© 2015 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 153/15 Obergrenzen für Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge im Lichte des EU-Rechts Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 2 Obergrenzen für Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge im Lichte des EU-Rechts Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 153/15 Abschluss der Arbeit: 16.12.2015 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung und Fragestellung 5 2. Quantitative Elemente im geltenden Asyl- und Flüchtlingsrecht der EU 6 2.1. Im Primärrecht 7 2.2. Im Sekundärrecht 8 2.2.1. Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU 8 2.2.2. Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU 9 2.2.3. Dublin-III-Verordnung Nr. 604/2013 10 2.2.4. Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU 11 2.2.5. Massenzustrom-Richtlinie 2001/55/EG 11 2.2.6. Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG 12 2.2.7. Ratsbeschlüsse über vorläufige Maßnahmen zugunsten von Italien und Griechenland 13 2.2.8. Zwischenergebnis 13 2.3. Ergebnis 14 3. Obergrenzen bei der Aufnahme von international Schutzsuchenden im Lichte des Unionsrechts 14 3.1. Auf Unionsebene 14 3.1.1. Rechtsetzungsermächtigung 14 3.1.2. Allgemeine Erwägungen zur Vereinbarkeitsprüfung am Maßstab der Art. 18 und 19 GRC 16 3.1.3. Vereinbarkeit mit Art. 18 GRC 17 3.1.3.1. (Kein) Recht auf Asyl 17 3.1.3.2. Schutz vor Aus- und Zurückweisung 18 3.1.3.2.1. Schutzgehalt und Eingriff 18 3.1.3.2.2. Rechtfertigungserwägungen 20 3.1.3.3. Zwischenergebnis 21 3.1.4. Vereinbarkeit mit Art. 19 GRC 22 3.1.4.1. Art. 19 Abs. 1 GRC: Verbot der Kollektivausweisung 23 3.1.4.1.1. Schutzgehalt 23 3.1.4.1.2. Rechtfertigungserwägungen 26 3.1.4.1.3. Zwischenergebnis 27 3.1.4.2. Art. 19 Abs. 2 GRC: Verbot der individuellen Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung 27 3.1.4.2.1. Schutzgehalt 28 3.1.4.2.2. Rechtfertigungserwägungen 28 3.1.5. Vereinbarkeit mit Art. 47 GRC 29 3.1.6. Ergebnis 30 3.1.7. Sekundärrechtlich vorgesehene Obergrenzen für einzelne Mitgliedstaaten 31 3.2. Auf mitgliedstaatlicher Ebene 31 3.2.1. Umfang der unionsrechtlichen Pflicht zur Gewährung internationalen Schutzes 32 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 4 3.2.1.1. Dublin-III-Verordnung 32 3.2.1.2. Asylverfahrensrichtlinie 35 3.2.2. Zulässigkeit einer Obergrenze bei Bestehen unionsrechtlicher Pflichten 35 3.2.2.1. Mitgliedstaatliche Obergrenze auf Grundlage von Art. 72 AEUV? 36 3.2.2.1.1. Art. 72 AEUV als Abweichungsbefugnis 36 3.2.2.1.2. Tatbestandliche Voraussetzungen und unionsgerichtliche Kontrolle 37 3.2.2.1.3. Bedeutung sekundärrechtlicher Konkretisierungen 39 3.2.2.1.4. Einführung einer Obergrenze auf Grundlage von Art. 72 AEUV 40 3.2.2.2. Bedeutung der Art. 18, 19 und 47 GRC 42 3.2.2.3. Ergebnis 43 3.2.3. Zulässigkeit einer Obergrenze bei Nichtbestehen unionsrechtlicher Pflichten 43 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 5 1. Einleitung und Fragestellung Vor dem Hintergrund der Aussagen von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, wonach „das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte […] keine Obergrenze [kennt]; das gilt auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle eines Bürgerkriegs zu uns kommen“1, wird der Fachbereich um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht: 1. Inwieweit ist es zutreffend, dass das Grundrecht auf Asyl und der Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge „keine Obergrenze kennt"? 2. Inwieweit spielen quantitative Überlegungen und Faktoren im Asyl- und Flüchtlingsrecht und bei der Aufnahme von Schutzsuchenden generell eine Rolle? 3. Inwieweit wären Zurückschiebungen Schutzsuchender ab Erreichen einer bestimmten Zahl bereits Aufgenommener bzw. Schutzsuchender mit Art. 16a GG, mit dem refoulement-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bzw. der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und mit den EU-Asylrichtlinien und der EU-Grundrechte-Charta vereinbar? Bei der Beantwortung der Fragen soll auch die entsprechende Rechtsprechung deutscher bzw. europäischer Gerichte berücksichtigen werden. Die vorliegende Bearbeitung wendet sich den unionsrechtlichen Maßstäben für die Beantwortung dieser Fragen zu. Hinsichtlich der verfassungs- und völkerrechtlichen Beurteilung wird auf die Ausarbeitungen des Fachbereichs WD 2 verwiesen, die im Zusammenhang mit dem Auftrag per elektronischer Nachricht vom 18. November 2015 übermittelt wurden.2 Soweit erforderlich, werden die dortigen Aussagen auch in dieser Ausarbeitung in Bezug genommen. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass die EU-rechtlichen Vorgaben zu den hier gestellten Fragen das einschlägige nationale Recht überwölben und diesem im Konfliktfall aufgrund des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs vorgehen.3 Völkerrechtlichen Bindungen unterliegen die EU und das von ihr gesetzte Sekundärrecht nur insoweit, als die EU selbst Vertragspartei völkerrechtlicher Abkommen geworden ist, völkergewohnheitsrechtliche Normen bestehen , an die auch die EU als internationale Organisation gebunden ist oder – wie im Fall der Gen- 1 Vgl. etwa http://www.rp-online.de/politik/deutschland/angela-merkel-das-grundrecht-auf-asyl-kennt-keineobergrenze -aid-1.5383275 (letztmaliger Abruf am 16.12.15). 2 Siehe insbesondere die Ausarbeitung von WD 2 vom 29.09.2015 (3000 148/15) „Kapazitätsgrenzen beim Grundrecht auf Asyl“ (im Folgenden: WD 2, Kapazitätsgrenzen) sowie den Sachstand von 09.11.2015 (WD 2 – 3000 165/15) „Die Aufnahme von Flüchtlingen zwischen rechtlicher Verpflichtung und politischem Ermessen“ (im Folgenden: WD 2, Aufnahme von Flüchtlingen). 3 Vgl. Thym, Schnellere und strengere Asylverfahren – Die Zukunft des Asylrechts nach dem Beschleunigungsgesetz , NVwZ 2015, S. 1625 (1628), unter Verweis auf die sachliche Reichweite des europäisierten Flüchtlingsrechts . Siehe auch Hopfauf, Zur Umwandlung des Asylgrundrechts in eine objektive Gewährleistung, ZRP 2015, S. 226 (229), der diese Erkenntnis allerdings erst am Ende seiner verfassungsrechtlichen Erwägungen zum Ausdruck bringt. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 6 fer Flüchtlingskonvention (GFK) nach Art. 78 Abs. 1 S. 2 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) – eine primärrechtliche Pflicht zur Beachtung völkervertraglicher Normen besteht, obgleich die EU selbst nicht Vertragspartei ist.4 Soweit insbesondere Völkervertragsrecht Bestandteil der Unionsrechtsordnung geworden ist, steht es im Rang zwischen dem Primärrecht und dem organgeschaffenen Sekundärrecht; im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten und deren Recht nimmt es Teil am Anwendungsvorrang des Unionsrechts.5 Im Folgenden wird zunächst der Frage nachgegangen, inwieweit nach geltendem EU-Recht quantitative Elemente im geltenden Asyl- und Flüchtlingsrecht sowie speziell bei der Aufnahme von Asyl- und Bürgerkriegsflüchtlingen eine Rolle spielen (siehe unter 2.). Anschließend wird erörtert , ob die Verankerung einer kapazitätsmäßigen Obergrenze für deren Aufnahme auf Unionsoder mitgliedstaatlicher Ebene in Übereinstimmung mit EU-Recht vorgesehen werden könnten (siehe unter 3.). Vorweg sei darauf hingewiesen, dass das Unionsrecht terminologisch und materiell zwischen Flüchtlingen, subsidiär und vorübergehend Schutzberechtigten unterscheidet.6 Während die erste Personengruppe auf die GFK zurückgeht und gemeinhin sog. politisch Verfolgte (asylberechtigte ) Flüchtlinge umfasst, unterfallen die in der Auftragsfrage ebenfalls angesprochenen Bürgerkriegsflüchtlinge bei Nichterfüllung der GFK-Flüchtlingseigenschaft in der Regel der Kategorie der subsidiär Schutzberechtigten.7 Beide zusammen werden im Unionsrecht als international Schutzberechtigte bezeichnet. Diese Formulierung soll im Weiteren verwendet werden, soweit beide Personengruppen gemeinsam adressiert werden. Vorübergehend Schutzberechtigte stellen demgegenüber eine gesonderte (formale) Kategorie dar, die bisher in praktischer Hinsicht nicht relevant geworden ist.8 2. Quantitative Elemente im geltenden Asyl- und Flüchtlingsrecht der EU Bei der Betrachtung des geltenden EU-Rechts ist im Folgenden zwischen dem primären und dem sekundären Asyl- und Flüchtlingsrecht zu unterscheiden (siehe unter 2.1. bzw. 2.2.). 4 Siehe zur völkerrechtlichen Einbettung der EU-Asylpolitik und der differenziert zu betrachtenden Rechtsbindung Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 56. Ergänzungslfg. 2015 (im Folgenden : Grabitz/Hilf/Nettesheim), Art. 78 AEUV, Rn. 6 ff., 16 f. Allgemein zu den Rechtsquellen des Völkerrechts im Rahmen der Unionsrechtsordnung Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 9. Aufl. 2014 (im Folgenden : Haratsch/Koenig/Pechstein), Rn. 439 ff. 5 Vgl. Vöneky/Beylage-Haarmann, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fn. 4), Art. 216 AEUV, Rn. 48. 6 Vgl. Art. 78 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Buchst. a) bis c) AEUV. Siehe dazu auch sogleich. 7 Siehe dazu unten unter 2.2.1, S. 7 f. Vgl. auch die Ausführungen von WD 2, Aufnahme von Flüchtlingen (o. Fn. 2), S. 4 f. 8 Siehe dazu unten unter 2.2.5, S. 9 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 7 2.1. Im Primärrecht Blickt man zunächst auf die einschlägige Zuständigkeitsvorschrift bzw. Rechtssetzungsermächtigung der EU im Bereich des Asyl- und Flüchtlingsrechts, Art. 78 AEUV, ist jedenfalls hinsichtlich der dabei bestehenden Zielsetzung eine Bedeutung quantitativer Elemente nicht erkennbar: Art. 78 Abs. 1 Satz 1 AEUV verpflichtet die EU auf die Entwicklung einer gemeinsamen Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, die Drittstaatsangehörigen, die internationalen Schutz benötigen, einen angemessenen Status anbietet und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung (non-refoulment) gewährleistet. Diese Politik muss nach Art. 78 Abs. 1 Satz 2 AEUV mit der GFK sowie anderen einschlägigen (Menschenrechts-)Verträgen im Einklang stehen. Quantitative Elemente finden somit in Art. 78 Abs. 1 AEUV keine Erwähnung . Gleiches gilt für die durch Art. 78 Abs. 1 Satz 2 AEUV als Rechtmäßigkeitsmaßstab in Bezug genommene GFK. Diese enthält keine Vorschriften, die eine Bedeutung von quantitativen Elementen bei der Aufnahme von Flüchtlingen bzw. deren Begrenzung erkennen lassen. Das gilt erst recht für die nach dieser Vertragsvorschrift ebenfalls zu beachtenden Verträge zum internationalen Menschenrechtsschutz, die (nur) einen mittelbaren Bezug zum Asyl- und Flüchtlingsrecht aufweisen, wie etwa die EMRK in Art. 3 sowie Art. 4 Zusatzprotokoll Nr. 4 zur EMRK (ZP IV).9 Eine gewisse Verankerung finden quantitative Erwägungen indes in zwei Rechtssetzungsermächtigungen des Art. 78 Abs. 2 AEUV: Art. 78 Abs. 2 Buchst. c) AEUV enthält eine ausdrückliche Ermächtigung zum Erlass von gemeinsamen Regelungen für den vorübergehenden Schutz von Vertriebenen im Falle eines Massenzustroms. Art. 78 Abs. 3 AEUV ermächtigt den Rat zum Erlass vorläufiger Maßnahmen für den Fall, dass sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden. In beiden Fällen stellt das quantitative Element aber nur ein auf tatsächliche Umstände abstellendes Tatbestandsmerkmal dar, welches ein gesetzgeberisches Tätigwerden ermöglicht, um diesen besonderen Situationen zu begegnen. Dem Wortlaut nach ergeben sich hieraus jedenfalls keine zahlenmäßigen Vorgaben oder Einschränkungsmöglichkeiten für die sekundärrechtliche Einräumung einer Schutzgewährung in diesen beiden spezifischen Fällen. Einen nur mittelbaren Ausdruck finden quantitative Elemente sodann in der Solidaritätsklausel des Art. 80 AEUV. Nach dessen Satz 1 gilt für die EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik und ihre Umsetzung der Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, einschließlich in finanzieller Hinsicht. Gemäß Art. 80 Satz 2 AEUV enthalten die aufgrund der Art. 77 ff. AEUV erlassenen Rechtsakte der Union, immer wenn dies erforderlich ist, entsprechende Maßnahmen für die Anwendung dieses Grundsatzes. Diese Querschnittsklausel , die selbst keine vertragsunmittelbaren Rechte und Pflichten der Unionsorgane oder der Mitgliedstaaten begründet10, verfolgt das Ziel der solidarischen Lastenteilung unter den 9 Vgl. zu den von Art. 78 Abs. 1 Satz 2 AEUV in Bezug genommenen Abkommen, Progin-Theuerkauf, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015 (im Folgenden: von der Groeben /Schwarze/Hatje), Art. 78 AEUV, Rn. 14; Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fn. 4), Art. 80 AEUV, Rn. 16. Siehe zu Art. 3 EMRK und Art. 4 ZP IV eingehend unten unter 3.1.4., S. 19. 10 Vgl. Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fn. 4), Art. 80 AEUV, Rn. 4. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 8 Mitgliedstaaten.11 Die (politische) Bedeutung des Art. 80 AEUV dürfte umso größer sein, je mehr einzelne Mitgliedstaaten im Vergleich zu anderen mit einem zahlenmäßig besonders hohen Zustrom an Flüchtlingen und Asylsuchenden konfrontiert werden. Aus dem rechtspolitischen Anliegen einer angemessenen Lastenverteilung unter den Mitgliedstaaten lassen sich jedoch keine zahlenmäßigen Vorgaben für die sekundärrechtliche Einräumung oder Einschränkung einer Schutzgewährung ableiten. Von Bedeutung sind auf primärrechtlicher Ebene noch Art. 18 und Art. 19 der EU-Grundrechte- Charta (GRC). Art. 18 GRC regelt ausweislich seiner amtlichen Bezeichnung das Asylrecht.12 Nach dem Wortlaut der Bestimmung wird dieses Recht nach Maßgabe der GFK sowie der beiden EU-Verträge und damit insbesondere Art. 78 AEUV gewährleistet. Unmittelbare oder mittelbare Bezugnahmen auf quantitative Elemente enthält die Vorschrift somit nicht. Gleiches gilt für Art. 19 GRC, nach dessen Abs. 1 Kollektivausweisungen unzulässig sind. Art. 19 Abs. 2 GRC enthält ein individualbezogenes Verbot der Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung in bzw. an Staaten, in dem für die betreffende Person das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass sich dem Wortlaut der genannten Primärrechtsbestimmungen keine quantitativen Elemente entnehmen lassen, die in Richtung einer zahlenmäßigen Bestimmung oder Begrenzung der Aufnahme von international Schutzsuchenden weisen. Eine andere Frage ist, ob und inwieweit derartige Vorgaben auf Grundlage bzw. im Lichte der aufgeführten Primärrechtsbestimmungen erlassen werden könnten (siehe dazu unten unter 3.). 2.2. Im Sekundärrecht Auf Grundlage des Art. 78 Abs. 2 und 3 AEUV bzw. der Vorgängerregelungen im EG-Vertrag hat die EU mehrere Rechtsakte erlassen, die die (Ziel-)Vorgaben des Art. 78 Abs. 1 AEUV sowohl in materieller als auch in prozeduraler Hinsicht ausgestalten. 2.2.1. Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU In der für die Anerkennung und Aufnahme international Schutzsuchender in materieller Hinsicht maßgeblichen sog. Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU13, die auf Art. 78 Abs. 2 Buchst. a) und b) AEUV gestützt ist, finden sich keine quantitativen Elemente im Zusammenhang mit einer zahlenmäßigen Bestimmung oder Begrenzung der Aufnahme von international Schutzsuchenden. Zwar sind sich dort – neben der Regelung der für eine Anerkennung als Flüchtling [vgl. Buchst. 11 Vgl. Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fn. 4), Art. 80 AEUV, Rn. 2. 12 Ob es sich hierbei um ein einklagbares Grundrecht oder lediglich einen objektiv zu beachteten Grundsatz im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC handelt, ist umstritten, vgl. Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 18 GRC, Rn. 3, mit weiteren Nachweisen. Siehe dazu unten unter 3.1.2.1., S. 14. 13 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. 2011 L, 337/9, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal -content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32011L0095&from=DE (letztmaliger Abruf am 16.12.15). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 9 a)] oder subsidiär Schutzberechtigter [vgl. Buchst. b)] notwendigen Voraussetzungen – auch Vorschriften über den Ausschluss bzw. die Aberkennung oder Ablehnung eines Schutzstatus in Art. 12 bzw. Art. 17 der Qualifikationsrichtlinie enthalten. Solche Maßnahmen können aber nur auf individualbezogene („qualitative“) Gründe gestützt werden wie beispielsweise die Begehung einer schweren Straftat oder weil der Antragsteller eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. 2.2.2. Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU Die Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU14 ist auf Art. 78 Abs. 2 Buchst. d) AEUV gestützt und legt in Anknüpfung an die materiellen Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie die Verfahrensgrundsätze für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes fest (vgl. Art. 1). Zwar befasst sich dieser Rechtsakt an mehreren Stellen mit der Kapazitätsproblematik einer großen Anzahl von Antragstellern und weist insoweit quantitative Elemente auf. So gibt Art. 6 Abs. 5 der Asylverfahrensrichtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten den Registrierungszeitraum auf zehn Arbeitstage verlängern können, wenn eine große Anzahl von Personen gleichzeitig internationalen Schutz beantragt. Nach Art. 14 Abs. 1 UAbs. 2 können die Mitgliedstaaten die persönliche Anhörung der Antragsteller vorübergehend durch andere als die eigentlich zuständige Behörde durchführen lassen, wenn das Standardverfahren aufgrund der großen Anzahl gleichzeitig eingehender Anträge auf internationalen Schutz unmöglich ist. Auch Art. 31 Abs. 3 Buchst. b) und Art. 43 Abs. 3 beinhalten Sonderregelungen für den Fall einer großen Anzahl von Schutzanträgen . In diesem Fall können die Mitgliedstaaten nach Art. 31 Abs. 3 das Prüfungsverfahren um neun Monate verlängern bzw. gemäß Art. 43 Abs. 3 die besonderen Grenzverfahren auch in den Fällen anwenden, in denen die Antragsteller normalerweise in der Nähe der Grenze oder Transitzone untergebracht werden. Wie diese Beispiele zeigen, folgt aus der quantitativ betrachteten Prüfungskapazität eines Mitgliedstaates aber keine Berechtigung zur zahlenmäßigen Bestimmung oder Begrenzung von Schutzsuchenden, sondern nur eine Ermächtigung zur Verfahrensänderung. 14 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. 2013, L 180/60, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32013L0032&from=DE (letztmaliger Abruf am 16.12.15). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 10 2.2.3. Dublin-III-Verordnung Nr. 604/2013 Die auf Art. 78 Abs. 2 Buchst. e) AEUV gestützte Dublin-III-Verordnung (EU) Nr. 604/201315 regelt die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten untereinander für die (materielle) Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz. Der Qualifikations- und der Asylverfahrensrichtlinie ist sie insoweit vorgelagert. Die Zuständigkeit zur Antragsprüfung wird einem Mitgliedstaat nach der Dublin-III-Verordnung aufgrund unterschiedlicher Kriterien, die in einer bestimmten Rangfolge zur Anwendung gelangen , zugewiesen (vgl. Art. 7 ff. Dublin-III-VO).16 Zu diesen Kriterien gehören etwa das vorrangige, aber praktisch wenig relevante Vorliegen besonderer Beziehungen zwischen Antragsteller und Mitgliedstaat (z.B. durch in dem Mitgliedstaat befindliche Familienangehörige, vgl. Art. 8 bis 11 Dublin-III-VO). Fehlen diese liegt die Zuständigkeit in der Regel beim Einreisemitgliedstaat, sodann beim Aufenthaltsstaat des Antragstellers (vgl. Art. 13 Dublin-III-VO). Im Hinblick auf die Zuständigkeitsfeststellung spielen quantitative Elemente, jedenfalls dem Wortlaut nach, keine Rolle. Noch im Gesetzgebungsverfahren zur Dublin-II-Verordnung hatte die Kommission 2008 allerdings einen Aussetzungsmechanismus vorgeschlagen, der immer dann greifen sollte, wenn sich ein Mitgliedstaat in einer Notsituation befindet, „die seine Aufnahmekapazitäten, sein Asylsystem oder seine Infrastruktur außergewöhnlich schwer belastet.“17 Mit diesem Vorschlag konnte sie sich aber nicht durchsetzen. Kritisiert wurde insoweit, dass ein solcher Aussetzungsmechanismus Mitgliedstaaten mit schlecht funktionierenden Asylsystemen auch noch dafür belohnen würde.18 Geregelt wurde in Art. 33 der Dublin-III-Verordnung jedoch ein Mechanismus zur Frühwarnung, Vorsorge und Krisenbewältigung. Dieser soll zur Anwendung gelangen, wenn „die Anwendung der vorliegenden Verordnung infolge einer konkreten Gefahr der Ausübung besonderen Drucks auf das Asylsystem eines Mitgliedstaats und/ oder von Problemen beim Funktionieren des Asylsystems eines Mitgliedstaats beeinträchtigt sein könnte“ (vgl. Art. 33 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung ). Droht eine derartige Gefahr, kann die Kommission den hiervon betroffenen Mitgliedstaat 15 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neu-fassung), ABl. 2013 L, 180/31, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=OJ:L:2013:180:0031:0059:DE:PDF (letztmaliger Abruf am 16.12.15). 16 Siehe hierzu die kurze Darstellung bei Bergmann, Das Dublin-Asylsystem, ZAR 2015, S. 81 (83). 17 Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, KOM(2008) 820 final, Art. 31, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=COM:2008:0820:FIN:DE:PDF (letztmaliger Abruf am 16.12.15). 18 Progin-Theuerkauf, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 80 AEUV, Rn. 7. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 11 zur Ausarbeitung und Umsetzung von präventiven Aktions- und weitergehend auch Krisenbewältigungsaktionsplänen auffordern (vgl. Art. 33 Abs. 1, 2 Dublin-III-Verordnung). Zwar ist in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich von einer hohen Zahl an international Schutzsuchenden die Rede. Es liegt aber auf der Hand, dass dieser Umstand ein Hauptgrund für das Entstehen eines „besonderen Drucks“ sein kann. Welche Maßnahmen von Seiten des betroffenen Mitgliedstaates in den Plänen vorzusehen sind, gibt Art. 33 Dublin-III-Verordnung zwar nicht vor. Dass hierzu jedenfalls keine zahlenmäßige Begrenzung der Aufnahme von international Schutzsuchenden gehört, ergibt sich aus der Zielvorgabe für den Krisenbewältigungsaktionsplan. Nach Art. 33 Abs. 3 UAbs. 1 Dublin-III-Verordnung soll dieser „während des gesamten Prozesses die Wahrung des Asylrechts der Union, insbesondere der Grundrechte der Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz stellen, gewährleisten.“ 2.2.4. Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU Ein an das Kriterium der Aufnahmekapazität angelehnter Aspekt findet sich sodann auch in der sog. Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU19 wieder, die auf Art. Art. 78 Abs. 2 Buchst. f) AEUV gestützt ist. Zweck dieses Rechtsaktes ist die Festlegung von Normen für die Aufnahme von Antragstellern auf internationalen Schutz in den Mitgliedstaaten (vgl. Art. 1). Sie erfasst somit den Zeitraum von Antragstellung bis zur Entscheidung über das Vorliegen der in der Qualifikationsrichtlinie geregelten Voraussetzungen. Im Zusammenhang mit den in Art. 18 Aufnahmerichtlinie geregelten Modalitäten der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen für die Unterbringung findet sich das Kriterium der Unterbringungskapazität. Nach Art. 18 Abs. 9 Buchst. b) Aufnahmerichtlinie können die Mitgliedstaaten in begründeten Ausnahmefällen für einen angemessenen Zeitraum, der so kurz wie möglich sein sollte, andere Modalitäten der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen festlegen als in dem Art. 18 vorgesehen, wenn die üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten vorübergehend erschöpft sind. Auch hier folgen aus der quantitativ betrachteten Unterbringungskapazität somit keine Vorgaben zur zahlenmäßigen Bestimmung oder Begrenzung von Schutzsuchenden. 2.2.5. Massenzustrom-Richtlinie 2001/55/EG Die Richtlinie 2001/55/EG20 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen ist auf den heutigen Art. 78 Abs. 2 Buchst. c) 19 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ABl. 2013, L 180/96, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2013:180:0096:0116:DE:PDF (letztmaliger Abruf am 16.12.15). 20 Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten, ABl. 2001, L 212/12, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32001L0055&qid=1446458861223&from=DE (letztmaliger Abruf am 16.12.15). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 12 AEUV [ex. Art. 63 Nr. 2 Buchst. a) und b) EG-Vertrag] gestützt. Einen Zusammenhang zu quantitativen Elementen weist die Richtlinie insoweit auf, als sie auf das Kriterium mitgliedstaatlicher Aufnahmekapazitäten im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen abstellt (vgl. Art. 25 Abs. 1). Dieses Kriterium zielt in diesem Kontext jedoch nicht auf eine zahlenmäßige Begrenzung der Aufnahme, sondern knüpft an einen – bisher nicht zum Einsatz gekommenen – Mechanismus zur solidarischen Verteilung der Vertriebenen in derartigen Fällen an.21 Dieser unterliegt allerdings politischen Entscheidungen22 und ist bisher – ebenso wie die Richtlinie an sich – noch nicht zur Anwendung gekommen. 2.2.6. Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG Bei der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG23 handelt es sich zwar nicht um einen auf Art. 78 Abs. 2 AEUV gestützten Rechtsakt, sondern um eine einwanderungspolitische Maßnahme , die ihre Grundlage in dem heutigen Art. 79 Abs. 2 Buchst. a) AEUV [ex. Art. 63 Nr. 3 Buchst. a) EG-Vertrag] findet. Sie zielt auf die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten (vgl. Art. 1). Zu diesen Drittstaatsangehörigen zählen aber insbesondere auch solche Personen, die als Flüchtlinge anerkannt wurden (vgl. Erwägungsgrund Nr. 7 sowie Art. 3 Abs. 1 und 2). Vor diesem Hintergrund erscheint eine Betrachtung auch dieses Rechtsaktes im vorliegenden Zusammenhang als sinnvoll. Dem Wortlaut nach enthält die Familienzusammenführungsrichtlinie keine quantitativen Elemente in Bezug auf eine zahlenmäßige Begrenzung des Familiennachzugs. Im Zusammenhang mit einer Regelung über eine vor der Zusammenführung einzuhaltende Wartefrist wurden jedoch Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung für die hier erörterten Rechtsprobleme von Bedeutung sein kann. Nach Art. 8 UAbs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie kann ein Mitgliedstaat, dessen bei Annahme der Richtlinie geltendes nationales Recht im Bereich der Familienzusammenführung die Aufnahmefähigkeit dieses Mitgliedstaats berücksichtigt, eine Wartefrist von höchstens drei Jahren zwischen der Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung und der Ausstellung eines Aufenthaltstitels an Familienangehörige vorsehen. Das Europäische Parlament klagte vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gegen diese Regelung und bemängelte ein auf die Aufnahmefähigkeit des Mitgliedstaats gestütztes Kriterium entspreche einer Quotenregelung, die mit Art. 8 EMRK nicht vereinbar sei.24 Der EuGH 21 Vgl. Art 25 Massenzustrom-Richtlinie. Danach geben die Mitgliedstaaten ihre Aufnahmekapazitäten an. Für den Fall, dass mehr Personen vorübergehenden Schutz beantragen als Kapazitäten angegeben wurden, sieht die Richtlinie in Art. 25 Abs. 3 Maßnahmen des Rates vor, ausdrücklich benannt wird allein die Empfehlung, den betroffenen Mitgliedstaaten zusätzliche Unterstützung zu erteilen. 22 Schmidt, Die vergessene Richtlinie 2001/55/EG für den Fall eines Massenzustroms von Vertriebenen als Lösung der aktuellen Flüchtlingskrise, ZAR 2015, S. 205 (209). 23 Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, ABl. 2003, L 251/12, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32003L0086&from=DE (letztmaliger Abruf am 16.12.15). 24 EuGH, Urt. v. 27.6.2006, Rs. C-540/03 (Parlament/Rat), Rn. 92. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 13 wies die Klage zurück und erklärte Art. 8 UAbs. 2 Familienzusammenführungsrichtlinie für rechtmäßig. Er gab dabei allerdings zu bedenken, dass die Aufnahmefähigkeit nur ein Faktor sei, der bei der Prüfung eines Antrags auf Familienzusammenführung berücksichtigt werden und lediglich Grund für einen durch Wartefristen zeitlich begrenzten Nachzug sein könne, nicht aber für ein Verbot des Nachzugs. Das Kriterium der Aufnahmefähigkeit lasse sich nicht dahin auslegen , „dass damit ein wie auch immer geartetes Quotensystem oder eine ohne Rücksicht auf die besonderen Umstände der spezifischen Fälle vorgeschriebene dreijährige Wartefrist zugelassen würde. Denn die in Artikel 17 der Richtlinie vorgesehene Analyse aller Faktoren lässt es nicht zu, nur auf diesen Faktor abzustellen, und gebietet es, dass eine tatsächliche Prüfung der Aufnahmefähigkeit zum Zeitpunkt des Antrags vorgenommen wird.“25 Diese Ausführungen bezogen sich allerdings auf den konkreten Normkontext des Art. 8 UAbs. 2 Familienzusammenführungsrichtlinie . Eine hiervon losgelöste Bewertung eines solchen Kriteriums erfolgte damit nicht. 2.2.7. Ratsbeschlüsse über vorläufige Maßnahmen zugunsten von Italien und Griechenland Gestützt auf Art. 78 Abs. 3 AEUV hat der Rat im September zwei Beschlüsse zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland erlassen.26 Bei diesen vorläufigen Maßnahmen handelt es sich um die Umsiedlung von 40.000 bzw. 120.000 Antragstellern aus Griechenland und Italien in andere Mitgliedstaaten (vgl. jeweils Art. 4 der Beschlüsse). Ziel dieser Maßnahmen ist ausweislich des Art. 1 der Beschlüsse Italien und Griechenland dabei zu unterstützen, eine durch den plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen in die betreffenden Mitgliedstaaten geprägte Notlage besser zu bewältigen . Quantitative Elemente sind in diesem Zusammenhang somit Ausgangspunkt der Maßnahme. Hinsichtlich der Rechtsfolge geht es dabei jedoch alleine um eine Verteilung sich bereits in den beiden Mitgliedstaaten aufhaltender Antragsteller, nicht um eine Begrenzung der Aufnahme weiterer international Schutzsuchender.27 2.2.8. Zwischenergebnis Im Hinblick auf das geltende sekundärrechtliche EU-Asyl- und Flüchtlingsrecht kann festgehalten werden, dass dieses an verschiedenen Stellen zwar quantitative Elemente aufgreift, die auch 25 EuGH, Urt. v. 27.6.2006, Rs. C-540/03 (Parlament/Rat), Rn. 99 f. Ähnlich entschied zu einer nationalen Quotenregelung bezüglich des Nachzugs von Familienangehörigen Drittstaatsangehöriger der österreichische Verfassungsgerichtshof , vgl. Verfassungsgerichtshof Österreich, Urt. v. 8.10.2003, Rs. G 119, 120/03-13. Derartige Quotenregelungen seien nur mit Art. 8 EMRK vereinbar, wenn sie nicht starr ausgestaltet seien, sondern bei besonderen Familienverhältnissen Ausnahmeregelungen von der Quote zuließen. 26 Beschluss (EU) 2015/1523 des Rates vom 14.09.2015, ABl.EU 2015 Nr. L 239/146, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32015D1523&qid=1450187514793&from=DE (letztmaliger Abruf am 16.12.15); sowie Beschluss (EU) 2015/1601 des Rates vom 22.09.2015, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32015D1601&qid=1450186819885&from=DE (letztmaliger Abruf am 16.12.15) 27 Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass nach Presseberichten Ungarn und Slowakei gegen diese Ratsbeschlüsse Klage vor dem EuGH erhoben haben, vgl. etwa http://www.sueddeutsche.de/news/politik/migration -ungarn-reicht-klage-gegen-eu-fluechtlingsverteilung-ein-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-151203-99- 73892 (letztmaliger Abruf am 16.12.15). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 14 in Kapazitätskriterien zum Ausdruck kommen. Hieran werden aber keine Rechtsfolgen geknüpft, die eine zahlenmäßige Begrenzung der Aufnahme von international Schutzsuchenden vorsehen oder ermöglichen. 2.3. Ergebnis Insgesamt ist festzuhalten, dass das geltende primäre und sekundäre EU-Asyl- und Flüchtlingsrecht keine Regelungen enthält, die eine zahlenmäßige Begrenzung der Aufnahme von international Schutzsuchenden vorsehen. 3. Obergrenzen bei der Aufnahme von international Schutzsuchenden im Lichte des Unionsrechts Im Folgenden ist zu erörtern, ob die Verankerung von kapazitätsmäßigen Obergrenzen für die Aufnahme von international Schutzsuchenden zukünftig möglich wäre. Hierbei ist zwischen zwei Konstellationen zu unterscheiden: zum einen könnte erwogen werden, derartige Obergrenzen auf Unionsebene vorzusehen (siehe unter 3.1.). Zum anderen stellt sich die Frage, ob einzelne Mitgliedstaaten ungeachtet der unionsrechtlichen Vorgaben selbst Obergrenzen setzen könnten (siehe unter 3.2.). Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es zu diesen Fragestellungen keine Rechtsprechung der Unionsgerichte gibt. Auch werden die damit zusammenhängenden Rechtsprobleme – soweit ersichtlich – bisher nicht im Kommentarschrifttum zu den einschlägigen Bestimmungen des AEUV sowie der GRC erörtert. Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich an den bisher durch Rechtsprechung festgestellten Vorgaben zu den betreffenden Vorschriften sowie den allgemein im Schrifttum gewonnenen Erkenntnissen. 3.1. Auf Unionsebene Würde eine Einführung einer unionsweiten Obergrenze für die Aufnahme von international Schutzsuchenden auf Unionsebene erwogen, bedürfte es hierfür zunächst einer Rechtsetzungsermächtigung (siehe unter 3.1.1.). Die auf diese Grundlage erlassenen Sekundärrechtsakte dürften sodann nicht gegen sonstiges Primärrecht, insbesondere gegen Art. 18 und 19 GRC sowie Art. 47 GRC verstoßen (siehe unter 3.1.2. bis 3.1.4.). Im Anschluss wird ergänzend erörtert, ob man im sekundären Unionrecht für einzelne Mitgliedstaaten Obergrenzen verankern könnte (siehe unter 3.1.5.). 3.1.1. Rechtsetzungsermächtigung Wie oben ausgeführt, enthält die EU für die Entwicklung einer gemeinsamen Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz in Art. 78 Abs. 2 AEUV eine sehr weitgehende Rechtssetzungsermächtigung. Es handelt sich hierbei um eine mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit, vgl. Art. 4 Abs. 2 Buchst. j) AEUV. Diese Kompetenzkategorie beruht auf einem Vorrang der Zuständigkeitsausübung durch die EU; nur soweit diese ihre Rechtssetzungsermächtigung nicht oder nicht mehr ausübt, können die Mitgliedstaaten autonom rechtssetzend tätig werden, vgl. Art. 2 Abs. 2 AEUV. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 15 Art. 78 Abs. 2 AEUV ermächtigt die EU nicht nur zur Ausgestaltung der verschiedenen Kategorien der zu schützen Statusgruppen [vgl. Buchst. a) bis c)], sondern auch zu einer darauf bezogenen Angleichung der einschlägigen Verfahren [vgl. Buchst. d)] sowie der Aufnahmebedingungen von Antragstellern [vgl. Buchst. f)], zur Regelung der mitgliedstaatlichen Asylzuständigkeiten [vgl. Buchst. e)] und zur Kooperation mit Drittstaaten [vgl. Buchst. g)]. Art. 78 Abs. 3 AEUV enthält eine Kompetenz zum Erlass vorläufiger Maßnahmen für den Fall mitgliedstaatlicher Notlagen aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen. Ob auf Grundlage dieser Einzelermächtigungen auch Obergrenzen für die Aufnahme von schutzsuchenden Drittstaatsangehörigen in materieller und ggf. auch prozeduraler Hinsicht festgelegt werden könnten, wird im deutschsprachigen Europarechtsschrifttum – soweit ersichtlich – bisher nicht diskutiert. Wie oben ausgeführt, lassen sich Art. 78 AEUV zwar keine quantitativen Elemente entnehmen, die in Richtung einer zahlenmäßigen Bestimmung oder Begrenzung der Aufnahme von international Schutzsuchenden weisen. Derartige Maßnahmen sind nach dem Wortlaut der Vorschrift aber auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Dies sowie der Umstand, dass die einzelnen Ermächtigungen das Asyl- und Flüchtlingsrecht in materieller, prozeduraler Hinsicht sowie im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit Drittstaaten abdecken, sprechen dafür, dass es allein in Bezug auf die Reichweite der Zuständigkeitseinräumung nicht ausgeschlossen ist, auf ihrer Grundlage unionale Obergrenzen für die Aufnahme von Schutzsuchenden einzuführen. Die potentielle inhaltliche Reichweite des Art. 78 Abs. 2 und 3 AEUV steht allerdings unter dem Vorbehalt des Art. 78 Abs. 1 AEUV, wonach die EU-Politik zum einen mit der GFK sowie den anderen einschlägigen Verträgen im Einklang stehen muss und zudem die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleisten soll.28 Ob dieser Vorbehalt in dogmatischer Hinsicht bereits die inhaltliche Reichweite der Rechtsetzungsermächtigungen in Art. 78 Abs. 2 und 3 AEUV einschränkt oder auf einer nachfolgenden Stufe als separater Rechtmäßigkeitsmaßstab für darauf gestützte Maßnahmen zu beachten ist, kann im Ergebnis dahinstehen. Entscheidend ist, dass das Handeln der Unionsorgane mit den daraus folgenden Vorgaben vereinbar sein muss.29 Der Übersichtlichkeit halber sollen insbesondere die für die vorliegenden Fragestellungen relevanten GFK-Anforderungen und EGMR-Vorgaben im Kontext der Art. 18 und 19 GRC erörtert werden. Während Art. 18 GRC sowohl die GFK als auch Art. 78 Abs. 1 AEUV zum Maßstab des nach der EU-Grundrechte-Charta geschützten Asylrechts erhebt,30 regelt Art. 19 GRC in Anlehnung an die EMRK den menschenrechtlichen Schutz gegen Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung und greift den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung insoweit in allgemeiner Hinsicht auf.31 28 Vgl. auch EuGH, Urt. v. 21.12.2011, verb. Rs. C-411/10 u. C-493/10 (N.S. u. a.), Rn. 75. 29 Vgl. Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fn. 4), Art. 78 AEUV, Rn. 16. Siehe allerdings EuGH, Urt. v. 17.07.2014, Rs. C-481/13 (Qurbani), Rn. 22 ff. (28 f.), wonach die Auslegungszuständigkeit der EuGH für die GFK nur soweit reicht, wie Bestimmungen des Unionsrechts auf die GFK und deren Vorschriften verweisen. 30 Vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011, verb. Rs. C-411/10 u. C-493/10 (N.S. u. a.), Rn. 75. 31 Vgl. insoweit auch EuGH, Urt. v. 24.06.2015, Rs. C-373/13 (H.T.), Rn. 65. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 16 3.1.2. Allgemeine Erwägungen zur Vereinbarkeitsprüfung am Maßstab der Art. 18 und 19 GRC Für die Prüfung einer sekundärrechtlich einzuführenden Obergrenze für die Aufnahme von international Schutzberechtigten am Maßstab der Art. 18 und 19 GRC ist es erforderlich, die mit einer solchen Maßnahme verbundenen grundrechtsrelevanten Konsequenzen zu benennen. Da es sich hierbei – soweit die Unionsebene betroffen ist, jedenfalls bisher – nur um eine fiktive Annahme handelt, wird in Anknüpfung an die Gutachtenfragen des Auftraggebers im Folgenden unterstellt, dass eine solchen Obergrenze bei entsprechend restriktiver Ausgestaltung mit zwei Konsequenzen verbunden wäre: Zum einen würde jedem Drittstaatsangehörigen, der sie überschreitet, internationaler Schutz pauschal, d. h. ohne individuelle Prüfung, verweigert. Zum anderen müssten diese Personen in tatsächlicher Hinsicht zurückgewiesen werden – entweder durch entsprechende Maßnahmen bereits vor Überschreitung der EU-Außengrenzen oder nach ihrer (illegalen) Überschreitung durch aufenthaltsbeendende Abschiebung, Ausweisung oder Auslieferung. Bevor diese beiden Konsequenzen einer Obergrenze im Einzelnen untersucht werden, ist vorab auf zwei Aspekte hinzuweisen: Erstens ist anzumerken, dass es bisher weder zu Art. 18 GRC noch zu Art. 19 GRC Rechtsprechung der Unionsgerichte gibt, in denen diese beiden Gewährleistungen als Prüfungsmaßstab für unionale oder mitgliedstaatliche Maßnahmen dienten.32 In den wenigen Urteilen, in denen diese Bestimmungen mehr als nur Erwähnung gefunden haben, wurden sie (lediglich) zur Auslegung von Sekundärrecht herangezogen.33 Die folgenden Ausführungen beruhen daher zum einen auf dem einschlägigen Kommentarschrifttum, welches für die Auslegung der beiden GRC-Bestimmungen jedoch unverbindlich ist. Daneben wird die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) herangezogen, soweit diese nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC für den Inhalt der EU-Grundrechte zu beachten ist. Zweitens bestehen vor diesem Hintergrund keine gesicherten Erkenntnisse zum Verhältnis der beiden GRC-Verbürgungen. Im Schrifttum wird jedoch – soweit überhaupt – von einer engen thematischen Verzahnung bzw. Überschneidung beider Bestimmungen ausgegangen und eine parallele Anwendung befürwortet, insbesondere hinsichtlich des Schutzes vor Zurückweisungen.34 32 Diese Feststellung beruht auf einer Auswertung der online-Datenbank des EU-Gerichtshofs unter http://curia.europa.eu/juris/recherche.jsf?language=de (letztmaliger Abruf am 16.12.15). Gesucht wurde unter Angabe der beiden GRC-Vorschriften in der Rubrik „Zitierte Rechtsprechung oder Rechtsvorschriften“. Die Suche ergab für Art. 18 GRC insgesamt acht Treffer, für Art. 19 GRC vier. 33 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 18.12.2014, Rs. C-542/13 (Mohames M’Bodj), Rn. 38; EuGH, Urt. v. 18.12.2014, Rs. C-562/13 (Moussa Abdida), Rn. 31, 46 ff. 34 Siehe etwa Bernsdorff, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014 (im Folgenden: Meyer), Art. 18 GRC, Rn. 9; Jarass, Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013 (im Folgenden: Jarass), Art. 18 GRC, Rn. 4. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 17 Einen Hinweis auf die parallele Anwendung lässt sich auch der ansonsten wenig aussagekräftigen Rechtsprechung entnehmen.35 Aufgrund der vom Wortlaut her unterschiedlichen Gewährleistungsgehalte sowie der Bezugnahme auf die GFK in Art. 18 GRC und ihrem Fehlen in Art. 19 GRC, werden beide Bestimmungen ungeachtet eventueller Gemeinsamkeiten getrennt geprüft. 3.1.3. Vereinbarkeit mit Art. 18 GRC Nach seinem Wortlaut gewährleistet Art. 18 GRC das Recht auf Asyl nach Maßgabe der GFK sowie nach Maßgabe der beiden EU-Verträge. Aufgrund dieses Wortlauts, der Verweisungen auf die genannten Rechtsquellen und seine Entstehungsgeschichte ist im Schrifttum nicht nur die eigenständige Bedeutung des Art. 18 GRC umstritten, sondern auch sein ggf. subjektivrechtlicher Gehalt sowie die in ihm enthaltenen Verbürgungen.36 Letzteres dürfte dieser Vorschrift nach der Rechtsprechung des EuGH jedoch zukommen,37 wobei unklar ist, ob lediglich in objektivrechtlicher Hinsicht (ggf. als Grundsatz im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC) oder (auch) als subjektiv einklagbares Grundrecht. Für die objektive Beachtung dieser Vorschrift als Rechtmäßigkeitsmaßstab (vgl. Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC) spielt diese Frage allerdings keine Rolle, soweit der materielle Inhalt an sich feststeht (dazu sogleich). Im Zusammenhang mit der personellen Reichweite des Art. 18 GRC ist darauf hinzuweisen, dass diese aufgrund ihres GFK-Bezugs nur die dort geregelte Personengruppe der (sog. politisch verfolgten ) Flüchtlinge umfasst, nicht hingegen die Gruppe der subsidiär Schutzberechtigten.38 3.1.3.1. (Kein) Recht auf Asyl Weitgehende Einigkeit besteht im Kommentarschrifttum dahingehend, dass Art. 18 GRC jedenfalls kein (subjektives Grund-)Recht auf Gewährung von Asyl gegenüber der Union vermittelt.39 Begründet wird dies u. a. damit, dass die von Art. 18 GRC in Bezug genommene GKF ebenfalls kein entsprechendes Recht „auf Asyl“ einräumt bzw. die Mitgliedstaaten zu dessen Gewährung nicht verpflichtet sind und auch der Grundrechtekonvent eine derartige Absicht mit der Schaffung des Art. 18 GRC nicht verfolgte.40 Konsequenz dieser Auffassung ist, dass eine pauschale 35 Siehe EuGH, Urt. v. 24.06.2015, RS. C-373/13 (H.T.), Rn. 65. 36 Siehe zu den Streitpunkten und den vertretenen Auffassungen Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 18 GRC, Rn. 2 f. 37 Hierfür sprechen die Ausführungen in EuGH, Urt. v. 24.06.2015, Rs. C-373/13 (H. T.), Rn. 65. Weniger eindeutig hingegen in EuGH, Urt. v. 17.07.2014, Rs. C-481/13 (Qurbani), Rn. 25; EuGH. Urt. v. 30.05.2013, Rs. C-528/11 (Halaf), Rn. 40 ff. 38 Vgl. Jarass (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 4; Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011 (im Folgenden: Calliess/Ruffert), Art. 18 GRC, Rn. 6; Bernsdorff, in: Meyer (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 13. 39 Vgl. etwa Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 38), Art. 18 GRC, Rn. 3; Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 18 GRC, Rn. 3; Jarass (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 2; Graßhof, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012 (im Folgenden: Schwarze u.a.), Art. 18 GRC, Rn. 2. Zur Diskussion im Zusammenhang mit dem Gehalt des Art. 16a GG, vgl. WD 2, Kapazitätsgrenzen, S. 4 ff. 40 Vgl. dazu bei Bernsdorff, in: Meyer (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 13a bzw. 11. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 18 Nichtgewährung des Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus im Sinne der GFK bei Überschreitung der jeweiligen Obergrenze jedenfalls nicht durch die hiervon betroffenen Personen als (subjektive) Verletzung des Art. 18 GRC geltend gemacht werden könnte. Unklar und im Schrifttum bisher nicht erörtert ist hingegen die Frage, ob nicht eine von der EU zu beachtende objektive Verpflichtung zur Einräumung von Flüchtlingsschutz besteht, die zwar von Betroffenen nicht eingeklagt werden kann, aber – bei entsprechenden Verfahren, etwa der objektiv auf Normenkontrolle angelegten Nichtigkeitsklage der privilegiert Klageberechtigten nach Art. 263 Abs. 2 AEUV – als Prüfungsmaßstab für sekundäres Unionsrecht zur Anwendung gelangt. So finden sich im Schrifttum Aussagen im Zusammenhang mit dem Gehalt des Art. 18 GRC, wonach dieser „die objektive Verpflichtung [normiert], das Asylrecht unter Beachtung der GFK auf der Grundlage des Art. 78 AEUV auszugestalten.“41 Da die GFK selbst keine Obergrenzen vorsieht, könnte deren Einführung auf Unionsebene vor diesem Hintergrund als problematisch und ggf. als objektiver Eingriff in Art. 18 GRC gewertet werden, der einer Rechtfertigung bedarf . Ob sich der EuGH einer solchen Lesart dieser Bestimmung anschließen oder ggf. weitergehend sogar einen subjektiv-rechtlichen Gehalt anerkennen würde, lässt sich aufgrund der bisherigen Urteile nicht vorhersagen. Im Hinblick auf eine dann erforderlich werdende Rechtfertigung wird auf die nachfolgenden Ausführungen zum Zurückweisungsschutz verwiesen. 3.1.3.2. Schutz vor Aus- und Zurückweisung 3.1.3.2.1. Schutzgehalt und Eingriff Nach der überwiegenden Auffassung im Schrifttum vermittelt Art. 18 GRC – in Anlehnung an bzw. Konkretisierung von Art. 33 Abs. 1 GFK – einen subjektivrechtlichen Schutz gegen eine Aus- oder Zurückweisung von Flüchtlingen in einen Verfolgerstaat.42 Im Hinblick auf das verbotene Verhalten findet sich in Art. 33 Abs. 1 GFK die Formulierung, wonach kein Flüchtling „auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten“ ausgewiesen oder zurückgewiesen werden kann, in denen ihm Verfolgung droht. Während die Ausweisung sich auf Flüchtlinge bezieht, die sich bereits auf dem Territorium eines Vertrags- bzw. Mitgliedstaates be- 41 So etwa Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 38), Art. 18 GRC, Rn. 2. 42 So Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 18 GRC, Rn. 3; Jarass (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 12; Graßhof, in: Schwarze u.a. (o. Fn. 39), Art. 18 GRC, Rn. 2; Bernsdorff, in: Meyer (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 13a. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 19 finden, soll unter den Begriff der Zurückweisung die Verweigerung der Einreise in das Territorium eines Vertrags- bzw. Mitgliedstaates verstanden werden.43 Ob darüber hinaus auch extraterritoriale Handlungen der Vertragsstaaten auf hoher See erfasst werden – etwa Push-Back-Aktionen mitgliedstaatlicher Marineeinheiten o. ä. – ist in diesem Normkontext noch ungeklärt.44 Erfolgt die Aus- oder Zurückweisung aus einem Mitgliedstaat hingegen nicht in einen Verfolgerstaat , sondern in einen Drittstaat, so liegt ein Eingriff in Art. 18 GRC dann vor, wenn es sich um einen Staat handelt, bei dem die Gefahr besteht, dass der Betroffene von dort aus (weiter) in den Verfolgerstaat verbracht wird (sog. Kettenabschiebung).45 Vor diesem Hintergrund wäre die Festlegung einer unionsweiten Obergrenze insoweit als Eingriff in Art. 18 GRC anzusehen, als die hiervon betroffenen Flüchtlinge unmittelbar oder mittelbar über „unsichere“ Drittstaaten in Verfolgerstaaten aus- oder zurückgewiesen würden. Würde die Aus- oder Zurückweisung hingegen in „sichere“ Staaten erfolgen, läge kein Eingriff in Art. 18 GRC vor. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Staat als „sicher“ angesehen werden kann, wird im Kontext des Art. 18 GRC nur selten erörtert.46 Grund hierfür dürfte sein, dass dieser Aspekt in der Asylverfahrensrichtlinie in den Art. 37 und Art. 35 ff. sowie in deren Anhang I eine sekundärrechtliche Ausgestaltung gefunden hat, die sich aus den Vorgaben der GFK sowie der EMRK speist.47 Sie dürfte den Anforderungen des Art. 18 GRC genügen – nicht zuletzt wegen der Einbeziehung der GFK-Vorgaben. Darauf deutet im Ergebnis auch das Urteil des EuGH in der Rechtssache N. S. u. a. hin. Gegenstand war eine innerunionale Überstellung von international Schutzsuchenden nach dem Dublin-System aus dem Vereinigten Königreich nach Griechenland. Es galt zu klären, ob der überstellende Mitgliedstaat vor einer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat ggf. dessen Beachtung der Unionsgrundrechte (und des sekundärrechtlichen Asyl- und Flüchtlingsrechts) zu überprüfen habe, soweit tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, dass es nicht der Fall sei.48 Das hat der EuGH im Ergebnis bejaht und im Hinblick auf Griechenland – unter 43 So Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 18 GRC, Rn. 10; Jarass (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 12. 44 Siehe dazu im Rahmen des Art. 19 GRC unten unter 3.1.4.1.1., S. 21 f. 45 Vgl. Jarass (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 12; Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 18 GRC, Rn. 10. 46 So etwa bei Jarass (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 14, der sogar die Frage aufwirft, ob die Verbringung in einen sicheren Drittstaat insbesondere dann eine Beeinträchtigung darstellt, wenn die Einreise nicht über diesen Staat erfolgte. Dies verneint er jedoch unter Verweis auf Art. 33 Abs. 1 GFK. 47 Siehe hierzu insbesondere Anhang I der Asylverfahrensrichtlinie (o. Fn. 14). 48 EuGH, Urt. v. 21.12.2011, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10 (N.S. u. a.), Rn. 70 ff.; EuGH, Urt. v. 14.11.2013, Rs. C-4/11 (Puid), Rn. 35 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 20 Verweis auf ein vorhergehendes Urteil des EGMR zu Art. 3 EMRK49 – angesichts der dort bestehenden systemischen Mängel im Hinblick auf Asylverfahren und Aufnahmebedingungen für Asylbewerber einen Verstoß gegen Art. 4 GRC angenommen.50 In einem solchen Fall dürfe eine Überstellung nicht erfolgen. Gefragt nach dem insoweit bestehenden Schutzgehalt u. a. des Art. 18 GRC führte der EuGH aus, dass dieser nicht zu einer anderen Antwort führen könne.51 Hieraus lässt sich schließen, dass der nach Art. 18 GRC gewährleistete Schutz jedenfalls nicht weiterreicht als der sich insoweit aus Art. 4 GRC bzw. dem EMRK-Pendant aus Art. 3 EMRK ergebende. Besteht nicht die Möglichkeit einer Verbringung in einen „sicheren“ (Dritt-)Staat, so soll aus Art. 18 GRC ein Bleiberecht folgen. 52 Dies ist letztlich zwingend, da nur auf diese Weise ein Verstoß gegen das Verbot der Aus- und Zurückweisung vermieden werden kann. 3.1.3.2.2. Rechtfertigungserwägungen Würde auf Unionsebene eine Obergrenze in der Art und Weise festgelegt, das Eingriffe in Art. 18 GRC möglich bzw. nicht ausgeschlossen wären, stellte sich die generelle Frage, ob und ggf. mit welchen Gründen Verstöße gegen diese Vorschrift gerechtfertigt werden könnten. Auch insoweit bestehen im Schrifttum unterschiedliche Ansichten.53 Einig ist man sich jedoch insoweit, als die in der GFK in Art. 1 F und Art. 33 Abs. 2 geregelten und in Art. 12 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie konkretisierten Einschränkungsmöglichkeiten eine Aus- oder Zurückweisung von Flüchtlingen rechtfertigen können.54 Wie oben ausgeführt, knüpfen diese Einschränkungsmöglichkeiten an individuelles Fehlverhalten,55 so dass sie pauschale und von individualbezogenen Erwägungen losgelöste Aus- und Zurückweisungen nicht rechtfertigen könnten. Fraglich wäre vor diesem Hintergrund, ob weitergehende Einschränkungen des Art. 18 GRC auf die allgemeine Bestimmung des Art. 52 Abs. 1 GRC gestützt werden könnten. Danach sind Einschränkungen unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig, wenn sie einem von 49 EGMR, No. 30696/09 (M.S.S./Belgien und Griechenland), zitiert in EuGH, Urt. v. 21.12.2011, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10 (N.S. u. a.), Rn. 88, 90. Zu den mittlerweile bestehenden Unterschieden in der Rechtsprechung des EGMR einerseits und des EuGH andererseits Wendel, Menschenrechtliche Überstellungsverbote: Völkerrechtliche Grundlagen und verwaltungsrechtliche Konkretisierung, DVBl. 2015, S. 731 ff. 50 Vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10 (N.S. u. a.), insbesondere Rn. 86 ff. 51 Vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10 (N.S. u. a.), Rn. 109 ff., insbesondere Rn. 114. 52 So etwa Jarass (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 12. 53 Vgl. etwa Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 38), Art. 18 GRC, Rn. 10 f. 54 Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 38), Art. 18 GRC, Rn. 10; Bernsdorff, in: Meyer (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 13a; Jarass (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 16; Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 18 GRC, Rn. 11. 55 Siehe oben unter 2.2.1., S. 9. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 21 der Union anerkannten Gemeinwohlgrund dienen und den Wesensgehalt des betreffenden Grundrechts achten. Dies wird im Hinblick auf Art. 18 GRC zum Teil verneint, zum Teil bejaht.56 Befürwortet man eine solche Möglichkeit, wäre im Anschluss zu klären, ob es Gründe gäbe, die die Einführung einer Obergrenze sowie einen daraus folgenden Verstoß gegen das Aus- und Zurückweisungsverbot überhaupt rechtfertigen könnten. Angesichts der Schwere der Konsequenzen , die für den Einzelnen aus einem Verstoß gegen dieses Verbot folgen, müsste es sich in jedem Fall um sehr gewichtige Gemeinwohlgründe handeln. Rein wirtschaftliche Erwägungen wären per se ausgeschlossen. Ob die Geltendmachung „notstandsähnlicher Extremsituationen“ auf Ebene der EU dem Grunde nach möglich wäre,57 wurde zumindest im grundrechtlichen Kontext – soweit ersichtlich – bisher nicht erörtert. Würde man dies befürworten, wäre allerdings zu klären , unter welchen Voraussetzungen dies für die gesamte Union angenommen werden könnte. Vorliegend wäre v. a. zu fragen, ob eine solche „notstandsähnliche Extremsituation“ auf EU- Ebene durch einen Zustrom von international Schutzsuchenden überhaupt ausgelöst werden könnte.58 Angesichts der Bevölkerungsgröße in der EU in Höhe von ca. 742 Mio. Einwohnern sowie ihrer Wirtschaftskraft als Ganzes einerseits und der im Raum stehenden Flüchtlingszahlen bspw. für die ersten zehn Monate in 2015 von knapp über 1 Mio. andererseits59 erscheint dies allerdings generell höchst zweifelhaft. Würde man das gleichwohl bejahen wollen, stellte sich die Anschlussfrage, ob es möglich wäre, mit Blick auf das potentielle Eintreten einer solchen Notsituation vorab in abstrakter Weise eine numerische Begrenzung der Flüchtlingsaufnahme normativ festzusetzen. Könnte auch diese zweifelhafte Annahme bejaht werden, würde sich schließlich noch die Frage stellen, ob nicht die pauschale Aussetzung des Aus- und Zurückweisungsverbots bei Überschreitung der Obergrenze den Wesensgehalt des Art. 18 GRC in Frage stellt.60 3.1.3.3. Zwischenergebnis Nach herrschender Ansicht gewährt Art. 18 GRC zwar kein subjektives (Grund-)Recht gegenüber der EU auf Einräumung eines Asylstatus. In Anknüpfung an Art. 33 Abs. 1 GFK soll er jedoch Schutz vor einer Aus- oder Zurückweisung von Asylberechtigten in Verfolgerstaaten bieten. Vor diesem Hintergrund wäre die Einführung einer unionsweiten Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen im Sinne der GKF mit Art. 18 GRC nur insoweit vereinbar, als die hiervon betroffenen Flüchtlinge in sichere Drittstaaten zurückgewiesen werden würden. Ob eine in den Schutz- 56 Vgl. Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 38), Art. 18 GRC, Rn. 11, der dies ablehnt. Für eine solche Möglichkeit Bernsdorff, in: Meyer (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 13a; Jarass (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 11; Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 18 GRC, Rn. 11. 57 Siehe hierzu aus nationaler GG-Perspektive die Ausführungen von WD 2, Kapazitätsgrenzen (o. Fn. 2), S. 7 f. 58 Vgl. Ausführungen von WD 2, Kapazitätsgrenzen (o. Fn. 2), S. 8. 59 Siehe European Asylum Support Office (EASO), Aktuelle Asyltrends für den Monat Oktober, S. 1, online abrufbar unter https://easo.europa.eu/wp-content/uploads/Latest-Asylum-Trends-snapshot-October-2015.pdf (letztmaliger Abruf am 16.12.15). 60 Siehe dazu bzgl. Art. 19 Abs. 4 GG die Ausführungen von WD 2, Kapazitätsgrenzen (o. Fn. 2), S. 9. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 22 gehalt des Art. 18 GRC eingreifende Aus- und Zurückweisung von Flüchtlingen in Verfolgerstaaten aus Gründen der Überschreitung einer Obergrenze gerechtfertigt werden könnte, erscheint dagegen höchst zweifelhaft. 3.1.4. Vereinbarkeit mit Art. 19 GRC Im Gegensatz zu Art. 18 GRC bestehen im Schrifttum keine Zweifel an der Qualifizierung des Art. 19 GRC als Grundrecht.61 Kennzeichnend für die in Art. 19 Abs. 1 (Verbot der Kollektivausweisung) und Art. 19 Abs. 2 GRC (Verbot der Individualausweisung) geregelten subjektivrechtlichen Verbürgungen ist deren Ausrichtung an den ihnen entsprechenden Gewährleistungen der EMRK.62 Dieser Gleichlauf wird in allgemeiner Hinsicht durch Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC vorgegeben. Danach haben GRC-Gewährleistungen , die auch in der EMRK enthalten sind, die gleiche Bedeutung und Tragweite wie ihre EMRK-Pendants. Nach Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC darf die Union allerdings einen weitergehenden Schutz gewähren. Eine entsprechende Übereinstimmung besteht zwischen Art. 19 Abs. 1 GRC und Art. 4 ZP IV. Letzterer verbietet Kollektivausweisungen ausländischer Personen. Art. 19 Abs. 2 GRC findet zwar keine Wortlautentsprechung in der EMRK. Nach den einschlägigen Erläuterungen zu Art. 19 Abs. 2 GRC sowie zu Art. 52 GRC,63 die nach Art. 52 Abs. 7 GRC bei der Auslegung zu berücksichtigen sind, wird mit diesem Absatz aber die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK übernommen, wonach niemand in Staaten ausgewiesen werden darf, in denen er Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden kann. Bei der nachfolgenden Untersuchung wird folglich auch auf EGMR-Rechtsprechung sowie Schrifttum zu den entsprechenden EMRK-Gewährleistungen zurückgegriffen. Im Unterschied zu Art. 18 GRC, dessen Schutz vor Aus- und Zurückweisungen aufgrund der Verwurzelung in der GFK als „Asyl-non-refoulment“ bezeichnet wird, spricht man bei Art. 19 GRC von einem „Menschenwürde-non-refoulment“.64 Denn Grundrechtsträger ist insoweit jede natürliche Person,65 und zwar unabhängig davon, ob sie die materiellen Voraussetzungen für einen in- 61 Vgl. etwa Jarass (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 1; Bernsdorff, in: Meyer (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 13. 62 Vgl. Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 38), Art. 19 GRC, Rn. 1; Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 19 GRC, Rn. 1. 63 Veröffentlicht in ABl.EU 2007 Nr. C 303/17, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=OJ:C:2007:303:0017:0035:de:PDF (letztmaliger Abruf am 16.12.15). 64 So Jarass (o. Fn. 34), Art. 18 GRC, Rn. 4. 65 Vgl. Jarass (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 5; Rossi, in: Calliess/Ruffert (o. Fn. 38), Art. 19 GRC, Rn. 2. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 23 ternationalen Schutzstatus erfüllt oder ob sie überhaupt einen rechtmäßigen Aufenthaltstitel vorweisen kann.66 Anders als im Fall des Art. 18 GRC wird somit die Gruppe der subsidiär Schutzberechtigten erfasst. Darüber hinaus dürfte Art. 19 GRC aufgrund seiner menschenrechtlichen Verankerungen auch auf Flüchtlinge im Sinne der GFK anwendbar sein, sofern auch in deren Fall die Tatbestandsmerkmale des Absatzes 1 oder 2 erfüllt werden. Im Folgenden ist zwischen Art. 19 Abs. 1 (Kollektivausweisungen – siehe unter 3.1.3.1.) und Art. 19 Abs. 2 GRC (Individualausweisungen – siehe unter 3.1.3.2) zu unterscheiden. 3.1.4.1. Art. 19 Abs. 1 GRC: Verbot der Kollektivausweisung Da die Verankerung einer unionsweiten Obergrenze zur pauschalen Ausweisung aller Schutzsuchenden führen würde, die sie zahlenmäßig überschreiten, ist zuerst ein Verstoß gegen das Verbot der Kollektivausweisung zu prüfen. 3.1.4.1.1. Schutzgehalt Der Schutzgehalt dieses Grundrechts wird durch den Begriff der Kollektivausweisung bestimmt. In der EGMR-Rechtsprechung wird darunter jede Maßnahme der zuständigen Behörden verstanden , durch die Ausländer als Gruppe gezwungen werden, das Land zu verlassen, außer wenn eine solche Maßnahme nach und auf der Grundlage einer angemessenen und objektiven Prüfung der einzelnen Fälle jedes der Ausländer getroffen wird.67 Blickt man insoweit in die GRC-Kommentare , so findet sich eine in die gleiche Richtung weisende Umschreibung. Zusätzlich wird in den GRC-Kommentierungen jedoch verlangt, dass sich die Kollektivausweisung gegen eine nach generellen Kriterien bestimmte Personengruppe richten müsse.68 Hieraus folgt, dass eine Kollektivausweisung insgesamt drei Tatbestandsmerkmale aufweist: Ausweisung (1), Gruppeneigenschaft (2) und das Fehlen einer individuellen Prüfung (3). Zu klären ist sodann noch, ob der Staat, in dessen Territorium ausgewiesen werden sollen, für die hiervon betroffenen Personen – ähnlich wie bei Art. 18 GRC – eine Gefahr darstellen muss (4). (1) Der Begriff der Ausweisung ist weit zu verstehen und umfasst nach der insoweit maßgeblichen Reichweite der entsprechenden EMRK-Gewährleistung in Art. 4 ZP IV auch eine extraterri- 66 So für die EMRK Zimmermann/Elberling, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG – Konkordanzkommentar, 2. Aufl. 2013 (im Folgenden: Konkordanzkommentar), Band 2, Kap. 27, Rn. 12, 15 67 Vgl. EGMR No. 515614/99 (Čonka/Belgien), Rn. 59; EGMR No. 27765/09 (Hirsi Jamaa u. a.), Rn. 166 sowie die unter Rn. 167 zitierten Entscheidungen. Englischer Originalwortlaut: „the ‘collective expulsion of aliens’ as being ‘any measure of the competent authority compelling aliens as a group to leave the country, except where such a measure is taken after and on the basis of a reasonable and objective examination of the particular cases of each individual alien of the group’.“ 68 Jarass (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 6, mit Verweis auf EGMR No. 515614/99 (Čonka/Belgien), Rn. 56; Graßhof, in: Schwarze u.a. (o. Fn. 39), Art. 19 GRC, Rn. 3, ebenfalls mit dem gleichen Verweis. Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 38), Art. 19 GRC, Rn. 4; Bernsdorff, in: Meyer (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 14; Klatt, in: von der Groeben /Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 19 GRC, Rn. 5. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 24 toriale Anwendung mitgliedstaatlicher Hoheitsgewalt, mit der Drittstaatsangehörige an dem Erreichen des Territoriums des verpflichteten Staates gehindert werden.69 So hatte der EGMR in der Rechtssache Hirsi Jamaa u. a. darüber zu befinden, ob das Zurückdrängen eines Flüchtlingsbootes nach Libyen durch die italienische Marine auf hoher See (sog. Push-Back-Aktion) von dem Verbot der Kollektivausweisung erfasst wird. Er bejahte dies und machte hierdurch deutlich, dass es nicht darauf ankommt, dass die schutzsuchende Gruppe sich vor der Ausweisung auf dem Territorium des ausweisenden Staates befinden muss. Vor diesem Hintergrund sind unter dem Begriff der Ausweisung nicht nur die herkömmlich darunter verstandenen Maßnahmen zu verstehen, mit denen die Einreise untersagt oder ein bestehender Aufenthalt auf dem Territorium beendet wird. Erfasst werden auch solche staatlichen Maßnahmen, mit der Personengruppen bereits an dem Erreichen des jeweiligen Territoriums gehindert werden. Dieses Verständnis ist nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC auch für Art. 19 Abs. 1 GRC maßgeblich. Da die Durchsetzung einer unionsweiten Obergrenze jedenfalls mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen in Bezug auf die Personen verbunden wäre, die sie zahlenmäßig überschreiten, wäre das Tatbestandsmerkmal der Ausweisung in jedem Fall erfüllt. Darüber hinaus wären auch Maßnahmen erfasst, die außerhalb des EU-Territoriums mit dem Ziel vorgenommen werden, Drittstaatsangehörige daran zu hindern , es zu erreichen. (2) Unklar ist hingegen, wie die Gruppeneigenschaft zu bestimmen ist. Nach den GRC-Kommentierungen muss sich diese nach generellen Kriterien wie Staatsangehörigkeit, Rasse, Hautfarbe oder Religion bestimmen lassen.70 Angesichts des individualbezogenen Charakters dieser Kriterien wäre fraglich, ob Ausweisungen einer Mehrzahl von Personen allein wegen Überschreitung einer Obergrenze diesem Tatbestandsmerkmal genügen würden. Denn das Bestehen einer Obergrenze richtet sich pauschal gegen alle Personen, die sie überschreiten und beinhaltet darüber hinaus keine individualbezogene Unterscheidung der hiervon betroffenen Personengruppe. Blickt man indes in die Rechtsprechung des EGMR, so findet sich kein ausdrücklicher Hinweis darauf, dass die von der Ausweisung betroffene Gruppe nach bestimmten Kriterien bestimmt sein muss. Zwar war das in der Rechtssache Čonka, in welcher der EGMR einen Verstoß gegen Art. 4 ZP IV erstmals bejahte, in tatsächlicher Hinsicht der Fall.71 In der Rechtsache Hirsi Jamaa u. a. betraf die Push-Back-Aktion allerdings ein Flüchtlingsboot, in dem sich sowohl somalische als auch eritreische Staatsangehörige befanden.72 Ohne die Gruppeneigenschaft anzusprechen, ließ es der EGMR für die Anwendung des Art. 4 ZP IV genügen, dass die auf dem Boot befindlichen 69 Vgl. EGMR No. 27765/09 (Hirsi Jamaa u. a.), Rn. 166 ff. 70 Vgl. Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 38), Art. 19 GRC, Rn. 5; Bernsdorff, in: Meyer (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 14; Jarass (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 6; Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 19 GRC, Rn. 5; Graßhof, in: Schwarze u.a. (o. Fn. 39), Art. 19 GRC, Rn. 3. 71 Die von der streitgegenständlichen Kollektivausweisung betroffene Personengruppe waren Roma aus Mazedonien , vgl. EGMR No. 515614/99 (Čonka/Belgien), Rn. 7. 72 Vgl. EGMR No. 27765/09 (Hirsi Jamaa u. a.), Rn. 9 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 25 Personen als Gruppe von der Zurückdrängung betroffen waren.73 Entscheidend war für den Verstoß insoweit allein, dass keine individuelle Prüfung vorgenommen wurde (dazu sogleich).74 Geht man vor diesem Hintergrund davon aus, dass die Gruppeneigenschaft im Sinne des Art. 4 ZP IV allein dadurch begründet wird, dass mehrere Personen zugleich von einer Ausweisung betroffen sind, dann würde dies auch für Art. 19 Abs. 1 GRC gelten müssen. Denn das zusätzliche Vorliegen von bestimmten Kriterien, nach denen die von der Ausweisung betroffene Gruppe bestimmt sein muss, würde zu einer Verengung des Schutzgehalts führen, die nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC ausgeschlossen ist. Abweichungen vom Schutzniveau der EMRK sind nach Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC nur nach oben möglich. Im Hinblick auf die Verankerung einer unionalen Obergrenze hätte diese Auslegung zur Folge, dass sie der Anwendung des Art. 19 Abs. 1 GRC unterläge, soweit eine aufgrund der Obergrenze erfolgende Ausweisung mehrere Personen zugleich treffen würde. Es ließe sich sogar überlegen, ob nicht die Obergrenze an sich eine (bereits objektiv bestehende) Kollektivausweisung darstellt, da sie zur Aufenthaltsverweigerung bzw. -beendigung aller Personen führt, die sie überschreiten (würden). (3) Für eine Kollektivausweisung notwendige Voraussetzung ist sodann noch, dass die Ausweisung ohne vorherige individuelle Prüfung der Situation eines jeden von der Ausweisung betroffenen Ausländers erfolgt. Im Ergebnis lässt sich das Verbot der Kollektivausweisung als Recht auf Durchführung einer individuellen Prüfung der Asyl- oder sonstigen Schutzgründe verstehen. Soweit die Einführung einer unionsweiten Obergrenze damit verbunden wäre, dass sie überschreitende Personengruppen pauschal ohne Prüfung und Berücksichtigung ihrer individuellen Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes ausgewiesen würde, läge eine Eingriff in Art. 19 Abs. GRC vor. (4) Anders als im Rahmen des Zurückweisungsschutzes in Art. 18 GRC oder des Art. 19 Abs. 2 GRC (dazu sogleich) kommt es für das Verbot der Kollektivausweisung nach der EMRK nicht darauf an, wohin die Ausweisung erfolgt, ob es sich um einen sicheren oder unsicheren (Dritt-)Staat handelt. Eine derartige Anforderung ergibt sich zunächst weder aus dem Wortlaut des Art. 4 ZP IV noch des Art. 19 I GRC. Auch der Rechtsprechung des EGMR lässt sie sich nicht entnehmen. Die Tatsache, dass der betreffende Staat etwa in der Rechtssache Hirsi Jamaa u. a. als unsicherer Staat angesehen wurde, ändert hieran nichts, da dieser Umstand allein im Zusammenhang mit dem Verstoß gegen Art. 3 EMRK erörtert wurde.75 Verstöße gegen diese Bestimmung erfordern nämlich, dass in dem Ausweisungsstaat die Gefahr einer menschenunwürdigen Behandlung droht. In dem GRC-Pendant in Art. 19 Abs. 2 GRC wurde diese Voraussetzung daher auch ausdrücklich verankert. Würde man dies auch für das Verbot der Kollektivausweisung fordern, hätte 73 Vgl. EGMR No. 27765/09 (Hirsi Jamaa u. a.), Rn. 183 ff. 74 Vgl. insoweit auch Hoppe, in: Karpenstein/Mayer, EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 2015 (im Folgenden: Karpenstein /Mayer), Art. 4 ZP IV, Rn. 2, der das Erfordernis individualbezogener Kriterien überhaupt nicht erwähnt. Anders dagegen Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2011 (im Folgenden: Meyer- Ladewig), Art. 4 ZP IV, Rn. 1, der ebenfalls die Notwendigkeit „genereller Kriterien“ wie Staatsangehörigkeit und Rasse betont, allerdings ohne konkreten Rechtsprechungsnachweis. 75 Vgl. EGMR No. 27765/09 (Hirsi Jamaa u. a.), Rn. 113 ff., 146 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 26 diese Gewährleistung neben Art. 3 EMRK bzw. Art. 19 Abs. 2 EMRK keine eigenständige Bedeutung . 3.1.4.1.2. Rechtfertigungserwägungen Würde eine unionsweite Obergrenze derart ausgestaltet werden, dass ein Eingriff in Art. 19 Abs. 1 GRC vorläge, stellte sich die Frage nach einer Rechtfertigungsmöglichkeit. Im Hinblick auf Art. 4 ZP IV ist allgemein anerkannt, dass das darin geregelte Verbot unbeschränkt gilt, eine Kollektivausweisung folglich nicht zu rechtfertigen ist.76 Möglich ist allenfalls eine Berufung auf den in Art. 15 Abs. 1 EMRK geregelten Notstandsfall. Danach kann jede EMRK-Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den Konventionsverpflichtungen abweichen, wenn das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht wird. Allerdings gilt dies nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der betreffenden Vertragspartei stehen. Die Voraussetzungen für die Berufung auf den Notstandsfall des Art. 15 Abs. 1 EMRK sind sehr hoch. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist unter einem öffentlichen Notstand, der das Leben der Nation bedroht, eine außerordentliche und unmittelbar drohende Gefahrensituation zu verstehen , welche die Gesamtheit der Bevölkerung berührt und das Zusammenleben der Gemeinschaft im Staat bedroht.77 Die Krisen- und Gefahrenlage muss so außergewöhnlich sein, dass normale Maßnahmen oder Einschränkungen, wie sie die Konvention ggf. zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, Gesundheit oder Ordnung zulässt, eindeutig unzureichend sind.78 Dies gilt nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC entsprechend auch für Art. 19 Abs. 1 GRC und die Rechtfertigung einer eventuellen Abweichung vom Verbot der Kollektivausweisung durch die EU.79 Soweit im Kommentarschrifttum eine darüber hinausgehende Rechtfertigungsmöglichkeit befürwortet wird,80 ist dies mit dem Gleichlaufgebot des Art. 52 Abs. 3. S. 1 GRC nicht zu vereinbaren. Mit Blick auf den unionalen Kontext und eine von Seiten der EU eingeführte Obergrenze stellt sich vor diesem Hintergrund zunächst die Frage, ob und ggf. wie Art. 15 Abs. 1 EMRK auf die Union übertragen werden kann.81 Würde man das im Grundsatz befürworten, stellte sich anschließend – wie auch schon im Zusammenhang mit Art. 18 GRC82 – die höchst zweifelhafte 76 Vgl. Hoppe, in: Karpenstein/Mayer (o. Fn. 74), Art. 4 ZP IV, Rn. 4. 77 Vgl. Johann, in: Karpenstein/Mayer (o. Fn. 74), Art. 15 EMRK, Rn. 3, mit Verweis auf EMRK-Rechtsprechung. 78 Johann, in: Karpenstein/Mayer (o. Fn. 74), Art. 15 EMRK, Rn. 3, mit Verweis auf EMRK-Rechtsprechung. 79 So zutreffend Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 38), Art. 19 GRC, Rn. 3; Bernsdorff, in: Meyer (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 16; Jarass (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 10. 80 Für eine Anwendbarkeit des Art. 51 Abs. 1 GRC plädierend, Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 19 GRC, Rn. 8. 81 Vgl. insoweit auch die Erläuterungen zur GRC unter Art. 52 GRC, wonach die Berufung auf Art. 15 EMRK nur im Hinblick auf die Mitgliedstaaten erwähnt wird. 82 Siehe oben unter 3.1.3.2.2., S. 19 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 27 Frage, ob ein solcher Notstandsfall auf EU-Ebene durch einen Zustrom von international Schutzsuchenden überhaupt ausgelöst werden könnte. 3.1.4.1.3. Zwischenergebnis Die Einführung einer unionsweiten Obergrenze wäre im Licht des Art. 19 Abs. 1 GRC insoweit problematisch, als es hierdurch zu einer pauschalen Ausweisung von Personengruppen international Schutzsuchender käme, ohne dass die individuelle Situation ihrer Mitglieder geprüft würde. Eingriffe in das Verbot der Kollektivausweisung können allenfalls in Anlehnung an den in Art. 15 Abs. 1 EMRK geregelten Notstandsfall gerechtfertigt werden. Ob ein solcher Notstandsfall auf EU-Ebene allein durch einen Zustrom von international Schutzsuchenden ausgelöst werden könnte, erscheint höchst zweifelhaft. 3.1.4.2. Art. 19 Abs. 2 GRC: Verbot der individuellen Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung Art. 3 EMRK und seine Entsprechung in Art. 4 GRC untersagen Folter sowie unmenschliche und erniedrigende Strafen oder Behandlungen. Art. 19 Abs. 2 GRC knüpft hieran an und übernimmt den in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK entwickelten Schutz davor, dass Menschen in Folge aufenthaltsbeendender Maßnahmen eines Staates den genannten Eingriffen sowie der Todesstrafe in einem anderen Staat (im Folgenden: Gefahrenstaat) ausgesetzt werden.83 Die Vorschrift wendet sich folglich in Ergänzung zu Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK gegen das bloße Ermöglichen menschenunwürdiger Behandlung durch Abschiebung, Ausweisung und Auslieferungen 84 in Staaten, in denen dem Einzelnen derartige Behandlungen drohen. Aus diesem Grund liegt im Verhältnis von Art. 19 Abs. 2 GRC und Art. 4 GRC ein lex-specialis- Vorrang des erstgenannten Grundrechts nahe und wird - soweit sich zu dieser Frage Stellungnahmen finden – auch im Schrifttum befürwortet.85 Ein solcher könnte mit Blick auf das oben erwähnte Urteil in der Rechtssache N. S. u. a. allerdings bezweifelt werden. Dort prüfte der EuGH die Zulässigkeit der Überstellung letztlich ausschließlich am Maßstab des Art. 4 GRC. Dieses Vorgehen ist angesichts des ausdrücklich gewährleisteten Zurückweisungsschutzes in 19 Abs. 2 GRC im Ergebnis abzulehnen. Aus diesem Grunde ist im Folgenden Art. 19 Abs. 2 AEUV als speziellere Gewährleistung vorrangig vor Art. 4 EMRK zu prüfen. Im Hinblick auf den materiellen Gehalt dürften indes keine Unterschiede bestehen, da beide Vorschriften auf Art. 3 EMRK bzw. der hierzu ergangenen Rechtsprechung beruhen. 83 Vgl. Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 38), Art. 19 GRC, Rn. 7; Bernsdorff, in: Meyer (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 17; Jarass (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 8. Siehe auch Zimmermann/Elberling, in: Konkordanzkommentar (o. Fn. 66), Band 2, Kap. 27, Rn. 3. 84 Siehe zu den jeweiligen Definitionen, deren gemeinsamer Nenner die Aufenthaltsbeendigung ist, Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 19 GRC, Rn. 6; Jarass (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 7. 85 So etwa Jarass (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 4. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 28 3.1.4.2.1. Schutzgehalt Hinsichtlich des Schutzgehalts kann im Zusammenhang mit dem Begriff der Aus- und Zurückweisung auf die Ausführungen zu Art. 19 Abs. 1 GRC verwiesen werden.86 In dem dort erwähnten EGMR-Urteil in der Rechtssache Hirsi Jamaa u. a. wurde hinsichtlich der Pushback-Aktion auch ein Verstoß gegen Art. 3 EGMR festgestellt, so dass die Ausführungen zur extraterritorialen Anwendung des Zurückweisungsschutzes nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC auch für Art. 19 Abs. 2 GRC gelten und von einem weiten Begriff der Ausweisung auszugehen ist.87 Anders als bei Art. 19 Abs. 1 GRC bedarf der Staat, in den die betreffende Person ausgewiesen wird bzw. werden würde, einer besonderen Qualifizierung. Es muss dort das „ernsthafte Risiko“ eines der genannten menschenunwürdigen Eingriffe bestehen. Zu den insoweit geltenden Anforderungen werden auf die einschlägigen Kommentierungen zu Art. 19 GRC bzw. Art. 3 EMRK verwiesen .88 Art. 3 EMRK erfasst auch sog. Kettenabschiebungen. 89 Gleiches gilt nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC somit für Art. 19 Abs. 2 GRC, so dass ein Eingriff in dieses Grundrecht nicht nur vorliegt, wenn die Ausweisung unmittelbar in einen Gefahrenstaat erfolgt, sondern auch dann, wenn dies mittelbar über einen Drittstaat erfolgt. Der EGMR fordert insoweit, dass der ausweisende Staat sich vergewissern muss, dass eine Kettenabschiebung ausgeschlossen ist.90 Nur bei Aus- oder Zurückweisung in „sichere“ Staaten läge somit kein Eingriff in Art. 19 Abs. 2 GRC vor. 3.1.4.2.2. Rechtfertigungserwägungen Würde eine unionsweite Obergrenze derart ausgestaltet werden, dass ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 2 GRC vorliegt oder ein solcher zumindest nicht ausgeschlossen werden könnte, stellte sich auch hier die Frage nach einer Rechtfertigungsmöglichkeit. Auf der Ebene der EMRK gehört Art. 3 EMRK zu den absolut geschützten Rechten, von denen – anders als im Rahmen des Art. 4 86 Siehe oben unter 3.1.4.1.1., S. 21 f. Vgl. dazu EGMR No. 27765/09 (Hirsi Jamaa u. a.), Rn. 70 ff. 87 Siehe hierzu Zimmermann/Elberling, in: Konkordanzkommentar (o. Fn. 66), Band 2, Kap. 27, Rn. 14 f., unter Verweis auf EGMR No. 27765/09 (Hirsi Jamaa u. a.), Rn. 76 ff., 122 ff., 146 ff. Enger dagegen, wenngleich ohne Auseinandersetzung mit der EGMR-Rechtsprechung und nur unter Verweis auf GRC-Kommentierungen Jarass (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 7; Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 19 GRC, Rn. 6. 88 Siehe zur Rechtslage nach EMRK, Zimmermann/Elberling, in: Konkordanzkommentar (o. Fn. 66), Band 2, Kap. 27, Rn. 35 ff. Für die GRC, vgl. etwa Jarass (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 9; Klatt, in: von der Groeben /Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 19 GRC, Rn. 7. 89 Vgl. Zimmermann/Elberling, in: Konkordanzkommentar (o. Fn. 66), Band 2, Kap. 27, Rn. 55, unter Verweis auf EGMR No. 43844/98 (T.I. v. Vereinigtes Königreich) sowie auf EGMR No. 27765/09 (Hirsi Jamaa u. a.), Rn. 122. Siehe ferner Bernsdorff, in: Meyer (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 17; Jarass (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 17. 90 Vgl. EGMR No. 27765/09 (Hirsi Jamaa u. a.), Rn. 147 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 29 ZP IV bzw. Art. 19 Abs. 1 GRC – auch im Notstandsfall nach Art. 15 Abs. 1 EMRK nicht abgewichen werden darf, vgl. Art. 15 Abs. 2 EMRK.91 Das bedeutet, dass jeder Eingriff in den Schutzbereich zugleich eine Verletzung des Grundrechts darstellt.92 Da mit Art. 19 Abs. 2 GRC ausweislich der Erläuterungen zur GRC die Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK übernommen wird, dürfte dies auch für Art. 19 Abs. 2 GRC gelten.93 Gleichwohl finden sich im GRC-Schrifttum auch andere Auffassungen, die eine Anwendung des Art. 15 Abs. 1 EMRK94 und sogar des Art. 52 Abs. 1 GRC befürworten.95 Diese sind mit Blick auf Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC jedoch abzulehnen. Eingriffe in das individuelle Verbot der Ausschiebung, Ausweisung und Auslieferung nach Art. 19 Abs. 2 GRC sind folglich nicht rechtfertigungsfähig. Eine unionsweite Obergrenze wäre hernach nur insoweit mit diesem Grundrecht vereinbar, als die Zurückweisung der hiervon betroffenen Personen in sichere Drittstaaten erfolgen würde. 3.1.5. Vereinbarkeit mit Art. 47 GRC Liegt – wie im Fall Hirsi Jamaa u. a. – ein Verstoß gegen das Aus- und Zurückweisungsverbot aus Art. 3 EMRK und Art. 4 ZP IV vor und bestand für die davon betroffenen Personen keine Möglichkeit , hiergegen eine wirksame Beschwerde einzulegen, so nimmt der EGMR zugleich eine Verletzung des Art. 13 EMRK an.96 Danach hat jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben. Im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK und der Bedeutung dieses Menschenrechts hat dies erstens zur Folge, dass eine unabhängige und gründliche Prüfung der Vorwürfe vorzunehmen ist, wenn substantielle Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine reelle Gefahr einer mit Art. 3 EMRK unvereinbaren Behandlung im Staat, in den die Ausweisung erfolgt, besteht.97 Zweitens muss der Beschwerde ein Suspensiveffekt zukommen.98 Eine vergleichbare Gewährleistung auf effektiven Rechtsschutz ist auf Unionsebene in Art. 47 GRC vorgesehen. Dieses Recht stützt sich ausweislich der Erläuterungen zur GRC zwar auf Art. 91 Siehe dazu Zimmermann/Elberling, in: Konkordanzkommentar (o. Fn. 66), Band 2, Kap. 27, Rn. 58 ff.; der auf eine gewisse „tatsächliche“ Kompensation des absoluten Schutzes im Rahmen der gerichtlichen Beurteilung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 3 EMRK verweist (Rn. 59). 92 Zimmermann/Elberling, in: Konkordanzkommentar (o. Fn. 66), Band 2, Kap. 27, Rn. 61. 93 Vgl. Bernsdorff, in: Meyer (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 20. 94 So Jarass (o. Fn. 34), Art. 19 GRC, Rn. 11; Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 38), Art. 19 GRC, Rn. 10; Graßhof, in: Schwarze u.a. (o. Fn. 39), Art. 19 GRC, Rn. 11, allerdings ohne sich mit dem Ausschluss nach Art. 15 Abs. 2 EMRK zu befassen. 95 Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 19 GRC, Rn. 8. 96 Vgl. EGMR No. 27765/09 (Hirsi Jamaa u. a.), Rn. 196 ff. Vgl. auch Meyer-Ladewig (o. Fn. 74), Art. 13 EMRK, Rn. 7, 15. 97 EGMR No. 27765/09 (Hirsi Jamaa u. a.), Rn. 198. 98 EGMR No. 27765/09 (Hirsi Jamaa u. a.), Rn. 198 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 30 13 EMRK, geht darüber jedoch insoweit hinaus, als im Unionsrecht ein umfassenderer Schutz gewährt wird, da ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 Abs. 2 GRC bei einem Gericht garantiert wird.99 Würde eine unionsweite Obergrenze dergestalt ausgestaltet, dass die hiervon betroffenen Personen keine Möglichkeit hätten, gegen ihre (individuelle oder kollektive) Aus- und Zurückweisung mit einer wirksamen Beschwerde vorzugehen, so wäre – analog zur Rechtslage nach EMRK – von einem Eingriff in Art. 47 GRC auszugehen. Im GRC-Kommentarschrifttum wird eine Rechtfertigung von Eingriffe in Art. 47 GRC als möglich angesehen und auf die allgemeine Klausel des Art. 52 Abs. 1 GRC verwiesen.100 Dies dürfte jedoch nur Fragen einer (eingreifenden) Ausgestaltung des Rechtsbehelfs betreffen. Eine vollständige Vorenthaltung würde den Wesensgehalt dieser Verbürgung beeinträchtigten, was nach Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC schlechthin unzulässig ist. 3.1.6. Ergebnis Die Einführung einer unionsweiten Obergrenze für die Aufnahme von international schutzsuchenden Drittstaatsangehörigen wäre im Lichte der Art. 18, 19 und 47 GRC problematisch. Zwar folgt insbesondere aus den beiden erstgenannten Vorschriften – nach herrschender Meinung bzw. bereits dem Wortlaut nach – kein Recht auf Einräumung internationalen Schutzes, weder für Flüchtlinge im Sinne der GFK noch für die nur unionsrechtlich anerkannten subsidiär Schutzberechtigten . Sowohl Art. 18 GRC als auch Art. 19 GRC schützen jedoch vor Aus- und Zurückweisung (non-refoulment) und vermitteln ein daraus folgendes Bleiberecht. Art. 47 GRC sichert in Ergänzung hierzu das Recht eines jeden Drittstaatsangehörigen, im Fall eines Verstoßes gegen die vorgenannten Gewährleistungen einen wirksamen Rechtsbehelf einlegen zu können. Mit den nach herrschender Ansicht auf einen subjektiven Zurückweisungsschutz beschränkten Geltung des Art. 18 GRC wäre eine unionsweite Obergrenze nur insoweit vereinbar, als die hiervon betroffenen Flüchtlinge im Sinne der GFK in sichere Drittstaaten zurückgewiesen würden. Ob eine in Art. 18 GRC eingreifende Aus- und Zurückweisung von Flüchtlingen in Verfolgerstaaten aus Gründen der Überschreitung einer Obergrenze gerechtfertigt werden könnte, erscheint dagegen höchst zweifelhaft. Der ebenfalls vor individueller Aus- und Zurückweisung schützende Art. 19 Abs. 2 GRC erfasst nicht nur Flüchtlinge im Sinne der GFK, sondern auch sonstige Drittstaatsangehörige und damit u. a. die Gruppe der sog. subsidiär Schutzberechtigten. Ebenso wie bei Art. 18 GRC wäre eine unionsweite Obergrenze nur insoweit mit dieser Gewährleistung vereinbar, als die Zurückweisung der hiervon betroffenen Personen in sichere Drittstaaten erfolgen würde. Ein Verstoß hiergegen ist – anders als im Rahmen des flüchtlingsrechtlichen Zurückweisungsschutzes – per se 99 Vgl. Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Auflage 2012 (im Folgenden: Streinz), Art. 47 GRC, Rn. 1; Hermann- Josef Blanke, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 38), Art. 47 GRC, Rn. 1. 100 So etwa Lemke, von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 47 GRC, Rn. 16 f.; Jarass (o. Fn. 34), Art. 47 GRC, Rn. 14 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 31 nicht rechtfertigungsfähig. Insoweit bietet Art. 19 Abs. 1 GRC für Flüchtlinge im Sinne der GFK einen weitergehenden Schutz als Art. 18 GRC. Das Verbot der Kollektivausweisung nach Art. 19 Abs. 1 GRC stünde einer unionsweiten Obergrenze insoweit entgegen, als es in Folge ihrer Durchsetzung zu einer pauschalen Ausweisung von Personengruppen käme, ohne dass die individuelle Situation ihrer Mitglieder geprüft würde. Anders als im Rahmen des individuellen Aus- und Zurückweisungsschutzes kommt es im Rahmen des Art. 19 Abs. 1 GRC nicht darauf an, in welchen Staat die kollektive Aus- und Zurückweisung erfolgt. Eingriffe in das Verbot der Kollektivausweisung können allenfalls in Anlehnung an den in Art. 15 Abs. 1 EMRK geregelten Notstandsfall gerechtfertigt werden. Ob eine solche „notstandsähnliche Extremsituation“ auf EU-Ebene durch einen Zustrom von international Schutzsuchenden überhaupt ausgelöst werden könnte, erscheint ebenfalls höchst zweifelhaft. Mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsbehelf aus Art. 47 GRC wäre die Verankerung einer unionsweiten Obergrenze insoweit unvereinbar, als die hierdurch betroffenen Personen keine Möglichkeit hätten, ihre (individuelle oder kollektive) Aus- und Zurückweisung mit einem wirksamen Rechtsbehelf anzugreifen. 3.1.7. Sekundärrechtlich vorgesehene Obergrenzen für einzelne Mitgliedstaaten Vor diesem Hintergrund stellt sich die Anschlussfrage, ob man von Unionsseite Obergrenzen für die Aufnahme von international Schutzsuchenden für einzelne Mitgliedstaaten verankern könnte, ggf. bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen, die etwa an Kapazitätskriterien o. ä. geknüpft wären. Dies scheint in rechtlicher Hinsicht jedenfalls dann als unproblematisch, sofern es sich um eine allein nach innen wirkende Regelung handeln und die EU als Ganzes die soeben skizzierten grundrechtsrelevanten Voraussetzungen beachten würde. Ob ein solches Vorhaben dem Grunde nach politisch durchsetzbar wäre, lässt sich an dieser Stelle nicht beantworten. Das oben erwähnte Beispiel des von der Kommission erfolglos vorgeschlagenen Aussetzungsmechanismus im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zur Dublin-III-Verordnung spricht eher dagegen .101 3.2. Auf mitgliedstaatlicher Ebene Geht man vom geltenden EU-Recht aus, wonach dieses keine zahlenmäßige Begrenzung der Aufnahme von international Schutzsuchenden zulässt, ist im Folgenden zu untersuchen, ob die autonome Einführung derartiger Kapazitätsgrenzen auf nationaler Ebene – vorbehaltlich der Zulässigkeit nach nationalem (Verfassungs-) Recht102 – mit Unionsrecht vereinbar wäre. Dies hängt zunächst davon ab, ob und inwieweit nach geltendem Unionsrecht eine Pflicht besteht, Drittstaatsangehörigen internationalen Schutz nach den einschlägigen Sekundärrechtsakten zu gewähren 101 Siehe oben unter 2.2.3., S. 10. 102 Siehe dazu etwa WD 2, Kapazitätsgrenzen (o. Fn. 2) mit weiteren Nachweisen; Hopfauf, Zur Umwandlung des Asylgrundrechts in eine objektive Gewährleistung, ZRP 2015, S. 226 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 32 (siehe unter 3.2.1.). Anschließend ist hinsichtlich der unionsrechtlichen Zulässigkeit einer mitgliedstaatlichen Obergrenze zwischen dem Bestehen (siehe unter 3.2.2.) und dem Nichtbestehen dieser Pflicht (siehe unter 3.2.3.) zu differenzieren. 3.2.1. Umfang der unionsrechtlichen Pflicht zur Gewährung internationalen Schutzes Unionsrechtlich begründete Pflichten zur Gewährung internationalen Schutzes ergeben sich aus dem Zusammenspiel dreier Rechtsakte: der die mitgliedstaatliche Zuständigkeit zur materiellen Prüfung der Schutzvoraussetzungen bestimmenden Dublin-III-Verordnung, der das Verfahren für die Zu- und Aberkennung regelnden Asylverfahrensrichtlinie und schließlich der die materiellen Voraussetzungen des Schutzes vorgebenden Qualifikationsrichtlinie. Da die Einführung einer Obergrenze auf mitgliedstaatlicher Ebene nur für solche Drittstaatsangehörige Relevanz haben könnte, die die materiellen Voraussetzungen des internationalen Schutzes im Sinne der Qualifikationsrichtlinie erfüllen, sind für den Umfang der unionsrechtlichen Pflicht zur Gewährung internationalen Schutzes im Folgenden nur die Dublin-III-Verordnung (siehe unter 3.2.1.1.) sowie die Asylverfahrensrichtlinie und die dort geregelte Möglichkeit von Bedeutung, Anträge auch ohne (materielle) Prüfung als unzulässig zurückzuweisen (siehe unter 3.2.1.2.), von Relevanz. 3.2.1.1. Dublin-III-Verordnung Die Frage der mitgliedstaatlichen Zuständigkeit für die Gewährung internationalen Schutzes nach der Dublin-III-Verordnung ist der eigentlichen materiellen Prüfung eines entsprechenden Antrags vorgelagert. Zwar ist nach Art. 3 Abs. 1 S. 1 Dublin-III-Verordnung jeder Antrag auf internationalen Schutz in materieller Hinsicht zu prüfen. Nach Art. 3 Abs. 1 S. 2 Dublin-III-Verordnung hat dies aber nur durch einen einzigen Mitgliedstaat zu erfolgen: dem nach den Kriterien der Dublin-III-Verordnung ermittelten zuständigen Staat. Wird in einem Mitgliedstaat ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt, so muss der betreffende Mitgliedsstaat folglich zunächst eine Zuständigkeitsprüfung durchführen (vgl. Art. 20 ff. Dublin-III-Verordnung). Deutlich wird dies auch an der Ermessensklausel des Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung (auch: Selbsteintrittsrecht ). Danach kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz auch dann materiell zu prüfen, wenn er nach den in der Dublin-III-Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.103 Auf die in den Art. 7 ff. Dublin-III-Verordnung geregelten Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Staates soll an dieser Stelle nicht im Einzelnen eingegangen werden.104 Hingewiesen sei insoweit nur auf das für die Praxis bedeutsamste Kriterium des Ersteinreisestaates in Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO, welches als wesentlicher Konstruktionsfehler des Dublin-Systems angesehen wird.105 Denn danach ist der Mitgliedstaat für die materielle Prüfung des Antrags zuständig, 103 Vgl. insoweit auch Art. 33 Asylverfahrensrichtlinie. 104 Siehe hierzu oben unter 2.2.3., S. 9, sowie die kurze Darstellung bei Bergmann, Das Dublin-Asylsystem, ZAR 2015, S. 81 (83). 105 Vgl. etwa Dreyer, Europäische Gerichte als Akteure einer individualrechtlich orientierten Asylpolitik, ZAR 2014, S. 358 (359, 362 f.), sowie die Beiträge unten in Fn. 109. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 33 dessen Land-, See- oder Luftgrenze der aus einem Drittstaat kommende Antragsteller illegal überschreitet . Derartige Einreisemitgliedstaaten sind in erster Linie solche mit EU-Außengrenzen. Mit Blick auf die Herkunftsländer der derzeitigen Flüchtlingskrise im Nahen Osten sowie Afrika und den bevorzugte Fluchtrouten führt dies zu einer überproportionalen Belastung vor allem Griechenlands sowie Italiens.106 Im Hinblick auf den erstgenannten Mitgliedstaat führte der EuGH in dem o. g. Urteil N. S. u. a. zu Überstellungen nach der Dublin-II-Verordnung Folgendes aus: „Hinsichtlich der Lage in Griechenland ist zwischen den Beteiligten, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, unstreitig, dass im Jahr 2010 fast 90 % der illegalen Einwanderer über diesen Mitgliedstaat in die Union gelangten, so dass die wegen dieses Zustroms auf ihm liegende Last außer Verhältnis zu der Belastung der anderen Mitgliedstaaten steht und es den griechischen Behörden tatsächlich unmöglich ist, diesen Zustrom zu bewältigen. Die Hellenische Republik hat darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten nicht den Vorschlag der Kommission angenommen hätten, die Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 auszusetzen und diese unter Abschwächung des Kriteriums der ersten Einreise zu ändern.“107 In die Dublin-III-Verordnung wurde diese Rechtsprechung in der Auffangzuständigkeit nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung berücksichtigt. Diese Vorschrift regelt nicht nur, wie zu verfahren ist, wenn ein zuständiger Staat nicht ermittelt werden kann, sondern auch den Fall, in dem eine Überstellung an den (ansonsten) zuständigen Staat aus Gründen des Grundrechtsschutzes nicht erfolgen darf. Im ersten Fall gilt nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin-III-Verordnung, dass die Zuständigkeit auf den Staat übergeht, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz erstmals gestellt wurde. Der zweite Fall greift das Urteil in der Rechtssache N.S. u. a. auf und bestimmt, dass Überstellungen unzulässig sind, wenn sie in einen Mitgliedstaat erfolgen sollen, in dem wegen systemischer Mängel bei Asylverfahren und Aufnahmebedingungen für international Schutzsuchende die Gefahr einer Verletzung von Art. 4 GRC droht, vgl. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III- Verordnung.108 In einer solchen Situation sieht Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-Verordnung vor, dass der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat zum zuständigen Mitgliedstaat wird, sofern nicht noch ein anderer Mitgliedstaat nach den Kriterien der Art. 7 ff. Dublin-III-Verordnung als zuständig bestimmt werden kann. Auf die daraus resultierenden praktischen Konsequenzen und (Rechts-)Probleme bei der Anwendung der Dublin-III-Verordnung sowie die Wechselwirkungen mit dem Schengen-System und 106 Vgl. vor diesem Hintergrund auch die beiden oben unter 2.2.7., S. 13, erwähnten Ratsbeschlüsse zugunsten Italiens und Griechenlands zur Umsiedlung von international Schutzsuchenden (Nachweis oben in Fn.26), siehe insbesondere jeweils den Erwägungsgrund Nr. 10. 107 EuGH, Urt. v. 21.12.2011, verb. Rs. C-411/10 u. C-493/10 (N.S. u. a.), Rn. 87 (Hervorhebung durch Verfasser). 108 Vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011, verb. Rs. C-411/10 u. C-493/10 (N.S. u. a.), Rn. 106. Zu den daraus folgenden Anwendungsproblemen siehe Bergmann, ZAR 2015, S. 81 (87, „Dublin-Lotterie“). Zu den Spannungen im Verhältnis zu den einzelfallbezogenen Kriterien in der EGMR-Rechtsprechung Wendel, Menschenrechtliche Überstellungsverbote : Völkerrechtliche Grundlagen und verwaltungsrechtliche Konkretisierung, DVBl. 2015, S. 731 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 34 der (vorübergehenden) Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen, soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.109 In rechtlicher Hinsicht ist für die vorliegende Frage allein von Bedeutung, dass der nach Art. 7 ff. oder nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung als zuständig bestimmte Mitgliedstaat – vorbehaltlich der sogleich darzustellenden Regelungen der Asylverfahrensrichtlinie – nach Art. 13 bzw. 18 Qualifikationsrichtlinie grundsätzlich verpflichtet ist, jeden Antragsteller anzuerkennen, der die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. des subsidiären Schutzes gemäß der Qualifikationsrichtlinie erfüllt. Fehlt es an einer Zuständigkeit des prüfenden Mitgliedstaats nach Art. 7 ff. oder nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung, besteht folglich keine Pflicht zur Gewährung internationalen Schutzes, auch wenn der betreffende Antragsteller die Voraussetzungen hierfür aufweist. Nach der Ermessensklausel des Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung kann der betreffende Mitgliedstaat den bei ihm gestellten Antrag gleichwohl materiell prüfen und bei Vorliegen der einschlägigen Voraussetzung internationalen Schutz gewähren. Macht der betreffende Mitgliedstaat bei fehlender eigener Zuständigkeit keinen Gebrauch von seinem Ermessen bzw. Selbsteintrittsrecht, hat er den betreffenden Antragsteller an den nach der Dublin-III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, vgl. Art. 21 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin -III-Verordnung. Wird dem als zuständig angesehenen Mitgliedstaat innerhalb bestimmter Fristen kein Überstellungsgesuch unterbreitet, so wird der Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde und der die Zuständigkeitsprüfung durchgeführt hat, nach Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin-III-Verordnung zum zuständigen Mitgliedstaat. Gleiches gilt nach Art. 29 Abs. 2 Dublin- III-Verordnung, wenn die von dem ersuchten Mitgliedstaat akzeptierte Überstellung nicht innerhalb bestimmter Fristen durchgeführt wird. Mit diesen Vorgaben wird zum einen verhindert, dass es zu der Situation des sog. „refugee in orbit “110 kommt, in der kein Mitgliedstaat für die materielle Prüfung eines in der EU gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Zum anderen verdeutlichen die Vorgaben, dass eine Aus- und Zurückweisung von international Schutzsuchenden in andere Mitgliedstaaten nur nach den Vorgaben und Kriterien der Dublin-III-Verordnung in Form der Überstellung erfolgen darf (vgl. insoweit auch Art. 3 Abs. 3 Dublin-III-Verordnung).111 109 Siehe hierzu die Beiträge von Lehner, „Dublin, Schengen und der Stöpsel“ vom 18.09.2015, sowie „Grenze auf, Grenze zu? Die transnationale Wirkung von Rechtsverstößen im Dublin-System“ vom 30.10.2015, veröffentlicht auf verfassungsblog.de, online abrufbar unter http://verfassungsblog.de/dublin-schengen-und-der-stoepsel/ bzw. http://verfassungsblog.de/grenze-auf-grenze-zu-die-transnationale-wirkung-von-rechtsverstoessen-im-dublinsystem / (letztmaliger Abruf am 16.12.15). 110 Vgl. etwa Lehner, Grenze auf, Grenze zu? Die transnationale Wirkung von Rechtsverstößen im Dublin-System“ (o. Fn. 109); 111 Siehe zu Zahlen Bergmann, ZAR 2015, S. 81 (82) sowie die Angaben des BAMF, Aktuelle Zahlen zu Asyl, S. 9, online abrufbar unter https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/statistik -anlage-teil-4-aktuelle-zahlen-zu-asyl.pdf?__blob=publicationFile (letztmaliger Abruf am 16.12.15). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 35 3.2.1.2. Asylverfahrensrichtlinie Die nach der Dublin-III-Verordnung bestehende mitgliedstaatliche Zuständigkeit ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für eine materielle Antragsprüfung und damit ggf. für die unionsrechtliche Verpflichtung zur internationalen Schutzgewährung. Dies folgt aus Art. 33 Asylverfahrensrichtlinie. Nach Art. 33 Abs. 1 Asylverfahrensrichtlinie kann der zuständige Mitgliedstaat einen Antrag ohne materielle Prüfung als unzulässig zurückweisen, wenn einer der in Abs. 2 Buchst. a) bis e) genannten Fälle einschlägig ist. Das ist u. a. nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. b) oder c) Asylverfahrensrichtlinie dann der Fall, wenn ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, für den Antragsteller als erster Asylstaat im Sinne des Art. 35 Asylverfahrensrichtlinie bzw. als sicherer Drittstaat im Sinne des Art. 38 Asylverfahrensrichtlinie betrachtet wird. Als erster Asylstaat im Sinne des Art. 35 Asylverfahrensrichtlinie kann ein Staat angesehen werden , in dem der Antragsteller entweder als Flüchtling anerkannt wurde und in dem er diesen Schutz weiterhin in Anspruch nehmen darf [Buchst. a)] oder wenn ihm in dem betreffenden Staat anderweitig ausreichender Schutz, einschließlich der Anwendung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung, gewährt wird [Buchst. b)], vorausgesetzt, dass er von diesem Staat wieder aufgenommen wird. Insbesondere in Art. 35 Buchst. b) Asylverfahrensrichtlinie kommt das oben im Rahmen von Art. 18 und Art. 19 Abs. 2 GRC erwähnte Konzept des „sicheren“ Drittstaates zum Ausdruck. Dieses liegt auch Art. 38 Asylverfahrensrichtlinie zugrunde. Diese Vorschrift enthält materielle und auch verfahrensrechtliche Vorgaben, die an die Mitgliedstaaten für den Fall gerichtet sind, dass sie ein solches Konzept anwenden wollen. Sie können es nach Art. 38 Abs. 1 Buchst. a) bis e) Asylverfahrensrichtlinie jedoch nur dann anwenden, wenn sich die zuständigen Behörden davon überzeugt haben, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, in dem betreffenden Drittstaat u. a. nach folgenden Grundsätzen behandelt wird: keine Gefährdung von Leben und Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung [Buchst. a)], Wahrung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung nach der Genfer Flüchtlingskonvention [Buchst. c)], Möglichkeit , einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu stellen und im Falle der Anerkennung als Flüchtling Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu erhalten [Buchst. e)]. Nur wenn diese oder die anderen – hier nicht weiter relevanten – in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a), d) und e) Asylverfahrensrichtlinie vorgesehenen Voraussetzungen nicht vorliegen, ist der (zuständige ) Mitgliedstaat verpflichtet, eine materielle Antragsprüfung vorzunehmen und ggf. internationalen Schutz zu gewähren. Anderenfalls liegt die materielle Prüfung des Antrags in seinem Ermessen . 3.2.2. Zulässigkeit einer Obergrenze bei Bestehen unionsrechtlicher Pflichten Soweit nach den obigen Ausführungen eine Zuständigkeit nach der Dublin-III-Verordnung besteht und keine Unzulässigkeitsgründe nach der Asylverfahrensrichtlinie vorliegen, ist der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet einen Antrag materiell zu prüfen und ggf. internationalen Schutz zu gewähren. Abweichungen hiervon sind zunächst nur auf Grundlage der einschlägigen Ausnahmebestimmungen in der Qualifikationsrichtlinie möglich. Wie oben ausgeführt, beruhen diese auf individualbezogenen Erwägungen und stünden somit einer numerischen Obergrenze Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 36 und einer daraus folgenden pauschalen Zurückweisung von international Schutzsuchenden entgegen . Mit dem einschlägigen EU-Sekundärrecht wäre die Verankerung einer mitgliedstaatlichen Obergrenze für die pflichtige Aufnahme international Schutzsuchender folglich unvereinbar. Zu prüfen wäre jedoch, ob die mit der Einführung einer Obergrenze verbundene Abweichung von den sekundärrechtlichen Verpflichtungen auf Art. 72 AEUV gestützt werden könnte (siehe unter 3.2.2.1.). Wäre dies möglich, stellte sich die Frage nach der Bedeutung der Art. 18, 19 und 47 GRC in diesem Kontext (siehe unter 3.2.2.2.). 3.2.2.1. Mitgliedstaatliche Obergrenze auf Grundlage von Art. 72 AEUV? Nach Art. 72 AEUV berühren die Art. 67 bis 89 AEUV (AEUV-Titel über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts - RFSR) nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit . Mit Blick auf den Inhalt dieser Vorschrift gilt es die folgenden Fragen zu erörtern: ermöglicht diese Vorschrift eine Abweichungen von den sekundärrechtlichen Vorgaben des RFSR (siehe unter 3.2.2.1.1.). Soweit dies zu bejahen ist: unter welchen Voraussetzungen kann das erfolgen und unterliegt die mitgliedstaatliche Berufung auf diese Klausel der unionsgerichtlichen Kontrolle (siehe unter 3.2.2.1.2.). Zu erörtern wäre sodann, welche Bedeutung einer sekundärrechtlichen Konkretisierung des Art. 72 AEUV zukommt (siehe unter 3.2.2.1.3.). Abschließend ist zu untersuchen , ob die autonome Einführung einer Obergrenze von Seiten der Mitgliedstaaten im Lichte dieser Vorgaben möglich wäre (siehe unter 3.3.3.1.4.). 3.2.2.1.1. Art. 72 AEUV als Abweichungsbefugnis Von der wohl überwiegenden Auffassung im Schrifttum wird die Ansicht vertreten, dass Art. 72 AEUV nicht nur die Reichweite der EU-Kompetenzen im Bereich des RFSR begrenzt,112 sondern die Mitgliedstaaten auch dazu ermächtigt, aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit von dem in diesem Bereich erlassenen Sekundärrecht abzuweichen.113 Hiergegen wird jedoch eingewandt, dass eine solche Befugnis dem Wortlaut dieser Vorschrift nicht entnommen werden könne: ein Abweichen vom Sekundärrecht werde gerade nicht erwähnt.114 Auch bestehe keine Parallele zu den grundfreiheitlichen, Abweichungen ausdrücklich ermöglichenden 112 Insoweit besteht im Schrifttum Einigkeit, vgl. Weiß, in: Streinz (o. Fn. 99), Art. 72 AEUV, Rn. 2; Breitenmoser /Weyeneth, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 72 AEUV, Rn. 15 ff.; Röben, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fn. 4), Art. 72 AEUV, Rn. 16; Thym, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht, 8. Edition, Stand: 01.05.2015 (im Folgenden: Beck’scher Online-Kommentar), Art. 72 AEUV, Rn. 1. 113 So etwa Weiß, in: Streinz (o. Fn. 99), Art. 72 AEUV, Rn. 4; Breitenmoser/Weyeneth, in: von der Groeben /Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 72 AEUV, Rn. 20; Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 36), Art. 72 AEUV, Rn. 1, 5. Herrnfeld, in: Schwarze u. a. (o. Fn. 39), Art. 72 AEUV, Rn. 3. Ähnlich, wenngleich auf Eingriff in Grundfreiheiten beschränkt Röben, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fn. 4), Art. 72 AEUV, Rn. 17. Keine der Kommentierung enthält allerdings einen belegenden Verweis auf unionsgerichtliche Rechtsprechung. 114 Thym, in: Beck’scher Online-Kommentar (o. Fn. 112), Art. 72 AEUV, Rn. 1. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 37 ordre-public-Vorbehalten in den Art. 36, 45 Abs. 3, 52 Abs. 1 und 65 Abs. 1 Buchst. b) AEUV, da die Vorschriften des RFSR gerade keine subjektiven Rechte enthalten.115 In der Rechtsprechung des EuGH ist eine auf Art. 72 AEUV gestützte Abweichungsbefugnis – soweit ersichtlich – bisher zwar noch nicht entscheidungserheblich gewesen. In mehreren Entscheidungen zur Vorgängerbestimmung des Art. 72 AEUV (ex. Art. 64 EG-Vertrag) hat der EuGH diese aber in eine Reihe mit den grundfreiheitlichen ordre-public-Vorbehalten sowie den Art. 346 und 247 AEUV gestellt und jeweils ausgeführt, dass der Vertrag in diesen Bestimmungen „ausdrückliche Abweichungen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit [vorsieht]“.116 Nichts anderes dürfte insoweit für Abweichungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung gelten, die als Rechtsfertigungsgrund immer zusammen mit der öffentlichen Sicherheit in den genannten Bestimmungen erwähnt wird. Vor diesem Hintergrund ist im Folgenden davon auszugehen, dass Art. 72 AEUV Abweichungen vom Sekundärrecht im Bereich des RFSR aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit zulässt. 3.2.2.1.2. Tatbestandliche Voraussetzungen und unionsgerichtliche Kontrolle Zu klären ist somit, welche tatbestandlichen Voraussetzungen Art. 72 AEUV für eine Abweichung vom Sekundärrecht vorsieht und ob deren Vorliegen der unionsgerichtlichen Kontrolle unterliegt. Der Rechtsprechung lässt sich zu der ersten Frage in Bezug auf Art. 72 AEUV nichts entnehmen. In den beiden zitierten Urteilen finden sich jedoch allgemeine Vorgaben zu den Abweichungsklauseln , die als solche entsprechend auch für diese Bestimmung Geltung beanspruchen. So ergänzt der EuGH die Aufzählung der Klauseln um den Hinweis, dass jede von ihnen „ganz bestimmte außergewöhnliche Fälle [betrifft].“117 In Bezug auf die Art. 346 und 347 AEUV stellt er unter Verweis auf seine Rechtsprechung zu den grundfreiheitlichen ordre-public-Vorbehalten fest, dass diese eng auszulegen seien.118 Zwar wird Art. 72 AEUV mangels Entscheidungserheblichkeit insoweit nicht erwähnt. Angesichts des Kontexts dürfte indes davon auszugehen sein, dass diese Aussage auch für diese Bestimmung gilt. 115 Thym, in: Beck’scher Online-Kommentar (o. Fn. 112), Art. 72 AEUV, Rn. 1. 116 EuGH, Urt. v. 04.03.2010, Rs. C-38/06 (Kommission/Portugal), Rn. 62; EuGH, Urt. v. 15.12.2009, Rs. C-409/05 (Kommission/Griechenland), Rn. 50. In beiden Fällen ging es um die (im Ergebnis als unzulässig verworfene) Anwendung von ex. Art. 296 EG-Vertrag, heute Art. 346 AEUV. Siehe auch schon EuGH, Urt. v. 11.03.2003, Rs. C-186/01 (Dory), Rn. 33. Anders als in den beiden vorgenannten Rechtssachen prüfte der EuGH hier jedoch keine der genannten Abweichungsklauseln ausdrücklich. 117 EuGH, Urt. v. 04.03.2010, Rs. C-38/06 (Kommission/Portugal), Rn. 62; EuGH, Urt. v. 15.12.2009, Rs. C-409/05 (Kommission/Griechenland), Rn. 50. 118 EuGH, Urt. v. 04.03.2010, Rs. C-38/06 (Kommission/Portugal), Rn. 63; EuGH, Urt. v. 15.12.2009, Rs. C-409/05 (Kommission/Griechenland), Rn. 51. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 38 Hiervon gehen im Ergebnis auch einige Vertreter im Schrifttum aus, wenn sie eine auf den „Ausnahmefall “ beschränkte Anwendung des Art. 72 AEUV als Abweichungsbefugnis befürworten,119 die nicht „ohne Not erfolgen“ dürfe120 und die sich für eine „enge Auslegung“ aussprechen.121 Soweit jedoch Letzteres abgelehnt wird und hierzu auf die fehlende Vergleichbarkeit mit den grundfreiheitlichen ordre-public-Vorbehalten verwiesen wird,122 vermag dies vor dem Hintergrund der oben zitierten EuGH-Urteile nicht zu überzeugen. In deren Konsequenz liegt es sodann, die Begriffe der öffentlichen Ordnung sowie der öffentlichen Sicherheit als Begriffe des Unionsrechts anzusehen, die autonom auszulegen sind, wobei mitgliedstaatliche Wertungen bei deren Konkretisierung maßgeblich zu berücksichtigen sind.123 Mangels einschlägiger Rechtsprechung zu ihrem Verständnis im Kontext des Art. 72 AEUV wird im Folgenden auf die einschlägigen Urteile zu den grundfreiheitlichen ordre-public-Vorbehalten rekurriert.124 Danach reicht für die Berufung auf eine Störung der öffentlichen Ordnung nicht jede Gesetzesverletzung aus, erforderlich ist vielmehr das Vorliegen „eine[r] tatsächliche[n] und hinreichend schwere[n] Gefährdung […], die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.“125 Unter öffentlicher Sicherheit versteht man die innere und die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats,126 von der Art. 72 AEUV allerdings nur den erstgenannten Bereich umfasst. Der sich auf eine Abweichung berufende Mitgliedstaat hat dabei nachzuweisen, dass diese Voraussetzungen im Einzelnen vorliegen und eine Abweichung vom Unionsrecht erforderlich ist, 119 So etwa Herrnfeld, in: Schwarze u.a. (o. Fn. 39), Art. 72 AEUV, Rn. 3. 120 So Breitenmoser/Weyeneth, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 72 AEUV, Rn. 20. 121 Weiß, in: Streinz (o. Fn. 99), Art. 72 AEUV, Rn. 5. 122 So Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 36), Art. 72 AEUV, Rn. 7, wonach den Mitgliedstaaten ein weiter Beurteilungsspielraum zuzubilligen sei, den der EuGH durch Rücknahme seiner Kontrolldichte zu respektieren habe. 123 Vgl. Weiß, in: Streinz (o. Fn. 99), Art. 72 AEUV, Rn. 5; Herrnfeld, in: Schwarze u.a. (o. Fn. 39), Art. 72 AEUV, Rn. 20. 124 So Herrnfeld, in: Schwarze u.a. (o. Fn. 39), Art. 72 AEUV, Rn. 8. Enger dagegen Weiß, in: Streinz (o. Fn. 99), Art. 72 AEUV, Rn. 6 (grundfreiheitliche Auslegungsgrundsätze nur als „erste Leitlinie“). 125 EuGH, Urt. v. 27.10.1977, Rs. 30/77 (Bouchereau), Rn.33/35; EuGH, Urt. v. 04.12.1974, Rs. 41/74 (Van Duyn), Rn. 18/19. 126 Vgl. EuGH, Urt. v. 11.03.2003, Rs. C-186/01 (Dory), Rn. 32. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 39 um diese Interessen zu wahren.127 An dem Kriterium der Erforderlichkeit wird deutlich, dass die Geltendmachung sodann dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegt.128 Anders als im Rahmen der grundfreiheitlichen ordre-public-Vorbehalte unterliegt die unionsgerichtliche Kontrolle des Art. 72 AEUV zwar Einschränkungen. Diese ergeben sich aus Art. 276 AEUV. Danach ist der Gerichtshof der EU bei der Ausübung seiner Befugnisse u. a. nicht zuständig für die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit. Dies gilt aber dem Wortlaut nach nur in Ansehung von Maßnahmen nach den Kapiteln 4 und 5 über den RFSR, die die Art. 82 bis 89 AEUV (justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen bzw. polizeiliche Zusammenarbeit) umfassen .129 Die hier einschlägige Bestimmung in Art. 78 AEUV aus dem Kapitel 2 über die Politik im Bereich Grenzkontrolle, Asyl und Einwanderung ist hiervon nicht betroffen, so dass eine Geltendmachung von Art. 72 AEUV im vorliegenden Kontext in vollem Umfang der unionsgerichtlichen Kontrolle unterliegen würde. 3.2.2.1.3. Bedeutung sekundärrechtlicher Konkretisierungen Unklar ist, welche Bedeutung sekundärrechtliche Konkretisierungen der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit für die Anwendung des Art. 72 AEUV haben. Zum Teil wird im Schrifttum diesbezüglich vertreten, dass Art. 72 AEUV regelmäßig der Konkretisierung durch Sekundärrecht verlangt.130 Dies ist insoweit zutreffend, als der Unionsgesetzgeber dazu ermächtigt ist, die primärrechtlich vorgesehenen Ausnahmetatbestände sekundärrechtlich auszugestalten.131 Im Kommentarschrifttum wird in diesem Zusammenhang auf das Schengen-Recht und die Einführung vorübergehender Grenzkontrollen an den Binnengrenzen verwiesen.132 So hat der Unionsgesetzgeber im Schengener Grenzkodex in den Art. 23 ff. entsprechende Regelungen vorgesehen, 127 Vgl. EuGH, Urt. v. 04.03.2010, Rs. C-38/06 (Kommission/Portugal), Rn. 66; EuGH, Urt. v. 15.12.2009, Rs. C-409/05 (Kommission/Griechenland), Rn. 54. So auch ausdrücklich in Bezug auf die Anwendung des Art. 72 AEUV Weiß, in: Streinz (o. Fn. 99), Art. 72 AEUV, Rn. 6. 128 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.07.1984, Rs. 72/83 (Campus Oil), Rn. 36 f. So auch ausdrücklich in Bezug auf die Anwendung des Art. 72 AEUV Breitenmoser/Weyeneth, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 72 AEUV, Rn. 20. 129 So Dittert, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 9), Art. 276 AEUV, Rn.7; Dörr, Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fn. 4), Art. 276 AEUV, Rn. 12; Suhr, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 36), Art. 276 AEUV, Rn. 12. 130 Röben, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fn. 4), Art. 72 AEUV, Rn. 17. 131 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 19.07.2012, Rs. C-278/12 PPU (Adil), Rn. 52, wenngleich es sich in diesem Fall eher um eine sekundärrechtliche Konkretisierung der kompetenzabgrenzenden Funktion des Art. 72 AEUV handelt. 132 Vgl. Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 36), Art. 72 AEUV, Rn. 8; Weiß, in: Streinz (o. Fn. 99), Art. 72 AEUV, Rn. 4. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 40 um aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit eine vorübergehende Abkehr von dem Grundsatz des freien Binnengrenzübertritts zu ermöglichen.133 Der Verweis auf sekundärrechtlichen Konkretisierungsbedarf darf jedoch nicht dahingehend verstanden werden, dass es sich hierbei um eine Voraussetzung für die Berufung auf Abweichungen aus Gründen öffentlicher Ordnung und (innerer) Sicherheit handelt. Ist der Unionsgesetzgeber jedoch tätig geworden, so folgt daraus nicht nur, dass der jeweilige Rechtsakt den betreffenden Primärrechtsvorschriften in der konkreten Anwendung vorgeht. Die sekundärrechtliche Konkretisierung dürfte auch den Rückgriff auf die primärrechtliche Abweichungsmöglichkeit insoweit sperren, als diese Gegenstand der Konkretisierung geworden ist.134 Diese Wechselwirkung zwischen Primärrechtskompetenz und sekundärrechtlicher Konkretisierung dürfte auch im Hinblick auf Art. 72 AEUV Geltung beanspruchen. 3.2.2.1.4. Einführung einer Obergrenze auf Grundlage von Art. 72 AEUV Anerkennt man mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH, dass Art. 72 AEUV (auch) eine mitgliedstaatliche Abweichungsbefugnis von sekundärrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen des RSFR beinhaltet, so stellt sich die Frage, ob hierauf die autonome Verankerung von Obergrenzen für die Aufnahme von international Schutzsuchenden gestützt werden könnte. Das könnte nur dann der Fall sein, wenn ein solches Vorhaben gerade aus Gründen der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit eingeführt werden sollte. Anderenfalls wäre eine Berufung auf Art. 72 AEUV von vornherein ausgeschlossen. Im Folgenden soll daher unterstellt werden, dass die Einführung einer mitgliedstaatlichen Obergrenze hiermit begründet würde. Dies würde nach den oben ermittelten Vorgaben zunächst voraussetzen, dass im einschlägigen Sekundärrecht, von dem abgewichen werden soll, keine vorrangige und die Anwendung des Art. 72 AEUV ausschließende Konkretisierung der Schutzgründe der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit vorgesehen wurde. Wie oben im Zusammenhang mit der Dublin-II-Verordnung ausgeführt, war im Gesetzgebungsverfahren zu diesem Rechtsakt zunächst ein Aussetzungsmechanismus bei außergewöhnlich schwerer Belastung der Aufnahmekapazitäten vorgesehen , der jedoch nicht durchsetzungsfähig war.135 Eingang in die Dublin-III-Verordnung fand jedoch ein Mechanismus zur Frühwarnung, Vorsorge und Krisenbewältigung für Fälle, in denen die Gefahr eines besonderen Drucks auf das Asylsystem eines Mitgliedstaates droht.136 Ob es sich hierbei um eine Konkretisierung der Schutzgründe des Art. 72 AEUV handelt, lässt sich weder 133 Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl.EU 2006 Nr. L 105/1, konsolidierte Fassung online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02006R0562-20131126&qid=1450101100061&from=DE (letztmaliger Abruf am 16.12.15). 134 So im Zusammenhang mit Art. 52 AEUV Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 36), Art. 52 AEUV, Rn. 5; Müller- Graff, in: Streinz (o. Fn. 99), Art. 52 AEUV, Rn. 6. 135 Siehe oben unter 2.2.3., S. 10 . 136 Siehe oben unter 2.2.3., S. 10 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 41 der einschlägigen Vorschrift in Art. 33 Dublin-III-Verordnung entnehmen, noch den darauf bezogenen Erwägungsgründen. Hiergegen spricht jedenfalls, dass die Begriffe der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit an keiner Stelle im Normkontext der Dublin-III-Verordnung erwähnt werden. Andererseits greift der Mechanismus zur Frühwarnung, Vorsorge und Krisenbewältigung gerade den Fall einer großen Vielzahl von international Schutzsuchenden und sich daraus ergebender Probleme bei der Umsetzung des EU-Asyl- und Flüchtlingsrechts auf. Je nach Begründung , mit der eine mitgliedstaatlich autonom verantwortete Obergrenze eingeführt würde, könnte in Art. 33 Dublin-III-Verordnung eine die Anwendung des Art. 72 AEUV sperrende sekundärrechtliche Konkretisierung angesehen werden. Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sind sodann sowohl in der Asylverfahrensrichtlinie [vgl. etwa Art. 31 Abs. 8 Buchst. j) sowie Erwägungsgründe Nr. 20 und 24] als auch in der Qualifikationsrichtlinie selbst [vgl. etwa Art. 21 Abs. 2 Buchst. a), 23 Abs. 4, 24 Abs. 1 sowie Erwägungsgrund Nr. 37] vorgesehen. Diese erlauben indes immer nur ein individualbezogenes Tätigwerden und zielen auf einen einzelnen Antragsteller, von dem eine Gefährdung für diese beiden Schutzgüter ausgehen könnte. Ob die darin liegende Konkretisierung des Art. 72 AEUV zu einer Sperre im Hinblick auf die Einführung einer mitgliedstaatlichen Obergrenze führte, lässt sich in allgemeiner Hinsicht nicht beantworten. Auch hier käme es entscheidend auf die Begründung einer solchen Maßnahme an. Würde man jedoch davon ausgehen, dass sich dem erwähnten Sekundärrecht im Hinblick auf die Verankerung einer Obergrenze keine Sperrwirkung entnehmen lässt, wäre in einem zweiten Schritt zu fragen, ob insoweit die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 72 AEUV erfüllt werden könnten. Auch dies lässt sich ohne konkrete Begründung einer solchen Maßnahme nur schwerlich feststellen. Unterstellt man aber, dass die numerische Festlegung einer Obergrenze die Kapazitätsfähigkeit eines Mitgliedstaates hinsichtlich der Aufnahme international Schutzsuchender zum Ausdruck bringen soll, so müsste dies zunächst durch den betreffenden Mitgliedstaat ebenso nachgewiesen werden wie der Umstand, dass bei deren Überschreitung eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung droht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt , so dass von einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit auszugehen wäre.137 Insoweit bestehen deutliche Parallelen zu dem oben erörterten Notstandsfall im Rahmen der grundrechtlichen Rechtsfertigungserwägungen.138 Zwar geht es hier allein um die Perspektive eines Mitgliedstaats und nicht der ganzen Union. Die oben angestellte kritische Betrachtung einer solchen Rechtfertigungsmöglichkeit gilt hier jedoch in gleicher Weise, so dass auf die obigen Ausführungen verwiesen wird. Ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass die aus einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit im Sinne des Art. 72 AEUV gezogene Konsequenz einer Obergrenze zudem den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen müsste. Zweifel bestehen insoweit vor allem hinsichtlich der Erforderlichkeit, an der es dann fehlt, wenn gleich wirksame, aber weniger eingreifende Maßnahmen möglich sind. Blickt man etwa auf die sekundärrechtliche Konkretisierung des Art. 72 AEUV im Schengener Grenzkodex (SGK), so sehen die Art. 23 ff. SGK nur die Einführung vorübergehender Kontrollen an den Binnengrenzen vor. Eine zeitliche 137 Siehe zum Begriff der öffentlichen Ordnung oben unter 3.2.2.1.2., S. 36 f. 138 Siehe oben unter 3.1.3.2.2. (zu Art. 18 GRC), S. 20 f.; 3.1.4.1.2. (zu Art. 19 Abs. 1 GRC), S. 26 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 42 Begrenzung dürfte auch für die Einführung einer Obergrenze gelten, die als Maßnahme zum Schutz der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit nur insoweit angewendet werden dürfte, als sie zur Gewährleistung dieser Schutzgüter notwendig wäre. Darüber hinaus würde sich im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung die Frage stellen, ob nicht auch andere Maßnahmen in Betracht kommen, um den Schutz der öffentlichen Ordnung und inneren Gesundheit in Ansehung einer zu großen Anzahl an international Schutzsuchenden sicherzustellen . Zu denken wäre etwa an finanzielle Unterstützungsmaßnahmen auf Grundlage der Verordnung Nr. 516/2014 über einen Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds139 oder direkt auf Grundlage des Art. 122 Abs. 2 AEUV. Denkbar, wenngleich politisch hinsichtlich der Umsetzung fraglich, wäre die Verteilung von international Schutzsuchenden auf andere Mitgliedstaaten in Anlehnung an die oben erwähnten Ratsbeschlüsse zugunsten Italiens und Griechenlands.140 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Zulässigkeit einer auf Art. 72 AEUV gestützten Einführung mitgliedstaatlich festgesetzter Obergrenzen sehr fraglich wäre und in vollem Umfang der Kontrolle des EuGH unterliegen würde. 3.2.2.2. Bedeutung der Art. 18, 19 und 47 GRC Unterstellt man gleichwohl, dass Art. 72 AEUV sowohl dem Grunde nach als auch im konkreten Fall eine Abweichung von der sekundärrechtlichen Pflicht zur Aufnahme von international Schutzsuchenden ermöglichen würde, wäre noch zu klären, ob der betreffende Mitgliedstat auch dann weiterhin an die einschlägigen Unionsgrundrechte und die hieraus folgenden Vorgaben in Bezug auf die Verankerung einer Obergrenze gebunden wäre. Zwar liegt hierzu – soweit ersichtlich – keine Rechtsprechung vor. Es spricht aber viel dafür, dass die Abweichungsbefugnis nach Art. 72 AEUV die Bindung an die Unionsgrundrechte unberührt lässt. Dies ergibt sich zunächst aus dem Wortlaut des Art. 72 AEUV, der nur auf den RFSR-Titel rekurriert, nicht aber die GRC mit einbezieht. Auch der Vergleich mit den Grundfreiheiten und deren Einschränkungsmöglichkeiten weist in diese Richtung. Es ist in der unionsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass die Unionsgrundrechte im Rahmen der Grundfreiheitsprüfung als Schranken-Schranken Anwendung finden, indem sie die Rechtfertigungsanforderungen grundrechtlich aufladen.141 Danach können keine mitgliedstaatlichen Maßnahmen als mit den 139 Verordnung (EU) Nr. 516/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 zur Einrichtung des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds […], ABl.EU 2014 Nr. L 150/168, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014R0516&qid=1450181160242&from=DE (letztmaliger Abruf am 16.12.15). 140 Siehe oben unter 2.2.7., S. 13 f. 141 Siehe hierzu Jarass (o. Fn. 34), Art. 51 GRC, Rn. 21; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 36), Art. 51 AEUV, Rn. 13 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 43 Grundfreiheiten vereinbar angesehen werden, die mit den Unionsgrundrechten unvereinbar sind.142 Ähnliches dürfte mit Blick auf den Gleichlauf mit den grundfreiheitlichen ordre-public-Vorbehalten auch für Art. 72 AEUV gelten. Auch hier besteht die Möglichkeit, die einschlägigen Grundrechte auf Ebene der tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 72 AEUV zur Anwendung zu bringen und sie als weiteren Prüfungsmaßstab für eine mitgliedstaatliche Abweichung vorzusehen . Darüber hinaus ist es gut vertretbar, die aufgrund der Abweichung von den Mitgliedstaaten konkret getroffenen Maßnahmen auch unmittelbar am Maßstab der Unionsgrundrechte zu prüfen. Denn auch dort handelt der Mitgliedstaat nicht völlig losgelöst vom Unionsrecht, sondern im Rahmen und in den Grenzen des Art. 72 AEUV, so dass ein Fall der „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC angenommen werden könnte.143 Folgt man dieser Auffassung hätte der betreffende Mitgliedstaat im Fall einer autonom festgelegten Obergrenze die oben dargestellten grundrechtlichen Vorgaben zum individuellen und kollektiven Ausweisungsschutz sowie zum Recht auf wirksamen Rechtsbehelf aus Art. 18, 19, 47 GRC zu beachten.144 3.2.2.3. Ergebnis Mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH ist anzuerkennen, dass Art. 72 AEUV die Möglichkeit vorsieht, von sekundärrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen des RSFR aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit abzuweichen. Es ist jedoch fraglich, ob die autonome Einführung einer mitgliedstaatlich festgesetzten Obergrenze auf dieser Grundlage zulässig wäre. Zweifel bestehen zunächst in Bezug auf den Umstand, dass Bestimmungen in den insoweit einschlägigen Rechtsakten als konkretisierendes Sekundärrecht angesehen werden könnten, das eine unmittelbare Anwendung des Art. 72 AEUV sperrt. Sodann ist fraglich, ob die tatbestandlichen Anforderungen dieser Vorschrift erfüllt werden könnten und ob die Verankerung einer Obergrenze mit Blick auf eine eventuelle Dauerhaftigkeit sowie alternative Maßnahmen zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen würde. Hiervon unabhängig spricht viel dafür, dass die Mitgliedstaaten in einem solchen Fall jedenfalls die Unionsgrundrechte und die daraus folgenden Vorgaben zum individuellen sowie kollektiven Aus- und Zurückweisungsschutz und zum Recht auf wirksamen Rechtsbehelf aus Art. 18, 19, 47 GRC zu beachten hätten. 3.2.3. Zulässigkeit einer Obergrenze bei Nichtbestehen unionsrechtlicher Pflichten Fehlt es an einer sekundärrechtlichen Pflicht zur Gewährung von internationalem Schutz, steht es jedem Mitgliedstaat nach der Ermessensklausel der Dublin-III-Verordnung bzw. der Unzulässigkeitsklausel nach Art. 33 Asylverfahrensrichtlinie frei, eine materielle Antragsprüfung vorzu- 142 So erstmals EuGH, Urt. v. 18.06.1991, Rs. C-260/89 (ERT), Rn. 43; bestätigt in EuGH, Urt. v. 26.06.1997, Rs. C- 368/95 (Familiapress), Rn. 24. 143 Siehe zu dieser Voraussetzung auch sogleich unten unter 3.2.3., S. 43. 144 Siehe oben unter 3.1.3. ff., S. 16 ff., 3.1.6. S. 29. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 44 nehmen und ggf. internationalen Schutz zu gewähren oder es nicht zu tun. Insoweit stünde jedenfalls das einschlägige Sekundärrecht einer durch einen Mitgliedstaat eingeführten Obergrenze nicht entgegen. Ob den darunter fallenden Fälle in quantitativer Hinsicht ein entsprechendes Gewicht zukommt, um eine (politische gewünschte) spürbare Reduktion der Flüchtlingszahlen zu bewirken, soll an dieser Stelle dahinstehen. Fraglich ist allerdings, ob und inwieweit auch in einem solchen Fall die unionsgrundrechtlichen Vorgaben aus Art. 18, 19, 47 GRC zu beachten wären. Das ist dann der Fall, wenn auch die Wahrnehmung der Ermessensklausel nach Art. 17Abs. 1 Dublin-III-VO bzw. der Unzulässigkeitsklausel nach Art. 33 Asylverfahrensrichtlinie als „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC anzusehen und somit von einer Bindung der Mitgliedstaaten an Unionsgrundrechte auszugehen ist. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird diese Vorgabe dahingehend verstanden, dass die Mitgliedstaaten EU-Grundrechte immer dann beachten müssen, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig werden.145 Das ist etwa der Fall, wenn die Mitgliedstaaten Richtlinien umsetzen, und zwar auch dann, wenn ihnen der betreffende Rechtsakt Spielräume einräumt oder Ausnahmetatbestände vorgesehen sind, die von den Mitgliedstaaten ausgefüllt werden können .146 Danach wäre somit auch die Wahrnehmung der Ermessensklausel nach Art. 17Abs. 1 Dublin-III-VO bzw. der Unzulässigkeitsklausel nach Art. 33 Asylverfahrensrichtlinie als Durchführung des Unionsrechts im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC anzusehen und von einer Bindung der Mitgliedstaaten an die oben beschriebenen Grundrechtsvorgaben zum individuellen sowie kollektiven Aus- und Zurückweisungsschutz sowie zum Recht auf wirksamen Rechtsbehelf aus Art. 18, 19, 47 GRC auszugehen.147 Allerdings lässt der Gerichtshof in Fällen, in denen das streitgegenständliche nationale Recht – wie hier bezüglich Art. 17Abs. 1 Dublin-III-VO bzw. Art. 33 Asylverfahrensrichtlinie – nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird, eine Anwendung nationaler Grundrechte genügen , soweit hierdurch weder das Schutzniveau der GRC noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.148 Das wäre im Einzelnen zu prüfen, soll im Folgenden mit Blick auf den Umfang jedoch unterbleiben . Hinzuweisen ist allerdings auf den Umstand, dass die Bundesrepublik Deutschland als Vertragsstaat der EMRK insbesondere auch an Art. 3, 13 EMRK sowie Art. 4 ZP IV gebunden ist und insoweit völkervertraglich zur Beachtung der darauf gestützten Rechtsprechung zum individuellen sowie kollektiven Aus- und Zurückweisungsschutz sowie zum Recht auf wirksamen Rechtsbehelf verpflichtet ist. Allerdings kommt der EMRK und den Urteilen des EGMR innerhalb der 145 EuGH, Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson), Rn, 19; EuGH, Urt. v. 27.03.2014, Rs. C-265/13 (Marcos), Rn. 29 ff. Siehe hierzu allgemein Haratsch/Koenig/Pechstein (o. Fn. 4), Rn. 676 ff. 146 So Jarass (o. Fn. 34), Art. 51 GRC, Rn. 18, mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 27.06.2006, Rs. C-540/03 (P/R), Rn. 22. 147 Zu eng daher Rossi, in: Calliess/Ruffert, (o. Fn. 36), Art. 18 GRC, Rn. 9. 148 EuGH, Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-399/11 (Melloni), Rn. 60; EuGH, Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson), Rn. 29. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 45 deutschen Rechtsordnung nicht die gleiche Rang- und Bindungswirkung zu wie den mit unionsrechtlichem Anwendungsvorrang ausgestatteten Unionsgrundrechten.149 Gleiches gilt für die GFK und den dort geregelten Aus- und Zurückweisungsschutz, an den die Bundesrepublik Deutschland auch als Vertragsstaat der GFK gebunden ist. Der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG in solchen Konstellationen wie in Bezug auf Art. 17Abs. 1 Dublin-III- VO bzw. Art. 33 Asylverfahrensrichtlinie, in denen das Unionsrecht die Ausgestaltung des nationalen Rechts nicht determiniert, nationale Grundrechte den ausschließlichen Rechtsmäßigkeitsmaßstab bilden – unter Ausschluss von EU-Grundrechten.150 Aus Sicht des deutschen Rechts wären EU-Grundrechte vorliegend in jedem Fall unanwendbar. 3.3. Gesamtergebnis zu Teil 3 Die Einführung einer unionsweiten Obergrenze für die Aufnahme von international schutzsuchenden Drittstaatsangehörigen wäre im Lichte der Art. 18, 19 und 47 GRC problematisch. Zwar folgt insbesondere aus den beiden erstgenannten Vorschriften – nach herrschender Meinung bzw. bereits dem Wortlaut nach – kein Recht auf Einräumung internationalen Schutzes, weder für Flüchtlinge im Sinne der GFK noch für die nur unionsrechtlich anerkannten subsidiär Schutzberechtigten . Sowohl Art. 18 GRC als auch Art. 19 GRC schützen jedoch vor Aus- und Zurückweisung (non-refoulment) und vermitteln ein daraus folgendes Bleiberecht. Art. 47 GRC sichert in Ergänzung hierzu das Recht eines jeden Drittstaatsangehörigen, im Fall eines Verstoßes gegen die vorgenannten Gewährleistungen einen wirksamen Rechtsbehelf einlegen zu können. Mit dem nach herrschender Ansicht auf einen subjektiven Zurückweisungsschutz beschränkten Art. 18 GRC wäre eine unionsweite Obergrenze nur insoweit vereinbar, als die hiervon betroffenen Flüchtlinge im Sinne der GFK in sichere Drittstaaten zurückgewiesen würden. Ob eine in Art. 18 GRC eingreifende Aus- und Zurückweisung von Flüchtlingen in Verfolgerstaaten aus Gründen der Überschreitung einer Obergrenze gerechtfertigt werden könnte, erscheint dagegen höchst zweifelhaft. Der ebenfalls vor individueller Aus- und Zurückweisung schützende Art. 19 Abs. 2 GRC erfasst nicht nur Flüchtlinge im Sinne der GFK, sondern auch sonstige Drittstaatsangehörige und damit u. a. die Gruppe der sog. subsidiär Schutzberechtigten. Ebenso wie bei Art. 18 GRC wäre eine unionsweite Obergrenze nur insoweit mit dieser Gewährleistung vereinbar, als die Zurückweisung der hiervon betroffenen Personen in sichere Drittstaaten erfolgen würde. Ein Verstoß hiergegen ist – anders als im Rahmen des flüchtlingsrechtlichen Zurückweisungsschutzes – per se nicht rechtfertigungsfähig. Insoweit bietet Art. 19 Abs. 1 GRC für Flüchtlinge im Sinne der GFK einen weitergehenden Schutz als Art. 18 GRC. 149 Siehe zu Einzelheiten der Bindungswirkung der EMRK bzw. der EGMR-Urteile Meyer-Ladewig (o. Fn. 74), Art. 46 EMRK, Rn. 22 ff. 150 Vgl. insbesondere BVerfG, Urt. v. 24.04.2013, 1 BvR 1215/07, NJW 2013, S. 1499 ff, Rn. 88-91; BVerwG, Urt. v. 10.10.2012, 7 C 9/10, NVwZ 2013, S. 587 ff., Rn. 25. Siehe hierzu auch Haratsch/Koenig/Pechstein (o. Fn. 4), Rn. 682 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 46 Das Verbot der Kollektivausweisung nach Art. 19 Abs. 1 GRC stünde einer unionsweiten Obergrenze insoweit entgegen, als es in Folge ihrer Durchsetzung zu einer pauschalen Ausweisung von Personengruppen käme, ohne dass die individuelle Situation ihrer Mitglieder geprüft würde. Anders als im Rahmen des individuellen Aus- und Zurückweisungsschutzes kommt es im Rahmen des Art. 19 Abs. 1 GRC nicht darauf an, in welchen Staat die kollektive Aus- und Zurückweisung erfolgt. Eingriffe in das Verbot der Kollektivausweisung können allenfalls in Anlehnung an den in Art. 15 Abs. 1 EMRK geregelten Notstandsfall gerechtfertigt werden. Ob eine solche „notstandsähnliche Extremsituation“ auf EU-Ebene durch einen Zustrom von international Schutzsuchenden überhaupt ausgelöst werden könnte, erscheint ebenfalls höchst zweifelhaft. Mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsbehelf aus Art. 47 GRC wäre die Verankerung einer unionsweiten Obergrenze insoweit unvereinbar, als die hierdurch betroffenen Personen keine Möglichkeit hätten, ihre (individuelle oder kollektive) Aus- und Zurückweisung mit einem wirksamen Rechtsbehelf anzugreifen. Im Hinblick auf das unionsinterne Verhältnis wäre die sekundärrechtliche Einführung einer Obergrenze für einzelne Mitgliedstaaten jedenfalls dann unproblematisch, sofern es sich um eine allein nach innen wirkende Regelung handeln und die EU als Ganzes die soeben skizzierten grundrechtsrelevanten Voraussetzungen beachten würde. Hinsichtlich der autonomen Einführung einer Obergrenze für die Aufnahme von international Schutzberechtigten durch einen Mitgliedstaat wäre angesichts des geltenden Sekundärrechts zu differenzieren zwischen der Konstellation, in der nach Unionsrecht eine Pflicht zur Aufnahme international Schutzsuchender besteht, und der Konstellation, in der eine solche Pflicht in Ansehung der Ermessensklausel in Art. 17Abs. 1 Dublin-III-VO bzw. der Unzulässigkeitsklausel in Art. 33 Asylverfahrensrichtlinie nicht besteht. Im ersten Fall könnte eine Obergrenze allenfalls auf Art. 72 AEUV gestützt werden. Mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH ist anzuerkennen, dass diese Bestimmung die Möglichkeit vorsieht , von sekundärrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen des RSFR und damit von den hier einschlägigen Rechtsakten aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit abzuweichen . Es ist jedoch fraglich, ob die autonome Einführung einer mitgliedstaatlich festgesetzten Obergrenze auf dieser Grundlage zulässig wäre. Zweifel bestehen zunächst in Bezug auf den Umstand, dass Bestimmungen in den einschlägigen Rechtsakten als konkretisierendes Sekundärrecht angesehen werden könnten, das eine unmittelbare Anwendung des Art. 72 AEUV sperrt. Sodann ist fraglich, ob die tatbestandlichen Anforderungen dieser Vorschrift erfüllt werden könnten und, ob die Verankerung einer Obergrenze mit Blick auf eine eventuelle Dauerhaftigkeit sowie alternative Maßnahmen zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen würde. Hiervon unabhängig spricht viel dafür, dass die Mitgliedstaaten in einem solchen Fall jedenfalls die Unionsgrundrechte und die daraus folgenden Vorgaben zum individuellen sowie kollektiven Aus- und Zurückweisungsschutz und zum Recht auf wirksamen Rechtsbehelf aus Art. 18, 19, 47 GRC zu beachten hätten. Außerhalb der unionsrechtlichen Pflicht zur Aufnahme international Schutzsuchender stünde zwar das einschlägige Sekundärrecht der Einführung einer mitgliedstaatlichen Obergrenze nicht entgegen. Nach Unionsrecht bestünde auch bei Nutzung der Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO bzw. der Unzulässigkeitsklausel in Art. 33 Asylverfahrensrichtlinie eine Bindung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 153/15 Seite 47 der Mitgliedstaaten an die grundrechtlichen Vorgaben aus Art. 18, 19, 47 GRC, da es sich um einen Fall der Durchführung des Unionsrecht im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC handelt. Mangels unionsrechtlicher Determinierung wäre nach der Rechtsprechung des EuGH auch eine Anwendung nationaler Grundrechte zulässig, soweit hierdurch weder das Schutzniveau der GRC noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden. – Fachbereich Europa –