecht 4 2.1.1. Primärrechtliche Regelungen 4 2.1.2. Sekundärrechtliche Ausnahmeregelungen 6 2.2. Gang der weiteren Darstellung 6 3. Die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 über öffentliche Personennahverkehrsdienste auf Schiene und Straße 7 3.1. Anwendungsbereich 7 3.2. Öffentlicher Dienstleistungsauftrag als Instrument zur Festlegung von Ausgleichsleistungen 8 3.3. Ausgleichsleistungen und Verteilung von Fahrscheineinnahmen: Zulässigkeit eines fahrscheinfreien ÖPNV? 10 3.3.1. Vorgaben zu Ausgleichsleistungen im Sinne der VO 1370/2007 11 3.3.2. Zulässigkeit von Ausgleichsleistungen für den Fall des Betriebs eines fahrscheinfreien ÖPNV 12 3.3.3. Zwischenergebnis 14 3.4. Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge 14 3.5. Ergebnis 15 4. Allgemeines Beihilfenrecht 15 4.1. Anwendungsbereich 15 4.2. Beihilfenverbot nach Art. 107 Abs. 1 AEUV 16 4.3. Rechtfertigung 16 4.3.1. Verhältnis zwischen Art. 93 AEUV und der Vorgängerverordnung 17 4.3.2. Verhältnis zwischen Art. 93 AEUV und der VO 1370/2007 17 4.4. Ergebnis 18 5. Zusammenfassung der Ergebnisse 19 WD 11 – 3000 – 166/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 4 WD 11 – 3000 – 166/12 1 . E i n l e i t u n g Die vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, ob aus europarechtlicher Sicht Hindernisse für die Einführung eines fahrscheinfreien öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) bestehen. Ausgehend von dem Umstand, dass für diese Frage insbesondere die Art der Ausgestaltung eines solchen ÖPNV von Bedeutung ist, kommen Bedenken allein mit Blick auf das europäische Wettbewerbsrecht in Betracht. Anknüpfungspunkte für die Einschlägigkeit der darin enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben bestehen insbesondere im Hinblick auf die aus staatlichen Mitteln gewährte Finanzierung eines fahrscheinfreien ÖPNV. Werden die damit verbundenen Dienstleistungen – wie in Deutschland gemeinhin üblich – durch zumindest formal rechtlich selbständige Unternehmen erbracht, so sind staatliche Zuwendungen an diese insbesondere am EU- Beihilfenrecht (Art. 107 ff. AEUV) zu messen. Ebenfalls Teil des unionsrechtlichen Wettbewerbsrechts sind die unternehmensgerichteten Wettbewerbsvorschriften der Art. 101 ff. AEUV. Das darin enthaltene Kartell- und dem Missbrauchsverbot bezieht sich allerdings auf das Verhalten der Unternehmen untereinander. Anhaltspunkte dafür, dass durch die Einrichtung eines fahrscheinlosen ÖPNV gegen diese Regelungen verstoßen würde, sind nicht ersichtlich, so dass auf diese Vertragsbestimmungen im Folgenden nicht weiter eingegangen wird. 2 . Überblick über das Europäische Beihilfenrecht Grundlegende Bestimmungen des Beihilfenrechts finden sich sowohl im Primärrecht (Art. 107, 108 AEUV sowie Art. 106 Abs. 2, 93 AEUV) als auch im Sekundärrecht. 2.1.1. Primärrechtliche Regelungen Ausgangspunkt des europäischen Beihilfenrechts ist die These, dass staatliche Beihilfen an Unternehmen den innergemeinschaftlichen Wettbewerb verfälschen können.1 Entsprechend erklärt Art. 107 AEUV staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb innerhalb des gemeinsamen Marktes verfälschen oder zu verfälschen drohen, für mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Ist eine staatliche Maßnahme als Beihilfe zu qualifizieren, hat das zur Folge, dass sie gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV der Kommission so rechtzeitig zu notifizieren ist, dass diese sich dazu äußern kann (Notifizierungsverfahren). Die Beihilfeaufsicht, d.h. die Prüfung der Vereinbarkeit von Beihilfen mit dem Binnenmarkt, obliegt nämlich grundsätzlich der Kommission in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten (in Ausnahmefällen auch dem Rat – Art. 108 Abs. 2 Unterabsatz 3 AEUV). Verfahrensrechtlich sind die Notifizierung im Falle der Einführung einer neuen Beihilfe gemäß Art. 108 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 AEUV und die fortlaufenden Überprüfung aller bestehenden Beihilferegelungen durch die Kommission gemäß Art. 108 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 AEUV zu unterschei- WD 11 – 3000 – 166/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 5 WD 11 – 3000 – 166/12 den. Beide Verfahren sind in der Beihilfenverfahrensordnung2 sowie der dazu erlassenen Durchführungsverordnung 3 geregelt. Der betreffende Mitgliedstaat darf die beabsichtigte Maßnahme gemäß Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV nicht durchführen, bevor die Kommission einen abschließenden Beschluss, der die Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt feststellt, erlassen hat. Ein Mitgliedsstaat der eine Beihilfe gewährt, ohne diese zuvor bei der Kommission notifiziert und deren Genehmigung abgewartet zu haben, verstößt gegen Unionsrecht. Die so gewährte Beihilfe ist formell rechtswidrig und wird als solche zurückgefordert. Die Rückforderungsentscheidung der Kommission ist an die Mitgliedstaaten gerichtet, welche sie gegenüber dem einzelnen Unternehmen durchzusetzen bzw. zu vollstrecken haben.4 Im Rahmen der Beihilfeaufsicht prüft die Kommission, ob eine staatliche Beihilfe gerechtfertigt werden kann, und damit doch mit dem Binnenmarkt vereinbar ist. Insofern ordnet Art. 107 Abs. 2 AEUV für drei Fallgruppen (Beihilfen sozialer Art an Verbraucher, Beihilfen zur Beseitigung von Schäden durch außergewöhnliche Ereignisse, Beihilfen zum Ausgleich der durch die Teilung Deutschlands verursachten Nachteile) die Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt an. Hinzu kommen fakultative Befreiungstatbestände in Art. 107 Abs. 3 AEUV, nach denen die Genehmigung der Beihilfe im Ermessen der Kommission (vgl. Art. 107 Abs. 3 lit. a) bis lit. c) AEUV) bzw. dem Rat (vgl. Art. 107 Abs. 3 lit. e) AEUV) steht. Diese fünf Ausnahmetatbestände umfassen Regionalbeihilfen für stark unterentwickelte Gebiete, Beihilfen zur Förderung wichtiger europäischer Vorhaben oder zur Behebung beträchtlicher Störungen im Wirtschaftsleben , Sektorale und regionale Entwicklungsbeihilfen, Kulturbeihilfen und sonstige Arten von Beihilfen .5 Weiterhin enthalten Art. 106 Abs. 2 AEUV und im Verkehrssektor Art. 93 AEUV Regelungen zur Rechtfertigung von staatlichen Beihilfen im Zusammenhang mit dem Ausgleich für Dienstleistungen von allgemein wirtschaftlichem Interesse bzw. der Abgeltung von Leistungen im Zusammenhang mit öffentlichen Diensten6. 2 Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:1999R0659:20070101:DE:PDF (zuletzt abgerufen am 18.12.2012). 3 Verordnung (EG) Nr. 794/2004 der Kommission vom 21. April 2004, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:2004R0794:20091124:DE:PDF (zuletzt abgerufen am 18.12.2012). 4 Zur Rückforderung rechtswidrig gewährter Beihilfen in Deutschland vgl. Müller, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), Beck’sche Online-Kommentar VwVfG, § 48, Rn. 148ff. (zuletzt abgerufen am 18.12.2012). 5 Einen Überblick über die Ausnahmetatbestände und ihre Auslegung und Anwendung liefert Frenz, Handbuch Europarecht, Band 3, Beihilfe- und Vergaberecht, 2007, S. 263 ff., Rn. 716ff. 6 Gemeint ist hier „gemeinwirtschaftliche Verpflichtung“. Der Term „öffentlicher Dienst“ geht zurück auf eine missverständliche Übersetzung des französischen Begriffs „service public“. Vgl. dazu Müller, in: Hirsch u.a. (Hrsg.) Münchener Kommentar zum europäischen und deutschen Wettbewerbsrecht (Kartellrecht): Kartellrecht, Missbrauchs- und Fusionskontrolle, Band 3 - Beihilfen- und Vergaberecht, 2011, S. 990, Rn. 475 m.w.N. WD 11 – 3000 – 166/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 6 WD 11 – 3000 – 166/12 2.1.2. Sekundärrechtliche Ausnahmeregelungen Gemäß Art. 108 Abs. 4 AEUV kann die Kommission Verordnungen zu den Arten von staatlichen Beihilfen erlassen, für die der Rat nach Artikel 109 AEUV festgelegt hat, dass sie von einem Notifizierungsverfahren ausgenommen werden können. Zu unterscheiden sind hier einerseits die sektorspezifischen Freistellungsverordnungen7 und andererseits die Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung 8, welche Freistellungstatbestände allgemeinerer Natur regelt. Unterhalb der Verordnungsebene existieren eine Vielzahl sog. Leitlinien, Gemeinschaftsrahmen, und Mitteilungen der Kommission, mit denen die Kommission über ihre zukünftige Auslegung bzw. Anwendung von Art. 107, 108, 106 Abs. 2 und 93 AEUV auf bestimmte Arten von Beihilfen informiert, um einen gewissen Grad an Vorhersehbarkeit und Transparenz zu wahren.9 Mitteilungen beziehen sich dabei meist auf den Tatbestand des Art. 107 Abs. 1 AEUV, während Leitlinien und Gemeinschaftsrahmen auf die Ermessenstatbestände des Art. 107 Abs. 3 AEUV abzielen .10 Leitlinien und Gemeinschaftsrahmen unterscheiden ebenfalls zwischen horizontalen, regionalen und sektoralen Beihilfen. 2.2. Gang der weiteren Darstellung Für den hier relevanten Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs enthält die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 über öffentliche Personennahverkehrsdienste auf Schiene und Straße11 (im Folgenden: VO 1370/2007 ) entscheidende Konkretisierungen der primärrechtlichen Vorschriften. Diese Verordnung ist gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar anwendbar und im Verhältnis zu den genannten primärrechtlichen Beihilfenvorschriften zumindest der speziellere Rechtsakt12. 7 Siehe die Gruppenfreistellungsverordnung für die Landwirtschaft (Verordnung (EG) Nr. 1857/2006 der Kommission vom 15. Dezember 2006, die Gruppenfreistellungsverordnung für die Fischerei (Verordnung (EG) Nr. 1595/2004 der Kommission vom 8. September 2004), die Verordnung über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schienen und Straßen (Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007), die Verordnung über Beihilfen für den Schiffbau (Verordnung (EG) Nr. 3094/1995 des Rates vom 22. Dezember 1995) sowie die Verordnung über Beihilfen für den Steinkohlenbergbau (Verordnung (EG) Nr. 1407/2002 des Rates vom 23. Juli 2002) (Alle Verordnungen sind unter Angabe der Verordnungsnummer abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/RECHmenu.do?ihmlang=de, zuletzt abgerufen am 18.12.2012). 8 Verordnung (EG) Nr. 800/2008 der Kommission vom 6. August 2008, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2008:214:0003:0047:de:PDF (Stand 18.12.2012). 9 Cremer, in: Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage, München, 2011, Art. 107 AEUV, Rn. 4. 10 Beljin, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2010, § 28, Rn. 22. 11 Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.Oktober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates, ABl. EU 2007 Nr. L 315, S. 1 ff., online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2007:315:0001:0013:DE:PDF (zuletzt abgerufen am 18.12.2012). 12 Zum Verhältnis der VO 1370/2007 zum primärrechtlichen Beihilferecht siehe unten unter 4.3 Rechtfertigung, S. 16f. Vgl. dazu auch Lehr, Beihilfen zur Gewährleistung des öffentlichen Personennahverkehrs, Berlin 2011, S. 1 Tödtmann/Schauer, Aktuelle Rechtsfragen zum öffentlichen Personennahverkehr – Nationale und europäische Rechtsentwicklung sowie Konsequenzen für die Praxis, NVwZ 2008, 1, 3 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 7 WD 11 – 3000 – 166/12 Entsprechend wird im Folgenden zuerst am Maßstab der Bestimmungen der VO 1370/2007 geprüft , ob die Einführung eines fahrscheinlosen ÖPNV rechtlich möglich ist (siehe 3.). In einem zweiten Schritt wird untersucht, ob die primärrechtlichen Beihilferegelungen der Einführung eines fahrscheinlosen ÖPNV entgegenstehen (siehe 4.). 3. Die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 über öffentliche Personennahverkehrsdienste auf Schiene und Straße Der am 03.12.2009 in Kraft getretenen VO 1370/2007 (vgl. Art. 12) liegt die Erkenntnis zugrunde, dass sich öffentliche Personenverkehrsdienste kommerziell regelmäßig nicht kostendeckend betreiben lassen und daher auf staatliche Unterstützungsmaßnahmen angewiesen sind.13 Vor diesem Hintergrund statuiert die VO 1370/2007 unionsrechtliche Vorgaben für die Gewährung von Ausgleichsleistungen und/oder ausschließlichen Rechten an Betreiber öffentlicher Personenverkehrsdienstleistungen für die diesen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen (vgl. Art. 1 UAbs. 2 VO 1370/2007). Im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH in der für das EU- Beihilfenrecht im Bereich des ÖPNV grundlegenden Entscheidung in der Rechtsache Altmark Trans14 kombiniert die VO 1370/2007 beihilfen- und vergaberechtliche Anforderungen und legt fest, dass bei deren Beachtung ex lege von einer Vereinbarkeit der Ausgleichsleistungen mit dem primärrechtlichen Beihilfenrecht auszugehen ist (vgl. Art. 9 Abs. 1 VO 1370/2007 ).15 3.1. Anwendungsbereich Nach Art. 1 Abs. 2 Satz 1 VO 1370/2007 gilt die Verordnung für den innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Personenverkehr mit der Eisenbahn und andere Arten des Schienenverkehrs sowie auf der Straße, mit Ausnahme von Verkehrsdiensten, die hauptsächlich aus Gründen historischen Interesses oder zu touristischen Zwecken betrieben werden. Damit erfasst die 216 f.; Müller, in: Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht (Kartellrecht), Band 3, Beihilfe- und Vergaberecht, 2011, (im Folgenden: MüKo-Wettbewerbsrecht), S. 1002ff., Rn. 529ff. 13 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 5 VO 1370/2007; siehe auch die Begründung des Kommissionsvorschlags zu dieser Verordnung, KOM (2005) 319 endg., S. 2 (online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2005:0319:FIN:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 18.12.2012); vgl. ferner Nettesheim, Das neue Dienstleistungsrecht des ÖPNV – Die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007, NVwZ 2009, 1449, 1453; Fehling, in: Kaufmann/Lübbig/Prieß/Pünder (Hrsg.), VO (EG) 1370/2007 - Kommentar, 2010, Einl., Rn. 81. 14 EuGH, Rs. C-280/00 (Altmark Trans), Slg. 2003, I-7747 (Die Sammlung der Rechtsprechung des EuGH ist online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/RECHrecueil.do, zuletzt abgerufen am 18.12.2012). 15 Rechtstechnisch erfolgt dies durch eine in Art. 9 Abs. 1 Satz 1 VO 1370/2007 geregelte Freistellung von der Pflicht zur Notifizierung von Ausgleichsleistungen nach Art. 108 Abs. 3 AEUV (ex. Art. 88 Abs. 3 EG). Zu dem im Übrigen missverständlichen Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 VO 1370/2007 , siehe Hölzl, in: MüKo Wettbewerbsrecht , Art. 9 VO 1370/2007 , Rn. 4; Lübbig, in: Kaufmann/Lübbig/Prieß/Pünder (Hrsg.), VO (EG) 1370/2007 – Kommentar, 2010, Art. 9, Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 8 WD 11 – 3000 – 166/12 VO 1370/2007 in gegenständlicher Hinsicht die praktisch relevantesten Verkehrsträger des ÖPNV.16 Weitere sachliche Voraussetzung für die Anwendung der VO 1370/2007 ist die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen auf die Betreiber von Personenverkehrsdiensten, für die letzteren als Gegenleistung Ausgleichszahlungen und/oder ausschließliche Rechte eingeräumt werden (vgl. Art. 3). Unter gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen versteht man nach der Legaldefinition in Art. 2 Buchst. e) VO 1370/2007 eine von der zuständigen Behörde festgelegte oder bestimmte Anforderung im Hinblick auf die Sicherstellung von im allgemeinen Interesse liegenden öffentlichen Personenverkehrsdiensten, die der Betreiber unter Berücksichtigung seines eigenen wirtschaftlichen Interesses nicht oder nicht im gleichen Umfang oder nicht zu den gleichen Bedingungen ohne Gegenleistung übernommen hätte. Zu derartigen Anforderungen zählt bspw. die Anordnung, den konkreten Personenverkehrsdienst überhaupt zu betreiben, ferner die Höhe der Fahrpreise, Qualitäts-, Umwelt- oder bestimmte Fahrplananforderungen.17 Fehlt es an der Statuierung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen in diesem Sinne, so findet die Verordnung ungeachtet der Gewährung staatliche Unterstützungsmaßnahmen an Betreiber von Personenverkehrsdiensten keine Anwendung.18 Derartige finanzielle Leistungen sind dann an den primärrechtlichen Beihilfenvorschriften zu messen (vgl. auch Art. 9 Abs. 2 VO 1370/2007).19 Liegen dem Betrieb öffentlicher Personenverkehrsdienste mittels der von der VO 1370/2007 erfassten Verkehrsträger also staatlicherseits auferlegte gemeinwirtschaftliche Pflichten zugrunde, für die von Seiten des Staates Ausgleichsleistungen gewährt werden, so findet die VO 1370/2007 hierauf Anwendung und das auch dann, wenn der ÖPNV im Verhältnis zum Fahrgast fahrscheinfrei betrieben werden soll. 3.2. Öffentlicher Dienstleistungsauftrag als Instrument zur Festlegung von Ausgleichsleistungen Der öffentliche Dienstleistungsauftrag ist nach Art. 3 Abs. 1 VO 1370/2007 das einschlägige Instrument , mit dem zwischen der zuständigen Behörde20 und dem ausgewählten Betreiber eines 16 Darüber hinaus steht es den Mitgliedstaaten nach Art. 1 Abs. 2 Satz 2 VO 1370/2007 frei, die Verordnung auch auf den Personenverkehr auf Binnenschifffahrtswegen und auf den Personenseeverkehr zwischen den Mitgliedsstaaten (Seekabotage) innerhalb deren Hoheitsgewässer anzuwenden. 17 Vgl. Kaufmann, in: Kaufmann/Lübbig/Prieß/Pünder (Hrsg.), VO (EG) 1370/2007 – Kommentar, 2010, Art. 2, Rn. 21; Hölzl, in: MüKo-Wettbewerbsrecht, Art. 2 VO 1370/2007 , Rn. 13. 18 Vgl. Nettesheim, Das neue Dienstleistungsrecht des ÖPNV – Die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007, NVwZ 2009, 1449 (1450). 19 Im Einzelnen dazu siehe unten 4. Allgemeines Beihilfenrecht, S. 15. 20 Nach der Legaldefinition in Art. 2 Buchst. b) VO 1370/2007 ist darunter jede Behörde oder Gruppe von Behörden eines oder mehrerer Mitgliedstaaten zu verstehen, die zur Intervention im öffentlichen Personenverkehr in einem bestimmten geografischen Gebiet befugt ist, oder jede mit einer derartigen Befugnis ausgestattete Einrichtung . 1 Tödtmann/Schauer, Aktuelle Rechtsfragen zum öffentlichen Personennahverkehr – Nationale und europäische Rechtsentwicklung sowie Konsequenzen für die Praxis, NVwZ 2008, 1, 3 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 9 WD 11 – 3000 – 166/12 öffentlichen Personennahverkehrsdienstes21 gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen einerseits und Ausgleichsleistungen sowie Ausschließlichkeitsrechte andererseits festgelegt werden.22 Aus der Legaldefinition dieses Begriffs in Art. 2 Buchst. i) VO 1370/2007 folgt, dass ein öffentlicher Dienstleistungsauftrag keine bestimmte Rechtsaktform aufweisen muss. Es kann sich sowohl um einen gegenseitigen Vertrag, als auch um einen (einseitigen) hoheitlichen Akt handeln .23 Maßgebend ist jeweils das nationale Recht. Die VO 1370/2007 stellt insoweit keine weitergehenden Anforderungen auf, sondern geht von den unterschiedlichen Regelungskonstruktionen aus, die sich in diesem Bereich in den Mitgliedstaaten traditionell herausgebildet haben. Konkrete Vorgaben enthält die VO 1370/2007 hingegen für den Inhalt öffentlicher Dienstleistungsaufträge . Diese sind in Art. 4 VO Abs. 1 bis 4 1370/2007 beschrieben. Danach umfasst der obligatorische Inhalt eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags – verstanden als Mindestanforderungen 24 – folgende Punkte: die Definition der konkret zu erfüllenden gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen sowie der geographischen Geltungsbereiche (Abs. 1 Buchst. a); die Aufstellung von Parametern zur Berechnung der Ausgleichsleistung, soweit eine solche gewährt wird (Abs. 1 Buchst. b) i); Art und des Umfangs der Ausschließlichkeit, soweit ein solches Recht gewährt wird (Abs. 1 Buchst. b) ii); die Festlegung von Durchführungsvorschriften für die Aufteilung der Kosten, die mit der Erbringung von Dienstleistungen in Verbindung stehen (Abs. 1 Buchst. c); die Festlegung von Durchführungsvorschriften für die Aufteilung der Einnahmen aus dem Fahrscheinverkauf (Abs. 2) und die maximale Laufzeit der Dienstleistungsaufträge (Abs. 3 und 4). 21 Nach der Legaldefinition in Art. 2 Buchst. d) VO 1370/2007 ist darunter jedes privat- oder öffentlich-rechtliche Unternehmen oder jede Gruppe von privat- oder öffentlich-rechtlichen Unternehmen zu verstehen, das/die öffentliche Personenverkehrsdienste betreibt, oder eine öffentliche Einrichtung, die öffentliche Personenverkehrsdienste durchführt. 22 Ausnahmen von der Anwendung dieses Instruments bestehen lediglich nach Art. 3 Abs. 2 und 3 VO 1370/2007 . Nach Abs. 2 können gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen zur Festsetzung von Höchsttarifen für alle Fahrgäste oder bestimmte Fahrgastgruppen auch Gegenstand von allgemeinen Vorschriften sein. Abs. 3 ermöglicht die Herausnahme allgemeiner Vorschriften über die finanzielle Abgeltung von gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Festlegung von Höchsttarifen für Schüler, Studenten, Auszubildende und Personen mit eingeschränkter Mobilität aus dem Anwendungsbereich der Verordnung. Zu messen sind letztere dann an den primärrechtlichen Beihilfebestimmungen. Für die hier zu untersuchende Konstellation spielen beide Ausnahmen keine Rolle, da bei einem fahrscheinfreien ÖPNV gerade keine Notwendigkeit zur Festlegung von Tarifen gleichwelcher Art besteht. 23 Vgl. Kaufmann, in: Kaufmann/Lübbig/Prieß/Pünder, VO (EG) 1370/2007 - Kommentar, Art. 2, Rn. 41; Hölzl, in: MüKo-Wettbewerbsrecht, Art. 2 VO 1370/2007 , Rn. 23. 24 So Lübbig, in: Kaufmann/Lübbig/Prieß/Pünder, VO (EG) 1370/2007 - Kommentar, Art. 4, Rn. 1; Hölzl, in: MüKo- Wettbewerbsrecht, Art. 4 VO 1370/2007 , Rn. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 10 WD 11 – 3000 – 166/12 Von Bedeutung für die hier zu untersuchende Konstellation eines fahrscheinfreien ÖPNV sind insbesondere die Bestimmungen über die Gewährung von Ausgleichleistungen und über die Einnahmeverteilung aus der Fahrkartenveräußerung (siehe hierzu sogleich unter 3.3.). Keine Rolle spielen hingegen die Vorgaben zu Ausschließlichkeitsrechten25, die anstelle oder zusammen mit Ausgleichleistungen als Kompensation der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen eingeräumt werden können.26 Die damit einhergehende Exklusivität des ausgewählten Betreibers für ein bestimmtes Streckennetz oder Gebiet soll die Konzentration der möglichen Einnahmen insbesondere aus der Veräußerung von Fahrscheinen in einem Unternehmen gewährleisten .27 In Abhängigkeit von der Höhe dieser Einnahmen im Verhältnis zu den Kosten der Betriebs der betreffenden Personenverkehrsdienste und ihrer Verteilung, kann dann ggf. auf die ergänzende Finanzierung durch Ausgleichsleistungen verzichtet oder diese reduziert werden. Soll der ÖPNV jedoch fahrscheinfrei betrieben werden und entfallen hierdurch die Fahrscheineinnahmen als wohl maßgebliche Quelle zur Eigenfinanzierung des Betreibers28, so kommt es auf die Gewährung von Ausschließlichkeitsrechten als Kompensationselement nicht an. Entscheidend sind dann allein Ausgleichleistungen von Seiten des Staates. 3.3. Ausgleichsleistungen und Verteilung von Fahrscheineinnahmen: Zulässigkeit eines fahrscheinfreien ÖPNV? Das aus EU-beihilfenrechtlicher Sicht entscheidende Element der VO 1370/2007 sind die Bestimmungen zu den Ausgleichleistungen in Art. 4 Abs. 1 Buchst. b), Art. 6 und dem Anhang zur VO 1370/2007. Daher werden zunächst die daraus folgenden allgemeinen Vorgaben kurz dargestellt (3.3.1), um dann der Frage nachzugehen, ob diese auch die Leistung von Ausgleichszahlungen für den Betrieb eines fahrscheinfreien ÖPNV ermöglichen (siehe unter 3.3.2). Zweifel hieran weckt die obligatorische Vorgabe zur Festlegung von Aufteilungsregeln in Bezug auf die Einnahmen aus dem Fahrscheinverkauf (vgl. Art. 3 Abs. 2 VO 1370/2007). 25 Nach der Legaldefinition in Art. 2 Buchst. f) VO 1370/2007 ist darunter ein Recht zu verstehen, das einen Betreiber eines öffentlichen Dienstes berechtigt, bestimmte öffentliche Personenverkehrsdienste auf einer bestimmten Strecke oder in einem bestimmten Streckennetz oder Gebiet unter Ausschluss aller anderen solchen Betreiber zu erbringen. 26 Ein Ausschließlichkeitsrecht in diesem Sinne ist nicht gleichzusetzen mit einer Dienstleistungskonzession im EU-vergaberechtlichen Sinne, vgl. Hölzl, in: MüKo-Wettbewerbsrecht, Art. 2 VO 1370/2007 , Rn. 18. Nach Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18/EG vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004 Nr. L 134/114; siehe auch Fn. 45) ist darunter ein Vertrag zu verstehen, der als Gegenleistung für die Erbringung der konzessionierten Dienstleistung dem Vertragspartner das Recht zur Nutzung der Dienstleistung vorsieht, ggf. zuzüglich der Zahlung eines Preises. Eine Exklusivität zur Anbietung der betreffenden Leistung durch den Vertragspartner wie für ein Ausschließlichkeitsrecht typisch, ist mit einer Dienstleistungskonzession nicht notwendig verbunden, wenngleich möglich. 27 Vgl. Heiß, Die neue EG-Verordnung für den öffentlichen Personenverkehr – ein Überblick unter Berücksichtigung der Situation in Deutschland, VerwArch 2009, S. 113 (124.) 28 Vgl. Lehr, Beihilfen zur Gewährleistung des öffentlichen Personennahverkehrs, Berlin 2011, S. 63. 1 Tödtmann/Schauer, Aktuelle Rechtsfragen zum öffentlichen Personennahverkehr – Nationale und europäische Rechtsentwicklung sowie Konsequenzen für die Praxis, NVwZ 2008, 1, 3 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 11 WD 11 – 3000 – 166/12 3.3.1. Vorgaben zu Ausgleichsleistungen im Sinne der VO 1370/2007 Die wesentlichen Anforderungen an und im Zusammenhang mit Ausgleichsleistungen legt Art. 4 Abs. 1 Buchst. b) i) VO 1370/2007 fest. Diese gehen materiell auf das bereits erwähnte Urteil des EuGH in der Rechtsache Altmark-Trans zurück.29 Danach sind die Parameter zu ihrer Berechnung zunächst in zeitlicher Hinsicht vor der Aufnahme des Betriebs des betreffenden ÖPNV (ex-ante-Kalkulation) aufzustellen.30 Hieraus folgt, dass eine nachträgliche Modifikation der Ausgleichsleistungen ausgeschlossen ist und das wirtschaftliche Risiko somit beim Betreiber des jeweiligen ÖPNV liegt.31 Des Weiteren sind die Parameter in objektiver und transparenter Weise festzulegen. Nach der Rechtsprechung sollen diese Anforderungen zusammen mit der ex-ante-Kalkulation verhindern, dass der Ausgleich einen wirtschaftlichen Vorteil mit sich bringt, der das Unternehmen, dem er gewährt wird, gegenüber konkurrierenden Unternehmen begünstigt.32 Zudem wird hierdurch eine (gerichtliche) Überprüfbarkeit der Parameter von Seiten Dritter ermöglicht (vgl. Art. 5 Abs. 7 VO 1370/2007 )33. Schließlich sind die Berechnungsparameter so zu gestalten, dass eine übermäßige Ausgleichsleistung vermieden wird. Wann eine solche anzunehmen ist, wird in der VO 1370/2007 nicht ausdrücklich definiert. Wird ein öffentlicher Auftrag, der Ausgleichsleistungen vorsieht, in einem wettbewerblichen Vergabeverfahren vergeben,34 so kann davon ausgegangen werden, dass über den damit einhergehenden Wettbewerb der Bieter zum einen, und über die Auswahl des wirtschaftlichsten oder kostengünstigsten Angebots zum anderen, eine übermäßige Kompensation verfahrensmäßig ausgeschlossen wird (vgl. Art. 6 Abs. 1 VO 1370/2007).35 Konkrete Vorgaben zur Berechnung der Ausgleichsleistung sieht die VO 1370/2007 entsprechend nur für die Fälle vor, in denen der öffentliche Dienstleistungsauftrag nach den Bestimmungen in Art. 5 Abs. 2, 4, 5 und 6 VO 1370/2007 direkt, d.h. ohne Durchführung eines wettbewerblichen 29 Siehe oben Fn. 14. Das sog. erste Altmark-Kriterium, nämlich die Betrauung mit einer genau definierten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung, findet sich in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a) VO 1370/2007 . Vgl. insoweit auch Art. 1 Abs. 1 UAbs. 2 VO 1370/2007 sowie die Ausführungen unter 3.1 Anwendungsbereich, S. 7. 30 Hölzl, in: MüKo-Wettbewerbsrecht, Art. 4 VO 1370/2007 , Rn. 10; Kaufmann/Lübbig/Prieß/Pünder, VO (EG) 1370/2007, Art. 4, Rn. 17. 31 Vgl. Lübbig, in: Kaufmann/Lübbig/Prieß/Pünder, VO (EG) 1370/2007, Art. 4, Rn. 20, 22; Hölzl, in: MüKo- Wettbewerbsrecht, Art. 4 VO 1370/2007 , Rn. 10. Siehe auch EuGH, Rs. C-280/00 (Altmark Trans), Slg. 2003, I- 7747, Rn. 91. 32 EuGH, Rs. C-280/00 (Altmark Trans), Slg. 2003, I-7747, Rn. 90. 33 Vgl. Hölzl, in: MüKo-Wettbewerbsrecht, Art. 4 VO 1370/2007 , Rn. 10; Lübbig, in: Kaufmann /Lübbig/Prieß/Pünder, VO (EG) 1370/2007, Art. 4, Rn. 23. 34 Zu den vergaberechtlichen Anforderungen siehe unten 3.4 Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge, S. 14. 35 So Nettesheim, Das neue Dienstleistungsrecht des ÖPNV – Die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007NVwZ 2009, 1449 (1453). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 12 WD 11 – 3000 – 166/12 Vergabeverfahrens, an einen ausgewählten Betreiber vergeben wird (vgl. auch Art. 6 Abs. 1 VO 1370/2007). Insoweit abweichend vom Wortlaut des Urteils in der Rechtsache Altmark-Trans36, stellt die VO 1370/2007 in Art. 4 Abs. 1 Buchst. b) Satz 2 hierfür die sog. Nettoeffektformel 37 auf, die im Anhang der VO 1370/2007 näher beschrieben wird.38 Danach darf die Ausgleichsleistung den Betrag nicht übersteigen, der erforderlich ist, um die finanziellen Nettoauswirkungen auf die Kosten und Einnahmen zu decken, die auf die Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen zurückzuführen sind, wobei die vom Betreiber eines öffentlichen Dienstes erzielten und einbehaltenen Einnahmen und ein angemessener Gewinn berücksichtigt wird. 3.3.2. Zulässigkeit von Ausgleichsleistungen für den Fall des Betriebs eines fahrscheinfreien ÖPNV Soweit ersichtlich wird die Konstellation eines fahrscheinfreien ÖPNV zumindest im deutschen rechtswissenschaftlichen Schrifttum bisher nicht erörtert. Grund hierfür mag der Umstand sein, dass sich im ÖPNV in Deutschland traditionell eine gemischt staatlich-private Finanzierung aus Fahrscheineinnahmen und staatlicher Förderung etabliert hat, so dass Fahrscheineinnahmen eine maßgebliche Finanzierungsquelle für die Betreiber darstellen.39 Die nachfolgenden Ausführungen beruhen daher auf einer von den Unterzeichnern vorgenommenen Auslegung der VO 1370/2007. Ausgangspunkt hierfür sind die betriebswirtschaftlichen Konsequenzen des Betriebs eines fahrscheinfreien ÖPNV: Es werden keine Einnahmen aus der Veräußerung von Fahrscheinen generiert und können ggf. nicht auf Seiten des Betreibers zur Finanzierung der Betriebsausgaben verwandt werden. Im Ergebnis begründet ein solcher ÖPNV somit – je nach verbleibenden Finanzierungsquellen auf Seiten des Betreibers40 – erhöhte oder sogar die (Betriebs-)Kosten vollständig deckende Ausgleichsleistungen von Seiten des Staates. Betrachtet man zunächst die oben beschriebenen Vorgaben zur Bestimmung der Ausgleichsleistungen , so schließen diese einen Verzicht auf die Berücksichtigung von Fahrscheineinnahmen zunächst – jedenfalls dem Wortlaut nach – nicht aus. Auch im Hinblick auf ihre Anwendung ist nicht erkennbar, dass deren Einhaltung bei Wegfall der Fahrscheineinnahmen Probleme aufwerfen könnte. Aus Sicht des Betreibers könnte der Wegfall dieses Postens vielmehr sogar einen Vor- 36 Siehe EuGH, Rs. C-280/00 (Altmark Trans), Slg. 2003, I-7747, Rn. 92. 37 Lübbig, in: Kaufmann/Lübbig/Prieß/Pünder, VO (EG) 1370/2007, Art. 4, Rn. 24. 38 Siehe zu Einzelheiten die Kommentierung bei Lübbig, in: Kaufmann/Lübbig/Prieß/Pünder, VO (EG) 1370/2007, Anhang; sowie bei Hölzl, in: MüKo-Wettbewerbsrecht, Anh. VO 1370/2007 . 39 Siehe hierzu Lehr, Beihilfen zur Gewährleistung des öffentlichen Personennahverkehrs, Berlin 2011, S. 55 ff. Dass diese auch in anderen EU-Mitgliedstaaten üblich zu sein scheint, lässt sich auch der Begründung des Kommissionsvorschlags zur Verordnung 1370/2007, KOM (2005) 319 endg., S. 2 f., entnehmen. 40 Weitere möglich Finanzierungsquellen der Betreiber sind nach Lehr, Beihilfen zur Gewährleistung des öffentlichen Personennahverkehrs, Berlin 2011, S. 63, insbesondere Werbeeinnahmen und Finanzerträge aus dem Unternehmenskapital . 1 Tödtmann/Schauer, Aktuelle Rechtsfragen zum öffentlichen Personennahverkehr – Nationale und europäische Rechtsentwicklung sowie Konsequenzen für die Praxis, NVwZ 2008, 1, 3 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 13 WD 11 – 3000 – 166/12 teil für dessen Kalkulation bedeuten, da über die Höhe der Fahrscheineinahmen letztlich das Fahrgastaufkommen entscheidet, und dieses nur beschränkt vorhersehbar ist. Gegen die Zulässigkeit eines derartigen Ausgleichs ließe sich allerdings in systematischer Hinsicht Art. 4 Abs. 2 VO 1370/2007 anführen: Danach sind in einem öffentlichen Dienstleistungsauftrag auch Durchführungsvorschriften für die Aufteilung aus dem Fahrscheinverkauf festzulegen . Damit geht die Bestimmung zwar nicht ausdrücklich aber doch implizit davon aus, dass der Betrieb eines ÖPNV – ungeachtet der Verteilung der daraus folgenden Einnahmen – jedenfalls auch über einen Fahrscheinverkauf finanziert wird. Betrachtet man jedoch die ebenfalls in Art. 4 Abs. 2 VO 1370/2007 geregelten Optionen für die Verteilung der Einnahmen, so sehen diese u.a. die Möglichkeit vor, dass alle Einnahmen an die zuständige Behörde übergehen. Für die Ausgleichsleistungen bedeutet diese Option, dass in entsprechender Höhe zu Gunsten des Betreibers Ausgleichleistungen nötig und damit auch zulässig wären. Dies entspricht aber hinsichtlich deren Berechnung der Situation, wie sie im Falle eines vollständigen Verzichts auf Fahrscheineinnahmen besteht. Deren Wegfall stellt somit allenfalls ein Ausgleichsproblem auf Seiten des für die Gewährleistung und damit auch Finanzierung des ÖPNV verantwortlichen Staates bzw. seiner Untergliederung dar, nicht aber für die Ermittlung und Berechnung der Ausgleichsleistung . Hierdurch verliert das systematische Argument aus Art. 4 Abs. 2 VO 1370/2007 deutlich an Gewicht. Entscheidend entkräften lässt sich das systematische Argument auch mit dem Sinn und Zweck der Verordnungsbestimmungen zu den Ausgleichsleistungen sowie der VO 1370/2007 insgesamt. Die Vorgaben zur Festlegung der Ausgleichleistungen entsprechen den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Kriterien, bei deren Einhaltung die Annahme einer nach Art. 107 Abs. 1 AEUV grundsätzlich verbotenen Beihilfe ausgeschlossen ist.41 Indem die VO 1370/2007 diese Vorgaben in Art. 4 Abs. 1 Buchst. b) i) umsetzt und bei deren Einhaltung von einer Vereinbarkeit mit dem primärrechtlichen Beihilfenverbot ausgeht (vgl. Art. 9 Abs. 1 VO 1370/2007), hebt sie die Übermäßigkeit von Ausgleichleistungen zum entscheidenden Kriterium hervor, nicht aber deren abstrakte Höhe sowie die hierüber im Einzelnen auszugleichenden Kostenfaktoren des Betriebs eines ÖPNV. Betrachtet man ferner den in Art. 1 Abs. 1 UAbs. 1 VO 1370/2007 zum Ausdruck kommenden Zweck der Verordnung, so geht es um die Festlegung der Bedingungen, unter denen der Staat in unionsrechtskonformer Weise für die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen als Kompensation u.a. Ausgleichsleistungen an die Betreiber von Personenverkehrsdiensten gewähren kann. Hierbei liegen der VO 1370/2007 zwar die in den Mitgliedstaaten verbreitete staatlichprivate Mischfinanzierung zugrunde. Der Rechtsakt zielt aber nicht darauf ab, diese tatsächlichen Rahmenbedingungen in dem vorgefundenen Bestand zu zementieren, in dem er andere Finanzierungsmodelle ausschließt. Im Übrigen betrifft die Frage nach der Fahrscheinfreiheit auch die Ausgestaltung des ÖPNV im Verhältnis zum Fahrgast, welches ebenfalls nicht dem Regelungsgegenstand der VO 1270/2007 unterliegt. 41 Vgl. EuGH, Rs. C-280/00 (Altmark Trans), Slg. 2003, I-7747, Rn. 94. Vgl. dazu auch Müller, in: MüKo Wettbewerbsrecht , S. 1001f., Rn. 526. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 14 WD 11 – 3000 – 166/12 3.3.3. Zwischenergebnis Nach der hier vertretenen Auffassung steht die VO 1370/2007 somit auch der Leistung von Ausgleichszahlungen für den Fall eines fahrscheinfreien ÖPNV dann nicht entgegen, wenn die sich aus Art. 4 Abs. 1 Buchst. b.) ii) VO 1370/2007 in Verbindung mit dem Anhang zu dieser Verordnung ergebenden Anforderungen an den Ausgleich eingehalten werden und insbesondere keine übermäßige Kompensation erfolgt. 3.4. Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge Wie bereits oben angedeutet42, entscheidet die Art der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge über den durch die VO 1370/2007 vorgegebenen Umfang der Anforderungen an die Berechnung der Ausgleichsleistung (vgl. Art. 6 Abs. 1 VO 1370/2007 ). Zu unterscheiden ist zwischen der Durchführung wettbewerblicher Vergabeverfahren (Ausschreibung) und der sogenannten Direktvergabe.43 In beiden Fällen ist nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. b) ii) VO 1370/2007 eine übermäßige Ausgleichsleistungen zu vermeiden, wobei deren Berechnungen bei Direktvergaben zusätzlich den Anforderungen des Anhangs der VO 1370/2007 genügen muss (sog. Nettoeffektformel , vgl. auch Art. 4 Abs. 1 Buchst. b) ii) S. 2 VO 1370/2007). Welche Art der Vergabe und welches EU-Vergaberechtsregime jeweils einschlägig ist, ergibt sich aus Art. 5 VO 1370/2007 . Grundlegend ist insoweit die in Abs. 1 dieser Vorschrift getroffene Unterscheidung zwischen dem allgemeinen EU-Vergaberecht in den Richtlinien 2004/17/EG44 und 2004/18/EG45 einerseits, und dem in der VO 1370/2007 selbst enthaltenen speziellen Vergaberecht für Personenverkehrsdienste andererseits. Letzteres ist nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 VO 1370/2007 grundsätzlich vorrangig anzuwenden. Allerdings bestehen nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 VO 1370/2007 Ausnahmen für Personenverkehrsdienste mit Bussen und Straßenbahnen . Deren Vergabe richtet sich ausschließlich nach den genannten Vergabe-Richtlinien, soweit die öffentlichen Aufträge nicht die Form von Dienstleistungskonzessionen46 im Sinne jener Richtlinien annehmen. 42 Siehe oben 3.3.1 Vorgaben zu Ausgleichsleistungen im Sinne der VO 1370/2007 , S. 11. 43 Eine weitere, durch die VO 1370/2007 in Art. 5 Abs. 2 S. 1 vorgesehene Möglichkeit, öffentliche Personenverkehrsdienste selbst, d.h. durch organisationsrechtlich in den Verwaltungsträger eingegliederte Regie- oder Eigenbetriebe , zu erbringen. Es handelt sich dann um keinen Vergabeakt im Sinne des EU-Vergaberechts, vgl. Hölzl, in: MüKo-Wettbewerbsrecht, Art. 5 VO 1370/2007 , Rn. 26. 44 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste, ABl. EU 2004 Nr. L 134/1; online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2004:134:0114:024:de:PDF (zuletzt abgerufen am 18.12.2012). 45 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl. EU 2004 Nr. L 134/114; online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2004:134:0114:0240:de:PDF (zuletzt abgerufen am 18.12.2012). 46 Zur Unterscheidung zwischen Dienstleistungsauftrag und Dienstleistungskonzession siehe oben 3.2 Öffentlicher Dienstleistungsauftrag als Instrument zur Festlegung von Ausgleichsleistungen, S. 8, Fn.26. 1 Tödtmann/Schauer, Aktuelle Rechtsfragen zum öffentlichen Personennahverkehr – Nationale und europäische Rechtsentwicklung sowie Konsequenzen für die Praxis, NVwZ 2008, 1, 3 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 15 WD 11 – 3000 – 166/12 Soweit es danach zu einer Anwendung der vergaberechtlichen Bestimmungen der VO 1370/2007 kommt – also insbesondere für den Bereich des Eisenbahnverkehrs und für Dienstleistungskonzessionen im Bereich des Personenverkehrs mit Bussen und Straßenbahnen –, ergeben sich die jeweiligen Verfahrensanforderungen aus den Abs. 2 bis 6 des Art. 5 VO 1370/2007. Insoweit gilt es jedoch die Übergangsregelung in Art. 8 VO 1370/2007 zu beachten. Nach Art. 8 Abs. 2 S. 1 VO 1370/2007 muss die Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge grundsätzlich erst ab dem 3. Dezember 2019 im Einklang mit dem Vergaberecht der VO 1370/2007 stehen. Bis dahin haben die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 2 S. 2 VO 1370/2007 Maßnahmen zu treffen , um Art. 5 VO 1370/2007 schrittweise anzuwenden und ernste strukturelle Probleme insbesondere hinsichtlich der Transportkapazitäten zu vermeiden. Für die hier relevante Frage nach den EU-behilfenrechtlichen Implikationen eines fahrscheinfreien ÖPNV haben die vergaberechtlichen Bestimmungen im Übrigen keine spezifische Bedeutung , so dass auf eine weitergehende Darstellung der auch für den Bereich eines fahrscheinfreien ÖPNV einzuhaltenden einzelnen (Verfahrens-)Vorgaben nach den jeweils einschlägigen Vergaberechtsregime an dieser Stelle verzichtet und auf einschlägiges Schrifttum verwiesen wird.47 3.5. Ergebnis Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die VO 1370/2007 der Einführung eines fahrscheinfreien ÖPNV nicht entgegensteht. Die sich hieraus ergebenden Anforderungen insbesondere hinsichtlich der Leistung von Ausgleichszahlungen zwischen staatlichen Stellen und Betreibern von ÖPNV-Diensten ermöglichen auch Ausgleichsleistungen für den Fall eines fahrscheinfreien ÖPNV. 4. Allgemeines Beihilfenrecht 4.1. Anwendungsbereich Außerhalb des Anwendungsbereichs der VO 1370/2007 müssen sich Ausgleichsleistungen am allgemeinen Beihilfenrecht messen lassen. 47 Zu Art. 5 VO 1370/2007 siehe die ausführlichen Kommentierungen bei Prieß, in: Kaufmann /Lübbig/Prieß/Pünder, VO (EG) 1370/2007, Art. 5, Rn. 1 ff.; sowie bei Hölzl, in: MüKo-Wettbewerbsrecht, Art. 5 VO 1370/2007 , Rn. 1 ff. Siehe ferner Hübner, Neue Vergaberegeln für den ÖPNV unter der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007, VergabeR 2009, 363 ff.; Schmitz/Winkelhüsener, Der Öffentliche Personennahverkehr im Übergang zur VO 1370/2007 : Vergaberechtliche Handlungsoptionen und deren beihilferechtliche Konsequenzen , EuZW 2011, 52ff.; Knauff, Das wettbewerbliche Vergabeverfahren nach Art. 5 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 i.V.m. § 8 b PBefG-E, NZBau 2011, 655 ff.. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 16 WD 11 – 3000 – 166/12 4.2. Beihilfenverbot nach Art. 107 Abs. 1 AEUV Wie oben bereits ausgeführt, sind staatliche Beihilfen nach Art. 107 Abs. 1 AEUV grundsätzlich verboten.48 Die Nichteinhaltung der in der VO 1370/2007 enthaltenen Vorgaben zu Berechnung der Ausgleichleistungen , die auf den Kriterien der Altmark-Trans Entscheidung des Gerichtshof beruhen 49, führt nach eben dieser Rechtsprechung zwangsläufig dazu, dass von dem tatbestandlichen Vorliegen einer Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV auszugehen ist.50 Die Vereinbarkeit derartiger Maßnahmen mit dem Binnenmarkt hängt in einem solchen Falle allein davon ab, ob eine Rechtfertigung möglich ist. 4.3. Rechtfertigung Im Bereich des Verkehrs richtet sich die Rechtfertigung einer staatlichen Beihilfe zunächst nach der Sonderregelung des Art. 93 AEUV, bei der es sich um eine Ausnahme- bzw. Rechtfertigungsvorschrift zum allgemeinen Beihilfeverbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV handelt.51 Gemäß Art. 93 AEUV sind Beihilfen, die den Erfordernissen der Verkehrskoordinierung oder der Abgeltung bestimmter, mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes52 zusammenhängender Leistungen entsprechen, mit dem AEUV vereinbar. Art. 93 AEUV ist insofern im Bereich des Landverkehrs lex specialis zu Art. 106 Abs. 2 AEUV.53 Nach Art. 106 Abs. 2 AEUV gelten die Wettbewerbsvor- 48 Im Einzelnen siehe oben 2.1.1 Primärrechtliche Regelungen, S. 4ff. 49 Siehe oben 3.3.1 Vorgaben zu Ausgleichsleistungen im Sinne der VO 1370/2007 , S. 11. 50 Für die Einordnung einer Maßnahme als Beihilfe müssen nach Art. 107 Abs. 1 AEUV zunächst vier Voraussetzungen erfüllt sein:(1) Es muss sich um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handeln. (2) Den Begünstigten muss ein Vorteil gewährt werden. (3) Die Maßnahme muss geeignet sein, den Handel zwischen Mitgliedsstaaten zu beeinträchtigen. (4) Sie muss den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen. Konkretisiert wurden diese Tatbestandsmerkmale in der Entscheidung des EuGH in der Rs. 280/00 (Altmark Trans), a.a.O.: Danach sind von öffentlicher Hand geleistete Zahlungen, die die Gegenleistung für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen des Unternehmens darstellen, dann tatbestandlich keine Beihilfe, wenn folgende vier abschließend aufgezählte Kriterien erfüllt sind: (1) Das begünstigte Unternehmen ist mit der Erfüllung klar definierter gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut. (2.) Die Parameter zur Berechnung der Höhe der Ausgleichszahlung werden im Voraus objektiv und transparent definiert. (3.) Es ist gewährleistet sein, dass dem Unternehmen nur die Kosten ausgeglichen werden, die durch die Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen anfallen (Verbot der Überkompensation). (4.) Es werden nur die Kosten ausgeglichen, die einem durchschnittlichen, wirtschaftlich gut geführten Unternehmen entstehen würden. Im Einzelnen zum Tatbestand der Beihilfe und den Konkretisierungen durch die Altmark-Trans-Entscheidung vgl. statt vieler Müller, in: MüKo Wettbewerbsrecht, Beihilferechtliche Grundlagen, S. 991ff., Rn. 475ff. 51 Umstritten ist, ob die Vorschrift unmittelbar als Rechtfertigungsgrund herangezogen werden kann oder ob eine Rechtfertigung nur auf Grund der Vorschriften in der VO 1370/2007 in Betracht kommt. Vgl. unten Fn. 57, S. 17. 52 Gemeint ist hier „gemeinwirtschaftliche Verpflichtung“. Der Term „öffentlicher Dienst“ geht zurück auf eine missverständliche Übersetzung des französischen Begriffs „service public“. Vgl. Müller, in: MüKo Wettbewerbsrecht , Sektoren – Landverkehr, insbesondere Straßenverkehr, S. 990, Rn. 475 m.w.N. 53 vgl. Erwägungsgrund 3 zu der VO 1370/2007 . Siehe auch Müller, in: MüKo, S. 1003, Rn. 530 m.v.w.N.; Boeing/Maxian/Rusche, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der EU, 48. EL, 2012, Art. 93, Rn. 25. 1 Tödtmann/Schauer, Aktuelle Rechtsfragen zum öffentlichen Personennahverkehr – Nationale und europäische Rechtsentwicklung sowie Konsequenzen für die Praxis, NVwZ 2008, 1, 3 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 17 WD 11 – 3000 – 166/12 schriften – also auch Art. 107, 108 AEUV – für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinwirtschaftlichem Interesse betraut sind, nur dann, wenn die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich verhindert. Während also in Art. 106 Abs. 2 Anknüpfungspunkt die „Dienstleistung von allgemeinwirtschaftlichem Interesse ist, kommt es nach Art. 93 AEUV auf „mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes zusammenhängende Leistungen“ an. Der Begriff der Dienstleistung von allgemeinwirtschaftlichem Interesse i.S.d. Art. 106 Abs. 2 AEUV wurde in der Rechtsprechung und durch die Kommission vielfach ausgelegt und konkretisiert.54 Fraglich und bislang nicht abschließend geklärt ist aber, wann eine Zahlung der „Abgeltung bestimmter, mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes zusammenhängender Leistungen“ entspricht. Angesichts der detaillierten Regelungen zur Gewährung von Ausgleichszahlungen in der VO 1370/2007 fragt sich insbesondere, inwiefern die Vorschriften der Verordnung abschließend sind oder ob daneben eine Rechtfertigung nach Art. 93 AEUV noch in Betracht kommt. 4.3.1. Verhältnis zwischen Art. 93 AEUV und der Vorgängerverordnung Nach der Rechtsprechung des EuGH zu der Vorgängerverordnung zur VO 1370/2007, der VO 1191/6955, waren Ausgleichsleistungen in deren Anwendungsbereich nur an dieser, nicht aber anhand der Vertragsbestimmungen zu prüfen. Der Gerichtshof betrachtete die VO 1191/69 als abschließend. Entsprechend konnten Ausgleichszahlungen im ÖPNV, die nicht mit der VO 1191/69 vereinbar waren, auch nicht gemäß ex-Art. 73, 86 Abs. 2, 87 EGV (jetzt Art. 93 und 106 Abs. 2, 107 AEUV) gerechtfertigt werden. Gegen diese Rechtsprechung wurden von Seiten der Literatur Bedenken geäußert, da sekundäres Unionsrecht den Anwendungsbereich des AEUV weder bindend einschränken noch verändern könne.56 4.3.2. Verhältnis zwischen Art. 93 AEUV und der VO 1370/2007 Ob auch die VO 1370/2007 insofern abschließend ist, wird in der Literatur nicht einheitlich beantwortet und ist auch in der Rechtsprechung des EuGH nicht abschließend geklärt.57 Den Erwägungsgründen der VO 1370/2007 nach, haben die Mitgliedstaaten jedenfalls außerhalb des An- 54 Vgl. dazu den Überblick bei Kühling/Koenig/Paul, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 106, Rn. 36ff. Zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse vgl. auch Jung, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 106, Rn. 36ff. 55 Verordnung über das Vorgehen der Mitgliedstaaten bei mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes verbundenen Verpflichtungen auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs vom 26. Juni 1969 (ABl. L 156 vom 28.6.1969, S. 1), zuletzt geändert durch Verordnung (EWG) Nr. 1893/91 des Rates vom 20. Juni 1991 L 169 1 29.6.1991. (Letzte konsolidierte Fassung abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:1969R1191:19920701:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 18.12.2012). 56 Müller, in: MüKo Wettbewerbsrecht, S. 1003, Rn. 530 m.w.N. 57 Vgl. u.a. Müller, in: MüKo Wettbewerbsrecht, S. 1002f.; Hölzl, in: MüKo Wettbewerbsrecht, S. 1784, Rn. 11; Schäfer, in: Streinz, EUV/AEUV, 2012, Art. 93 Rn. 14ff.; Boeing/Maxian/Rusche, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, a.a.O., Art. 93, Rn. 29. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 18 WD 11 – 3000 – 166/12 wendungsbereichs der Verordnung58 die Möglichkeit, Beihilfen zu gewähren, soweit diese mit Art. 93 AEUV vereinbar sind.59 Geht man hiernach davon aus, dass die VO 1370/2007 nicht abschließend ist und für Art. 93 AEUV somit weiterhin ein – über diese Verordnung hinausgehender – Anwendungsbereich für die Rechtfertigung von Ausgleichsleistungen, die tatbestandlich als Beihilfen im Sinne der Altmark-Trans-Rechtsprechung zu qualifizieren sind, verbliebe, so stellt sich die Frage, unter welchen konkreten Voraussetzungen eine Rechtfertigung möglich wäre. Der Maßstab des Art. 93 2. Alt. AEUV ist insofern unbestimmt. Zur Auslegung des Begriffes der „Abgeltung bestimmter mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes zusammenhängender Leistungen“ die Altmark -Trans-Rechtsprechung heranzuziehen, wäre systemwidrig.60 Erfüllt eine Ausgleichszahlung die dort aufgestellten Kriterien nicht, so hat das zur Folge, dass sie als tatbestandliche Beihilfe i.S.d. Art. 107 Abs. 1 AEUV zu qualifizieren ist. Die gleichen Kriterien nun noch einmal bei der Rechtfertigung zu prüfen macht keinen Sinn – denn, Ausgleichszahlungen, die den Altmark- Trans-Kriterien entsprechen, sind schon keine Beihilfen i.S.d. Art. 107 Abs. 1 AEUV und bräuchten dementsprechend auch nicht gerechtfertigt zu werden. Einschlägige Rechtsprechung zu dieser Problematik liegt nicht vor und auch von der Kommission oder im Schrifttum wird sie – soweit ersichtlich – nicht behandelt. Insofern ist schwer vorhersehbar, wie eine an Art. 93 AEUV angeknüpfte Einzelfallentscheidung der Kommission nach Notifizierung einer Ausgleichszahlung für den Betriebe eines fahrscheinfreien ÖPNV aussehen würde. Unterstellt man hingegen, dass die VO 1370/2007 für den Bereich der beihilferechtlichen Beurteilung von Ausgleichsleistungen abschließend ist und dass diese für eine darüber hinausgehende Anwendung des Art. 93 AEUV daher keinen Raum lässt, so wären staatlich gewährte Ausgleichsleistungen an Verkehrsunternehmen, die den Anforderungen der VO 1370/2007 nicht genügen , nach primärrechtlichen Maßstäben stets mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Beihilfen im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV. Eine Rechtfertigung außerhalb der Verordnung käme nicht in Betracht. Die detaillierten Regelungen der Verordnung, die sich an der Altmark-Trans- Rechtsprechung orientieren, sprechen für ein solches Verständnis. 4.4. Ergebnis Eine eindeutige Aussage zu der Frage, ob Ausgleichsleistungen, die nicht den Anforderungen der VO 1370/2007 entsprechen, mit dem allgemeinen Beihilfenrecht vereinbar sein können, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht treffen. Klar ist, dass Ausgleichsleistungen die nicht den Anforderungen der VO 1370/007 genügen, Beihilfen i.S.d. Art. 107 Abs. 1 AEUV und als solche notifzierungspflichtig sind. Ob für die Kommission eine Rechtfertigung der Zahlungen nach Art. 93 oder gar 107 Abs. 2, 3 AEUV in Betracht kommt, kann nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden. In rechtspraktischer Hinsicht erscheint diese Problematik aber angesichts der ausführli- 58 Zum Anwendungsbereich siehe oben 3.1 Anwendungsbereich, S. 7. 59 So Müller, in: MüKo Wettbewerbsrecht, S. 1003, Rn. 532. 60 So wohl Schäfer, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 93, Rn. 17. 1 Tödtmann/Schauer, Aktuelle Rechtsfragen zum öffentlichen Personennahverkehr – Nationale und europäische Rechtsentwicklung sowie Konsequenzen für die Praxis, NVwZ 2008, 1, 3 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 19 WD 11 – 3000 – 166/12 chen Regelungen in der speziell für den Bereich des ÖPNV erlassenen VO 1370/2007 von nur geringer Bedeutung.61 5. Zusammenfassung der Ergebnisse Im Ergebnis ist davon auszugehen, dass im Sinne der Rechtssicherheit für die Gestalter eines fahrscheinlosen ÖPNV, die VO 1370/2007 Maßstab für die Entrichtung von Ausgleichszahlungen sein sollte. Ausgleichsleistungen, die den Anforderungen der VO 1370/2007 und damit im Wesentlichen auch den Altmark Trans Kriterien nicht entsprechen, sind regelmäßig Beihilfen i.S.d. Art. 107 Abs. 1 AEUV und als solche der Kommission zu notifizieren. Entsprechend stellt sich die Frage, ob sie außerhalb der Verordnung nach Art. 106 Abs. 2, 107 Abs. 2, 3 bzw. Art. 93 AEUV gerechtfertigt werden können und von der Kommission im Einzelfall genehmigt würden. Art. 93 AEUV ist im Bereich des Verkehrs lex specialis zu den Rechtfertigungsvorschriften des Art. 106 Abs. 2, 107 Abs. 2, 3 AEUV. Bislang nicht geklärt ist aber, ob und unter welchen Voraussetzungen Art. 93 AEUV neben der VO 1370/2007 im Bereich von Ausgleichsleistungen im ÖPNV zur Rechtfertigung von Zahlungen herangezogen werden kann, oder ob die VO 1370/2007 insofern abschließend ist. Insofern besteht das Risiko einer Negativentscheidung der Kommission, wenn Ausgleichsleistungen auf eine Art und Weise gewährt würden, die den Anforderungen der VO 1370/2007 nicht entspricht. - Fachbereich Europa - 61 Vgl. Müller, in: MüKo Wettbewerbsrecht., S. 1002, Rn. 528 m.w.N.; Prieß, a.a.O., Art. 10, Rn. 24.