DOKUMENTATION Thema: Europäischer Konvent und der Konvent von Philadelphia – Parallelen und Unterschiede Fachbereich XII Europa Bearbeiter: Abschluss der Arbeit: 28. Oktober 2003 Reg.-Nr.: WF XII - 148/03 Ausarbeitungen von Angehörigen der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung des einzelnen Verfassers und der Fachbereichsleitung . Die Ausarbeitungen sind dazu bestimmt, das Mitglied des Deutschen Bundestages , das sie in Auftrag gegeben hat, bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - 2 - 1. Einführung in die Problematik Nicht nur die spezielle Bezeichnung des bis Juli dieses Jahres mit der Ausarbeitung des Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa befassten Gremiums als „Europäischer Konvent“ weckt Assoziationen mit den aus der Geschichte bekannten verfassunggebenden Versammlungen wie etwa dem mit der Ausarbeitung der amerikanischen Bundesverfassung befassten „Konvent von Philadelphia“. Auch das nun vorliegende Ergebnis der Konventsberatungen, das landläufig als „EU-Verfassung“ bezeichnet wird, scheint eine derartige historische Parallele zur amerikanischen Bundesverfassung aufzuweisen . Gleichwohl wird dieser historische Brückenschlag im einschlägigen wissenschaftlichen Schrifttum, soweit ersichtlich, nur ganz vereinzelt vorgenommen und zum Teil in seiner Berechtigung verneint (Anlage 1, S. 12), zum Teil eingeschränkt bejaht (Anlage 2, S. 93). Dies mag daran liegen, dass trotz der augenscheinlichen Bezeichnungsähnlichkeiten bei einem Vergleich dieser Gremien ebenso wie bei einem Vergleich der in Rede stehenden Dokumente möglicherweise die inhaltlichen Divergenzen sowohl in verfahrenstechnischer als auch in materieller Hinsicht überwiegen. 2. Europäischer Konvent und „verfassunggebende Versammlung“ Der Europäische Konvent hat vom 28. Februar 2002 bis zum 18. Juli 2003 über die zukünftige Gestalt der Europäischen Union beraten. Der Konvent basierte als neuartiges, bislang nicht in den Europäischen Verträgen kodifiziertes Gremium auf den Erfahrungen , die im Rahmen des ersten Konvents zur Ausarbeitung einer Europäischen Grundrechtecharta gesammelt wurden. Es umfasste als Mitglieder die Beauftragten der nationalen Regierungen, der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission (vgl. zu Struktur und Arbeitsweise des Konvents die Anlagen 3, 4 und 5). Im wissenschaftlichen Schrifttum wird der Europäische Konvent als ein parlamentarisiertes Vorbereitungsgremium für die derzeit laufende Regierungskonferenz charakterisiert . Dementsprechend handelt es sich beim Konvent weder nach seiner Zusammensetzung noch nach seinem Mandat um eine „souveräne“ verfassunggebende Versammlung im herkömmlichen Sinne (Anlage 6). Vielmehr basiert die nunmehr zum zweiten Mal angewandte Konventsmethode auf dem Wunsch der Mehrheit der maßgeblichen Akteure auf europäischer Ebene, bisherige, oftmals als intransparent empfundene Entscheidungsmechanismen bei den in der Vergangenheit vorgenommenen Änderungen der Europäischen Verträge, wie sie bei den bisherigen, gemäß Art. 48 EU-Vertrag zur Vertragsänderung ermächtigten Regierungskonferenzen zu beobachten waren, zu überwin- - 3 - den (Anlagen 3, 4 und 5) und gleichzeitig den Aspekt einer stärkeren Betonung der Bürgerbeteiligung hervorzuheben (Anlage 1, S. 12). Verfahrenstechnisch handelt es sich vor diesem Hintergrund um ein Gremium, das – anders als eine verfassungsgebende Versammlung im klassischen Sinne – lediglich Vorschläge zur Neufassung der bisherigen europäischen Verträge unterbreiten sollte. Die Letztentscheidung obliegt gemäß Art. 48 EU-Vertrag nach wie vor der Konferenz der Regierungen der Mitgliedstaaten und den mit der Ratifizierung betrauten mitgliedstaatlichen Parlamenten. Nicht nur in verfahrenstechnischer, sondern auch in funktioneller Hinsicht bestehen deutliche Unterschiede zwischen Europäischem Konvent und verfassunggebender Versammlung im herkömmlichen Sinne. So ist nicht die Neuschaffung einer (europäischen) Verfassung Aufgabe des Europäischen Konvents gewesen, sondern es ging um die „Weiterentwicklung des europäischen konstitutionellen Korsetts“ (Anlage 1, S. 15). Gleichwohl gibt es auch Stimmen im Schrifttum, die in dem Konventsverfahren und dem hieraus resultierenden Arbeitsergebnis Anhaltspunkte für einen verfassungsgebenden Prozess erblicken, der in eine staatliche Konstitutionalisierung Europas münden könnte (Anlage 7, weitergehend Anlage 2, S. 91 ff.). Dabei besteht jedoch zumindest im juristischen wissenschaftlichen Schrifttum Einigkeit darüber, dass auch der – zum jetzigen Zeitpunkt absehbaren - künftigen Europäischen Union keine Staatsqualität zukommen wird. Demgemäß handelt es sich bei der jetzt vorliegenden „Europäischen Verfassung“ nach fast einhelliger Auffassung um keine Verfassung im staatsrechtlichen Sinne, sondern nach Überzeugung der Verfechter eines erweiterten Verfassungsbegriffs um ein Vertragsdokument eigener Art, welches – wie schon die bisherigen Verträge! - die Verfasstheit eines supranationalen Gebildes mit von den Mitgliedstaaten abgeleiteter , auf den Bürger direkt einwirkender (supranationaler) Hoheitsgewalt zum Gegenstand hat und damit allenfalls in materieller Hinsicht eine „Verfassung“ darstellen kann (Anlage 7, S. 97-99, vgl. zur damit zusammenhängenden Funktionswandlung des Staates Anlage 1, S. 1 f.). Die nun vorliegende „EU-Verfassung“ als solche stellt in diesem Konstitutionalisierungsprozess der EU lediglich eine Etappe dar (Anlage 1, S. 15 f.) und bildet damit weder Beginn noch Endpunkt dieser Entwicklung. Sie unterscheidet sich deshalb auch funktionell von herkömmlichen Staatsverfassungen wie etwa der amerikanischen Bundesverfassung , die jeweils mit ihrer Schaffung durch ein verfassunggebendes Gremium eine eigene, auf Vollständigkeit angelegte nationalstaatliche Verfassungsordnung „per Federstrich“ in Kraft setzten. Während eine Staatenverfassung daneben ein staatliches Gemeinwesen auf der Grundlage des pouvoir constituant, des Volkes, schafft, begründet die künftige EU-Verfassung gemäß Art. 1 Abs. 1 Verfassungsentwurf ausdrücklich eine zwischenstaatliche Europäische Union der Bürger und der Staaten. - 4 - Dieser zentrale funktionelle Unterschied zwischen „EU-Verfassung“ und Staatsverfassung kann auch nicht dadurch überdeckt werden, dass es – ebenso wie zwischen dem deutschen Grundgesetz und der EU-Verfassung – zwischen beiden Dokumenten vielfältige materielle Schnittmengen wie etwa einen Grundrechtskatalog, bestimmte Staatsbzw . Unionsziele oder aber bestimmte institutionelle Bestimmungen gibt. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang immer die genannten funktionellen Unterschiede zwischen einem Staatswesen auf der einen und einer supranationalen, zwischenstatlichen Organisation auf der anderen Seite, denen insbesondere die entsprechenden institutionellen Bestimmungen immer Rechnung zu tragen haben. So ergibt sich etwa aus dem supranationalen, zwischenstaatlichen Charakter der Europäischen Union das besondere, durch das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts geprägte europäische Institutionengefüge, bestehend aus Europäischer Kommission, Rat, Europäischem Rat und Europäischem Parlament, welches auf nationaler Ebene weltweit keinerlei Pendant findet. Schon aus diesen Besonderheiten des vom Europäischen Konvent vorgelegten Dokuments wird die strukturelle Andersartigkeit auch dieses Gremiums im Vergleich zu verfassungsgebenden Versammlungen, wie sie etwa der Konvent von Philadelphia darstellten , deutlich. Auch wenn mit dem künftigen Vertrag über eine Verfassung für Europa der Prozess der Konstitutionalisierung der Europäischen Verträge vorangetrieben wird, ist dieser Prozess nicht mit der Verfassungsgebung für einen Nationalstaat gleichzusetzen und mit der Arbeit des Konvents auch nicht abgeschlossen. 3. Der Konvent von Philadelphia – eine wirklich verfassungsgebende Versammlung Eine derartige nationalstaatliche Konstitutionalisierung der bis dahin nur lose verbundenen amerikanischen Staaten war demgegenüber Aufgabe des Konvents von Philadelphia . Der Verfassungskonvent von Philadelphia bereitete im Jahre 1787 die amerikanische Bundesverfassung (Anlage 8) vor. Die 55 Delegierten waren Entsandte der bis dahin in der durch einen Bundesvertrag begründeten Konföderation von 1777 (Anlage 9) miteinander verbundenen amerikanischen Staaten. Obwohl zunächst lediglich zu dem Zwecke zusammen gerufen, Vorschläge zur Verbesserung der Konföderationsartikel des Bundesvertrags auszuarbeiten, entwarfen sie eine Bundesverfassung für die künftigen Vereinigten Staaten (Anlage 10). Mit Inkrafttreten dieser Verfassung wurde aus einem losen Staatenbund ein neuer Bundesstaat, der u.a. auf den Prinzipien der Gewaltenteilung und der Volkssouveränität beruht. Die Bundesverfassung trat nach ihrer Ratifizierung durch alle Einzelstaaten im Jahre 1788 in Kraft und begründete damit völkerrechtlich einen neuen Staat. (Anlage 11). - 5 - Verzeichnis der Anlagen 1. Hobe, Stephan, Bedingungen, Verfahren und Chancen europäischer Verfassungsgebung : Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvent, in: Europarecht, Heft 1, Januar - Februar, 38. Jahrgang 2003, S. 1-17 2. Wessels, Wolfgang, Der Konvent: Modelle für eine innovative Integrationsmethode , in: INTEGRATION, 25. Jg., 2/2002, S. 83-98 3. Görlitz, Niklas, Der Europäische Konvent, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Europa Aktuell 2, II. 7, 11/2002, S. 39-44 4. Meyer Jürgen / Hartleif, Sylvia, Die Konventsidee, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen , Heft 2/2002, S. 368-376 5. Zimmermann-Steinhart, Petra, Der Konvent: Die neue EU-Methode, in: Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft, 2001, S. 65-72 6. Oppermann, Thomas, Eine Verfassung für die Europäische Union, in: Deutsches Verwaltungsblatt, Heft 18/2003, S. 1165-1124 7. Dederer, Hans-Georg, Die Konstitutionalisierung Europas, in: Zeitschrift für Gesetzgebung , Heft 2/2003, S. 97-119 8. Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 17. September 1787 9. Bundesvertrag zwischen den amerikanischen Staaten vom 15. November 1777 10. Dippel, Horst, Das Zeitalter der Revolution (1763-1789), in: Geschichte der USA, München, 2001, S. 18-33 11. Moltmann, Günter, Amerikanische Revolution und Staatsgründung (1763-1789), in: USA PLOETZ, 1998, S.63-69 - Fachbereich Europa -