Deutscher Bundestag Die unionsrechtliche Zulässigkeit des Verzichts der EZB auf die Rückzahlung von am Sekundärmarkt erworbenen Anleihen von Euro-Staaten Sachstand Wissenschaftliche Dienste WD 11 – 3000 – 137/12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 137/12 Seite 2 Die unionsrechtliche Zulässigkeit des Verzichts der EZB auf die Rückzahlung von am Sekundärmarkt erworbenen Anleihen von Euro-Staaten Aktenzeichen: WD 11 – 3000 – 137/12 Abschluss der Arbeit: Datum 13.09.2012 Fachbereich: WD 11: Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 137/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Der Begriff der monetären Haushaltsfinanzierung 4 2.1. Norminhalt 4 2.2. Normzweck 4 3. Vereinbarkeit des Ankaufs von Staatsanleihen durch die EZB mit Unionsrecht 5 4. Die Rechtsnatur eines Forderungsverzichts der EZB 6 5. Diskussion der Zulässigkeit eines Forderungsverzichts 6 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 137/12 Seite 4 1. Einleitung Der Europäischen Zentralbank (EZB) obliegt gemeinsam mit den nationalen Zentralbanken im institutionellen Rahmen des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) gem. Art. 127 AEUV die Aufgabe, die Geldpolitik in der EU und insbesondere für den Euro-Raum festzulegen und auszuführen. Vorrangiges Ziel des ESZB ist dabei die Sicherstellung von Preisstabilität in der EU. In Reaktion auf die Verschuldungskrise beschloss der Rat am 10. Mai 2010 das „Programm für die Wertpapiermärkte“ (securities market programm).1 Dieses ermächtigt die EZB und die Zentralbanken des Eurosystems, zugelassene marktfähige Schuldtitel, die von den Zentralstaaten oder öffentlichen Stellen der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, begeben werden , auf dem Sekundärmarkt anzukaufen. Die EZB verfolgt mit diesem Programm das Ziel, durch den Ankauf von Staatsanleihen den starken Spannungen insbesondere an den Märkten für Staatsanleihen entgegenzuwirken und die Durchführbarkeit der auf Preisstabilität gerichteten Geldpolitik zu sichern. Im Folgenden wird untersucht, ob die EZB auf Forderungen aus Anleihen von Euro-Staaten, die sie auf dem Sekundärmarkt erworben hat, gegenüber den emittierenden Mitgliedstaaten verzichten kann oder ob ein solcher Verzicht gegen das unionsrechtliche Verbot monetärer Staatsfinanzierung verstößt. 2. Der Begriff der monetären Haushaltsfinanzierung 2.1. Norminhalt Art. 123 AEUV untersagt der EZB und den nationalen Zentralbanken, der EU oder den Mitgliedstaaten direkte Kredite zu gewähren oder deren Schuldtitel unmittelbar zu erwerben (sog. monetäre Haushaltsfinanzierung). Das Verbot umfasst alle Arten von Krediten einschließlich Kreditfazilitäten (die Finanzierung von Verbindlichkeiten des öffentlichen Sektors gegenüber Dritten und jede Transaktion mit dem öffentlichen Sektor, die zu einer Forderung an diesen führt oder führen könnte2) und Überziehungsfazilitäten (die Bereitstellung von Mitteln zugunsten des öffentlichen Sektors, deren Verbuchung einen Negativsaldo ergibt oder ergeben könnte3). 2.2. Normzweck Durch das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung soll eine unmittelbare Refinanzierung der EU oder der Mitgliedstaaten über die EZB oder die jeweilige nationale Zentralbank zu deren – im Vergleich zu den Kapitalmärkten günstigeren – Bedingungen ausgeschlossen werden. Die Mitgliedstaaten sind so für ihren Refinanzierungsbedarf den Kapitalmärkten auf Grundlage der Bewertung ihrer Bonität ausgesetzt und tragen das Risiko für ihr haushalts- und fiskalpolitisches 1 Beschluss der Europäischen Zentralbank vom 14. Mai 2010 zur Einführung eines Programms für die Wertpapiermärkte , EZB/2010/5, 2010/281/EU, ABl. 2010 L 124/8. 2 Art. 1 Abs. 1 lit. b VO (EG) 3603/93, ABl. 1993 Nr. L 332/1. 3 Art. 1 Abs. 1 lit. a VO (EG) 3603/93, ABl. 1993 Nr. L 332/1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 137/12 Seite 5 Verhalten. Dies soll die mitgliedstaatliche Haushaltsdisziplin sicherstellen.4 Das Verbot der monetären Finanzierung ist zudem von entscheidender Bedeutung, um die Gewährleistung von Preisstabilität als das vorrangige Ziel der Geldpolitik der Zentralbanken sowie die Unabhängigkeit der EZB und des Eurosystems sicherzustellen.5 Eine Refinanzierung der Mitgliedstaaten unter Umgehung der Kapitalmärkte bei einer Zentralbank könnte inflationsfördernd wirken.6 Vor dem Hintergrund des Normzwecks von Art. 123 AEUV muss das Verbot weit ausgelegt werden , um seine strikte Anwendung zu gewährleisten.7 Das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung des Art. 123 AEUV umfasst jegliche Finanzierung der Verpflichtung des öffentlichen Sektors gegenüber Dritten sowie – allgemeiner – jede Form der Finanzierung der öffentlichen Haushalte durch die EZB und die nationalen Zentralbanken.8 Auch wenn Art. 123 Abs. 1 AEUV speziell auf Kreditfazilitäten Bezug nimmt, die also die Verpflichtung zur Rückzahlung der Gelder beinhalten , gilt mit Blick auf den Normzweck das Verbot a fortiori auch für andere Formen der Finanzierung , bei denen keine Rückzahlungspflicht besteht.9 3. Vereinbarkeit des Ankaufs von Staatsanleihen durch die EZB mit Unionsrecht Das Verbot des Art. 123 AEUV betrifft primär den unmittelbaren Erwerb von Schuldtiteln von öffentlichen Emittenten durch die Zentralbanken. Ein Handlungsinstrument der EZB im Rahmen ihrer Geldpolitik bleibt indes die Regulierung der Zentralbankgeldmenge durch den Kauf oder Verkauf von börsengängigen Wertpapieren auf den Finanzmärkten. Börsengängige Wertpapiere sind dabei alle Vermögenswerte, die an einem geregelten Markt im Sinne der RL 2004/39/EG zum Handel zugelassen sind und die auf den Finanzmärkten gehandelt werden.10 Hierunter fallen auch marktfähige staatliche Schuldtitel, welche zur Refinanzierung an den Kapitalmärkten emittiert werden.11 Werden Staatsanleihen nicht direkt von öffentlicheren Emittenten, sondern mittelbar am Kapitalmarkt angekauft, führen Sekundärmarktkäufe nicht zu einer direkten Finanzierungsbeziehung zwischen dem öffentlichen Sektor und den Zentralbanken. Am Sekundärmarkt erworbene Anleihen waren zuvor schon dem Preisbildungsmechanismus des Marktes insbesondere mit Blick auf 4 Vgl. Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zum EUV/AEUV, 4. Auflage 2012, Art. 123 AEUV, Rn. 3. 5 Stellungnahme der EZB vom 17.3.2011 (CON/2011/24, ABl. EG C 140 v. 11.5.2011, S. 8, Anm. 9). 6 Vgl. Gaitanides, Das Recht der Europäischen Zentralbank, 2005, S. 98; Kempen, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 1. Auflage 2003, Art. 101 EGV, Rn. 1; Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 101 EGV, Rn. 1. 7 EZB Konvergenzbericht Mai 2012, S. 32. 8 VO (EG) Nr. 3603/93 des Rates vom 13. Dezember 1993. 9 Vgl. EZB Konvergenzbericht Mai 2012, S. 32. 10 ABl. 2004 Nr. L 145/1. 11 Vgl. Leitlinie der Europäischen Zentralbank vom 2. August 2012 über zusätzliche zeitlich befristete Maßnahmen hinsichtlich der Refinanzierungsgeschäfte des Eurosystems und der Notenbankfähigkeit von Sicherheiten und zur Änderung der Leitlinie EZB/2007/9, EZB/2012/18 (2012/476/EU); EZB Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 137/12 Seite 6 die Bonität des Emittenten ausgesetzt. Dementsprechend und ausweislich Art. 18 der EZB-Satzung 12 bleibt der mittelbare Erwerb von Schuldtiteln an den Kapitalmärkten (Sekundärmarktkäufe ) durch die EZB ebenso zulässig wie eine Offenmarktpolitik der Zentralbank. 4. Die Rechtsnatur eines Forderungsverzichts der EZB Erwirbt die EZB auf dem Sekundärmarkt marktfähige Anleihen von Eurostaaten, geht das Eigentum an dem Vermögenswert vollständig vom Verkäufer auf den Käufer über und die EZB tritt in die Rechte und Pflichten des Voreigentümers der Anleihen ein. Dieser muss grundsätzlich nur in dem Fall auf seine Forderung gegenüber dem Emittenten verzichten, wenn dieser bei einer drohenden Zahlungsunfähigkeit den Weg einer Restrukturierung unter Gläubigerbeteiligung wählt, um Zahlungsschwierigkeiten zu bewältigen. Hierzu können mit den Privatgläubigern Bedingungen für einen Anleihentausch mit einem prozentualen Schuldenschnitt des Nennwerts der bisherigen Papiere verhandelt werden. Auf der Grundlage kollektiver Haftungsklauseln (collective action clauses) und einer befürwortenden Gläubigermehrheit erstreckt sich dieser Schuldenschnitt auch auf eine diesen Schritt ablehnende Minderheit.13 Von diesem vertraglich vereinbarten oder auf nachträglichen Verhandlungen beruhenden Schuldenschnitt würde sich ein Forderungsverzicht der EZB – soweit ersichtlich – dadurch unterscheiden , dass er auf einer freiwilligen und individuellen Entscheidung der EZB als Gläubigerin beruhen, ihren potenziellen Gewinn mindern und den Emittenten einseitig begünstigen würde. Er beruhte zudem nicht auf einem grundsätzlich alle Gläubiger in gleicher Weise betreffenden Zwang zum Verzicht auf Forderungen. 5. Diskussion der Zulässigkeit eines Forderungsverzichts Die umstrittene14 Frage der Zulässigkeit eines solchen einseitigen Verzichts der EZB bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der erwünschten Stabilisierungswirkung für den Emittenten und dem insoweit auslegungsbedürftigen Verbot monetärer Staatsfinanzierung. Art. 123 Abs. 1 AEUV regelt unmittelbar nur den Forderungserwerb – die Kreditaufnahme der Mitgliedstaaten bei der EZB und den nationalen Zentralbanken sowie den unmittelbaren Erwerb von Staatsanleihen –, nicht jedoch den Umgang der EZB mit erworbenen Forderungen gegenüber den Mitgliedstaaten. Für die unionsrechtliche Zulässigkeit eines einseitigen Forderungsverzichts der EZB gegenüber emittierenden Euro-Staaten ließe sich der Normzweck des Art. 123 Abs. 1 AEUV anführen, zur 12 Protokoll (Nr. 4) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der EZB, ABl. C 115 v. 9.5.2008, S. 230. 13 Zu der Beteiligung der EZB am sog. Griechenland II-Paket vgl. Sachstand WD11 – 3000 – 34/12. 14 Vgl. Hamburger Abendblatt vom 27.7.2012, wonach die EZB die EZB die Kommentierung des Verzichts auf Forderungen zu Lasten öffentlicher Gläubiger ablehnt; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.8.2012, wonach IWF- Direktorin Christine Lagarde die öffentlichen Gläubiger zu einem Forderungsverzicht drängt; Jens Weidmann im Interview mit Handelsblatt vom 15.2.2012, „Ein Forderungsverzicht ist uns nicht erlaubt“; Mario Draghi in einem Bericht der FAZ vom 15.2.2012, „Finanzminister der Eurogruppe sagen Griechenland-Treffen ab“. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 137/12 Seite 7 Gewährleistung der mitgliedstaatlichen Eigenverantwortung für eine solide Haushalts- und Fiskalpolitik die Kreditaufnahme des Staates den Marktmechanismen zu unterwerfen.15 Dieser Zweck bleibt gewahrt, soweit Anleihen bei ihrer Emission zunächst den Mechanismen des Marktes ausgesetzt sind. Der spätere Umgang eines Gläubigers mit erworbenen Forderungen ist von dem Erwerb grundsätzlich unabhängig, und einem privaten Gläubiger stünde es frei, nach seinem Belieben mit seinen Forderungen zu verfahren. Der Sekundärmarktkauf mit anschließendem freiwilligen und einseitigen Forderungsverzicht der EZB ließe sich auch als eine Umgehung des Verbots in Art. 123 Abs. 1 AEUV werten. Trotz der grundsätzlichen Zulässigkeit von Sekundärmarktkäufen darf das mit den monetären Finanzierungsverboten des öffentlichen Sektors verbundene Ziel nicht durch den Erwerb auf dem Sekundärmarkt umgangen werden.16 Sekundärmarktkäufe bleiben beschränkt auf das Ziel der Durchführbarkeit der Geldpolitik der EZB und der Gewährleistung von Preisstabilität.17 Ein Forderungsverzicht ließe sich insbesondere dann als „Umwidmung“ des Ankaufgrundes verstehen, wenn der Erwerb primär dazu dient, Staaten durch finanzielle Stabilisierung vor der Insolvenz zu bewahren.18 Zentral für eine Qualifizierung als verbotene Handlung im Sinne des Art. 123 Abs. 1 AEUV ist die Finanzierungsfunktion einer Maßnahme von EZB oder den nationalen Zentralbanken für einen öffentlichen Haushalt. Mit einem freiwilligen Schuldenschnitt trüge die EZB infolge des Wegfalls einer Schuld zur Senkung des Defizits und damit direkt und unabhängig von den Finanzmärkten zur Finanzierung des öffentlichen Defizits eines Mitgliedstaats bei. Gegen die Vereinbarkeit eines freiwilligen Forderungsverzichts mit dem Unionsrecht spricht schließlich, dass die EZB mit dem Sekundärmarktkauf Ansprüche gegen den emittierenden Staat erwirbt und durch Zinsansprüche Gewinn erzielen kann. Verzichtet die EZB grundlos – d.h. ohne Beteiligung anderer Gläubiger im Rahmen kollektiver Haftungsklauseln – auf diese potenziellen Gewinne, widerspräche es dem Grundsatz der EZB, Geschäfte nach den Marktgepflogenheiten abzuwickeln, die für die bei der Transaktion verwendeten Schuldtitel üblich sind,19 indem die Anteilseigner der EZB ohne Zwang ihre Ansprüche auf Auskehr des nicht realisierten Zentralbankgewinns verlören. 15 Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 101 EGV, Rn. 1. 16 7. Erwägungsgrund der VO (EG) Nr. 3603/93, vgl. Mayer, Unabhängigkeit und Legitimität der EZB im Rahmen der Staatsschuldenkrise, in: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen 2011, S. 130. 17 Erwägungsgrund 2 und 3 Beschluss EZB v. 14.5.2010 zur Einführung eines Programms für die Wertpapiermärkte , EZB/2010/5, Abl. 2010 Nr. L 124, S. 8; vgl. Mario Draghi, Interview mit Le Mond vom 21.07.2012: „“Our mandate is not to resolve the finacial problems of countries, but to ensure price stability and to contribute to the stability of the financial system”. 18 BVerfG, Urteil v. 12.9.2012, 2 BvR 1390/12 u.a., Rn. 277 mit Verweis auf Stellungnahme der EZB vom 17.3.2011 (CON/2011/24, Abl. EG C 140 v. 11.5.2011, S. 8, Anm. 9). 19 Vgl. die Leitlinie der Europäischen Zentralbank vom 20. September 2011 über geldpolitische Instrumente und Verfahren des Eurosystems (EZB/2011/14), (2011/817/EU). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 137/12 Seite 8