Deutscher Bundestag Der Europarechtliche Rahmen für gemeinsame Polizeioperationen von Mitgliedstaaten der Europäischen Union Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 11 – 3000 – 136/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 136/11 Seite 2 Der Europarechtliche Rahmen für gemeinsame Polizeioperationen von Mitgliedstaaten der Europäischen Union Aktenzeichen: WD 11 – 3000 – 136/11 Abschluss der Arbeit: 13.09.2011 Fachbereich: WD 11: Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 136/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Abschaffung der Binnengrenzkontrollen und Ausgleichsmaßnahmen nach dem Schengen-Besitzstandard 5 2. Rechtsgrundlagen für grenzüberschreitende Polizeikontrollen zur Sicherung der Außengrenzen der Europäischen Union 6 2.1. Die polizeiliche Zusammenarbeit nach dem Schengener Durchführungsübereinkommen und dessen Überführung in das Recht der EU 6 2.2. Frontex 7 2.3. Grenzkontrollen zur Sicherung der Außengrenzen der EU- Mitgliedstaaten 8 3. Europarechtliche Schranken für gemeinsame Polizeioperationen innerhalb des Schengengebietes 8 3.1. Freizügigkeit als Prüfungsmaßstab für gemeinsame Polizeioperationen zur Sicherung der Binnengrenze 8 3.2. Ausschluss von polizeilichen Maßnahmen, die die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben 10 3.3. Zur Geltung des europarechtlichen Diskriminierungsverbots im Rahmen von gemeinsamen Polizeioperationen 11 4. Zusammenfassung 12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 136/11 Seite 4 In vielfältiger Form finden in der Europäischen Union (EU) Gemeinsame Polizeioperationen (sog. Joint Police Operations – JPO) statt. Gemeinsame Polizeioperationen wurden bislang in den Netzwerken AQUAPOL (international police cooperation on the water)1, TISPOL (European traffic police network), RAILPOL (European network of railway police forces) und AIRPOL (European network of airport law enforcement) durchgeführt2. Festlegungen zu Gemeinsamen Polizeieinsätzen finden sich im Leitfaden für Gemeinsame Polizeieinsätze vom 23. November 20103. Gemeinsame Einsätze werden hierin als Einsätze umschrieben , die eine eindeutige EU-Dimension haben und von mehreren Mitgliedstaaten ausgeführt , im Allgemeinen aber in den jeweiligen Hoheitsgebieten auf Grundlage des jeweils nationalen Rechts durchgeführt werden. JPO werden definiert als operative, koordinierte und zielgerichtete Maßnahmen von begrenzter Dauer. Ausgenommen hiervon werden die örtliche grenzüberschreitende Zusammenarbeit, Einsätze im Zusammenhang mit Ereignissen, die die öffentliche Sicherheit betreffen und Einsätze im Rahmen des Mandats von Frontex4. Unter Belgischer Präsidentschaft wurde die Operation HERMES durchgeführt5. Ihr Ziel war die Verfeinerung und Vervollständigung der Erkenntnisse zu den Routen, die für illegale Einwanderung und Menschenschmuggel innerhalb des Schengengebietes genutzt werden. In einem ersten Schritt sollten die Reiserouten illegaler Migranten identifiziert werden, die auf dem Weg nach Europa über Griechenland und Italien genutzt werden. Dazu wurden die Daten von 13 EU- Mitgliedstaaten zugrundegelegt. Auf dieser Grundlage sollte die Risikoanalyse des Drucks illegaler Einwanderung auf die Außengrenze der EU verbessert werden. In einer zweiten Phase wurden ausweislich des vorgenannten Abschlussberichts vom 11. Oktober 2010 bis 17. Oktober 2010 1900 illegale Migranten kontrolliert. Hieran sollen 22 Mitgliedstaaten beteiligt gewesen sein. Nach Auskunft des Rates vom 27. Mai 20116 habe auf Ersuchen der italienischen Regierung Frontex die gemeinsame Operation Hermes 2011 eingeleitet. Mit ihr soll die illegale Einreise auf die Pelagischen Inseln, nach Sizilien und auf das italienische Festland verhindert und aufgedeckt werden. Im Verlauf dieser Operation sollen elf europäische Staaten Schiffe, Flugzeuge und weite- 1 http://www.aquapol-police.com/ 2 Antwort der Bundesregierung auf die schriftliche Frage des Abgeordneten Hunko vom 15. August 2011, Nr. 8/183; Draft Annual Work Programme 2010 - Prevention of and Fight against Crime http://www.europarl.europa.eu/RegData/docs_autres_institutions/commission_europeenne/comitologie/info/20 09/D008090-01/COM-AC_DI%282009%29D008090-01_EN.pdf 3 Rat der Europäischen Union, 23.11.2010, Leitfaden für Gemeinsame Polizeieinsätze http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/10/st16/st16825.de10.pdf 4 Rat der Europäischen Union, 23.11.2010, Leitfaden für Gemeinsame Polizeieinsätze, S. 5 5 dazu der Abschlussbericht des Rates der Europäischen Union vom 13. Dezember 2010 http://www.statewatch.org/news/2011/jan/eu-council-final-report-operation-hermes-17816-10.pdf 6 http://www.europarl.europa.eu/RegistreWeb/search/simple.htm?fulltext=Frontex&language=EN&sortBy=date docu&orderBy=1¤tPage=6 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 136/11 Seite 5 res Material sowie Experten bereitgestellt haben, um die EU-Außengrenzen im Mittelmeer zu bewachen7. Frontex soll das Operationsgebiet der gemeinsamen Operation auf Sardinien ausgedehnt haben. Frontex unterstützt nach Mitteilung des Rates die italienischen Behörden bei Grenzkontrollen in der zweiten Kontrolllinie, was in Form von Nachbesprechungen und Überprüfungen im Rahmen der Identifizierung von Migranten geschehen soll. Unter ungarischer Präsidentschaft wurde die Operation MITRAS (Migration, Traffic and Security) durchgeführt8. Mit der Operation DEMETER sollen die Operationen HERMES und MITRAS in der Zeit vom 24. bis 30. Oktober 2011 fortgeführt werden9. Ziel der Operation soll die Erhebung von Informationen über Migrationsströme in den EU-Mitgliedstaaten sein. Gegenüber den anderen Operationen unter belgischer und ungarischer Präsidentschaft soll DEMETER auf Flughäfen ausgeweitet werden 10. Für die europarechtliche Bewertung derartiger Gemeinsamer Polizeioperationen ist zunächst maßgebend, ob die hierbei durchgeführten Personenkontrollen zur Sicherung der Außengrenzen der EU oder als Grenzsicherungsmaßnahme an den Binnengrenzen der Schengenstaaten erfolgen. 1. Abschaffung der Binnengrenzkontrollen und Ausgleichsmaßnahmen nach dem Schengen- Besitzstandard Der Schengen-Besitzstand umfasst nicht nur die schrittweise Abschaffung der Binnengrenzkontrollen , sondern legt auch Ausgleichsmaßnahmen fest, die die Mitgliedstaaten durchzuführen haben, um zu gewährleisten, dass der Verzicht auf Grenzkontrollen nicht zu Sicherheitseinbußen auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit führt. Diese Ausgleichsmaßnahmen bilden den sogenannten Schengen-Standard, der ebenfalls permanent weiterentwickelt wird. Zum Standard gehören derzeit insbesondere: eine Harmonisierung und Verstärkung der Außengrenzkontrollen, die Grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit, die Einrichtung des Schengener Informationssystem (SIS), ein automatisierten Personenund Sachfahndungssystem, Regelungen zum Datenschutz im Hinblick auf den Austausch personenbezogener Daten, Vereinbarung einer grenzüberschreitenden justiziellen Zusammenarbeit, eine gemeinsame Visa- und Asylpolitik (beispielsweise die Einführung des sogenannten Schengen-Visums). Die Erfüllung des Schengen-Standards ist Voraussetzung für den Wegfall der Binnengrenzkontrollen zu einem Vertragsstaat im Schengen-Raum und für alle Schengen-Mitglieder verpflichtend . Mit der Einbeziehung ins Unionsrecht wurde der Schengen-Standard auch für alle nachfolgenden Beitritte obligatorisch. Die stationären Kontrollen der Binnengrenzen zur Tschechischen 7 Treffpunkt Europa, Ausg. vom 30.06.2011 http://www.treffpunkteuropa.de/Europaischer-Rat-fur- Grenzkontrollen 8 Rat der Europäischen Union, 13. Dezember 2010, S. 5 9 Rat der Europäischen Union, 15. Juli 2011, Dok.-Nr. 12981/11 10 Rat der Europäischen Union, 15. Juli 2011, Dok. Nr. 12981/11, S. 3 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 136/11 Seite 6 Republik, zu Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Polen, Slowenien und zur Slowakei entfielen demzufolge nach deren EU-Beitritt am 21. Dezember 2007. Bulgarien und Rumänien sind zwar als EU-Mitgliedstaaten ebenfalls verpflichtet, den Schengen-Standard einzuführen. Die Grenzkontrollen zwischen diesen Ländern und dem übrigen Schengen-Raum werden gemäß Art. 4 Abs. 2 der Beitrittsakte Rumäniens und Bulgariens11 jedoch solange aufrechterhalten, bis der Europäische Rat auf der Grundlage eines Schengen-Evaluierungsverfahrens beschließt, dass die Voraussetzungen für die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen erfüllt sind. Gleiches gilt für Zypern gemäß Art. 3 Abs. 2 der Beitrittsakte Zyperns.12 2. Rechtsgrundlagen für grenzüberschreitende Polizeikontrollen zur Sicherung der Außengrenzen der Europäischen Union 2.1. Die polizeiliche Zusammenarbeit nach dem Schengener Durchführungsübereinkommen und dessen Überführung in das Recht der EU13 Durch den Vertrag von Amsterdam14 wurde der Schengen-Besitzstand15 in den Rechtsrahmen der EU einbezogen16. Die polizeiliche Zusammenarbeit stellt einen wichtigen Teil des übernomme- 11 Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge , auf denen die Europäische Union beruht, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2005:157:0203:0220:DE:PDF [Stand: 21.04.2011]. 12 Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern , der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen , der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/de/treaties/dat/12003T/htm/L2003236DE.003301.htm [Stand: 21.04.2011]. 13 Vgl. einführend auch Nettesheim, Grundrechtskonzeptionen des EuGH im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, EuR 2009 Heft 1, S. 24ff. 14 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die EU, der Verträge zur Gründung der EGen sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, Amtsblatt Nr. C 340 vom 10.11.1997, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/de/treaties/dat/11997D/htm/11997D.html (Stand: 07.12.10). 15 „Der Schengen-Besitzstand bezeichnet über das Schengener Übereinkommen und das Schengener Durchführungsübereinkommen hinaus jene Rechtsakte, die im Zusammenhang mit diesen zwei Übereinkommen gesetzt wurden. Dies sind unter anderem Beitrittsprotokolle zu diesen Übereinkommen, Beschlüsse und Erklärungen des durch das SDÜ eingesetzten Exekutivausschusses sowie Beschlüsse der Zentralen Gruppe, zu denen diese vom Exekutivausschuss ermächtigt worden war. Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde der Schengen- Besitzstand in das Vertragsregime der Europäischen Union (EUV, EGV) übergeführt. Mit Beschluss des Rates 1999/435/EG, ABl. 1999, Nr. L 176/1, wurde der Schengen-Besitzstand bestimmt und eine Rechtsgrundlage in den Verträgen festgelegt. Der Schengen Besitzstand wurde im Amtsblatt (ABl. 2000, Nr. L 239/1) veröffentlicht. In Hinblick auf die Stellung des Schengen-Besitzstandes im Gemeinschaftsrecht sei auf ein Urteil des EuGH 31.1.2006, Rs. C-503/03 Kommission/Spanien, verwiesen.“ Siehe „Schengen-Besitzstand“, in: Lachmayer /Bauer, Praxiswörterbuch Europarecht, 2008. Schengen-Besitzstand gemäß Artikel 1 Absatz 2 des Beschlusses 1999/435/EG des Rates vom 20. Mai 1999, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2000:239:0001:0473:DE:PDF (Stand: 07.12.10). 16 Dies hat rechtlich einen Geltungsvorrang zur Folge, d.h. EU-Recht bricht Schengen-Recht. Nur solange und soweit kein neues EU-Recht gesetzt wurde, gelten SÜ und SDÜ mithin als EU-Recht fort. Vgl. Hoppe, in: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 136/11 Seite 7 nen Schengen-Besitzstands dar und umfasst insbesondere den Informationsaustausch, die Nacheile , die Observation, die kontrollierte Lieferung, die Entsendung von Polizeiverbindungsbeamten und die gegenseitige Unterstützung bei der Personen- und Sachfahndung.17 18 2.2. Frontex Ein Bestandteil eines europäischen integrierten Grenzschutzsystems19 ist die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (Frontex).20 Frontex soll Koordinierungsaufgaben bei der Sicherung der Außengrenzen übernehmen. Aufgabe dieser Agentur ist die Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten beim Schutz der Außengrenzen sowie die Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Ausbildung von Grenzschutzbeamten. Die Überwachung der Außengrenzen liegt allein bei den Mitgliedstaaten21. Die Einrichtung der Agentur Frontex dient der besseren Zusammenarbeit nationaler Grenzbehörden. Dieser Agentur ist die Rolle des Dienstleisters für die Vernetzung der nationalen Grenzschutzbehörden zugewiesen . Vorrangig erfüllt diese die Funktion, die operative Zusammenarbeit der nationalen Grenzschutzbehörden zu koordinieren22. Die Verordnung zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union weist Frontex folgende Aufgaben zu: Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Schutzes der Außengrenzen; Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Ausbildung von Grenzschutzbeamten einschließlich der Festlegung gemeinsamer Ausbildungsnormen; Durchführung von Risikoanalysen; Verfolgung der Entwicklungen der für die Kontrolle und Überwachung der Außengrenzen relevanten Forschung; Lenz/Borchardt, Art. 77 AEUV Rdnr. 4, EU-Verträge, 2010, oder auch EuGH, C-503/03, KOM/Spanien, Slg. 2006, I-1097. 17 Vgl. Breitenmoser/Drück, Die polizeiliche Zusammenarbeit im Rahmen von Schengen, in: Kaddous /Jametti/Greiner (Hrsg.), Bilaterale Abkommen II - Schweiz-EU und andere neue Abkommen, 2006, S. 357- 388. 18 Schengen-Besitzstand, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2000:239:0001:0473:DE:PDF (Stand: 07.12.10). 19 Dazu Art. 77 Abs. 1 lit. c) AEUV 20 Errichtet auf Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 Der Rates vom 26. Oktober 2004 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ABl. 349/1 http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2004:349:0001:0011:DE:PDF 21 Frenz, Handbuch Europarecht. Bd. 6, 2010, S. 798. 22 Thym, Migrationsverwaltungsrecht, 2010, S. 371 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 136/11 Seite 8 Unterstützung der Mitgliedstaaten in Situationen, die eine verstärkte technische und operative Unterstützung an den Außengrenzen erfordern; Bereitstellung der notwendigen Unterstützung für die Mitgliedstaaten bei der Organisation gemeinsamer Rückführungsaktionen. Die Aufgaben von Frontex dienen der Sicherung der Außengrenze. Der Einsatz von Frontex zur Sicherung der Binnengrenzen im Schengenraum ist nach der Frontex-Verordnung nicht vorgesehen. Die Aufgabenzuweisung – Sicherung der Außengrenze – führt allerdings nicht zwangsläufig zu einer territorialen Begrenzung operativer Maßnahmen. Diese müssen zur Sicherung der Außengrenze, nicht aber zwangsläufig an der Außengrenze stattfinden. 2.3. Grenzkontrollen zur Sicherung der Außengrenzen der EU-Mitgliedstaaten Soweit Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft worden sind, gewinnt die Sicherung der Außengrenzen besondere Bedeutung. Grenzkontrollen sollten nach dem Erwägungsgrund 6 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung und des Menschenhandels sowie zur Vorbeugung jeglicher Bedrohung der inneren Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Gesundheit und der internationalen Beziehungen der Mitgliedstaaten beitragen. Erwägung 8 des Schengener Grenzkodex stellt klar, dass Grenzkontrollen nicht nur die Personenkontrollen an den Grenzübergangsstellen und die Überwachung zwischen den Grenzübergangsstellen umfassen soll. Teil der Grenzkontrolle soll auch die Analyse des Risikos für die innere Sicherheit sowie die Analyse der Bedrohungen sein, die die Sicherheit der Außengrenzen beeinträchtigen können23. Auf Grundlage des Art. 77 Abs. 2 lit. d) AEUV werden der Union nicht nur Kompetenzen zum Aufbau eines Kontrollregimes nur unmittelbar an der Außengrenze zugewiesen; diese Norm ermächtigt darüber hinaus zu vor- und nachgelagerten Kontrolltätigkeiten im erweiterten geografischen Umfeld der Grenzlinie24. 3. Europarechtliche Schranken für gemeinsame Polizeioperationen innerhalb des Schengengebietes 3.1. Freizügigkeit als Prüfungsmaßstab für gemeinsame Polizeioperationen zur Sicherung der Binnengrenze Nach Art. 21 Abs. 1 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Ver- 23 Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), 13.04.2006, ABl. 105/1 24 Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 77 AEUV Rdn. 34 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 136/11 Seite 9 trägen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Nach Art. 45 Abs. 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) haben Unionsbürgerinnen und Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Nach Art. 45 Abs. 2 GRCh kann Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates aufhalten, nach Maßgabe der Verträge Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit gewährt werden. Die in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Schranken für die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit begrenzen mit Blick auf Art. 52 Abs. 2 GRCh auch das in Art. 45 Abs. 1 GRCh gewährleistete Freizügigkeitsrecht25. Innerhalb des Schengengebietes finden keine Grenzkontrollen an den Binnengrenzen statt. Nach Art. 67 Abs. 2 AEUV stellt die Union „sicher, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden…“. Nach Art. 77 Abs. 1 a) AEUV muss die Union mit der von ihr zu entwickelnden Politik sicherstellen, „dass Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit nicht kontrolliert werden.“ Gemäß Art. 20 Schengener Grenzkodex dürfen die Binnengrenzen „unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden .“ Aus der Freizügigkeits-Richtlinie ließe sich hingegen auf sekundärrechtlicher Ebene keine Beschränkung von Personenkontrollen ableiten. Die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen , sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei bewegen und aufzuhalten (Freizügigkeits -RL)26, konkretisiert das Recht auf Ausreise und Einreise von Unionsbürgern und ihrer Familienangehörigen sowie deren Aufenthaltsrecht. Die Freizügigkeits-RL weist nur den Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt zu. Kontrollen und Überprüfungen werden durch diese Richtlinie nicht ausgeschlossen. Ein- und Ausreise stehen bereits unter dem Vorbehalt der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften (Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 Freizügigkeits-RL). Kontrollen während das Aufenthalts werden durch die Freizügigkeits-RL nicht ausgeschlossen, da diese keine Beschränkungen des Aufenthaltsrechts darstellen sondern der Feststellung der Rechtmäßigkeit des jeweiligen Aufenthalts dienen. 25 Magiera, in: Meyer (Hg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, Art. 45 Rdn. 11 26 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten , zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG vom 29.04.2004, ABl. L 158/77 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 136/11 Seite 10 3.2. Ausschluss von polizeilichen Maßnahmen, die die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben Die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen im Schengenraum schließt polizeiliche Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebietes nicht aus. Polizeiliche Befugnisse nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaates bleiben prinzipiell möglich, auch in Grenzgebieten (Art. 21 lit. a) Satz 1 2. HS Schengener Grenzkodex). Sie dürfen aber nicht in gleicher Weise wirken wie Grenzübertrittskontrollen. Der Schengener Grenzkodex legt Kriterien fest, nach denen dies für polizeiliche Maßnahmen nicht zutreffen soll. Art. 21 lit. a) Satz 2 Schengener Grenzkodex nennt – nicht abschließend - polizeiliche Maßnahmen, die nicht der Durchführung von Grenzkontrollen gleichgestellt werden. Solche polizeiliche Maßnahmen der Mitgliedstaaten sind hiernach mithin prinzipiell zulässig, die keine Grenzkontrollen zum Ziel haben auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden. Im Umkehrschluss zu Art. 21 lit. a) Satz 1 2. HS Schengener Grenzkodex wären demgemäß systematische Personenkontrollen, so wie sie an den Außengrenzen durchgeführt werden, an den Binnengrenzen der Schengenstaaten unzulässig. Solche wären nur bei Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen zulässig, was aber nach Art. 22 Abs. 1 Schengener Grenzkodex eine schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit voraussetzte und auch nur eine zeitlich begrenzte Grenzkontrolle zuließe. An den Binnengrenzen der Schengenstaaten sind Maßnahmen generell unzulässig, die die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat in seiner Entscheidung vom 22.06.201027 dazu festgestellt, dass vorstehende Normen einer nationalen Regelung entgegenstehen, „die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, in einem Gebiet mit einer Tiefe von 20 km entlang der Landgrenze dieses Staates zu den Vertragsstaaten des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, zu kontrollieren, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden 27 RS C-188/10 und C-189/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 136/11 Seite 11 und Bescheinigungen zu überprüfen, ohne dass diese Regelung den erforderlichen Rahmen für diese Befugnis vorgibt, der gewährleistet, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann. Nach dieser Entscheidung sind verhaltensunabhängige systematische Personenkontrollen in einer Tiefe von 20 km entlang der Binnengrenzen des Schengenraumes unzulässig, weil sie nach Ansicht des EuGH die gleiche Wirkung hätten wie Grenzkontrollen. Mit dem Schengener- Grenzkodex wird deutlich, dass die Staaten des Schengenraumes mit der Abschaffung der Grenzkontrollen nicht mehr die Möglichkeit haben, systematische Kontrollen an den Binnengrenzen der EU durchzuführen28. Unionsrechtlich wird damit eine Grenze für systematische polizeiliche Kontrollen – für die sog. Schleierfahndung - im grenznahen Bereich gezogen, nicht aber jenseits dieses Bereichs ausgeschlossen29. Identitätskontrollen im Hinterland werden nach Art. 21 lit a) Schengener Grenzkodex zugelassen und nicht als europarechtswidrig angesehen30, da sie – unabhängig von Intensität und Eingriffstiefe - nicht als Grenzkontrolle gelten. Vom Schengen-Grenzkodex nicht ausgeschlossen ist die Durchführung von Sicherheitskontrollen bei Personen in See- oder Flughäfen durch die zuständigen Behörden nach Maßgabe des nationalen Rechts, die Verantwortlichen der See- oder Flughäfen oder die Beförderungsunternehmer, sofern diese Kontrollen auch bei Personen vorgenommen werden, die Reisen innerhalb des Mitgliedstaats unternehmen (Art. 21 lit. b Schengener Grenzkodex). 3.3. Zur Geltung des europarechtlichen Diskriminierungsverbots im Rahmen von gemeinsamen Polizeioperationen Soweit Polizeikontrollen grds. nach geltendem EU-Recht zulässig sind, muss jeder polizeiliche Einsatz darüber hinaus grundrechtskonform durchgeführt werden. Art. 18 AEUV verbietet im Anwendungsbereich der Verträge jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Art. 19 AEUV beinhaltet eine weitreichende Normsetzungskompetenz zur Schaffung geeigneter Vorkehrungen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. Ein Diskriminierungsverbot normiert auch Art. 21 GRCh, das wiederum nur für den Zuständigkeitsbereich der EU gilt31. Vorstehende Normen begründen ein zwingend zu beachtendes Diskriminierungsverbot, das für polizeiliche Maßnahmen im Einzelfall zu beachten ist, soweit diese auf Grundlage des EU-Rechts durchgeführt werden. Das in dieser Weise statuierte Diskriminierungsverbot würde insb. für die Arbeit von Frontex Anwendung finden, nicht aber auf die Polizeibehörden der Mitgliedstaaten, deren Einsätze unter Beachtung der jeweiligen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten durchzufüh- 28 Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 358 29 Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 77 AEUV, Rdn. 42 30 Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 225 31 Art. 51 GRC Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 136/11 Seite 12 ren sind. Diese müssen bei ihren Einsätzen die in den jeweiligen Landesverfassungen verbürgten Grundrechte beachten. 4. Zusammenfassung Der Schengen-Besitzstand umfasst neben der schrittweisen Abschaffung der Binnengrenzkontrollen , ein Bündel von Ausgleichsmaßnahmen, die die Mitgliedstaaten durchzuführen haben, um zu gewährleisten, dass der Verzicht auf Grenzkontrollen nicht zu Sicherheitseinbußen auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit führt. Diese Ausgleichsmaßnahmen bilden den sogenannten Schengen -Standard. Die Agentur Frontex dient der Sicherung der Außengrenze. Der Einsatz von Frontex zur Sicherung der Binnengrenzen im Schengenraum ist nach der Frontex-Verordnung nicht vorgesehen. Die Aufgabenzuweisung – Sicherung der Außengrenze – führt allerdings nicht zwangsläufig zu einer territorialen Begrenzung operativer Maßnahmen. Innerhalb des Schengengebietes finden keine Grenzkontrollen an den Binnengrenzen statt. Auch Personenkontrollen, die die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben, sind unzulässig . Der Schengener Grenzkodex definiert – nicht abschließend - polizeiliche Maßnahmen, die nicht der Durchführung von Grenzkontrollen gleichgestellt werden und demgemäß mit der prinzipiellen Abschaffung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen als vereinbar gelten. Polizeiliche Maßnahmen sind an dem europarechtlichen Diskriminierungsverbot zu messen, soweit diese im Rahmen der europäischen Verträge durchgeführt werden, ansonsten an den im Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten verbürgten Grundrechten. - Fachbereich Europa -