WD 11 – 3000 – 156/12 Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag Ausarbeitung Klagemöglichkeiten der Deutschen Bundesbank gegen die Europäische Zentralbank (EZB) vor dem Gerichtshof der Europäischen Union Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 2 WD 11 – 3000 – 156/12 Klagemöglichkeiten der Deutschen Bundesbank gegen die Europäische Zentralbank (EZB) vor dem Gerichtshof der Europäischen Union Aktenzeichen: WD 11 – 3000 – 156/12 Abschluss der Arbeit: 22.10.2012 Fachbereich: WD 11: Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 3 WD 11 – 3000 – 156/12 Inhaltsverzeichnis 1 . E i n l e i t u n g 4 2 . Gerichtliche Überprüfung von Handlungen der EZB 5 3 . Die Deutsche Bundesbank als Klägerin einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV 6 3.1. Klagebefugnis bei der Nichtigkeitsklage 6 3.1.1. Adressaten 7 3.1.2. Individuelle und unmittelbare Betroffenheit 7 3.1.3. Rechtsakte mit Verordnungscharakter 9 3.2. Klagebefugnis der Deutschen Bundesbank 10 3.2.1. Klagen gegen Verordnung, Beschlüsse sowie Empfehlungen und Stellungnahmen nach Art. 132 Abs. 1 AEUV 10 3.2.2. Klagen gegen Leitlinien und Weisungen nach Art. 12.1 ESZB/EZB- Satzung 10 3.2.3. Klagen gegen bzw. auf eine Inanspruchnahme nach Art. 12.1 S. 6 ESZB/EZB-Satzung 11 3.2.4. Klagen gegen einen Beschluss nach Art. 14.4 der ESZB/EZB- Satzung 12 3.3. Ergebnis 13 4 . Die Deutsche Bundesbank als Klägerin einer Untätigkeitsklage 13 5 . Die Deutsche Bundesbank als Klägerin einer Schadensersatzklage 14 6 . Zuständigkeit für Klagen der Bundesbank 15 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 4 WD 11 – 3000 – 156/12 1. Einleitung Die Deutsche Bundesbank (Bundesbank) ist als Zentralbank der Bundesrepublik Deutschland integraler Bestandteil des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB).1 Bei ihr handelt es sich um eine Einrichtung des Bundes, die als Anstalt des öffentlichen Rechts zur mittelbaren Bundesverwaltung gehört.2 Die Aufgaben und Befugnisse der Bundesbank im Rahmen ihrer Tätigkeit als Bestandteil des ESZB ergeben sich aus dem Unionsrecht. Sie kann aber gemäß Art. 14.4 des Protokolls Nr. 4 über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank (ESZB/EZB-Satzung)3 auch andere Aufgaben4 wahrnehmen, wenn dies nicht durch den EZB-Rat wegen Unvereinbarkeit mit Zielen und Aufgaben des ESZB untersagt wurde. Bei diesen Tätigkeiten unterliegt die Bundesbank nicht den Weisungen der Europäischen Zentralbank (EZB), sondern handelt als Behörde der Bundesrepublik Deutschland ohne unionsrechtlich garantierten Sonderstatus eigenverantwortlich und auf eigene Rechnung.5 Bei der Wahrnehmung von Aufgaben und Befugnissen, die ihr durch Unionsrecht übertragen wurden , ist die Bundesbank nach Art. 130 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)6 unabhängig. Sie handelt jedoch nach Art. 14.3 ESZB/EZB-Satzung „gemäß den Leitlinien und Weisungen der EZB“. Insofern ist die Bundesbank im ESZB nur ausführende Einheit nach Vorgaben der EZB-Organe.7 Die EZB ist gemäß Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 6. Gedankenstrich Vertrag über die Europäische Union (EUV)8 Organ der Europäischen Union. Sie hat gemäß Art. 129 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 9.3. ESZB/EZB-Satzung mit dem Direktorium und dem EZB-Rat zwei Beschlussorgane. Solange nicht alle Mitgliedstaaten der EU den Euro als Währung eingeführt haben, gibt es als drittes Beschlussorgan den Erweiterten Rat gemäß Art. 44 ESZB/EZB-Satzung. Gemäß Art. 12.1 ESZB/EZB-Satzung erlässt der EZB-Rat, bestehend aus den Präsidenten und Vizepräsidenten der NZB der Länder, die den Euro eingeführt haben, und den Mitgliedern des Direktoriums , die Leitlinien und Beschlüsse, die notwendig sind, um die Erfüllung der dem ESZB übertragenen Aufgaben zu gewährleisten. Er ist es demnach, der die Geldpolitik der EU i.S.d. Art. 127 AEUV festlegt.9 Das Direktorium, welches gemäß Art. 283 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV aus Präsident, 1 Vgl. Art. 282 Abs. 1 AEUV und § 3 S. 1 BBankG. Ausführlich zur Rolle der Bundesbank im ESZB vgl. Geerlings, Die neue Rolle der Bundesbank im Europäischen System der Zentralbanken, DÖV 2003, 322ff. 2 Hahn/Häde, Währungsrecht, 2. Auflage, 2010, § 12, S. 101, Rn. 28. 3 ABl. C 83/230 vom 30.3.2010. 4 Zu den Aufgaben der Bundesbank außerhalb des ESZB vgl. Hahn/Häde, Währungsrecht, § 12, S. 109ff, Rn. 76ff. 5 Hahn/Häde, Währungsrecht, § 16, S. 158, Rn. 116. 6 Konsolidierte Fassung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union i.d.F. des Vertrages von Lissabon vom 9.5.2008 (ABl. C 83/47 vom 30.3.2010). Das Amtsblatt der EU ist online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/RECHreferencepub.do (zuletzt abgerufen am 29.08.2012). 7 Hahn/Häde, Währungsrecht, § 16., S. 155, Rn. 99. 8 Konsolidierte Fassung des Vertrages über die Europäische Union i.d.F. des Vertrages von Lissabon vom 9.5.2008 (ABl. C 83/13 vom 30.3.2010). 9 Hahn/Häde, Währungsrecht, Währungsrecht, § 16., S. 148, Rn. 64. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 5 WD 11 – 3000 – 156/12 Vizepräsident und vier weiteren Mitgliedern besteht, führt gemäß Art. 11.6 der ESZB/EZB- Satzung die laufenden Geschäfte und ist gemäß Art. 12.1 UAbs. 2 S. 2 der ESZB/EZB-Satzung den NZB – also auch der Bundesbank – gegenüber weisungsbefugt. Zu den Aufgaben des erweiterten EZB-Rates, in dem auch die Präsidenten und Vizepräsidenten der Zentralbanken der Länder vertreten sind, die den Euro nicht eingeführt haben, gehören vor allem der Informationsaustausch und die Koordination zwischen den Ländern, deren Währung der Euro ist und den anderen Mitgliedstaaten. Höchster Repräsentant der EZB ist der EZB-Präsident, der zwar keine eigenen Entscheidungsbefugnisse hat, aber Teil aller drei Beschlussorgane ist. Gemäß Art. 282 Abs. 4 AEUV erlässt die EZB durch ihre Beschlussorgane die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Maßnahmen, wobei die Handlungsformen der EZB in Art. 132 AEUV geregelt sind. Danach kann die EZB Verordnungen (1. Gedankenstrich) und Beschlüsse (2. Gedankenstrich ) erlassen sowie Empfehlungen und Stellungnahmen abgeben (3. Gedankenstrich). In der ESZB/EZB-Satzung wird konkretisiert, in welchen Bereichen welche Handlungsformen in Betracht kommen. Gegenstand dieser Ausarbeitung ist die Frage, ob die Bundesbank vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (Gerichtshof) Klage gegen diese Handlungen der EZB erheben kann. 2. Gerichtliche Überprüfung von Handlungen der EZB Der AEUV gewährt Rechtsschutz gegen Handlungen der EZB als Organ der EU in gleichem Maße wie gegen solche der anderen Unionsorgane. Die EZB ist damit in das Rechtsschutzsystem gegen Handlungen der Organe der EU eingegliedert.10 Sie hat Rechtspersönlichkeit und kann daher Prozesspartei eines Verfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union sein. Aktiv- und Passivlegitimation der EZB, d.h. die Fähigkeit Klägerin oder Beklagte eines Gerichtsverfahrens zu sein, sind in Art. 35.1 ESZB/EZB-Satzung in Form einer Verweisung auf die in den Verträgen normierten Klageverfahren geregelt. Art. 35.1 der ESZB/EZB-Satzung begründet insofern keine eigenständige Klagevoraussetzung. Vielmehr wird die EZB als aktiv- und passivlegitimiertes Unionsorgan in die Verfahren der Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV), der Untätigkeitsklage (Art. 265 AEUV), des Streitverfahrens innerhalb des ESZB (Art. 271 lit. d) AEUV i.V.m. Art. 35.6 ESZB/EZB-Satzung) und der Schadensersatzklage (Art. 268 i.V.m. 340 AEUV) einbezogen. 11 Zudem können ihre Handlungen im Rahmen einer inzidenten Normenkontrolle (Art. 277 AEUV) oder im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 AEUV) der gerichtlichen Überprüfung unterzogen werden. Als Klageverfahren mit der Bundesbank als Klägerin kommen dabei allein die Nichtigkeitsklage, die Untätigkeitsklage und die Schadensersatzklage in Betracht. Das Streitverfahren innerhalb des ESZB gemäß Art. 271 lit. d) AEUV i.V.m. Art. 35.6 ESZB/EZB-Satzung bietet keine Rechtsgrundlage für Klagen nationaler Zentralbanken gegen die EZB, sondern eröffnet nur den Rechts- 10 Auch schon unter der Geltung des Vertrags von Nizza war die EZB den Unionsorganen im System der Klagemöglichkeiten weitgehend gleichgestellt. (Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 271 AEUV, Rn. 19). 11 Gaiser, Gerichtliche Kontrolle im Europäischen System der Zentralbanken, EuR, 2002, 517 (518). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 6 WD 11 – 3000 – 156/12 weg für Aufsichtsklagen der EZB, wenn es Streit über die Erfüllung der unionsrechtlichen Pflichten der NZB gibt.12 Damit kann die Bundesbank jedenfalls nicht Klägerin sondern allenfalls Beklagte in einem Verfahren nach Art. 271 lit. d) AEUV sein.13 Zu prüfen ist, unter welchen Voraussetzungen die Bundesbank im Rahmen der jeweiligen Klageart aktivlegitimiert, d.h. aktiv parteifähig ist. Wegen des engen Zusammenhangs zwischen der Aktivlegitimation und den Fragen, ob eine konkrete Handlung der EZB tauglicher Klagegegenstand und die Bundesbank klagebefugt ist, werden auch diese untersucht. 3. Die Deutsche Bundesbank als Klägerin einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV Die Nichtigkeitsklage ist in Art. 263, 264 AEUV geregelt und dient der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Unionsorgane vor den Unionsgerichten. Die Rechtmäßigkeitskontrolle kann dabei zwei verschiedene Zielrichtungen haben: zum einen kann sie den objektiven Schutz der Rechtsordnung bezwecken (so die Nichtigkeitsklagen der privilegierten Kläger), zum anderen kann sie dem Individualrechtsschutz dienen (so die Klagen der natürlichen und juristischen Personen). 3.1. Klagegegenstand Möglicher Klagegegenstand einer Nichtigkeitsklage kann jeder rechtsverbindliche Akt der EZB sein. Das sind nicht nur die in Art. 132 AEUV i.V.m. Art. 34 ESZB/EZB-Satzung erwähnten Rechtsakte, sondern nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH auch „alle Handlungen der [Organe] – ungeachtet ihrer Rechtsnatur oder Form – [...], die dazu bestimmt sind, Rechtswirkungen zu erzeugen.“14 Insofern können auch Leitlinien und Weisungen sowie allgemeine Grundsätze der EZB i.S.d. Artikel 12.1 der ESZB/EZB-Satzung Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein, wenn die betreffende Handlung Rechtswirkung nach außen entfaltet.15 Ob das der Fall ist, ist für den jeweiligen Rechtsakt im Einzelfall zu prüfen. Als Klagegründe kommen die in Art. 263 Abs. 2 AEUV enumerativ aufgeführten Gründe (Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm, Ermessensmissbrauch) in Betracht. 3.2. Klagebefugnis bei der Nichtigkeitsklage In Art. 263 AEUV wird hinsichtlich der Klagebefugnis, d.h. der Frage, ob ein Kläger von einer Maßnahme besonders betroffen ist und deshalb gegen sie klagen kann, zwischen (teil-)privilegierten und nicht privilegierten Klägern unterschieden. Als privilegierte Kläger können ein Mit- 12 Hahn/Häde, Währungsrecht, § 16, S. 161, Rn. 132f. m.w.N. 13 Mangler-Nestler, Par(s) inter partes, Die Bundesbank als nationale Zentralbank im ESZB, 2008, S. 287 m.w.N. 14 EuGH, Rs. C-135/93 (Spanien ./. Kommission), Slg. 1995, I-1651, Rn. 20; Die Entscheidungen des EuGH sind online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/de/index.htm (zuletzt abgerufen am 27.08.2012). 15 Hahn/Häde, Währungsrecht, Währungsrecht, § 19, S. 200, Rn. 5; Gaiser, a.a.O. (534 m.w.N.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 7 WD 11 – 3000 – 156/12 gliedstaat, das Europäische Parlament (EP), der Rat oder die Kommission vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) Nichtigkeitsklage erheben, ohne ein besonderes Rechtsschutzinteresse oder eine besondere Betroffenheit darlegen zu müssen (Art. 263 Abs. 2 AEUV). Der Rechnungshof , die EZB und der Ausschuss der Regionen (AdR) sind als teilprivilegierte Kläger befugt , Nichtigkeitsklage zu erheben, um eine Verletzung ihrer eigenen, durch den Vertrag verliehenen Befugnisse und Rechte geltend zu machen (Art. 263 Abs. 3 AEUV). Gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV können aber auch natürliche und juristische Personen Nichtigkeitsklage erheben. Juristische Personen sind dabei im Unionsrecht alle Körperschaften, Verbände und Handelsgesellschaften des privaten und öffentlichen Rechts, denen das nationale Recht Rechtspersönlichkeit zuerkennt.16 Diese nicht privilegierten Kläger können sich gegen an sie gerichtete oder sie unmittelbar und individuell betreffende Handlungen der EZB sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, wenden. Art. 263 Abs. 4 AEUV stellt insofern hohe Anforderungen an die Klagebefugnis. 3.2.1. Adressaten Unproblematisch klagebefugt sind nicht privilegierte Kläger, wenn sie sich gegen Handlungen wenden, die an sie als Adressaten gerichtet sind (Art. 263 Abs. 4 1. Alt. AEUV). Dann bedarf es nicht der Darlegung einer besonderen Betroffenheit. Unter den Begriff der Handlung fällt dabei jeder Rechtsakt, soweit dieser Rechtswirkungen entfaltet.17 Die Klagebefugnis ergibt sich dann direkt aus der Adressatenstellung des Klägers. 3.2.2. Individuelle und unmittelbare Betroffenheit Nach Art. 263 Abs. 4 2. Alt. AEUV ist ein nicht privilegierter Kläger aber auch klagebefugt, wenn er sich gegen eine ihn unmittelbar und individuell betreffende Handlung wendet, deren Adressat nicht er, sondern ein anderer ist, bzw. die gar keinen spezifischen Adressaten hat.18 Das Kriterium der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit ist dabei eine unverzichtbare Prozessvoraussetzung und dient dazu, festzustellen, ob die Handlung überhaupt in den Interessenkreis des Klägers eingreift und er dadurch beschwert ist. Der Kläger muss ein Interesse an der Aufhebung des Rechtsakts, nicht aber eine subjektive Rechtsverletzung wie etwa bei der deutschen Anfechtungsklage 19, geltend machen.20 Das Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit dient dabei dem Ausschluss lediglich potentiell Betroffener aus dem Kreis der Klagebefugten. Die betreffende 16 Gaiser, EuR 2002, 517 (533 m.w.N.). Siehe auch Frenz, a.a.O., S. 839, Rn. 2897. 17 Frenz, a.a.O., S. 841, Rn. 2903. 18 Frenz, a.a.O., S. 841, Rn. 2904. 19 Vgl. § 42 Abs. 2 VwGO. 20 Frenz, a.a.O., S. 843, Rn. 2910 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 8 WD 11 – 3000 – 156/12 Handlung muss den Kläger ipso facto (durch die Tatsache selbst) ohne weitere Durchführungsmaßnahmen beeinträchtigen.21 Individuell betroffen ist ein Kläger nach der Plaumann-Formel22, wenn ihn der Rechtsakt wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie einen Adressaten. Diese Formel ist vielfach kritisiert worden, da sie im Konflikt mit dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes stehe.23 Zudem wird vertreten, dass wegen des tatbestandlichen Wechsels vom Terminus der „Entscheidung“ in Art. 230 EGV24 zu dem der „Handlung“ in Art. 263 AEUV durch den Vertrag von Lissabon25 die Plaumann-Formel ihren zentralen Anknüpfungspunkt verloren habe.26 So ist vorgeschlagen worden, eine individuelle Betroffenheit schon dann anzunehmen, wenn ein Rechtsakt für einen Einzelnen „auf Grund seiner persönlichen Umstände erhebliche nachteilige Auswirkungen auf seine Interessen hat oder wahrscheinlich haben wird“27. Der EuGH hält jedoch nach wie vor an der Plaumann-Formel fest und verweist die Aufgabe, für effektiven Rechtsschutz zu sorgen, an die nationalen Gerichte.28 In Anwendung der Plaumann- Formel haben sich Fallgruppen für die individuelle Betroffenheit herausgebildet: So ist ein Kläger individuell betroffen, wenn er bestimmte Verfahrensrechte wahrgenommen hat oder sie unverschuldet nicht wahrnehmen konnte, wenn seine Marktposition spürbar beeinträchtigt oder er 21 Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 263, Rn. 36 m.w.N.; Frenz, a.a.O., S. 843, Rn. 2911 m.w.N. 22 EuGH, Rs. C-25/62 (Plaumann ./. Kommission), Slg. 1963, I-211, Rn. 238f. 23 Vgl. u.a. v. Dannwitz, Die Garantie effektiven Rechtsschutzes im Recht der Europäischen Gemeinschaft: Zur Verbesserung des Individualrechtsschutzes vor dem EuGH, NJW 1993, 1108ff.; Calliess, Kohärenz und Konvergenz beim europäischen Individualrechtsschutz - Der Zugang zum Gericht im Lichte des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz, NJW 2002, 3577ff.; Frenz, a.a.O., S. 844, Rn. 2917; Gaitanides, Das Recht der Europäischen Zentralbank, 2005, S. 263ff. m.w.N. Siehe auch EuG, Rs. T-177/01, (Jégo-Quéré), Slg. 2002, II-2365; Schlussanträge GA Jacobs, EuGH, Rs.C-50/00 (Union de Pequenos Agricultores), Slg. 2002, I-6677 (6698), Rn. 60. Siehe auch Petzold, Was sind „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ (Art. 263 Abs. 4 AEUV)? – Zur Entscheidung des EuG in der Rechtssache Inuit, EuR 2012, 443ff ; Herrmann, Individualrechtsschutz gegen Rechtsakte der EU „mit Verordnungscharakter“ nach dem Vertrag von Lissabon, NVwZ 2011, 1352; Thalmann, Zur Auslegung von Art. 263 Abs. 4 AEUV durch Rechtsprechung und Lehre – Zugleich ein Beitrag zur begrenzten Reichweite von Art. 47 Abs. 1 GRC wie auch zur Rolle der historischen Interpretation primären Unionsrechts, EuR 2012, 452ff. 24 Konsolidierte Fassung des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft i.d.F. des Vertrags von Nizza vom 10.03.2001 (ABl. C 325/33 vom 24. Dezember 2002). 25 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13. Dezember 2007 (Abl. C 306/01 vom 17.12.2007). 26 Kerber/Städter, Die EZB in der Krise: Unabhängigkeit und Rechtsbindung als Spannungsverhältnis, Ein Beitrag zum Individualrechtsschutz gegen Rechtsverstöße der EZB, EuZW 2011, 536 (539) m.w.N. 27 EuGH, C-50/00, Schlussanträge GA Jacobs, a.a.O. 28 EuGH, Rs.C-50/00 (Union de Pequenos Agricultores), Slg. 2002, I-6677 (6733ff.), Rn. 36ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 9 WD 11 – 3000 – 156/12 in Unionsgrundrechten verletzt ist, sowie wenn eine unionsrechtliche Norm die Rücksichtnahme auf die Interessen des Klägers gebietet.29 3.2.3. Rechtsakte mit Verordnungscharakter Gemäß Art. 263 Abs. 4 3. Alt. AEUV können sich nicht privilegierte Kläger auch gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, wenden. Das EuG versteht in enger Auslegung der Vorschrift unter Rechtsakten mit Verordnungscharakter nicht-legislative Akte allgemeiner Geltung, im Gegensatz zu Gesetzgebungsakten i.S.d. Art. 289 Abs. 3 AEUV.30 Im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren angenommene Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse allgemeiner Geltung scheiden danach als Rechtsakte mit Verordnungscharakter aus. Daraus folgt, dass solche Rechtsakte nur dann von nicht privilegierten Klägern angefochten werden können, wenn ihnen der Nachweis gelingt, unmittelbar und individuell betroffen zu sein (Art. 263 Abs. 4 2. Alt. AEUV).31 Ob ein Kläger unmittelbar betroffen ist, richtet sich wie auch bei Art. 263 Abs. 4 2. Alt. AEUV danach, ob ihn die angefochtene Handlung ipso facto, also ohne Umsetzungsakte, beeinträchtigt. Insofern ist fraglich, wie das Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit von dem, dass keine Durchführungsmaßnahmen erforderlich werden, abzugrenzen ist. Eingeführt wurde das Kriterium , um dem Einzelnen ein Direktklagerecht nur gegenüber solchen Rechtsakten mit Verordnungscharakter einzuräumen, die keinen Durchführungs-, Umsetzungs- oder Ausführungsakt erfordern.32 Dies wird aber in der Regel33 schon durch das Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit erreicht, so dass die beiden Tatbestandsmerkmale der unmittelbaren Betroffenheit und des Fehlens von Durchführungsmaßnahmen das Gleiche beschreiben.34 Entscheidend ist, dass 29 Zu den Fallgruppen im Einzelnen vgl. Frenz, a.a.O., S. 845ff., Rn. 2921ff. 30 EuG, Rs. R-18/10 (Inuit Tapirit Kanatami), Slg. 2011, II-0000, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62010TO0018%2804%29:DE:HTML (zuletzt abgerufen am 30.08.2012); EuG, Rs. T-262/10 (Microban), Slg. 2011, II-0000, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62010TJ0262:DE:HTML (zuletzt abgerufen am 30.08.2012). Zu dem Meinungsstreit in der Literatur, ob abstrakt-generelle Organhandlungen erfasst oder im Rahmen einer engen Auslegung ausgenommen sein sollen vgl. Herrmann, Individualrechtsschutz gegen Rechtsakte der EU „mit Verordnungscharakter“ nach dem Vertrag von Lissabon, NVwZ 2011, 1352ff.; Thalmann, Zur Auslegung von Art. 263 Abs. 4 AEUV durch Rechtsprechung und Lehre – Zugleich ein Beitrag zur begrenzten Reichweite von Art. 47 Abs. 1 GRCh wie auch zur Rolle der historischen Interpretation primären Unionsrechts, EuR 2012, 452 (455 m.w.N.); Petzold, Was sind „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ (Art. 263 Abs. 4 AEUV)? – Zur Entscheidung des EuG in der Rechtssache Inuit, EuR 2012, 443. 31 Thalmann, a.a.O. (456). 32 Cremer, a.a.O., Art. 263, Rn. 70 m.w.N. 33 Einzige Ausnahme sind nach der Rechtsprechung des EuGH Richtlinien, die den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung oder Durchführung keinerlei Ermessenspielraum einräumen. Dann betrifft die Richtlinie den Einzelnen nicht nur potentiell, sondern wegen der unionsrechtlichen Umsetzungspflicht des Mitgliedstaates „quasiautomatisch “, so dass der Einzelne gegen die Richtlinie bei Vorliegen einer individuellen Betroffenheit im Wege der Nichtigkeitsklage vorgehen kann (vgl. dazu Cremer, a.a.O., Art. 263, Rn. 36 m.w.N.). 34 So auch EuG, Rs. T-262/10 (Microban), a.a.O., Rn. 33ff. Vgl. statt vieler Thalmann, a.a.O. (458). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 10 WD 11 – 3000 – 156/12 Umsetzungsakte nicht erforderlich sind. Damit scheidet die Nichtigkeitsklage aus, wenn aufgrund eines mitgliedstaatlichen Durchführungsaktes eine inzidente Überprüfung vor nationalen Gerichten (ggfls. verbunden mit einer Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV) möglich ist. Des schwierigen Nachweises einer individuellen Betroffenheit bedarf es bei Rechtsakten mit Verordnungscharakter jedenfalls nicht. 3.3. Klagen der Deutschen Bundesbank Die Bundesbank ist gemäß § 2 BBankG eine bundesunmittelbare juristische Person des öffentlichen Rechts und damit aktiv parteifähig/aktivlegitimiert. Sie ist aber weder privilegiert noch teilprivilegiert, so dass sich ihre Möglichkeit, Klägerin einer Nichtigkeitsklage gegen die EZB zu sein, nach den Regelungen für nicht privilegierte Kläger richtet. Sie ist damit gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV klagebefugt, wenn die weiteren oben genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Entsprechend kann die Bundesbank gegen an sie adressierte Beschlüsse, Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen und Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Nichtigkeitsklage erheben. Als problematisch erweist sich zum Teil, in Bezug auf welche Handlungsformen der EZB für die Bundesbank die Möglichkeit der Nichtigkeitsklage besteht. 3.3.1. Klagen gegen Verordnung, Beschlüsse sowie Empfehlungen und Stellungnahmen nach Art. 132 Abs. 1 AEUV Gegen Verordnungen35 der EZB nach Art. 132 Abs. 1 erster Spiegelstricht AEUV i.V.m. Art. 34.1 ESZB/EZB-Satzung kommt ein Klage der Bundesbank zumeist nicht in Betracht, da es ihr in der Regel nicht gelingen wird, ihre „unmittelbare und individuelle“ Betroffenheit, also ihre herausgehobene Stellung gegenüber den anderen NZB, darzulegen.36 An die Bundesbank adressierte Beschlüsse der EZB können hingegen unproblematisch im Wege der Nichtigkeitsklage angefochten werden, die unverbindlichen Empfehlungen und Stellungnahmen nach Art. 132 Abs. 1 dritter Spiegelstrich AEUV dagegen nicht. 3.3.2. Klagen gegen Leitlinien und Weisungen nach Art. 12.1 ESZB/EZB-Satzung Der EZB-Rat erlässt nach Art. 12.1, 14.3 ESZB/EZB-Satzung Leitlinien, um eine einheitliche Umsetzung der Aufgaben des ESZB, insbesondere der Geldpolitik sicherzustellen.37 Gemäß 35 z.B. Mindestreserveverordnungen, Verordnungen im Bereich der Zahlungs- und Verrechnungssysteme nach Art. 22 ESZB/EZB-Satzung. 36 Manger-Nestler, Par(s) inter partes, S. 289; Gaiser, a.a.O., (528); Hahn/Häde, Die Zentralbank vor Gericht, Rechtsschutz und Haftung in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, ZHR 2001, 30 (47ff.). 37 Die ESZB-Satzung ermächtigt den EZB-Rat an drei Stellen, Leitlinien zu erlassen: Art. 31.3 (Richtlinien für Geschäfte der nationalen Zentralbanken mit Währungsreserven); Art. 32.2. S. 2 Richtlinien für die Erfassung der Vermögenswerte der nationalen Zentralbanken); Art. 32.6 (Richtlinien, nach denen die NZB die Salden aus der Verteilung der monetären Einkünfte verrechnen und ausgleichen. Unter Richtlinien sind hier nicht solche nach Art. 2888 Abs. 3 AEUV zu verstehen, sondern Leitlinien i.S.d. Art. 12.1 der ESZB/EZB-Satzung. (Hahn/Häde, Währungsrecht, a.a.O., S. 196). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 11 WD 11 – 3000 – 156/12 Art. 12.1 S. 3, 4 ESZB/EZB-Satzung erteilt das Direktorium zur Ausführung der Geldpolitik gemäß den Leitlinien und Beschlüssen des EZB-Rates den NZB die erforderlichen Weisungen. In der Literatur ist umstritten, ob es sich bei den geldpolitischen Leitlinien des EZB-Rates und den Weisungen des Direktoriums an die NZB um justiziable „Außen-Rechtsakte“ oder um nicht justiziables „Binnenrecht“ handelt.38 So wird in Anlehnung an das deutsche Beamtenrecht vertreten, dass für die Frage nach der Anfechtbarkeit von Leitlinien und Weisungen darauf abzustellen sei, ob durch sie der rechtliche Status der Bundesbank an sich betroffen werde – dann sei das „Grundverhältnis“ tangiert und die Klagemöglichkeit eröffnet – oder, ob sie lediglich das „Betriebsverhältnis“ betreffe, und eine Klage folglich nicht in Betracht komme.39 Geldpolitische Leitlinien und Weisungen würden allein das Betriebsverhältnis betreffen, so diese nicht im Wege der Nichtigkeitsklage justiziabel wären. Nach einer anderen Auffassung komme es auch bei den geldpolitischen Leitlinien und Weisungen darauf an, ob sie verbindliche Rechtswirkungen gegenüber der Bundesbank entfalten und diese unmittelbar und individuell betreffen.40 Für andere ist hingegen entscheidend, ob die konkrete Maßnahme ausnahmsweise Außenwirkung hat.41 Gemäß Art. 14.3 ESZB/EZB-Satzung sind die NZB an die Leitlinien des EZB-Rats gebunden. Entsprechend entfalten diese den NZB gegenüber unmittelbare und individuelle Rechtswirkung, so dass sie gerichtlich überprüfbar sein müssen.42 Dafür spricht auch, dass lediglich die unverbindlichen Stellungnahmen und Empfehlungen vom Rechtsschutz in Art. 263 Abs. 1 AEUV ausdrücklich ausgeschlossen sind. Zudem betont der EuGH in seiner Rechtsprechung, dass alle Maßnahmen die Rechtswirkungen erzeugen und die Interessen des Klägers beeinträchtigen, mit der Nichtigkeitsklage anfechtbar sind.43 Entsprechend können Leitlinien Gegenstand einer Nichtigkeitsklage der Bundesbank sein, wenn sie im Einzelfall verbindliche Rechtswirkungen ihr gegenüber entfalten und sie unmittelbar individuell betroffen ist. Das gleiche gilt für die Weisungen des Direktoriums.44 3.3.3. Klagen gegen bzw. auf eine Inanspruchnahme nach Art. 12.1 S. 6 ESZB/EZB-Satzung Gemäß Art. 12.1 S. 6 ESZB/EZB-Satzung nimmt die EZB die NZB zur Durchführung von Geschäften , die zu den Aufgaben des ESZB gehören, in Anspruch, soweit dies möglich und sachgerecht erscheint. Fraglich ist, ob die Bundesbank als NZB die Anwendung dieser Klausel und die daraus folgende vertikale Zuständigkeitsverteilung zwischen EZB und NZB rügen könnte. 38 Zum Streitstand vgl. Manger-Nestler, a.a.O., S. 290. 39 So z.B. Potacs, Nationale Zentralbanken in der Wirtschafts- und Währungsunion, EuR 1993, 23 (29). 40 So z.B. Gaiser, EuR 2002, 517 (533 f.) 41 Hahn/Häde, ZHR 2001, 30 (41). 42 Manger-Nestler, a.a.O., S. 291; Gaiser, a.a.O. (533f.). 43 So schon EuGH, Rs. 22/70 (Kom./.Rat), Slg. 1971, Rn. 38/42. 44 Gaiser, a.a.O. (533 f.); differenzierend Manger-Nestler, a.a.O., S. 292f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 12 WD 11 – 3000 – 156/12 Auch die Zuständigkeitsverteilung zwischen NZB und EZB könnte als rein intern und damit nicht justiziabel betrachtet werden.45 So wird argumentiert, dass angesichts der Sondervorschrift des Art. 271 lit. d) AEUV nur eine Aufsichtsklage der EZB gegen die NZB in Betracht komme. Schon darin, dass die Vertragsparteien nur der EZB, nicht aber den NZB ein Klagerecht eingeräumt hätten, folge, dass die Rechtsschutzmöglichkeiten der NZB eingeschränkter sind.46 Der nach den allgemeinen Vorschriften erforderliche Nachweis einer unmittelbaren und individuellen Betroffenheit sei aber mit Blick auf die interne Zuständigkeitsverteilung, die keine Außenwirkung habe, nicht zu erbringen. Auf der anderen Seite handelt es sich bei Art. 12.1 S. 6 ESZB/EZB-Satzung um eine Kompetenzabgrenzungsnorm , die teilweise auch als spezielle Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips gesehen wird.47 Nach dieser Auffassung unterliegt die Anwendung dieser Klausel grundsätzlich der gerichtlichen Überprüfung. Zu beachten ist jedoch, dass der EZB mit Blick auf die unbestimmten Rechtsbegriffe „möglich und sachgerecht“ jedenfalls ein weiter Beurteilungsspielraum zusteht, so dass eine etwaige gerichtliche Kontrolle jedenfalls darauf beschränkt wäre, ob die EZB bei der Inanspruchnahme der NZB von einer offensichtlich unzutreffenden Tatsachengrundlage ausging oder ihr erkennbar willkürliche bzw. sachfremde Erwägungen zu Grunde legte.48 Jedenfalls ist die Bundesbank hinsichtlich der Entscheidungen nach Art. 12.1 S. 6 klagebefugt, wenn diese sie im Einzelfall unmittelbar und individuell betreffen. 3.3.4. Klagen gegen einen Beschluss nach Art. 14.4 der ESZB/EZB-Satzung Art. 14.4. ESZB/EZB-Satzung räumt der Bundesbank als NZB das Recht ein, andere als die in der Satzung bezeichneten Aufgaben wahrzunehmen, sofern nicht der EZB-Rat festgestellt hat, dass diese Aufgaben den Zielen und Aufgaben des ESZB widersprechen. Die Feststellung des EZB- Rates ist gerichtlich insofern überprüfbar, als dass sie zum einen an die jeweils handelnde NZB gerichtet sein wird. Da aber auch ein adressatenloser Beschluss des EZB-Rats in die Rechtsstellung der NZB an sich eingreifen würde und sie insofern individuell und unmittelbar betreffen würde, ist davon auszugehen, dass die Bundesbank dagegen im Wege der Nichtigkeitsklage vorgehen könnte. 49 Denn ein Beschluss nach Art. 14.4 ESZB/EZB-Satzung betrifft die Kompetenzen einer NZB außerhalb des ESZB und hat damit nicht nur rein ESZB-interne Wirkung. Eingriffe der EZB in die Kompetenzen der Bundesbank außerhalb des ESZB sind entsprechend grundsätzlich justiziabel.50 45 So Hahn/Häde, Währungsrecht, § 17, S. 178 f., Rn. 58ff. 46 Hahn/Häde, Währungsrecht, § 17, S. 179, Rn. 60 f. m.w.N. 47 Manger-Nestler, a.a.O. S. 296 m.w.N. 48 Manger-Nestler, a.a.O., S. 296. 49 Vgl. Manger-Nestler, a.a.O., S. 297 m.w.N. 50 Hahn/Häde, Währungsrecht, § 17, S. 179, Rn. 62. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 13 WD 11 – 3000 – 156/12 3.4. Ergebnis Zusammenfassend kann die Bundesbank jedenfalls gegen alle an sie adressierten Maßnahmen der EZB klagen. Andere Handlungen sind nur dann für sie justiziabel, wenn sie rechtsverbindlich sind und sie die Bundesbank unmittelbar und individuell betreffen. Einigkeit besteht, dass das im Hinblick auf Eingriffe in Kompetenzen der Bundesbank außerhalb des ESZB der Fall ist. 4. Die Deutsche Bundesbank als Klägerin einer Untätigkeitsklage Die Untätigkeitsklage gemäß Art. 265 AEUV zielt auf die Feststellung einer Vertragsverletzung aufgrund pflichtwidrigen Unterlassens.51 Es handelt sich um eine reine Feststellungsklage, die die Vertragsverletzung nicht beseitigen kann.52 Im Verhältnis zur Nichtigkeitsklage ist sie subsidiär. Die Klage kann gemäß Art. 265 Abs. 1 S. 1 AEUV gegen das EP, den Europäischen Rat, den Rat, die Kommission oder die EZB und gemäß Abs. 1 S. 2 gegen Einrichtungen und sonstige Stellen der Union gerichtet sein, soweit diese pflichtwidrig untätig geblieben sind. Klagegegenstand ist insofern das Unterlassen der EZB, einen Beschluss zu fassen. Ein Beschluss i.S.d. Vorschrift ist dabei jede „Maßnahme, deren Tragweite sich hinreichend bestimmen lässt, so dass sie konkretisiert werden und Gegenstand eines Vollzugs [i.S.d. Art. 233 EG 53] sein kann“54. Insbesondere ist - wie sich aus den anderen Sprachfassungen des AEUV ergibt - an dieser Stelle nicht ein Beschluss i.S.d. Art. 288 Abs. 4 AEUV gemeint.55 Das Unterlassen eines Organbeschlusses kann gemäß Art. 265 Abs. 1 AEUV nur dann Gegenstand der Untätigkeitsklage sein, wenn dadurch Primär- oder Sekundärrecht verletzt sein kann. Auch Art. 265 AEUV unterscheidet zwischen privilegierten und nicht privilegierten Klägern. Ohne den Nachweis einer besonderen Klagebefugnis können wiederum die Mitgliedstaaten und die Organe der Union (vgl. Art. 13 EUV) klagen. Gemäß Art. 265 Abs. 3 AEUV ist jede natürliche und juristische Person im Verfahren einer Untätigkeitsklage aktiv parteifähig. Eine Individualuntätigkeitsklage kann sich nur dagegen richten, dass es eine Unionsinstitution unterlassen hat, einen anderen Akt als eine Empfehlung oder Stellungnahme, also einen verbindlichen Rechtsakt , an den Kläger zu richten. Der begehrte Rechtsakt muss damit individuelle Geltung entfalten und seiner Form oder Rechtsnatur nach an den Einzelnen gerichtet sein. Darüber hinaus muss der Kläger potenzieller Adressat des unterlassenen Rechtsakts oder - wie bei der Nichtigkeitsklage - von seinem Erlass unmittelbar und individuell betroffen sein.56 Bei der Feststellung der Kla- 51 Zur Untätigkeitsklage im Allgemeinen vgl. Ehlers, Die Untätigkeitsklage des Europäischen Gemeinschaftsrechts (Art. 232 Abs. 1 EGV), Jura 2009, 366ff. 52 Frenz, a.a.O., S. 851ff. 53 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, konsolidierte Fassung, ABl. C 325/33 vom 24.12.2002. 54 EuGH, Rs. 13/83 (EP ./. Rat), Slg. 1985, 1513 (1593, Rn. 37). 55 Im Einzelnen zu der Problematik der Auslegung des Begriffs „Beschluss“ in Art. 265 AEUV vgl. Frenz, a.a.O., S. 857, Rn. 2970ff. 56 EuGH, C-68/95 (T- Port), Slg. 1996, I-6065 (6105, Rn. 59). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 14 WD 11 – 3000 – 156/12 gebefugnis sind die Plaumann-Formel und die für die Nichtigkeitsklage entwickelten Erwägungen entsprechend heranzuziehen.57 Entsprechend zu den Klagemöglichkeiten für die Bundesbank im Rahmen der Nichtigkeitsklage, kann sie sich dann im Wege der Untätigkeitsklage an das EuG wenden, wenn die EZB es unterlässt, einen verbindlichen Rechtsakt an sie zu richten. 5. Die Deutsche Bundesbank als Klägerin einer Schadensersatzklage Streitigkeiten über außervertraglichen Schadensersatz nach Art. 340 Abs. 2 und 3 AEUV werden gemäß Art. 268 AEUV im Wege der Schadensersatzklage entschieden. Für Rechtsstreitigkeiten über eine vertragliche Haftung der EU sind mangels einer anderweitigen Zuweisung grundsätzlich die nationalen Gerichte zuständig (vgl. Art. 274 i.V.m. 268 Abs. 1 AEUV). Der Begriff der vertraglichen Haftung ist dabei weit auszulegen und umfasst sämtliche auf einer vertraglichen Abrede mit der EU bzw. mit der EZB beruhenden Haftungsansprüche, unabhängig davon, ob der zugrunde liegende Vertrag privat- oder öffentlich-rechtlicher Natur ist.58 Kläger einer Schadensersatzklage kann jede natürliche und juristische Person sein, so auch öffentlich -rechtliche Körperschaften wie Gemeinden und Bundesländer oder sogar Drittstaaten,59 soweit sie wie Private geschädigt wurden und selbst nicht hoheitlich gehandelt haben.60 Die Schadensersatzklage nach Art. 268 i.V.m. Art. 340 Abs. 3 AEUV richtet sich gegen die EZB selbst und nicht gegen die EU. Der Darlegung einer besonderen Klagebefugnis oder der Durchführung eines besonderen Vorverfahrens bedarf es nicht. Die Bundesbank als juristische Person kann damit grundsätzlich Klägerin einer Schadensersatzklage gegen die EZB sein, wenn ein Schadensersatzanspruch der Bundesbank gegen die EZB in Betracht kommt. Das ist allenfalls denkbar, wenn die Bundesbank selbst durch ein nationales Gericht zum Schadensersatz verurteilt wurde und nunmehr bei der EZB aufgrund ihrer Weisungsgebundenheit bei der Ausführung der Geldpolitik Regress nehmen will. Entscheidende Frage ist dann, ob die EZB oder die Bundesbank für den entstandenen Schaden maßgebend verantwortlich sind.61 57 Siehe oben 3 Die Deutsche Bundesbank als Klägerin einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV, S. 7. 58 Gellermann, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 340, Rn. 4 m.w.N. 59 Zu der umstrittenen Frage, ob privatrechtlich handelnde Mitgliedstaaten parteifähig sein können vgl. Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, 4. Auflage, 2011, Rn. 687. 60 Frenz, a.a.O, S. 878, Rn. 3031f. 61 Zum Ganzen Manger-Nestler, a.a.O., S. 298ff. 6. Zuständigkeit für Klagen der Bundesbank Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 15 WD 11 – 3000 – 156/12 Für Klagen der Bundesbank gegen die EZB ist das EuG erstinstanzlich zuständig. Das EuG ist Teilorgan des Gerichtshofs. Bis zum Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon hieß es „Gericht erster Instanz“. Es ist gemäß Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 AEUV zuständig für Entscheidungen im ersten Rechtszug über Nichtigkeits-, Untätigkeits-, Schadensersatz- und solche Klagen, die sich aufgrund einer Schiedsklausel ergeben (Direktklagen). Die Satzung des Gerichtshofs kann in Abweichung von dieser generellen Zuständigkeitsverteilung Zuständigkeiten dem EuGH vorbehalten . Entsprechend enthält Art. 51 der Satzung des Gerichtshofs die Regelung, dass weiterhin der EuGH für Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen der Mitgliedstaaten und der Organe der EU zuständig ist. Rechtsmittelinstanz für das EuG ist der EuGH.62 - Fachbereich Europa - Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung Seite 16 WD 11 – 3000 – 156/12 62 Zum Ganzen vgl. Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 256 AEUV, Rn. 3 ff.