© 2017 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 164/16 Vereinbarkeit eines Vorschlags für eine der Buchpreisbindung entsprechenden Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel mit dem Unionsrecht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Auslegung des Vorschlags 6 2.3. Kontext des Vorschlags 6 3. Vereinbarkeit der vorgeschlagenen Ausgestaltung mit dem Unionsrecht 8 3.1. Eingriff in den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit 8 3.1.1. Sachlicher Schutzbereich 8 3.1.2. Eingriff 9 3.2. Verbot des Rechtsmissbrauchs 10 3.2.1. Dogmatische Einordnung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots 10 3.2.2. Missbrauchsverbot als Beschränkung des Anwendungsbereichs 11 3.2.2.1. Kriterien zur Bestimmung eines Rechtsmissbrauchs 12 3.2.2.2. Folgerungen für den Vorschlag 13 3.2.2.2.1. Objektives Kriterium 13 3.2.2.2.2. Subjektives Kriterium 14 3.2.2.3. Zusammenfassung 15 3.2.3. Missbrauchsverbot als Eingriffsrechtfertigung 16 4. Zusammenfassung 18 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 4 1. Fragestellung Vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH in der Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson) vom 19. Oktober 20161 setzt sich die Ausarbeitung mit der Frage auseinander, ob eine nationale Regelung , die die Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel entsprechend den Regelungen zur Buchpreisbindung in § 4 a.F. des Gesetzes zur Regelung der Preisbindung bei Verlagserzeugnissen (BuchPrG)2 ausgestaltet, mit der Warenverkehrsfreiheit des Unionsrechts vereinbar ist. 2. Hintergründe des Vorschlags zu einer Neugestaltung der Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel 2.1. Vorschlag in Ausschuss-Drs. 18(14)0223(2) Vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH in der Rs. C-148/15 wird vorgeschlagen, die Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel durch die Einfügung eines neuen Absatzes 3a in § 78 Arzneimittelgesetz (AMG)3 mit folgendem Wortlaut neu zu regeln:4 „Die Preise und Preisspannen gelten nicht für grenzüberschreitende Verkäufe innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes. Auf Arzneimittel nach Absatz 2 Satz 2, für die die Verordnung nach Absatz 1 Preise und Preisspannen bestimmt, sind bei grenzüberschreitenden Verkäufen innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes die Vorschriften über den einheitlichen Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers und den einheitlichen Apothekenabgabepreis anzuwenden, wenn sich aus objektiven Umständen ergibt, dass die betreffenden Arzneimittel allein zum Zwecke ihrer Wiedereinfuhr ausgeführt worden sind, um damit diese Vorschriften zu umgehen, insbesondere wenn Arzneimittel, die durch die zuständige Bundesoberbehörde zum Verkehr im Geltungsbereich dieses Gesetzes zugelassen sind oder die einer Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 unterliegen und nach § 10 für den Verkehr im Geltungsbereich dieses Gesetzes gekennzeichnet sind, im Wege des Versandes an den Endverbraucher das Arzneimittel nach § 73 Absatz 1 Nummer 1a in den Geltungsbereich dieses Gesetzes verbracht werden.“ Dieser Vorschlag (im Folgenden: der Vorschlag) stützt sich auf ein in der Rechtsprechung des EuGH entwickeltes Missbrauchsverbot. Danach falle der grenzüberschreitende Vertrieb dann 1 Vgl. hierzu Fachbereich PE 6 – Europa, Aktueller Begriff Europa v. 1. November 2016, Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel – das Urteil des EuGH vom 19. Oktober 2016 in der Rs. C-148/15, abrufbar unter http://www.bundestag.de/blob/478508/94518baa8bc1fadd52b1f77531082c12/preisbindung-fuer-verschreibungspflichtige -arzneimittel-data.pdf. 2 BGBl. I 2002 S. 3448. 3 Arzneimittelgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. Dezember 2005, BGBl. I S. 3394, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 21. November 2016, BGBl. I S. 2623. 4 Vorschlag in Ausschuss-Drs. 18(14)0223(2), S. 3 f. zur öffentlichen Anhörung vom 14. Dezember 2016 zum Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV (GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz – AMVSG), BT-Drs. 18/10208. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 5 nicht unter den Schutz des freien Warenverkehrs, wenn sich aus objektiven Umständen ergebe, dass die betreffenden Erzeugnisse allein zum Zweck ihrer Wiedereinfuhr ausgeführt worden seien, um eine gesetzliche Regelung wie eine nationale Preisbindung zu umgehen.5 Zur Begründung des Vorschlags wird ausgeführt, dass das Geschäftsmodell der EU-Versandapotheken allein darauf beruhe, in Deutschland zugelassene Arzneimittel ausschließlich zu dem Zweck vorübergehend aus Deutschland auszuführen, diese bei ihrer anschließenden Wiedereinfuhr nach Deutschland der deutschen Preisbindung für verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel zu entziehen. Die objektiven Umstände bei Fertigarzneimitteln, die aus anderen Mitgliedstaaten direkt an deutsche Patienten geschickt werden, ergäben sich vorliegend aus der auf den jeweiligen Mitgliedstaat beschränkten Verkehrsfähigkeit der zugelassenen Packungen. Dementsprechend falle die allein zum Zwecke der Umgehung nationaler Preisvorschriften vorgenommene Ausfuhr mit anschließender Wiedereinfuhr als missbräuchliche Inanspruchnahme des freien Warenverkehrs bei objektiver Betrachtung nicht unter den Schutz der unionsrechtlichen Grundfreiheiten. Die vorgeschlagene Regelung betreffe allein Arzneimittel, die aus dem Einfuhrstaat stammen und bei ihrem Zwischenaufenthalt im Ausfuhrstaat nicht entsprechend den dortigen Vorschriften verändert , sondern vom Empfänger direkt zurück an Patienten im Einfuhrstaat versandt würden. Da hier die Ausfuhr der Arzneimittel allein durch den Wirtschaftsteilnehmer veranlasst werde, der auch die Wiedereinfuhr betreibe, handele es sich um eine missbräuchliche Inanspruchnahme des freien Warenverkehrs. Die vorgeschlagene Änderung des § 78 AMG orientiert sich an § 4 des Buchpreisbindungsgesetzes (BuchPrG)6 in seiner bis zum 31. August 2016 geltenden Fassung. § 4 BuchPrG sah für grenzüberschreitende Verkäufe folgende Regelungen vor: Absatz 1: Die Preisbindung gilt nicht für grenzüberschreitende Verkäufe innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes. Absatz 2: Der nach § 5 festgesetzte Endpreis ist auf grenzüberschreitende Verkäufe von Büchern innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes anzuwenden, wenn sich aus objektiven Umständen ergibt, dass die betreffenden Bücher allein zum Zwecke ihrer Wiedereinfuhr ausgeführt worden sind, um dieses Gesetz zu umgehen. Zur Begründung dieses Ansatzes wir im Vorschlag darauf verwiesen, dass es dem Gesetzgeber mit Blick auf den Schutz des Buches als Kulturgut als ein zwingender Grund des Allgemeininteresses erst Recht möglich sein müsse, die vor dem 1. September 2016 geltende, von der Europäischen Kommission akzeptierte eingeschränkte Fassung des Ausnahmetatbestands auf verschreibungspflichtige Arzneimittel zu übertragen. Für die weiteren Einzelheiten der Begründung des Vorschlags wird auf die Ausführungen in der Ausschuss-Drs. 18(14)0223(2) verwiesen. 5 Ausschuss-Drs. 18(14)0223(2), S. 3 mit Verweis auf EuGH, Rs. 229/83 (Leclerc), Rn. 27; EuGH, Rs. C-322/01 (Deutscher Apothekerverband), Rn. 129. 6 Buchpreisbindungsgesetz vom 2. September 2002, BGBl. I S. 3448, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 31. Juli 2016, BGBl. I S. 1937. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 6 2.2. Auslegung des Vorschlags Für die folgenden Ausführungen wird die Ratio des Vorschlags dahingehend verstanden, dass er von einer grundsätzlichen Erlaubnis des Versandhandels von RX-Arzneimitteln auch aus dem EU-Ausland nach Deutschland ausgeht, diesen jedoch für den Fall verbietet, dass der Versandhandel nach objektiven Kriterien ausschließlich der Umgehung von nationalen Preisbindungsvorschriften dient. Vor diesem Hintergrund ist tatbestandlich zwischen im EU-Ausland hergestellten und für den Vertrieb in Deutschland zugelassenen RX-Arzneimitteln einerseits und in Deutschland hergestellten und zum dortigen Vertrieb zugelassen RX-Arzneimitteln, die vor dem Weiterverkauf an Endkunden jedoch zu einem Händler ins EU-Ausland verbracht werden, andererseits zu unterscheiden . Das aus einem festzustellenden Missbrauch folgende Versandhandelsverbot wird vorliegend dahingehend verstanden, dass es die Reimportsituation betrifft, in der in Deutschland hergestellte und für den deutschen Markt gemäß §§ 21 ff AMG zugelassene RX-Arzneimittel zunächst aus Deutschland in einen anderen Mitgliedstaat exportiert werden, um anschließend von dort aus im Wege des Einzelhandels an Endverbraucher in Deutschland verschickt zu werden. 2.3. Kontext des Vorschlags Mit der Erstreckung der nationalen Preisbindung auf Reimporte, sofern sie der Umgehung der nationalen Preisbindung dienen, lehnt sich der Vorschlag an die Reimportregelungen zur Buchpreisbindung an. Nach wettbewerbsrechtlicher Kritik der Kommission an der Vereinbarungen zur Bindung von Endabnahmepreisen für Verlagserzeugnisse in Deutschland, Österreich und der Schweiz (sogenannter Sammelrevers)7 wurde in Deutschland8 im Jahr 2000 § 15 des Gesetzes über Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)9 dahingehend ergänzt, dass auch Reimporte von Verlagserzeugnissen der Preisbindung unterliegen, sofern sie der Umgehung der nationalen Preisbindung dienen sollen.10 Zudem wurde die Spruchpraxis des Bundeskartellamtes in das Gesetz aufgenommen, 7 Mitteilung der Kommission gemäß Artikel 19 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 des Rates betreffend einen Antrag auf Negativattest bzw. Freistellung gemäß Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag (Sachen COMP/34.657 - Sammelrevers und COMP/35.245-35.251 - Einzelreverse), ABl. C v. 10. Juni 2000, S. 25; vgl. hierzu Jungermann, Neues zur Buchpreisbindung, NJW 2000, S. 2172. 8 Zur Rechtslage in Österreich vgl. Obwexer, Das österreichische Buchpreisbindungssystem auf dem Prüfstand des Gemeinschaftsrechts, EuR 2008, S. 736 ff. 9 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) in der Fassung des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (G-SIG: 13020826) vom 26.08.1998, BGBl. I 1998 S. 2521. 10 Gesetz zur Sicherung der nationalen Buchpreisbindung (G-SIG: 14019391), BGBl. I 2000 S. 1634, vgl. hierzu BT- Drs 14/3509 (Gesetzentwurf) sowie BT-Drs 14/3699 (Beschlussempfehlung). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 7 wonach eine Preisbindung nur dann durchgesetzt werden kann, wenn sie gedanklich und praktisch lückenlos ist.11 Im Jahr 2002 wurde die Buchpreisbindung eigenständig im BuchPrG12 geregelt. Für grenzüberschreitende Verkäufe bekräftigte § 4 BuchPrG den Grundsatz, dass die Preisbindung nur für Verkäufe innerhalb Deutschlands gilt und als rein nationales Preisbindungssystem mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Mit Verweis auf die Entscheidung des EuGH in der Rs. 229/83 (Leclerc) wird die Preisbindung auch auf grenzüberschreitende Verkäufe von Büchern innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes angewendet, wenn sich aus objektiven Umständen ergibt, dass die betreffenden Bücher allein zum Zwecke ihrer Wiedereinfuhr ausgeführt worden sind, um dieses Gesetz zu umgehen.13 Zur Begründung wird weiter ausgeführt, dass ein solcher Fall dann vorliegen könnte, wenn aus Anlass des konkreten Letztabnehmergeschäfts tatsächlich keine grenzüberschreitende Lieferung nach Deutschland erfolgt oder wenn der Verkauf von Büchern deutscher Verlage mittels Fernkommunikationsmitteln durch einen im Ausland ansässigen Verkäufer oder ein mit ihm verbundenes Unternehmen ausschließlich auf Letztabnehmer in Deutschland ausgerichtet ist oder wenn jemand Bücher in einen ausländischen Staat ausführt oder dies veranlasst, um diese später aufgrund eines einheitlichen Plans von dort selbst oder durch ein verbundenes Unternehmen an Letztabnehmer in Deutschland zu verkaufen.14 Im Jahr 2016 wurde § 4 BuchPrG mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes 15 aufgehoben und die Preisbindung in § 3 BuchPrG n.F. auch auf grenzüberschreitende gewerbs- oder geschäftsmäßige Buchverkäufe an Letztabnehmer in Deutschland erstreckt. Die unionsrechtliche Zulässigkeit dieser Änderung wurde von der Bundesregierung damit begründet, dass inländische und grenzüberschreitende Verkäufe von Büchern gleich behandelt und die Wareneinfuhr nicht behindert werden.16 Eine etwaige Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit bzw. der Dienstleistungsfreiheit im Falle des grenzüberschreitenden gewerbs- oder geschäftsmäßigen Verkaufs an Letztabnehmer in Deutschland können mit Blick auf den Schutz des Buches als Kulturgut als ein zwingender Grund des Allgemeininteresses unionsrechtlich gerechtfertigt werden. 11 Vgl. hierzu Nordemann, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 30 GWB, Rn. 56 ff. sowie Rn. 60 zur Lückenlosigkeit eines preisbindenden Vertriebssystems bei der Möglichkeit von Reimporten aus dem preisbindungsfreien Ausland; vgl. hierzu EuGH, Rs. C-376/92 (Metro/Cartier), Rn. 19 ff. 12 BGBl. I 2002 S. 3448, vgl. hierzu BT-Drs 14/9196 (Gesetzentwurf) sowie BT-Drs 14/9422 (Beschlussempfehlung ). 13 BT-Drs 14/9196, S. 10. 14 BT-Drs 14/9196, S. 10. 15 Gesetz vom 31.07.2016, BGBl. I 2016 S. 1937, vgl. hierzu BT-Drs 18/8043 (Gesetzentwurf) sowie BT-Drs 18/8260 (Beschlussempfehlung und Bericht). 16 BT-Drs 18/8043, S. 8. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 8 3. Vereinbarkeit der vorgeschlagenen Ausgestaltung mit dem Unionsrecht Die vorgeschlagene Erstreckung der Preisbindung auch auf EU-ausländische Versandapotheken zur Reaktion auf eine bestimmte Gestaltung eines grenzüberschreitenden Arzneimittelhandels muss insbesondere mit der primärrechtlichen Warenverkehrsfreiheit vereinbar sein. 3.1. Eingriff in den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit 3.1.1. Sachlicher Schutzbereich Der sachliche Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit ergibt sich aus ihrer Funktion, den freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten im Binnenmarkt zugunsten der Marktteilnehmer gegen einzelstaatliche Beschränkungen rechtsförmig zu sichern und mit dieser Öffnung und Offenhaltung der mitgliedstaatlichen Marktgrenzen zugleich auch die Möglichkeit zum grenzüberschreitenden und binnenmarktweiten Wettbewerb zu eröffnen und zu gewährleisten.17 Erforderlich ist demnach ein grenzüberschreitendes Element. Daher ist Art. 34 AEUV auf die Herstellung und den Vertrieb inländischer Waren nicht anwendbar. Vielmehr ist das Verbot von Einfuhrbeschränkungen auf Waren „aus den Mitgliedstaaten“ sowie aus Drittlandswaren anwendbar, die sich in den Mitgliedstaaten in freiem Verkehr befinden. Dementsprechend bezieht sich das Verbot sowohl auf eingeführte Waren als auch auf die zwangläufig mit der Einfuhr verknüpfte Durchfuhr von Waren. Für das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Elements sind potentielle Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Handel ausreichend, so dass Art. 34 AEUV auch dann Anwendung findet, wenn durch die Maßnahme zumindest auch eingeführte Waren behindert werden, die sich in der gleichen Situation wie inländische Produkte befinden.18 Vor diesem Hintergrund erfasst die Warenverkehrsfreiheit sowohl die freie Ein- und Ausfuhr als auch Reimporte , d.h. die Wiedereinfuhr von Waren, die im jeweiligen Bestimmungsland hergestellt und zunächst exportiert worden sind und die Vorteile des Binnenmarktes in Anspruch nehmen.19 Dementsprechend – und vorbehaltlich einer gerechtfertigten Beschränkung aus nicht rein wirtschaftlichen Gründen – eröffnet die Warenverkehrsfreiheit die Möglichkeit, aus einem Staat exportierte Waren aufzukaufen und sie sodann in diesen Staat zurück zu exportieren, etwa um zwischenstaatliche Preisgefälle auszunutzen.20 17 Müller-Graff, in: v. d. Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 34 AEUV, Rn. 2. 18 Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 34 AEUV, Rn. 21 m.w.N. 19 Vgl. EuGH, Rs. 104/75 (de Peijper), Rn. 12/13; EuGH, Rs. 102/77 (Hoffmann-La Roche/Centrafarm), Rn. 6 ff.; EuGH, Rs. 229/83 (Leclerc), Rn. 26; EuGH, Rs. C-240/95 (Schmit), Rn. 10. 20 Vgl. Europäische Kommission, Mitteilung über den Binnenmarkt für Arzneimittel, KOM(1998) 588 endg., S. 6 f., abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:51998DC0588&qid=1483957353869&from=DE. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 9 3.1.2. Eingriff In seiner Entscheidung in der Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson) hat der EuGH festgestellt, dass die deutsche Preisbindung in den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit eingreift. Nach Ansicht des Gerichtshofes ist sie als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne von Art. 34 AEUV anzusehen. Das Verbot des Art. 34 AEUV erfasst jede Maßnahme der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, die Einfuhren zwischen Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern.21 Die Preisbindung gilt zwar für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gleichermaßen, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben. Jedoch berührt sie die Abgabe von Arzneimitteln durch im Inland ansässige Apotheken und die Abgabe von Arzneimitteln durch in anderen Mitgliedstaaten ansässige Apotheken nicht in gleicher Weise.22 Nach Ansicht des Gerichtshofes ist der Preiswettbewerb für Versandapotheken aufgrund ihres eingeschränkten Leistungsangebots ein wichtigerer Wettbewerbsfaktor als für traditionelle Apotheken, weil es von ihm abhänge, ob Versandapotheken einen unmittelbaren Zugang zum deutschen Markt finden und auf diesem konkurrenzfähig bleiben.23 Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, eine unterschiedslose Geltung der Preisbindung für in- und ausländische Wirtschaftsteilnehmer und somit auch für alle Reimportsituationen für die grenzüberschreitenden Konstellationen mit Blick auf die marktzugangsbehindernde Wirkung als Maßnahme gleicher Wirkung einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Art. 34 AEUV darstellt.24 Dementsprechend wäre die vorgeschlagene Reimportklausel insofern mit der Warenverkehrsfreiheit vereinbar, als sie Marktteilnehmer aus anderen Mitgliedstaaten bei einem grenzüberschreitenden Vertrieb von RX-Arzneimitteln nach Deutschland grundsätzlich von der Preisbindungspflicht ausnimmt und insoweit bereits kein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 34 AEUV vorliegt.25 Bei grenzüberschreitenden Reimportsituationen, bei denen „sich aus objektiven Umständen ergibt, dass die betreffenden Arzneimittel allein zum Zwecke ihrer Wiedereinfuhr ausgeführt worden sind, um damit diese Vorschriften zu umgehen“, soll hingegen die nationale Preisbindung 21 EuGH, Rs. C-141/07 (Kommission/Deutschland), Rn. 28. 22 Zu diesen Kriterien vgl. EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 (Keck und Mithouard), Rn. 16. 23 EuGH, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson), Rn. 24. 24 Zur Relevanz des Kriteriums der Marktzugangsbehinderung gegenüber der Qualifizierung als Produkt- oder Verkaufsmodalität zur Feststellung eines Eingriffs in die Warenverkehrsfreiheit bei unterschiedslos anwendbaren Regelungen vgl. im Überblick Müller-Graff, in: v. d. Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 34 AEUV, Rn. 183 ff.; Purnhagen, JZ 2012, S. 742 ff.; zur Preisbindung als Markzugangsbeschränkung vgl. Mittwoch, Nationale Preisbindung auf dem Prüfstand, EuZW 2016, S. 936 (937 ff.); Brigola, Die Preisbindung für Arzneimittel in der Falle des freien Warenverkehrs, NJW 2016, S. 3761 (3762 f.); zur Abgrenzung zwischen Produkt- oder Verkaufsmodalität vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2016, Art. 34-36 AEUV, Rn. 155 ff.; Streinz, Das Verbot des Apothekenversandhandels mit Arzneimitteln, Eine „Verkaufsmodalität “ im Sinne der Keck-Rechtsprechung, EuZW 2003, S. 37 ff. 25 Vgl. EuGH, Rs. 229/83 (Leclerc), Rn. 26; EuGH, Rs. 355/85 (Driancourt/Cognet), Rn. 9 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 10 weiterhin Anwendung finden. Insoweit könnte für die betreffenden Marktteilnehmer prima facie ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 34 AEUV vorliegen. 3.2. Verbot des Rechtsmissbrauchs Eine andere Bewertung könnte sich aus der Anwendung des unionsrechtlichen Verbots des missbräuchlichen Verhaltens ergeben. 3.2.1. Dogmatische Einordnung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots Das Verbot des Rechtsmissbrauchs als ein „allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“26 ist durch den EuGH entwickelt worden und wirkt sowohl auf den Missbrauch bzw. die Umgehung sowohl des Unionsrechts als auch des nationalen Rechts. Mit Blick auf das Unionsrecht hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt dass „die missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht nicht gestattet [ist].“27 Im Rahmen der Grundfreiheiten hat der EuGH betont, dass es unzulässig sei, sich missbräuchlich durch Inanspruchnahme der Grundfreiheiten der Anwendung der Vorschriften eines Mitgliedstaats zu entziehen.28 Dementsprechend „ist ein Mitgliedstaat […] berechtigt, Maßnahmen zu treffen, die verhindern sollen, dass sich einige seiner Staatsangehörigen unter Missbrauch der durch den EG-Vertrag geschaffenen Möglichkeiten der Anwendung des nationalen Rechts entziehen.“29 Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot ist in ständiger Rechtsprechung allgemein anerkannt, seine dogmatische Verortung ist in der umfangreichen Rechtsprechung des EuGH jedoch nicht eindeutig zu bestimmen.30 Einerseits hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Anwendungsbereich von Bestimmungen des Unionsrechts nicht so weit reichen könne, dass er missbräuchliche Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern deckt und mithin Vorgänge schützt, die nicht im Rahmen des normalen Geschäftsverkehrs , sondern nur zu dem Zweck durchgeführt werden, missbräuchlich in den Genuss von im 26 EuGH, Rs. C-321/05 (Kofoed), Rn. 38, zum Begriff vgl. auch Ottersbach, Rechtsmißbrauch bei den Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes, 2001, S. 33 ff.; GA Maduro, Schlussanträge v. 7. April 2005 zu EuGH, Rs. C-255/02 u.a. (Halifax u.a.), Rn. 62 ff. 27 EuGH, Rs. C-367/96 (Kefalas), Rn. 20; EuGH, Rs. C-373/97 (Diamantis), Rn. 33; EuGH, Rs. C-155/13 (SICES), Rn. 29. 28 Vgl. EuGH, Rs. 33/74 (Van Binsbergen), Rn. 13; EuGH, Rs. 115/78 (Knoors), Rn. 25; EuGH, Rs. 229/83 (Leclerc), Rn. 27; EuGH, Rs. 39/86 (Lair), Rn. 43; EuGH, Rs. C-61/89 (Bouchoucha), Rn. 14; EuGH, Rs. C-370/90 (Singh), Rn. 24; EuGH, Rs. C-148/91 (Veronica), Rn. 12; EuGH, Rs. C-23/93 (TV10), Rn. 21; EuGH, Rs. C-212/97 (Centros), Rn. 24. 29 Vgl. EuGH, Rs. C-212/97 (Centros), Rn. 24; EuGH, Rs. C-167/01 (Inspire Art), Rn. 136; EuGH, Rs. C-436/00 (X und Y), Rn. 41 ff. 30 Vgl. hierzu eingehend Englisch, Verbot des Rechtsmissbrauchs, StuW 2009, S. 3 ff.; GA Maduro, Schlussanträge v. 7. April 2005 zu EuGH, Rs. C-255/02 u.a. (Halifax u.a.), Rn. 60 ff.; GA Mengozzi, Schlussanträge v. 1. April 2014 zu EuGH, Rs. C-83/13 (Fonnship), Rn. 65 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 11 Unionsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen:31 „das Unionsrecht [findet] bei missbräuchlichen Praktiken keine Anwendung“32. Dies lässt darauf schließen, dass der Begriff des (Rechts-)Missbrauchs eine Regel zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Bestimmungen des Unionsrechts darstellt.33 Liegt demnach ein Rechtsmissbrauch vor, so führt dies zur Nichtanwendung der betreffenden Bestimmung des Unionsrechts und damit dazu, dass das betreffende missbräuchliche Verhalten nicht in den Geltungsbereich der Bestimmung fällt. Andererseits lässt sich die Anwendung des Missbrauchsverbots durch den EuGH dahingehend verstehen, dass bei der Prüfung eines missbräuchlichen Verhaltens nicht auf die Ebene des Anwendungsbereichs einer Unionsrechtsnorm, sondern auf die Rechtfertigungsebene abzustellen ist. Dadurch fallen missbräuchliche Handlungen nicht per se aus dem Geltungsbereich der Bestimmungen des Unionsrechts, sondern die Ausübung eines unionsrechtlich verliehenen (subjektiven ) Rechts wird eingeschränkt, und der Eingriff zur Bekämpfung eines missbräuchlichen Verhaltens ist abhängig von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung.34 Dementsprechend hat der Gerichtshof beispielsweise festgestellt, „dass der eventuelle Missbrauch von Rechten, die die [Unions ]rechtsordnung in den Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährt, voraussetzt , dass der Betreffende vom persönlichen Anwendungsbereich des Vertrages erfasst wird, weil er die Voraussetzungen erfüllt, um als ‚Arbeitnehmer‘ […] eingestuft zu werden.“35 In anderen Fällen hat der EuGH die Bekämpfung missbräuchlicher Praktiken aus Gründen des Allgemeininteresses , die Beschränkungen der Verkehrsfreiheiten rechtfertigen können, geprüft.36 Vor dem Hintergrund der nicht eindeutigen dogmatischen Qualifizierbarkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots und seiner verfahrensrechtlichen Folgen erscheint eine differenzierte Betrachtung angezeigt. Dementsprechend wird im Folgenden einerseits auf das Missbrauchsverbot als Regel zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts (hierzu 3.2.2.), andererseits auf das Missbrauchsverbot als Regel zur Beschränkung der Ausübung eines durch das Unionsrecht verliehenen Rechts (hierzu 3.2.3.) abgestellt. 3.2.2. Missbrauchsverbot als Beschränkung des Anwendungsbereichs Ausgehend von dem Ansatz, wonach eine missbräuchliche Nutzung einer Grundfreiheit zur Umgehung nationaler Vorschriften nicht unter dem Schutz des Unionsrechts fällt, könnte sich aus 31 Vgl. EuGH, Rs. C-255/02 (Halifax u. a.), Rn. 68 f.; EuGH, Rs. C-456/04 (Agip Petroli), Rn. 19 f.; EuGH, Rs. C-303/08 (Bozkurt), Rn. 47; EuGH, Rs. C-434/12 (Slancheva sila), Rn. 27. 32 EuGH, Rs. C-456/12 (O. und B.), Rn. 58. 33 Vgl. GA Maduro, Schlussanträge v. 7. April 2005 zu EuGH, Rs. C-255/02 u.a. (Halifax u. a.), Rn 69. 34 Vgl. GA Mengozzi, Schlussanträge v. 1. April 2014 zu EuGH, Rs. C-83/13 (Fonnship), Rn. 62 ff. 35 EuGH, Rs. C-413/01 (Ninni-Orasche), Rn. 31, vgl. auch EuGH, Rs. C-212/97 (Centros), Rn. 18. 36 Vgl. EuGH, Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes), Rn. 35, 55; EuGH, Rs. C-524/04 (Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation), Rn. 74, 80; EuGH, Rs. C-105/07 (Lammers & Van Cleeff), Rn. 29; EuGH, Rs. C-318/10 (SIAT), Rn. 50. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 12 dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot vorliegend ein Ausschluss aus dem sachlichen Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit ergeben. Demnach wäre der sachliche Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit grenzüberschreitend tätige Wirtschaftsteilnehmer nicht eröffnet, wenn Art. 34 AEUV allein zu dem Zweck herangezogen wird, um in missbräuchlicher Weise zwingende nationale Vorschriften zu umgehen und ein Ergebnis herbeizuführen, das den Zielen des Unionsrechts entgegensteht.37 3.2.2.1. Kriterien zur Bestimmung eines Rechtsmissbrauchs Die Feststellung, ob eine missbräuchliche Ausübung des Unionsrechts vorliegt, erfordert nach der ständigen Rechtsprechung38 des Gerichtshofs ein objektives und ein subjektives Element, die als Ausnahme von der Freiheit des Warenverkehrs eng auszulegen sind. Die Feststellung eines Missbrauchs setzt als sog. objektives Kriterium einerseits voraus, dass ein Verhalten die in einer unionsrechtlichen Regelung enthaltenen Bedingungen zwar formal erfüllt, jedoch die Gewährung der daran geknüpften Rechtsfolge bei einer Gesamtwürdigung der objektiven Umstände dem Ziel der Vorschrift zuwiderläuft bzw. das Ziel dieser Regelung nicht erreicht .39 Umgekehrt liegt in der Berufung auf die Grundfreiheiten mit dem Ziel, einer nationalen Vorschrift durch grenzüberschreitendes Handeln auszuweichen, dann kein Missbrauch vor, wenn dadurch eine Situation erreicht wird, die den Zielen des Unionsrechts entspricht und von der jeweiligen Grundfreiheit gerade bezweckt ist.40 Andererseits muss als sog. subjektives Kriterium aus der Gesamtwürdigung der objektiven Umstände hervorgehen, dass mit dem Vorgang im Wesentlichen bezweckt war, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden, die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils mithin wesentlicher Zweck der fraglichen Handlungen ist.41 Vor dem Hintergrund, dass nicht schon die bloße Inanspruchnahme der vom Unionsrecht eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten den Verdacht des Missbrauchs begründen,42 greift das Missbrauchsverbot dann nicht, wenn die fraglichen 37 Vgl. EuGH, Rs. C-206/94 (Brennet), Rn. 24; EuGH, Rs. C-255/02 (Halifax), Rn. 68 f. 38 Vgl. EuGH, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke), Rn. 51 ff.; EuGH, Rs. C-279/05 (Vonk Dairy Products), Rn. 31 ff.; EuGH, Rs. C-434/12 (Slancheva sila), Rn. 29 ff. 39 EuGH, Rs. C -110/99 (Emsland-Stärke), Rn. 52; EuGH, Rs. C-279/05 (Vonk Dairy Products), Rn. 33; EuGH, Rs. C-155/13 (SICES), Rn. 32. 40 Koenig/Engelmann, Schutz von Reimporten durch die Freiheit des Warenverkehrs, EWS 2001, S. 405 (407). 41 Vgl. EuGH, Rs. C-110/99 (Emsland Stärke), Rn. 52 f.; EuGH, Rs. C-255/02 (Halifax u. a.), Rn. 75; EuGH, C-364/10 (Ungarn/Slowakei), Rn. 58. 42 Vgl. EuGH, Rs. C-212/97 (Centros), Rn. 27; EuGH, Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes), Rn. 36 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 13 Handlungen eine andere Erklärung haben können als nur die Erlangung eines (ungerechtfertigten ) Vorteils.43 Zum Beweis für das Vorliegen dieses subjektiven44 Tatbestandsmerkmals, das auf die Absicht der Handelnden abstellt, kann u. a. der rein künstliche Charakter der fraglichen Handlungen berücksichtigt45 oder auf das kollusive Zusammenwirkens der Wirtschaftsteilnehmer abgestellt werden. 3.2.2.2. Folgerungen für den Vorschlag Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der Reimport von RX-Arzneimitteln im Wege des Versandhandels, wie er der Entscheidung des EuGH in der Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson ) zugrunde lag, als eine missbräuchliche Ausnutzung der Warenverkehrsfreiheit zur Umgehung der deutschen Preisbindung für RX-Arzneimittel unter das unionsrechtliche Missbrauchsverbot fällt. Hierfür gehen die folgenden Ausführungen von der Situation aus, dass in Deutschland zugelassene RX-Arzneimittel von einem EU-ausländischen Apotheker in Deutschland von einem Großhändler bzw. Hersteller gekauft werden, die RX-Arzneimittel sodann ins EU-Ausland exportiert werden und schließlich von dort im Wege des Versandhandels an Endverbraucher in Deutschland verkauft werden.46 3.2.2.2.1. Objektives Kriterium Im Rahmen des vorstehenden Sachverhalts resultieren der Dispens von der nationalen Preisbindung und die daraus folgende Begünstigung der EU-ausländischen Versandapotheken aus der Anwendung der Warenverkehrsfreiheit. Mit Blick auf das objektive Kriterium, d.h. das Bestehen eines Widerspruchs zwischen dem Ergebnis und dem mit der Unionsbestimmung verfolgten Ziel, ist zunächst objektiv festzustellen, ob das dem Versandhandel zugrundeliegende Verhalten zur Verschaffung eines Vorteils führt, der dem mit der Warenverkehrsfreiheit verfolgten Ziel zuwiderläuft bzw. trotz formaler Einhaltung der Bedingungen der Warenverkehrsfreiheit ihr Zweck nicht erreicht wird. Insoweit ist von dem Normzweck des Art. 34 AEUV auszugehen, im Rahmen seines Anwendungsbereichs den freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten im Binnenmarkt zugunsten der Marktteilnehmer gegen einzelstaatliche Beschränkungen (nichttarifärer Art) rechtsförmig zu sichern und mit dieser Öffnung und Offenhaltung der mitgliedstaatlichen Marktgrenzen zugleich auch die Möglichkeit zum grenzüberschreitenden und binnenmarktweiten Wettbewerb zu 43 EuGH, Rs. C-255/02 (Halifax u. a.), Rn. 75; EuGH, Rs. C-103/09 (Weald Leasing), Rn. 30; EuGH, Rs. C-155/13 (SICES), Rn. 33; EuGH, Rs. C-423/15 (Kratzer), Rn. 40. 44 Vgl. GA Maduro, Schlussanträge v. 28. Februar 2008 zu EuGH, Rs. C-311/06 (Cavallera), Rn. 44: „Der Missbrauch setzt voraus, dass zwei Kriterien erfüllt sind, die miteinander verbunden sind und beide auf objektiven Elementen gründen.“ 45 EuGH, Rs. C-110/99 (Emsland Stärke), Rn. 53, 58; EuGH, Rs. C-109/01 (Akrich), Rn. 57; EuGH, Rs. C-255/02 (Halifax u. a.), Rn. 81; EuGH, Rs. C-425/06 (Part Service), Rn. 62; EuGH, Rs. C-155/13 (SICES), Rn. 33; EuGH, Rs. C-423/15 (Kratzer), Rn. 41. 46 Vgl. dementsprechend EuGH, Rs. C-322/01 (DocMorris), Rn. 126. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 14 eröffnen und zu gewährleisten.47 Primärer Schutzzweck des Art. 34 AEUV ist die Gewährleistung der grenzüberschreitenden Warenverkehrsfreiheit für die Marktteilnehmer insbesondere durch die Begründung subjektiver Rechte.48 Grundlegend hierfür ist die Ermöglichung des Zugangs zum nationalen Markt für Produkte, die aus einem anderen EU-Mitgliedstaat eingeführt werden, ohne dass es dabei auf die Herkunft dieser Produkte ankommt. Bezogen auf den vorstehenden Sachverhalt scheint vor diesem Hintergrund die Annahme einer Zielverfehlung im Sinne des objektiven Missbrauchskriteriums fernliegend, da sich in den grenzüberschreitenden Handelsgeschäften die Ziele der Warenverkehrsfreiheit verwirklichen, die mitgliedstaatlichen Marktgrenzen zu öffnen und Wettbewerb sowie Binnenmarkteffekte zu ermöglichen .49 3.2.2.2.2. Subjektives Kriterium Fraglich ist, ob mit dem oben genannten Sachverhalt im Wesentlichen bezweckt wird, den unionsrechtlich aus der Warenverkehrsfreiheit folgenden Vorteil – d.h. die Nichtanwendbarkeit der nationalen Preisbindungsregeln – dadurch zu erlangen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden und mithin die Erlangung des Vorteils wesentlicher Zweck der fraglichen Handlungen ist. Gemäß der Rechtsprechung des EuGH könnte dies dann angenommen werden, wenn der grenzüberschreitende Sachverhalt, der die Anwendbarkeit der Warenverkehrsfreiheit begründet, rein künstlichen Charakter besitzt, in Wirklichkeit ein rein interner ist und somit willkürlich in den Anwendungsbereich des Unionsrechts eingeführt worden ist. Vor diesem Hintergrund scheint eine rechtsmissbräuchliche Reimportgestaltung insbesondere dann vorzuliegen, wenn durch ein und denselben Händler Waren aus- und wieder eingeführt werden, um eine künstliche Grenzüberschreitung zu bewirken und die Waren danach im Inland als Importwaren zu veräußern.50 Demgegenüber beruht der oben genannte Sachverhalt auf einem grenzüberschreitenden Handelsgeschäft zwischen Großhändler bzw. Hersteller und Versandapotheke , auf das eine weitere Warentransaktion zwischen Endkunden und der Versandapotheke folgt, die in dem Reimport der zuvor auf der Großhandelsebene exportierten Waren besteht. Dementsprechend finden in diesen Fällen zwei jeweils separat unter die Warenverkehrsfreiheit fallende Handelsgeschäfte auf verschiedenen Marktstufen statt: Einerseits der grenzüberschreitende Bezug von Arzneimittel durch den Apotheker von Großhändlern bzw. Herstellern; andererseits der Vertrieb durch den Apotheker an den Endverbraucher. Diese Warenaustauschbeziehungen erfolgen im Rahmen einer echten wirtschaftlichen Tätigkeit und mithin einer tatsächlichen Ausübung der Warenverkehrsfreiheit. Sie stellen sich a priori auch als voneinander eigenständige 47 Müller-Graff, in: v. d. Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 34 AEUV, Rn. 2. 48 Müller-Graff, in: v. d. Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 34 AEUV, Rn. 2. 49 Zu den Zielen vgl. eingehend Müller-Graff, in: v. d. Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 34 AEUV, Rn. 1 ff. 50 Vgl. GA Darmon, Schlussanträge zu EuGH Rs. 229/83, Leclerc/Au blé vert, Slg. 1985, 1, 13; vgl. auch GA Maduro, Schlussanträge v. 7. April 2005 zu EuGH, Rs. C-255/02 u.a. (Halifax u.a.), Rn. 66 zur „U-Turn- Konstuktion“ sowie hierzu Englisch, Verbot des Rechtsmissbrauchs, StuW 2009, S. 3 (9 f.). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 15 Schritte dar, die auf den jeweiligen Erwägungen der betroffenen Marktteilnehmer beruhen.51 Mit Blick darauf, dass sowohl die Warenausfuhr als auch die spätere Wiedereinfuhr eigenständige Bedeutung für die Binnenmarktverwirklichung haben,52 erscheint es fernliegend, die dem oben genannten Sachverhalt zugrundeliegenden Warentransaktionen als missbräuchliche Handelsgeschäfte anzusehen, die eine künstliche Grenzüberschreitung bewirken.53 Dementsprechend erscheint es auch naheliegend, dass der unionsrechtlich durch die Warenverkehrsfreiheit erlangte Vorteil objektiv mit einer anderen Erwägung als dem Interesse, die nationale Preisbindung zu umgehen, begründet werden kann.54 Insoweit kommt insbesondere die Erwägung in Betracht, dass die Marktteilnehmer im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit– vorbehaltlich spezifischer Beschränkungen der Grundfreiheit – grundsätzlich die Organisationsstrukturen und die Geschäftsmodelle frei wählen können, die sie als für ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten am besten geeignet erachten.55 Der Umstand, dass ein bestimmtes Geschäftsmodell auch Binnenmarkteffekte 56 umfasst, dürfte nicht für die Feststellung ausreichen, dass der betreffende Marktteilnehmer missbräuchlich in den Genuss von unionsrechtlichen Vorteilen kommt.57 In einer Gesamtschau der objektiven Kriterien stellt sich der oben genannte Sachverhalt nicht als künstliches grenzüberschreitendes Handelsgeschäft im Sinne des subjektiven Missbrauchskriteriums dar. 3.2.2.3. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die oben beschriebene Sachverhaltskonstellation nicht die Kriterien des unionsrechtlichen Verbots des missbräuchlichen Verhaltens erfüllt. Dementsprechend fällt sie in den sachlichen Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit. Folglich könnten sich EU-ausländische Versandapotheken mit einem entsprechenden Geschäftsmodell 51 Vgl. EuGH, Rs. C-277/09 (RBS Deutschland Holdings), Rn. 53 sowie Englisch, Verbot des Rechtsmissbrauchs, StuW 2009, S. 3 (13) mit Verweis darauf, dass die ausführenden deutschen Großhändler in dem der Rs. C-322/01 (DocMorris) zugrundeliegenden Sachverhalt keinen Einfluss darauf hatten, ob die von ihnen gelieferten Arzneimittel im Einzelhandel wieder zurück nach Deutschland gelangen würden. 52 Zur Feststellung eines Rechtsmissbrauchs bei Reimportsituationen vgl. beispielsweise EuGH, Rs. 125/76 (Cremer ), Rn. 21; EuGH, Rs. 250/80 (Schumacher), Rn. 16 ff.; EuGH, Rs. C-8/92 (General Milk Products), Rn. 21; EuGH, Rs. C-114/99 (Roquette Frères), Rn. 18 ff.; EuGH, Rs. C-515/03 (Eichsfelder Schlachtbetrieb), Rn. 41 ff. 53 Koenig/Engelmann, Schutz von Reimporten durch die Freiheit des Warenverkehrs, EWS 2001, S. 405 (407). 54 Zur Auslegung des Zweckes vgl. EuGH, Rs. C-367/96 (Kefalas), Rn. 24 ff.; EuGH, Rs. C-212/97 (Centros), Rn. 26 ff. 55 Vgl. EuGH, Rs. C-255/02 (Halifax u. a.), Rn. 73; EuGH, Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes), Rn. 69; EuGH, Rs. C-425/06 (Part Service), Rn. 47; EuGH, Rs. C-103/09 (Weald Leasing), Rn. 27; EuGH, Rs. C-277/09 (RBS Deutschland Holdings), Rn. 53. 56 Müller-Graff, in: v. d. Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 34 AEUV, Rn. 3 ff. 57 Vgl. EuGH, Rs. C-255/02 (Halifax), Rn. 69. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 16 auch weiterhin auf ihre Rechte aus der Warenverkehrsfreiheit berufen, und die nationale Preisbindung fände auf die betreffenden Handelsgeschäfte keine Anwendung. Die Regelung des Vorschlags wäre auf solche Gestaltungen beschränkt, bei denen der Export und der Import sowohl sachlich als auch durch die handelnden Akteure faktisch zusammenfallen. Nicht hierunter dürften jedoch – vorbehaltlich abweichender Feststellungen – die der Entscheidung des EuGH in der Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson) zugrundeliegenden Handelsgeschäfte fallen. Ergänzend ist anzumerken, dass es Sache der nationalen Gerichte ist, gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts und unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung festzustellen, ob die Voraussetzungen eines missbräuchlichen Verhaltens unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls verwirklicht worden sind.58 Die hierfür erforderlichen Tatsachenfeststellungen – insbesondere im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung der Handelsbeziehungen – und die rechtlichen Bewertungen können im Rahmen dieser Ausarbeitung nicht erfolgen. Dementsprechend können die vorstehenden Ausführungen nicht als abschließende Feststellungen zur praktischen Wirksamkeit des dieser Ausarbeitung zugrundeliegenden Vorschlags verstanden werden. 3.2.3. Missbrauchsverbot als Eingriffsrechtfertigung Soweit keine Situation vorliegt, in der von einer rechtsmissbräuchlichen Umgehung der nationalen Vorschriften ausgegangen werden kann, griffe der Vorschlag in die Warenverkehrsfreiheit ein. Eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit könnte sich mit Gründen der Bekämpfung missbräuchlicher Praktiken rechtfertigen lassen, wenn das spezifische Ziel der Beschränkung darin liegt, Verhaltensweisen zu verhindern, die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu errichten, einer nationalen Preisgestaltung zu umgehen , die für den Vertrieb von Waren im Inland zwingend ist.59 Wie vorstehend dargestellt, liegt in der oben beschriebene Sachverhaltskonstellation weder eine rein künstliche Gestaltung, noch sprechen objektive Anhaltspunkte dagegen, dass der mit der Warenverkehrsfreiheit verfolgte Zweck bei einem entsprechenden Vorgehen nicht erreicht wird. Dementsprechend dürfte der Eingriff jedenfalls in der oben beschriebenen Sachverhaltskonstellation nicht aus Gründen der Bekämpfung missbräuchlicher Praktiken gerechtfertigt sein. Im Übrigen sind bei der Rechtfertigung die vom EuGH in der Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson) getroffenen Feststellungen zu berücksichtigen. Danach erlaubt Art. 36 AEUV einem Mitgliedstaat die Beibehaltung oder Einführung von Maßnahmen, die den Handelsverkehr verbieten oder beschränken , wenn diese Maßnahmen u. a. zum Schutz der Gesundheit oder des Lebens von Menschen gerechtfertigt sind. Dabei nimmt der Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen den höchsten Rang unter den vom Unionsrecht geschützten Gütern und Interessen ein, und die Mitgliedstaaten besitzen einen weiten Wertungsspielraum bei der Entscheidung, auf welchem 58 Vgl. EuGH, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke), Rn. 54; EuGH, Rs. C-255/02 (Halifax), Rn. 76; EuGH, Rs. C-515/03 (Eichsfelder Schlachtbetrieb), Rn. 40; EuGH, Rs. C-158/08 (Pometon), Rn. 26; EuGH, Rs. C-155/13 (SICES), Rn. 34; EuGH, Rs. C-607/13 (Cimmino), Rn. 60; EuGH, Rs. C-423/15 (Kratzer), Rn. 42. 59 Vgl. EuGH, Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes), Rn. 55; Englisch, Verbot des Rechtsmissbrauchs, StuW 2009, S. 3 (15 ff.). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 17 Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll.60 Innerhalb dieses Handlungsspielraums müssen Beschränkungen von Grundfreiheiten, die sich aus staatlichen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen ergeben, verhältnismäßig sein. Die fragliche Maßnahme muss dazu geeignet sein, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und sie darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.61 Dabei setzt die Geeignetheit für die Erreichung des geltend gemachten Ziels voraus, dass die Maßnahme dem Anliegen gerecht wird, dieses Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen.62 Eine nationale Regelung ist dann nicht erforderlich , wenn die Gesundheit und das Leben von Menschen genauso wirksam durch Maßnahmen geschützt werden können, die den Handelsverkehr in der Union weniger beschränken. Zudem müssen die Rechtfertigungsgründe, auf die sich ein Mitgliedstaat berufen kann, von einer Untersuchung zur Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von diesem Mitgliedstaat erlassenen Maßnahme sowie von genauen Angaben zur Stützung seines Vorbringens begleitet sein.63 Dementsprechend muss ein nationales Gericht, wenn es eine nationale Regelung darauf prüft, ob sie zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen nach Art. 36 AEUV gerechtfertigt ist, mit Hilfe statistischer Daten, auf einzelne Punkte beschränkter Daten oder anderer Mittel objektiv prüfen, ob die von dem betreffenden Mitgliedstaat vorgelegten Beweise bei verständiger Würdigung die Einschätzung erlauben, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung der verfolgten Ziele geeignet sind, und ob es möglich ist, diese Ziele durch Maßnahmen zu erreichen, die den freien Warenverkehr weniger einschränken.64 Vor diesem Hintergrund stellt der EuGH fest, dass kein hinreichender Nachweis dafür erbracht worden ist, dass das Gebot eines einheitlichen Apothekenabgabepreises für RX-Arzneimittel zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen im Sinne von Art. 36 AEUV geeignet ist.65 Dies betrifft die Notwendigkeit der Gewährleistung einer flächendeckenden und gleichmäßigen Versorgung mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in ganz Deutschland,66 die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Versorgung der Bevölkerung mit verschreibungspflichtigen 60 EuGH, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson), Rn. 24. 61 EuGH, Rs. C-333/14 (The Scotch Whisky Association u. a.), Rn. 54. 62 EuGH, Rs. C-28/09 (Kommission/Österreich), Rn. 126; EuGH, verb. Rs. C-171/07 und C-172/07 (Apothekerkammer des Saarlandes u. a.), Rn. 42 63 EuGH, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson), Rn. 35 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-333/14 (The Scotch Whisky Association u. a.), Rn. 54. 64 EuGH, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson), Rn. 36 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-333/14 (The Scotch Whisky Association u. a.), Rn. 59. 65 Vgl. Generalanwalt Szpunar, Schlussanträge zu Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson), Rn. 44 ff. 66 EuGH, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson), Rn. 37-38. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 164/16 Seite 18 Arzneimitteln67 und der Verhinderung der Gefahren eines ruinösen Preis- und Verdrängungswettbewerbs unter Apotheken68 sowie für die menschliche Gesundheit durch Fehl- oder Mehrgebrauchs von Arzneimitteln und einer Überforderung der Patienten.69 Dementsprechend kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass der Eingriff der Preisbindung in die Warenverkehrsfreiheit nicht mit dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen im Sinne von Art. 36 AEUV gerechtfertigt werden kann, da die Preisbindung nicht geeignet ist, die angestrebten Ziele zu erreichen . 4. Zusammenfassung Die vorgeschlagene Änderung des § 78 AMG ist insofern mit der Warenverkehrsfreiheit vereinbar , als sie Marktteilnehmer aus andere Mitgliedstaaten bei einem grenzüberschreitenden Vertrieb von RX-Arzneimitteln nach Deutschland grundsätzlich von der Preisbindungspflicht ausnimmt und insoweit bereits kein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 34 AEUV vorliegt. Bei grenzüberschreitenden Reimportsituationen, bei denen „sich aus objektiven Umständen ergibt, dass die betreffenden Arzneimittel allein zum Zwecke ihrer Wiedereinfuhr ausgeführt worden sind, um damit diese Vorschriften zu umgehen“, soll hingegen die nationale Preisbindung weiterhin Anwendung finden. Insoweit könnte für die betreffenden Marktteilnehmer prima facie ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 34 AEUV vorliegen. Eine Betrachtung im Licht des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots lässt darauf schließen, dass der Tatbestand des Vorschlags nicht solche Konstellationen erfasst, die mit dem Sachverhalt vergleichbar sind, welcher den Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen C-322/01 (DocMorris) und C-148/15 (Deutsche Parkinson ) zugrunde lag. Dementsprechend beschränkte sich die Wirkung der vorgeschlagenen Änderung des § 78 AMG auf rein künstliche Umgehungsgestaltungen, wie sie beispielsweise bei sogenannten „U-Turn-Geschäften“ angenommen werden können. - Fachbereich Europa - 67 EuGH, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson), Rn. 39. 68 EuGH, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson), Rn. 40, 43. 69 EuGH, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson), Rn. 42.