© 2019 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 164/18 Die Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) und ihre Bedeutung im EU-Recht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/18 Seite 2 Die Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) und ihre Bedeutung im EU-Recht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 164/18 Abschluss der Arbeit: 7. Januar 2019 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Rechtlicher Rahmen zur Beantwortung der Fragen 4 2.1. Bindungswirkung der WVK gegenüber der EU und ihren Mitgliedstaaten 5 2.2. Rechtliche Perspektiven zur Beantwortung der Fragen 5 3. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 7 3.1. Unionsrechtliche Bindung an den völkergewohnheitsrechtlichen Gehalt der WVK 7 3.2. Heranziehung der WVK ohne unionsrechtliche Bindung 8 3.2.1. Rechtssache C-264/09 (Kommission gegen Slowakei) 8 3.2.2. Rechtssache C-621/18 (Wightman u. a. – einseitige Rücknahme der britischen Austrittsmitteilung) 9 3.3. Urteile zu der Suspendierung vergleichbaren Einwänden von Seiten der Mitgliedstaaten 10 3.3.1. Verbundene Rechtssachen 90 u. 91/63 (Kommission gegen Luxemburg und Belgien) 10 3.3.2. Rechtssache 232/78 (Kommission/Frankreich) 12 3.3.3. Rechtssache C-5/94 (Hedley Lomas) 13 3.3.4. Weitere Rechtsprechung 14 3.4. Zusammenfassung und Fazit 14 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/18 Seite 4 1. Fragestellung In Anknüpfung an ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste aus dem Jahre 20111 wird u. a. der Fachbereich Europa um die Beantwortung mehrerer Fragen im Zusammenhang mit der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK)2 und ihrer Anwendung im unionsrechtlichen Kontext ersucht. Im Zentrum dieser Fragen stehen Art. 60 Abs. 2 Buchst. c WVK3 sowie Art. 72 Abs. 1 Buchst. a WVK4 über die Suspendierung von (mehrseitigen) Verträgen und ihre Anwendung zwecks einseitiger Loslösung Deutschlands von der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). In Ergänzung zu und unter Verweis auf die Ausführungen in dem erwähnten älteren Gutachten sowie dem – auch auf diese Anfrage hin erstellten – Sachstand des Fachbereichs WD 2 (Auswärtiges , Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe)5 und dem Sachstand des Fachbereichs WD 3 (Verfassung und Verwaltung)6 befasst sich die vorliegende Ausarbeitung mit der für diese Fragen relevanten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und den daraus für diesen Fall zu ziehenden Schlüssen. Im Folgenden ist in einem ersten Schritt kurz auf den allgemeinen rechtlichen Rahmen einzugehen , in welchem sich die genannten Fragen stellen (2.). Anschließend wird der Blick auf die einschlägigen Entscheidungen des EuGH gerichtet (3.). 2. Rechtlicher Rahmen zur Beantwortung der Fragen Für den allgemeinen rechtlichen Rahmen zur Beantwortung der Auftragsfragen sind zwei Gesichtspunkte von Bedeutung: die Bindungswirkung der WVK gegenüber der Union und ihren 1 Ausarbeitung „Zur rechtlichen Zulässigkeit des Austritts von Mitgliedstaaten aus der dritten Stufe der Wirtschafts - und Währungsunion“, WD 11 (heute PE 6) - 3000 - 188/11 vom 10.11.2011 (im Folgenden: WD 11-Gutachten ). 2 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, BGBl. 1985 II, S. 927 ff. 3 Art. 60 Abs. 2 Buchst. c WVK lautet „Eine erhebliche Verletzung eines mehrseitigen Vertrags durch eine Vertragspartei berechtigt jede Vertragspartei ausser dem vertragsbrüchigen Staat, die Vertragsverletzung als Grund für die gänzliche oder teilweise Suspendierung des Vertrags in Bezug auf sich selbst geltend zu machen, wenn der Vertrag so beschaffen ist, dass eine erhebliche Verletzung seiner Bestimmungen durch eine Vertragspartei die Lage jeder Vertragspartei hinsichtlich der weiteren Erfüllung ihrer Vertragsverpflichtungen grundlegend ändert .“ 4 Art. 72 Abs. 1 Buchst. a WVK lautet „Sofern der Vertrag nichts anderes vorsieht oder die Vertragsparteien nichts anderes vereinbaren, hat die nach den Bestimmungen des Vertrags oder nach diesem Übereinkommen erfolgte Suspendierung des Vertrags folgende Wirkungen: a) sie befreit die Vertragsparteien, zwischen denen der Vertrag suspendiert ist, in ihren gegenseitigen Beziehungen während der Suspendierung von der Verpflichtung, den Vertrag zu erfüllen […].“ 5 Sachstand „Zur Anwendung der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) auf das EU-Primärrecht“, WD 2 - 3000 - 166/18 vom 21.11.18 (im Folgenden: WD-2 Sachstand). 6 Sachstand „Verfassungsrechtliches Verfahren für den Austritt aus der dritten Stufe der Europäischen Wirtschafts - und Währungsunion“, WD 3 - 3000 - 394/18 (im Folgenden: WD-3-Sachstand). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/18 Seite 5 Mitgliedstaaten im allgemeinen und der zwei hier im Zentrum stehenden Artikel im Besonderen (2.1.) sowie die Unterscheidung der beiden in Betracht kommenden rechtlichen Perspektiven für die Beantwortung der Fragen (2.2.). 2.1. Bindungswirkung der WVK gegenüber der EU und ihren Mitgliedstaaten Im Hinblick auf die Bindungswirkung der WVK ist zunächst darauf hinzuweisen, dass weder die EU noch alle ihre Mitgliedstaaten Vertragsparteien der WVK sind. Die EU kann schon im Hinblick auf den Gegenstand der Konvention nicht Vertragspartei sein. Denn diese findet nach Art. 1 WVK nur auf Verträge zwischen Staaten Anwendung und nur diesen steht nach Art. 83 WVK entsprechend der Beitritt offen. Von den EU-Mitgliedstaaten sind Frankreich und Rumänien keine Vertragsparteien der WVK. Bereits vor diesem Hintergrund scheiden eine Bindung der Union und ihrer Mitgliedstaaten an die WVK und damit auch ihre unmittelbare Anwendung im Unionsrecht aus.7 Ihre Regelungen können in diesem Kontext daher allenfalls insoweit von Bedeutung sein, als sie Völkergewohnheitsrecht darstellen. Denn als solches bindet es sowohl die Mitgliedstaaten als auch die EU.8 Fraglich ist allerdings, ob Art. 60 Abs. 2 Buchst. c WVK und Art. 72 Abs. 1 Buchst. a WVK überhaupt eine Kodifizierung völkergewohnheitsrechtlicher Inhalte darstellen. Dies wird im völkerrechtlichen Schrifttum v. a. mit Verweis auf (bisher) fehlende Staatenpraxis stark bezweifelt.9 2.2. Rechtliche Perspektiven zur Beantwortung der Fragen Geht man für die vorliegende Ausarbeitung davon aus, dass die genannten Bestimmungen gleichwohl einen völkergewohnheitsrechtlichen Gehalt haben, so ist ferner zu beachten, dass die dem Auftrag zugrunde liegende zentrale Frage nicht seine Anwendung im Verhältnis von EU und Mitgliedstaaten einerseits und Drittstaaten und ggf. anderen Völkerrechtsubjekten andererseits betrifft . Hier geht es vielmehr darum, ob Völkergewohnheitsrecht im Allgemeinen und hier hinsichtlich einer einseitigen Suspendierung im Besonderen auch in den Beziehungen der EU-Mitgliedstaaten untereinander bzw. zwischen EU und ihren Mitgliedstaaten, also quasi ergänzend zu den EU-Verträgen, zur Anwendung gelangen kann. Diese Frage lässt sich aus zwei (verschiedenen ) Perspektiven betrachten: einer völkerrechtlichen und einer unionsrechtlichen. Zur verbindlichen Bestimmung der unionrechtlichen Perspektive ist nach dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) allein der Gerichtshof der Europäischen Union befugt. Diesem Organ der EU (vgl. Art. 13 7 Siehe EuGH, Urt. v. 16.06.1998, Rs. C-162/96 (Racke), Rn. 24; EuGH, Urt. v. 25.02.2010, Rs. C-386/08 (Brita), Rn. 42; vgl. auch Generalanwalt (GA) Campos Sánches-Bordona, Schlussanträge v. 4.12.2018 zu EuGH, Rs. C-621/18 (Wightman u. a.), Rn. 78 (bisher noch nicht in deutscher Sprache abrufbar). 8 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.02.2018, Rs. C-266/16 (Western Sahare Campaign UK), Rn. 47; EuGH, Urt. v. 22.11.2012, Rs. C-410/11 (Espada Sánchez u. a.), Rn. 21. 9 So etwa Giegerich, in: Dörr/Schmalenbach, Vienna Convention on the Law of Treaties, 2. Aufl. 2018, Art. 60, Rn. 88; Wittich, in: ebenda, Art. 72, Rn. 24 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/18 Seite 6 Abs. 1 EUV) haben die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV die Zuständigkeit übertragen , „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ zu sichern. In Verbindung mit Art. 344 AEUV, wonach sich die Mitgliedstaaten verpflichten, Streitigkeiten über das Unionsrecht nur im Rahmen der Verträge zu regeln, folgt hieraus, dass für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts ausschließlich der Gerichtshof zuständig ist.10 Eine dem Gerichtshof der EU vergleichbare zentrale und für alle Völkerrechtsubjekte in gleicher Weise verbindliche Instanz für die Auslegung des Völkerrechts besteht auf dessen Ebene nicht. Dies spiegelt sich auch in Art. 38 Abs. 1 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (IGH-Statut )11 wider. Dieser enthält in seinen Buchstaben a bis c eine klassische Auflistung der Völkerrechtsquellen (völkerrechtliche Verträge, Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts) und in Buchst. d die sog. Rechtserkenntnisquellen, mit deren Hilfe Rechtsnormen des Völkerrechts festgestellt werden. Zu diesen Hilfsmitteln zählen – neben den Lehrmeinungen der fähigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen – zwar auch richterliche Entscheidungen, bei denen es sich sowohl um solche internationaler als auch nationaler Gerichte wie etwa des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) handeln kann.12 Insbesondere erstgenannte verfügen aber oftmals über keine obligatorische Zuständigkeit und sind – mit Ausnahme des Internationalen Gerichtshofs – zudem nur bereichsspezifisch tätig. Die WVK selbst sieht keine Einrichtungen vor, die für die Auslegung ihrer Bestimmungen zuständig wäre. Vor diesem Hintergrund ist in Abhängigkeit von der jeweiligen rechtlichen Perspektive eine unterschiedliche Beantwortung der sich hier stellenden Fragen nach der Anwendung der WVK bzw. des völkergewohnheitsrechtlichen Gehalts ihrer Suspendierungsvorschriften im unionsinternen Kontext nicht ausgeschlossen.13 Eine übergeordnete Instanz in materiell-rechtlicher oder institutioneller Hinsicht, die einen daraus folgenden eventuellen Konflikt verbindlich für beide Rechtsordnungen – die unionsrechtliche und die völkerrechtliche – auflösen könnte, existiert nicht. 10 EuGH, Gutachten v. 18.12.2014, 1/13 (EMRK-Beitritt II), Rn. 246. Vgl. dazu Schiffbauer, Über Hoheitsrechte und deren „Übertragbarkeit“, AöR 141 (2016), S. 551 (579 f.); Pechstein/Kubicki, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 19 EUV, Rn. 40. 11 Statut des Internationalen Gerichtshofs (Bestandteil der Charta der Vereinten Nationen), BGBl. 1973 II S. 430, 505 ff. 12 Vgl. etwa Herdegen, Völkerrecht, 16. Aufl. 2017, § 21, Rn. 1. Siehe im Hinblick auf das BVerfG und das Verfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG, wonach ein Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen hat, wenn in einem Rechtsstreite zweifelhaft ist, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt, Morgenthaler, in: Epping/Hillgruber, Beck-Onlinekommentar zum Grundgesetz, Art. 100 GG, Rn. 30 ff. 13 Siehe zur völkerrechtlichen Perspektive auf diese Frage den WD-2-Sachstand (Fn. 5), Pkt. 1, S. 4 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/18 Seite 7 Mit Blick auf die Zuständigkeit des Fachbereichs Europa ist Gegenstand dieser Ausarbeitung die unionsrechtliche Perspektive, beruhend auf der Rechtsprechung des EuGH.14 Hinzuweisen ist an dieser Stelle schließlich noch darauf, dass hier ein einseitiges mitgliedstaatliches Vorgehen Gegenstand der Betrachtung ist. Im Gegensatz hierzu sind die Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit als Herren der Verträge frei, das Primärrecht der EU nach ihren Vorstellungen zu ändern, Suspendierungsvorschriften nach dem Vorbild der WVK etc. vertraglich zu verankern oder gar unmittelbar eine Suspendierung einvernehmlich vorzunehmen.15 Eine einseitige Loslösung von EU-rechtlichen Bindungen sieht das Unionsrecht ausdrücklich bisher nur in Art. 50 EUV für den Fall des Austritts eines Mitgliedstaats aus der EU vor. 3. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Die hier relevante Rechtsprechung des EuGH zur Bedeutung der WVK im unionsrechtlichen Kontext lässt sich in drei Gruppen einteilen: erstens in Entscheidungen, in denen unionsrechtlich eine Bindung an den völkergewohnheitsrechtlichen Gehalt der WVK besteht (3.1.), zweitens in Entscheidungen, in denen die WVK herangezogen wird, ohne dass eine unionsrechtliche Bindung im Raum steht (3.2.) und schließlich, drittens, in Entscheidungen, in denen ein der Suspendierung vergleichbarer Einwand von Seiten der Mitgliedstaaten erhoben wurde (3.3.). 3.1. Unionsrechtliche Bindung an den völkergewohnheitsrechtlichen Gehalt der WVK Eine Bindung der Union an den völkergewohnheitsrechtlichen Gehalt der WVK nimmt der Gerichtshof nach der bisherigen Rechtsprechung in Konstellation an, in denen es um Rechtsfragen in Zusammenhang mit völkerrechtlichen Abkommen geht, an denen die EU allein oder ggf. zusammen mit den Mitgliedstaaten beteiligt ist.16 In diesem Kontext greift der EuGH etwa regelmäßig auf den völkergewohnheitsrechtlichen Gehalt der Art. 31 bis 33 WVK zurück, die Vorgaben zur Auslegung von Verträgen enthalten.17 In einem Urteil prüfte der Gerichtshof ferner, ob der Rat im Lichte der in Art. 62 WVK kodifizierten Vorgaben zur Beendigung und Suspendierung vertraglicher Beziehungen wegen einer grundlegenden Änderung der Umstände zu Recht von einem Abkommen Abstand genommen hatte.18 14 Zu politisch-faktischen Implikationen siehe die Ausführungen im WD 11-Gutachten (Fn. 1), Pkt. 4.2.4., S. 20 f., zu der Möglichkeit eines faktischen Ausscheidens eines Mitgliedstaats aus der Eurozone. Dies dürfte auch in Bezug auf die hier erfragte Konstellation gelten. 15 Siehe hierzu die Ausführungen im WD-3-Sachstand (Fn. 6). 16 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 16.06.1998, Rs. C-162/96 (Racke), Rn. 40 ff.; EuGH, Urt. v. 27.02.2018, Rs. C-266/16 (Western Sahare Campaign UK), Rn. 58; EuGH, Urt. v. 22.11.2017, Rs. C-224/16 (Aebrti), Rn. 62; EuGH, Urt. v. 11.07.2018, Rs. C-15/17 (Bosphorus Queen Shipping), Rn. 67. 17 EuGH, Urt. v. 27.02.2018, Rs. C-266/16 (Western Sahare Campaign UK), Rn. 58; EuGH, Urt. v. 22.11.2017, Rs. C-224/16 (Aebrti), Rn. 62; EuGH, Urt. v. 11.07.2018, Rs. C-15/17 (Bosphorus Queen Shipping), Rn. 67. 18 Vgl. EuGH, Urt. v. 16.06.1998, Rs. C-162/96 (Racke), Rn. 40 ff., 46, 52 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/18 Seite 8 Diese Entscheidungen und die darin anerkannte Bindung an den völkergewohnheitsrechtlichen Gehalt der WVK19 betreffen somit ausschließlich das Verhältnis von EU und ggf. ihren Mitgliedstaaten einerseits sowie Drittstaaten oder anderen Völkerrechtsubjekten andererseits und damit die externen Relationen der EU. Für die hier im Raum stehenden Fragen bezüglich des unionsinternen Verhältnisses der Mitgliedstaaten untereinander bzw. zur EU lassen sich diesen Urteilen folglich gerade keine Schlussfolgerungen entnehmen. 3.2. Heranziehung der WVK ohne unionsrechtliche Bindung Entscheidungen, in denen die WVK im unionsinternen Kontext zwar ausdrücklich eine Rolle spielt, allerdings ohne dass der EuGH zugleich eine Bindung an diese bzw. ihren völkergewohnheitsrechtlichen Gehalt annimmt, gibt es – soweit ersichtlich – nur wenige: zum einen ein Urteil in einem Vertragsverletzungsverfahren (3.2.1.) und zum anderen die Entscheidung des Gerichtshofs über die Zulässigkeit einer (eventuellen) Rücknahme der britischen Austrittsmitteilung nach Art. 50 EUV (3.2.2.). 3.2.1. Rechtssache C-264/09 (Kommission gegen Slowakei) In dem Vertragsverletzungsverfahren aus dem Jahre 201120 warf die Kommission der Slowakei einen Verstoß gegen die zum damaligen Zeitpunkt geltende Richtlinie über den Elektrizitätsbinnenmarkt vor. Dieser resultierte der Kommission nach aus einem Vertrag, den der slowakische Übertragnetzbetreiber mit einem Schweizer Elektrizitätsunternehmen im Jahre 1997 und damit vor dem EU-Beitritt der Slowakei im Jahre 2004 geschlossen hatte. Die Slowakei berief sich zu ihrer Verteidigung auf einen zwischen ihr und der Schweiz geschlossenen Investitionsschutzvertrag aus dem Jahre 1990 und wandte ein, dieser würde einer Rückabwicklung bzw. Aufhebung des Vertrags zwischen den Elektrizitätsunternehmen entgegenstehen. Der EuGH prüfte diese Streitigkeit u. a. am Maßstab von ex. Art. 307 Abs. 1 EG-Vertrag, dem heutigen Art. 351 Abs. 1 AEUV. Danach werden u. a. die Rechte und Pflichten aus völkerrechtlichen Verträgen, die Mitgliedstaaten vor ihrem Beitritt mit Drittstaaten geschlossen haben, von den EU- Verträgen nicht berührt. Im Zusammenhang mit der Zitierung dieses Vertragsartikels als Prüfungsmaßstab verwies der EuGH darauf, dass sein rechtlicher Gehalt „den Grundsätzen des Völkerrechts [entspreche], wie sie sich insbesondere aus Art. 30 Abs. 4 Buchst. b des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 ergeben […].“21 19 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 24.11.1992, Rs. C-286/90 (Peter Michael Poulsen), Rn. 9, 10. 20 EuGH, Urt. v. 15.09.2011, Rs. C-264/09 (Kommission/Slowakei). Siehe Rn. 11 ff. zum Sachverhalt und Rn. 16 ff. zum Parteivortrag, soweit darauf im Folgenden Bezug genommen wird. 21 EuGH, Urt. v. 15.09.2011, Rs. C-264/09 (Kommission/Slowakei), Rn. 41. Vgl. auch, allerdings ohne ausdrücklichen Verweis auf die damals noch nicht in Kraft getretene WVK, EuGH, Urt. v. 14.10.1980, Rs. 812/79 (Burgoa), Rn. 8. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/18 Seite 9 Eine weitere Heranziehung der WVK bzw. ihres völkergewohnheitsrechtlichen Gehalts erfolgte im Rahmen der Anwendung und Auslegung des ex. Art. 307 Abs. 1 EG-Vertrag nicht.22 Hieraus lässt sich der Schluss ziehen, dass sich die Bezugnahme des Gerichtshofs darin erschöpft, auf die Parallelität der Regelungsgehalte und damit auf den Gleichlauf der Unionsverpflichtungen mit denen des allgemeinen Völkervertragsrechts hinzuweisen. Da es dabei um einen Verstoß der Slowakei gegen Sekundärrecht ging, betraf der Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens zwar die unionsinternen Beziehungen der EU. Seine Ursache fand dieser Verstoß jedoch in dem zwischen der Slowakei und der Schweiz geschlossen Investitionsabkommen, so dass der Sachverhalt zugleich eine externe Dimension aufwies, die dieses Urteil und den Hintergrund der darin erfolgten Bezugnahme auf die WVK in die Nähe der oben unter 3.1. genannten Urteile rückt. 3.2.2. Rechtssache C-621/18 (Wightman u. a. – einseitige Rücknahme der britischen Austrittsmitteilung ) Die andere ausdrückliche Bezugnahme auf die WVK im unionsinternen Kontext findet sich in dem am 10. Dezember 2018 ergangenen Vorabentscheidungsurteil des EuGH zur britischen Austrittsmitteilung .23 Die diesem Verfahren zugrunde liegende Frage nach der Zulässigkeit der einseitigen Rücknahme einer Austrittsmitteilung ist in Art. 50 EUV, der Vertragsbestimmung über den Austritt eines Mitgliedstaats aus der EU, nicht ausdrücklich geregelt und machte daher eine Auslegung dieser Vertragsbestimmung erforderlich. Der Generalanwalt schlug in seinen Schlussanträgen vor, die insoweit in Art. 50 EUV bestehenden Lücken insbesondere durch eine Heranziehung des Art. 68 WVK über die Rücknahme von Notifikationen und Urkunden zu schließen.24 Der Gerichtshof folgte diesem Vorschlag im Zusammenhang mit seiner im Urteil vorgenommenen Auslegung des Art. 50 EUV nicht und führte sie ausschließlich im Lichte der EU-Verträge in ihrer Gesamtheit durch.25 Lediglich im Hinblick auf das gefundene Ergebnis, wonach eine Austrittsmitteilung nach Art. 50 EUV rücknahmefähig ist, nahm der Gerichtshof auf Art. 65 bis 68 WVK Bezug, verknüpfte diese aber ausdrücklich und dem Wortlaut nach kumulativ mit zwei Gesichtspunkten: erstens sah der EuGH in diesen Bestim- 22 Zumindest missverständlich ist daher die in Bezug auf dieses Urteil getroffene Feststellung des GA Campos Sánches-Bordona, Schlussanträge v. 4.12.2018 zu EuGH, Rs. C-621/18 (Wightman u. a.), Rn. 83, Fn. 60, wonach der Gerichtshof die Bestimmungen der WVK auch zur Klarstellung („clarify the meaning“) der Bedeutung von Primärrecht heranzieht. 23 EuGH, Urt. v. 10.12.2018, Rs. C-621/18 (Wightman u. a.), Rn. 70 (das Urteil ist bisher noch nicht in deutscher Sprache abrufbar). 24 GA Campos Sánches-Bordona, Schlussanträge v. 4.12.2018 zu EuGH, Rs. C-621/18 (Wightman u. a.), Rn. 85, und dies sogar ungeachtet des Umstandes, dass diese Regelung seiner Ansicht nach im strengen Sinne kein Völkergewohnheitsrecht darstelle. Art. 68 WVK lautet: „Eine Notifikation oder eine Urkunde nach den Artikeln 65 und 67 kann jederzeit zurückgenommen werden, bevor sie wirksam wird.“ 25 EuGH, Urt. v. 10.12.2018, Rs. C-621/18 (Wightman u. a.), Rn. 46 bis 69. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/18 Seite 10 mungen eine Bekräftigung seines unionsautonom gefundenen Auslegungsergebnisses und zweitens wies er auf die Tatsache hin, dass diese Artikel in den vorbereitenden Arbeiten zum Vertrag über eine Verfassung für Europa in Betracht gezogen wurden.26 Aus der Gegenüberstellung von Schlussantrag und Urteil lässt sich für die Frage nach der Bedeutung des völkergewohnheitsrechtlichen Gehalts der WVK in den unionsinternen Beziehungen der Schluss ziehen, dass jedenfalls die Auslegung von EU-Primärrecht in diesen Fällen autonom erfolgt und selbst bei WVK-ähnlichen oder in diesem Kontext relevanten Vertragsbestimmungen des EU-Rechts kein Raum für die Heranziehung der WVK oder ihres völkergewohnheitsrechtlichen Gehalts besteht. Allenfalls im Rahmen einer Bestätigung des unionsautonom gefundenen Auslegungsergebnisses können WVK-Bestimmungen Bedeutung erlangen, jedenfalls soweit sie bei der Formulierung der betreffenden EU-Vertragsvorschriften und damit historisch eine Rolle gespielt haben.27 Diese Schlussfolgerung wird auch dadurch untermauert, dass es im Übrigen – soweit ersichtlich – keine weiteren Urteile zu unionsinternen Konstellationen gibt, in denen im Zusammenhang mit der Auslegung vor allem des primären Unionsrechts ausdrücklich auf die WVK rekurriert wird. 3.3. Urteile zu der Suspendierung vergleichbaren Einwänden von Seiten der Mitgliedstaaten Soweit ersichtlich, liegen ebenfalls nur wenige Urteile des EuGH vor, in denen sich Mitgliedstaaten , z. T. unter Berufung auf Völkerrecht, zur Verteidigung der ihnen vorgeworfenen Verstöße gegen Unionsrecht auf die Nichtbeachtung desselbigen durch die EU bzw. andere Mitgliedstaaten beriefen. Im Folgenden sollen drei hiervon näher dargestellt (3.3.1. bis 3.3.3.) sowie kurz auf die weitere Rechtsprechung eingegangen werden (3.3.4.). 3.3.1. Verbundene Rechtssachen 90 u. 91/63 (Kommission gegen Luxemburg und Belgien) Dem chronologisch ersten Urteil aus dem Jahre 1964 lag ein Vertragsverletzungsverfahren zugrunde , welches die Kommission gegen Luxemburg und Belgien angestrengt hatte.28 Beiden warf sie vor, eine gegen das Verbot von Zöllen und Abgaben in ex. Art. 12 EWG-Vertrag, heute Art. 30 AEUV, verstoßende Abgabe für die Erteilung von Einfuhrgenehmigungen für bestimmte Milcherzeugnisse eingeführt zu haben. Die beiden Mitgliedstaaten verteidigten sich hiergegen u. a. mit dem Hinweis darauf, dass die damalige Gemeinschaft ihrer Verpflichtung zum Erlass einer entsprechenden Marktordnung nicht nachgekommen sei, welche die einseitigen Maßnahmen überflüssig gemacht hätten.29 26 EuGH, Urt. v. 10.12.2018, Rs. C-621/18 (Wightman u. a.), Rn. 70 (“That conclusion is corroborated by the provisions of the Vienna Convention on the Law of Treaties, which was taken into account in the preparatory work for the Treaty establishing a Constitution for Europe.”). 27 Ob die WVK bzw. ihr völkergewohnheitsrechtlicher Gehalt auch darüber hinaus zur Bestätigung von unionsautonom gefundenen Auslegungsergebnissen herangezogen werden kann, ist dagegen offen, hier aber nicht weiter von Bedeutung, da die EU-Verträge selbst keine Suspendierungsvorschriften o.ä. enthalten, zu deren Auslegung die WVK herangezogen werden könnte. 28 EuGH, Urt. v. 13.11.1964, verb. Rs. 90 u. 91/63 (Kommission/Luxemburg und Belgien), S. 1336 ff. 29 EuGH, Urt. v. 13.11.1964, verb. Rs. 90 u. 91/63 (Kommission/Luxemburg und Belgien), S. 1338. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/18 Seite 11 Diese Argumentation griff der EuGH in seinen Entscheidungsgründen zur Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens auf und führt hierzu aus: „[Die Beklagten] vertreten die Auffassung, das Völkerrecht erkenne einer Partei, die durch die Nichterfüllung der einer anderen Partei obliegenden Verpflichtungen verletzt sei, das Recht zu, von der Erfüllung ihrer eigenen Verpflichtungen Abstand zu nehmen, die Kommission sei daher nicht mehr berechtigt, die Vertragsverletzung geltend zu machen. Ein solcher Zusammenhang zwischen den Verpflichtungen der Rechtsunterworfenen kann jedoch für das Gemeinschaftsrecht nicht anerkannt werden, denn der Vertrag schafft nicht nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den verschiedenen Rechtssubjekten , für die er gilt, sondern er stellt eine neue Rechtsordnung auf, nach der sich die Befugnisse, Rechte und Pflichten der Rechtssubjekte sowie die zur Feststellung und Ahndung etwaiger Rechtsverletzungen erforderlichen Verfahren bestimmen. Soweit nicht ausdrücklich etwas anderes vorgesehen ist, ergibt sich daher aus der dem Vertrag zugrunde liegenden Gesamtauffassung, daß es den Mitgliedstaaten verboten ist, sich selbst ihr Recht zu verschaffen. Wenn daher der Rat seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, so kann dies die Beklagten nicht von der Erfüllung ihrer Verpflichtung entbinden.“30 Zwar bezieht sich der auf das Völkerrecht gestützte Einwand Luxemburgs und Belgiens auf eine Nichtbeachtung unionsrechtlicher Verpflichtungen durch die EU bzw. die damalige EWG und nicht seitens eines anderen Mitgliedstaats. Dessen ungeachtet weist der EuGH die daraus gezogene Rechtsfolge unter Verweis auf den besonderen Charakter der durch die Verträge geschaffenen „neuen Rechtsordnung“ in grundsätzlicher Weise entschieden zurück. In zahlreichen späteren Entscheidungen hat der Gerichtshof die besonderen Merkmale der durch die Verträge geschaffenen Unionsrechtsordnung immer wieder angeführt,31 um die hierdurch begründete Autonomie des Unionsrechts nicht nur gegenüber dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten zu betonen, sondern auch gegenüber dem Völkerrecht.32 Vor diesem Hintergrund bleibt für eine ergänzende Heranziehung der WVK bzw. ihres völkergewohnheitsrechtlichen Gehalts in den unionsinternen Beziehungen im Grundsatz kein Raum. 30 EuGH, Urt. v. 13.11.1964, verb. Rs. 90 u. 91/63 (Kommission/Luxemburg und Belgien), S. 1344 (Hervorhebung durch Verfasser). 31 Vgl. etwa EuGH, Gutachten v. 18.12.2014, 1/13 (EMRK-Beitritt II), Rn. 157 f., mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 32 Sie bspw. EuGH, Urt. v. 6.03.2018, Rs. C-284/16 (Achmea), Rn. 33, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung . Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/18 Seite 12 3.3.2. Rechtssache 232/78 (Kommission/Frankreich) Dies bestätigt auch das zweite Urteil, welchem ebenfalls ein Vertragsverletzungsverfahren zugrunde lag.33 In dem gegen Frankreich gerichteten Verfahren ging es um verschiedene, einseitig getroffene Maßnahmen in Bezug auf Schaffleisch, die von der Kommission als Verstoß gegen ex. Art. 12 und ex. Art. 30 EWG-Vertrag, heute Art. 30 und 34 AEUV, angesehen wurden. Diese französischen Maßnahmen richteten sich unter anderem gegen Einfuhren aus dem Vereinigten Königreich, für welches zum damaligen Zeitpunkt noch Übergangsbestimmungen galten, die eine Beibehaltung britischer Marktordnungsmaßnahmen ermöglichten. Ähnlich wie in dem vorgenannten Verfahren war auch hier eine gemeinschaftsweite Marktordnung für Schaffleisch zum damaligen Zeitpunkt noch nicht erlassen worden.34 Zu ihrer Verteidigung verwies Frankreich u. a. „auf die ungleichen Wettbewerbsbedingungen, die sich ergäben, wenn sie zur Aufhebung ihrer Marktordnung verpflichtet würde, während in Großbritannien für diesen Sektor eine auf dem System der „deficiency payments" beruhende Marktordnung fortbestünde, die sich als Subvention der Schaffleischausfuhren nach Frankreich auswirke .“35 Der EuGH wies diesen Einwand – diesmal im Rahmen der Begründetheit des Urteils – wie folgt zurück: „Die Französische Republik kann eine derartige Regelung nicht mit der Erwägung rechtfertigen, daß das Vereinigte Königreich seinerseits eine nationale Marktordnung für denselben Sektor beibehalten habe. Falls die Französische Republik der Ansicht ist, diese Regelung enthalte mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbare Merkmale, so hätte sie die Möglichkeit, dagegen sowohl im Rahmen des Rates, als auch mit Hilfe der Kommission, als auch schließlich mit gerichtlichen Schritten vorzugehen, um die Beseitigung dieser Verstöße zu erreichen. Auf keinen Fall ist ein Mitgliedstaat berechtigt, einseitig Ausgleichs- oder Abwehrmaßnahmen zu ergreifen, um einer möglichen Mißachtung der Vertragsvorschriften durch einen anderen Mitgliedstaat entgegenzuwirken .“36 Auch gegenüber möglichen Rechtsverstößen anderer Mitgliedstaaten ist es danach einem Mitgliedstaat verwehrt, einseitig Maßnahmen zu ergreifen, die vorliegend einen Verstoß gegen Bestimmungen der Warenverkehrsfreiheit begründeten.37 Zwar zieht der EuGH hier zur Begründung 33 EuGH, Urt. v. 25.09.1978, Rs. 232/78 (Kommission/Frankreich). 34 EuGH, Urt. v. 25.09.1978, Rs. 232/78 (Kommission/Frankreich), Rn. 1 ff. 35 EuGH, Urt. v. 25.09.1978, Rs. 232/78 (Kommission/Frankreich), Rn. 6 aE. 36 EuGH, Urt. v. 25.09.1978, Rs. 232/78 (Kommission/Frankreich), Rn. 9 (Hervorhebung durch Verfasser). 37 Vgl. EuGH, Urt. v. 25.09.1978, Rs. 232/78 (Kommission/Frankreich), Rn. 10 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/18 Seite 13 nicht den besonderen Charakter der Unionsrechtsordnung heran. Er verweist aber auf die vertraglich vorgesehenen Möglichkeiten, gegen vermeintliche Rechtsverletzungen anderer Mitgliedstaaten vorzugehen, darunter auf die gerichtlichen Verfahren. 3.3.3. Rechtssache C-5/94 (Hedley Lomas) Bei dem dritten Urteil handelte es sich um ein Vorabentscheidungsverfahren.38 In der Sache ging es um die Versagung von Genehmigungen für die Ausfuhr von lebenden Schafen aus dem Vereinigten Königreich nach Spanien durch die britischen Behörden aus Gründen des Tierschutzwohls . Im Verfahren berief sich das Vereinigte Königreich u. a. darauf, dass spanische Schlachtbetriebe die Bestimmungen einer EWG-Richtlinie über die Betäubung von Tieren vor dem Schlachten nicht einhielten und die Richtlinie selbst weder Kontrollverfahren hinsichtlich ihrer Einhaltung vorsehe noch Sanktionen für den Fall ihrer Nichtbeachtung, so dass einseitige Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Tieren nach ex. Art. 36 EG-Vertrag, heute Art. 36 AEUV, gerechtfertigt wären.39 Der EuGH führte zunächst aus, dass eine Berufung auf ex. Art. 36 EG-Vertrag ausgeschlossen sei, wenn die Gemeinschaft Harmonisierungsmaßnahmen erlassen habe, mit denen – wie in diesem Fall – die in dieser Bestimmung genannten Rechtfertigungsgründe sekundärrechtlich konkretisiert würden.40 Im Anschluss hieran wandte sich der EuGH dem Einwand der Nichtbeachtung der Richtlinienvorgaben zu und führte Folgendes aus: „Gegen dieses Verbot des Rückgriffs auf Artikel 36 spricht auch nicht der Umstand, daß die Richtlinie im vorliegenden Fall weder ein gemeinschaftliches Verfahren für die Kontrolle ihrer Einhaltung bereitstellt noch Sanktionen für den Fall des Verstoßes gegen ihre Vorschriften vorsieht. Der Umstand, daß die Richtlinie kein Kontroll- und Sanktionsverfahren vorsieht, führt lediglich dazu, daß die Mitgliedstaaten nach den Artikeln [4 Abs. 3 EUV] und [288 Abs. 3 AEUV] verpflichtet sind, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten […]. Dabei müssen sich die Mitgliedstaaten hinsichtlich der in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet durchgeführten Kontrollen gegenseitig Vertrauen entgegenbringen […]. In diesem Zusammenhang ist ein Mitgliedstaat nicht berechtigt, einseitig Ausgleichsoder Abwehrmaßnahmen zu ergreifen, um einer möglichen Mißachtung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften durch einen anderen Mitgliedstaat entgegenzuwirken […].“41 38 EuGH, Urt. v. 23.05.1996, Rs. C-5/94 (Hedley Lomas). 39 EuGH, Urt. v. 23.05.1996, Rs. C-5/94 (Hedley Lomas), Rn. 2 ff. 40 EuGH, Urt. v. 23.05.1996, Rs. C-5/94 (Hedley Lomas), Rn. 18. 41 EuGH, Urt. v. 23.05.1996, Rs. C-5/94 (Hedley Lomas), Rn. 19 u. 20 (Hervorhebung durch Verfasser). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/18 Seite 14 Im Gegensatz zu der Fallkonstellation im unter 3.3.2. darstellten Urteil wird hier nicht ein einseitiges unionswidriges Verhalten eines anderen Mitgliedstaats als Rechtfertigung für den eigenen Verstoß gegen Unionsrecht geltend gemacht, sondern die tatsächliche Nichtbeachtung sekundärer EU-Bestimmungen bzw. des nationalen Umsetzungsrechts. In diesem Kontext verweist der EuGH zunächst auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und erst im Anschluss auf das Verbot der einseitigen Vornahme von „Ausgleichs- oder Abwehrmaßnahmen“. Hierbei zitiert der Gerichtshof die beiden oben unter 3.3.1. und 3.3.2. dargestellten Urteile und stellt sie so in einen gemeinsamen rechtlichen Zusammenhang.42 3.3.4. Weitere Rechtsprechung Relevant wurde diese durch die drei oben dargestellten Urteile geprägte Rechtsprechung noch in zwei weiteren Urteilen aus den Jahren 199643 und 1997.44 In beiden Entscheidungen ging es um Streitigkeiten im Zusammenhang mit der sog. Fernsehrichtlinie Nr. 89/552.45 Nach dieser waren die Mitgliedstaaten u. a. verpflichtet, den freien Empfang von Fernsehsendungen aus anderen Mitgliedstaaten zu gewährleisten und deren Weiterverbreitung in ihrem Hoheitsgebiet nicht aus Gründen zu verhindern, die in Bereiche fallen, die mit dieser Richtlinie koordiniert wurden; Ausnahmen von diesen Verpflichtungen waren in der Richtlinie ausdrücklich normiert.46 Hierauf verweisend führte der EuGH jeweils aus, dass es den Mitgliedstaaten außerhalb dieser Ausnahmefälle frei stehe, gerichtliche Schritte selbst oder über die Kommission anzustrengen, wenn die Auffassung bestünde, dass ein anderer Mitgliedstaat gegen die Verpflichtungen der Richtlinie verstoßen habe.47 Im Anschluss hieran verwies der Gerichtshof unter Bezugnahme auf die oben unter 3.3.1. bis 3.3.3. dargestellten Urteile auf das Verbot zur Vornahme einseitiger Abwehrmaßnahmen um Verstößen gegen EU-Vorschriften seitens anderer Mitgliedstaaten entgegenzuwirken .48 3.4. Zusammenfassung und Fazit Eine unmittelbare Bindung der EU an die Bestimmungen der WVK scheitert bereits daran, dass die EU kein Vertragsstaat dieser Konvention ist (und es auch nicht sein kann). Auch sind nicht alle Mitgliedstaaten der EU Vertragsparteien der WVK. Nur soweit ihre Bestimmungen Völkerge- 42 Auf eine ausdrückliche Wiedergabe dieser Bezugnahmen in dem wiedergegebenen Originalzitat wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichtet. 43 EuGH, Urt. v. 10.09.1996, Rs. C-11/95 (Kommission/Belgien). 44 EuGH, Urt. v. 29.05.1997 (Denuit). 45 Richtlinie 89/552/EWG des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl.EG 1989 Nr. L 298/23 (letztmaliger Abruf am 08.01.19). 46 Vgl. Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie (Fn. 45). 47 EuGH, Urt. v. 10.09.1996, Rs. C-11/95 (Kommission/Belgien), Rn. 36; EuGH, Urt. v. 29.05.1997 (Denuit), Rn. 34. 48 EuGH, Urt. v. 10.09.1996, Rs. C-11/95 (Kommission/Belgien), Rn. 37; EuGH, Urt. v. 29.05.1997 (Denuit), Rn. 35. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/18 Seite 15 wohnheitsrecht kodifizieren, kommt eine Bindung der EU in Betracht. Dass die hier im Raum stehenden Art. 60 Abs. 2 Buchst. c WVK sowie Art. 72 Abs. 1 Buchst. a WVK einen völkergewohnheitsrechtlichen Gehalt haben, wird im völkerrechtlichen Schrifttum bezweifelt. Würde man diesen unterstellen, bestünde eine Bindung der EU an den völkergewohnheitsrechtlichen Gehalt dieser Suspendierungsbestimmungen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur im Hinblick auf völkervertragliche Beziehung der EU und ihren Mitgliedstaaten zu Drittstaaten oder anderen Völkerrechtssubjekten, also allein in den externen Beziehungen. Eine darüber hinausgehende, die unionsinternen Beziehungen der EU zwischen den Mitgliedstaten untereinander und im Verhältnis zur EU betreffende Bindung an den völkergewohnheitsrechtlichen Gehalt der WVK kann der Rechtsprechung des EuGH nicht entnommen werden. Dies zeigt sich zum einen an den zwei Fällen zu unionsinternen Konstellationen, in denen der EuGH die WVK ausdrücklich heranzieht, um auf einen parallelen Regelungsgehalt im Verhältnis zu EU- Vertragsvorschriften hinzuweisen oder ein unionsautonom ermitteltes Auslegungsergebnis zu bekräftigen . Im Übrigen kommt der WVK keine Bedeutung für die Auslegung insbesondere des primären Unionsrechts zu. Zum anderen ist es den Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung des EuGH verboten, einseitige Maßnahmen zu ergreifen, um einer möglichen Nichtbeachtung des Unionsrechts durch einen oder mehrere andere Mitgliedstaaten entgegenzuwirken. Ausnahmen hiervon, die die Mitgliedstaaten zu einem einseitigen Abweichen von Unionsrecht ermächtigen, müssen im EU-Recht ausdrücklich vorgesehen sein. Ohne auf die Suspendierungsvorschriften der WVK ausdrücklich Bezug genommen zu haben, hat der Gerichtshof hierdurch jedenfalls die Anwendung des ihnen zugrunde liegenden Gedankens ausdrücklich ausgeschlossen. Zur Begründung verweist der EuGH auf die besonderen Merkmale der durch die EU-Verträge geschaffenen neuen Rechtsordnung sowie die in ihr vorgesehenen Mechanismen zur Behebung von Verletzungen des Unionsrechts. Vor diesem Hintergrund bleibt nur wenig Raum für im Schrifttum geäußerte Rechtsansichten, wonach das Unionsrecht ggf. in einem Extremfall einer Anwendung von Suspendierungsregeln oder anderen einseitig vorgenommenen Maßnahmen offen stünde. Zwar lagen den in der Rechtsprechung entschiedenen Konstellationen – soweit sie mehr als nur behauptet wurden – lediglich „gewöhnliche“ Verletzungen des Unionsrechts zugrunde, die als Argument für eigene Nichtbeachtung des EU-Rechts reklamiert wurden. Weder die Formulierungen des Gerichtshofs noch die sehr grundsätzliche Art der Begründung seiner Rechtsprechungslinie lassen jedoch den Schluss zu, dass der EuGH von dieser in – wie auch immer zu definierenden – Extremfällen Abstand nehmen würde. Eine abschließende Beurteilung ist mangels eines solchen Falls in der bisherigen Rechtsprechung an dieser Stelle jedoch nicht möglich. – Fachbereich Europa –