© 2015 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 129/15 Unionsrechtliche Anforderungen an die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und für die Gewährung eines Aufenthaltstitels Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 2 Unionsrechtliche Anforderungen an die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und für die Gewährung eines Aufenthaltstitels Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 129/15 Abschluss der Arbeit: 13. November 2015 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 5 2. Voraussetzung für die Erlangung eines Aufenthaltstitels 5 2.1. Fragestellung 5 2.2. Unionsrechtlicher Rahmen 6 2.2.1. Regelungssystematik 6 2.2.2. Wirkung auf die mitgliedstaatliche Rechtsordnung 8 2.3. Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Art. 13 RL 2011/95/EU 8 2.3.1. Regelungen betreffend die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft 8 2.3.1.1. Verfolgungshandlung, Art. 9 RL 2011/95/EU 9 2.3.1.2. Verfolgungsgrund, Artikel 10 RL 2011/95/EU 10 2.3.1.3. Erlöschensgründe, Art. 11 RL 2011/95/EU 10 2.3.1.4. Ausschlussgründe, Art. 12 RL 2011/95/EU 10 2.3.2. Folgerungen für die die unionsrechtliche Zulässigkeit einer Weiterentwicklung des Asylrechts 11 2.3.2.1. Bestimmungen der RL 2011/95/EU als Mindestgewährleistungen 11 2.3.2.2. Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Art. 13 RL 2011/95/EU 12 2.4. Ausstellung eines Aufenthaltstitels, Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU 12 2.4.1. Systematik von Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU 13 2.4.2. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung 13 2.4.2.1. Ratio und Systematik 13 2.4.2.2. Konkretisierung durch die Rechtsprechung 13 2.4.2.3. Folgerungen für die Ausstellung eines Aufenthaltstitels, Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU 14 2.4.3. Bestimmungen der RL 2011/95/EU als Mindestgewährleistungen 14 3. Mit dem Aufenthaltstitel verbundene Pflichten 15 3.1. Fragestellung 15 3.2. Unionsrechtlicher Rahmen 15 3.2.1. Anforderungen aus Art. 34 RL 2011/95/EU 15 3.2.2. Mögliche Integrationsmaßnahmen 15 3.2.3. Gewährleistung des Zugangs zu Integrationsmaßnahmen 16 3.2.3.1. Möglichkeit einer Teilnahmepflicht 16 3.2.3.2. Ausgestaltung einer Teilnahmepflicht 18 3.3. Folgerungen für die Möglichkeit einer Verpflichtung zu Integrationskursen 19 4. Entzug des Aufenthaltstitels 19 4.1. Fragestellung 19 4.2. Unionsrechtlicher Rahmen 19 4.2.1. Aberkennungsgrundlage 19 4.2.2. Voraussetzungen für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, Art. 14 RL 2011/95/EU 20 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 4 4.2.3. Folgerungen für eine mitgliedstaatliche Konkretisierung der Aberkennungsgründe 21 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 5 1. Einleitung Die Ausarbeitung geht aus unionsrechtlicher Sicht auf Fragen ein, die den aufenthaltsrechtlichen Status von Asylbewerbern betreffen. Dabei liegt der Fragestellung die Annahme zugrunde, dass eine nicht unerhebliche Zahl von Asylbewerbern Wertvorstellungen mit sich trage, die der freiheitlich -demokratischen Grundordnung des säkularen Verfassungsstaates, der Gleichheit der Geschlechter , der religiösen Toleranz und der Freiheit der sexuellen Orientierung eklatant widersprechen . Eine hohe Zahl solcher Menschen gefährde den inneren Frieden und das friedliche Zusammenleben im Inland. Vor diesem Hintergrund geht die Ausarbeitung auf Fragen ein, welche die Erlangung eines asylrechtlichen Aufenthaltstitels (hierzu 1.), die mit dem Aufenthaltstitel zu verbindenden Pflichten (hierzu 2.) sowie den Entzug des Aufenthaltstitels (hierzu 3.) betreffen. Vorab ist anzumerken, dass die angesprochenen Fragen verschiedene Rechtsstellungen von Personen im Hinblick auf internationalen Schutz betreffen können. Im Rahmen des gemeinsamen europäischen Asylsystems kann dies als sog. primärer Schutz das Recht auf Asyl1 sowie den Flüchtlingsschutz2 betreffen, die jeweils an eine individuelle Verfolgung der betreffenden Person anknüpfen. Hiervon abzugrenzen ist der subsidiäre Schutzstatus, der an eine allgemeine Gefahr im Herkunftsland anknüpft,3 sowie der absolute Abschiebungsschutz4 und der nach nationalem Recht zu gewährende Abschiebungsschutz aus sonstigen humanitären oder familiären Gründen.5 Angesichts der unterschiedlichen Schutzsysteme und der dementsprechend divergierenden Rechtsstellungen6 konzentriert sich die folgende Darstellung auf die mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Rechtsbeziehungen. 2. Voraussetzung für die Erlangung eines Aufenthaltstitels 2.1. Fragestellung Ermöglicht das Unionsrecht eine Weiterentwicklung des innerstaatlichen Asylrechts dahingehend , dass sich eine Person als Voraussetzung dafür, als Asylbewerber bzw. als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt zu werden, schriftlich und verbindlich zu bestimm- 1 Art. 18 GRCh und Art. 16a GG, jeweils nach Maßgabe der GFK; vgl. auch § 2 AsylVerfG. 2 Art. 2 lit. e) sowie Kapitel III und IV RL 2011/95/EU nach Maßgabe der GFK, vgl. auch § 60 Abs. 1 AufenthG und § 3 AsylVerfG. 3 Art. 2 lit. g ) sowie Kapitel V RL 2011/95/EU, wobei nach Art. 2 lit. f) RL 2011/95/EU eine Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz eine solche ist, die „die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt “; vgl. auch § 60 Abs. 2, 3 und 7 S. 2 AufenthG. 4 Art. 21 Abs. 1 RL 2011/95/EU nach Maßgabe der GFK, vgl. auch § 60 Abs. 5 AufenthG. 5 § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG unter Berücksichtigung menschenrechtlicher Bestimmungen beispielsweise Art. 3 EMRK, vgl. EuGH, Rs. C- 562/13 (Abdida), Rn. 46 ff. 6 Vgl. EuGH, Rs. C-604/12 (H.N.), Rn. 26 ff.; EuGH, Rs. C-364/11 (El Karem El Kott), Rn. 66 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 6 ten Grundwerten des Aufnahmestaates (bspw. Achtung des Gewaltmonopols des Staates, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Trennung von Staat und Religion, religiöse Toleranz) bekennen muss (im Folgenden: Bekenntnis)? Ausgehend von der unionsrechtlichen Systematik (hierzu 2.2.) wird im Folgenden untersucht, ob ein solches Bekenntnis aus unionsrechtlicher Sicht Voraussetzung für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft (hierzu 2.3.) oder für die Ausstellung eines entsprechenden Aufenthaltstitels (hierzu 2.4.) sein kann. 2.2. Unionsrechtlicher Rahmen 2.2.1. Regelungssystematik Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) gewährleistet das Recht auf Asyl nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention7 (GFK) und der Unionsverträge. Nach Art. 78 Abs. 1 AEUV soll demnach in der EU gewährleistet sein, dass jedem Drittstaatsangehörigen , der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten wird. Diese primärrechtlichen Verpflichtungen wurden sekundärrechtlich insbesondere mit der Richtlinie 2013/32/EU8 (sog. Asylverfahrensrichtlinie) und der Richtlinie 2011/95/EU9 (sog. Qualifikationsrichtlinie , im Folgenden: RL 2011/95/EU) umgesetzt.10 Während sich aus Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU ein zweistufiges System zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz ergibt,11 zielt die RL 2011/95/EU darauf ab, die in der GFK festgelegte Schutzregelung für 7 Gesetz betreffend das Abkommen vom 28. Juli 1953 über die Rechtsstellung von Flüchtlingen, BGBl. II 1953, S. 559 sowie das Gesetz zum Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung von Flüchtlingen, BGBl. 1969 II, S. 1293, durch das zeitliche und territoriale Beschränkungen beseitigt worden sind. 8 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. L 180/60, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32013L0032&qid=1446989103990&from=DE, die jedoch keine Anwendung auf Anträge auf subsidiären Schutz findet, sofern ein Mitgliedstaat nicht ein einheitliches Verfahren einführt, in dessen Rahmen er einen Antrag unter dem Aspekt der beiden Formen des internationalen Schutzes, nämlich der Anerkennung als Flüchtling und des subsidiären Schutzes, prüft, vgl. EuGH, Rs. C-277/11 (M), Rn. 79. 9 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit internationalem Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. L 337/9, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32011L0095&qid=1446989051588&from=DE. 10 Die Ausführungen dieser Ausarbeitung beziehen sich nur auf Konstellationen nach Inkrafttreten der Richtlinien 2011/95/EU und 2013/32/EU. Für frühere Fallkonstellationen finden die Vorgängerbestimmungen der Richtlinien 2004/83/EG und 2005/85/EG entsprechend Anwendung. 11 Die Richtlinie 2013/32/EU gilt sowohl für Asylanträge als auch für Anträge auf subsidiären Schutz, wenn ein Mitgliedstaat ein einheitliches Verfahren einführt, in dessen Rahmen er einen Antrag unter dem Aspekt der beiden Formen des internationalen Schutzes prüft, vgl. EuGH, Rs. C-277/11 (M.), Rn. 79; EuGH, Rs. C-604/12 (N.), Rn. 39. Danach müssen die mitgliedstaatlichen Asylbehörden bei ihrer Prüfung zunächst feststellen, ob der Antragsteller die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt. Verneint sie dies, ist festzustellen, ob der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 7 Flüchtlinge durch den subsidiären Schutz zu ergänzen und insoweit die Personen, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen, zu bestimmen. Im Hinblick auf die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft folgt aus Art. 13 RL 2011/95/EU, dass die durch die RL 2011/95/EU gebundenen Mitgliedstaaten12 einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen nach einer Prüfung (Art. 4 RL 2011/95/EU) bei Vorliegen der in der RL 2011/95/EU statuierten Voraussetzungen die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen.13 Gemäß Art.13 RL 2011/95/EU ist demjenigen Drittstaatsangehörigen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III im Sinne der Erwägungsgründe 2, 3 und 17 der RL 2011/95/EU erfüllt. Nach Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist der betreffenden Person gemäß Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU ein Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 2 lit. m) RL 2011/95/EU auszustellen. Die Bestimmungen der RL 2011/95/EU sind für die durch die RL 2011/95/EU gebundenen Mitgliedstaaten verbindlich und gehen dem nationalen Recht vor.14 Zugleich ist bei der Auslegung und Anwendung der RL 2011/95/EU zu berücksichtigen, dass die Bestimmungen der RL 2011/95/EU über die Voraussetzungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und deren Merkmale erlassen wurden, um die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der GFK als wesentlicher Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen und zentraler Bezugspunkt jeder Anwendung und Auslegung flüchtlingsrechtlicher Bestimmungen auf der Grundlage gemeinsamer Konzepte und Kriterien zu leiten.15 Dementsprechend sind die Bestimmungen der RL 2011/95/EU im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Richtlinie unter Beachtung der GFK und der übrigen in Art. 78 Abs. 1 AEUV angeführten einschlägigen Verträge auszulegen; bei dieser Auslegung sind zudem die in der GRCh anerkannten Rechte zu achten.16 12 50. Erwägungsgrund RL 2011/95/EU. 13 Diese Zuerkennung hat lediglich deklaratorische Wirkung, vgl. 21. Erwägungsgrund RL 2011/95/EU. Für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß Art. 18 RL 2011/95/EU, die beim Vorliegen der Voraussetzungen der Kapitel II und V der RL 2011/95/EU zu erfolgen hat, vgl. UNHCR-Vertretung für Deutschland und Österreich in Kooperation mit dem Informationsverbund Asyl und Migration, Endlich in Sicherheit? – Die wichtigsten Erkenntnisse aus der UNHCR-Studie zum Schutz vor willkürlicher Gewalt nach Art. 15 (c) der Qualifikationsrichtlinie in ausgewählten EU Mitgliedstaaten, 2011, abrufbar unter http://www.unhcr.de/fileadmin /rechtsinfos/fluechtlingsrecht/2_europaeisch/2_2_asyl/2_2_3/FR_eu_asyl_status-Save_Last_Studie.pdf sowie UNHCR, Refugee Status and Resettlement, abrufbar unter http://www.unhcr.org/3d464c954.pdf. 14 Vgl. 10. und 11. Erwägungsgrund RL 2011/95/EU. 15 Erwägungsgründe 3, 16 und 17 RL 2011/95/EU, vgl. EuGH, Rs. C-472/13 (Shepherd), Rn. 22; EuGH, verb. Rs. C-199/12 bis C-201/12 (X u. a.), Rn. 39; EuGH, verb. Rs. C-175/08 u.a. (Abdulla u.a.), Rn. 52; vgl. hierzu auch den Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (im Folgenden: UNHCR-Kommentar), S. 3, abrufbar unter http://www.unhcr .de/fileadmin/rechtsinfos/fluechtlingsrecht/2_europaeisch/2_2_asyl/2_2_3/FR_eu_asyl_status-HCR_Qualifikationsrl .pdf. 16 EuGH, Rs. C-472/13 (Shepherd), Rn. 23; EuGH, Rs. C-364/11 (Abed El Karem El Kott u. a.), Rn. 43. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 8 2.2.2. Wirkung auf die mitgliedstaatliche Rechtsordnung Mit Blick auf das Ziel einer gemeinsamen Asylpolitik einschließlich eines europäischen Asylsystems dient die RL 2011/95/EU insbesondere dem Zweck, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Anerkennung von Flüchtlingseigenschaften anwenden.17 Liegen die positiven Voraussetzungen gemäß der Art. 9 und 10 RL 2011/95/EU sowie keine negativen Gründe gemäß Art. 11 und 12 RL 2011/95/EU vor, so ist gemäß Art. 13 RL/2011/95/EU die Flüchtlingseigenschaft anzuerkennen. Die Bestimmungen der RL 2011/95/EU gelten gemäß Art. 288 AEUV unmittelbar für die Mitgliedstaaten . Seit Ablauf der Umsetzungsfrist am 21. Dezember 2013 (Art. 39 Abs. 1 RL 2011/95/EU) ist zudem die unmittelbare Wirkung der Bestimmungen über die Voraussetzungen für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu beachten. Bei der unmittelbaren Wirkung ist danach zu differenzieren, ob das nationale Recht mit den Richtlinienbestimmungen im Einklang steht. Besteht eine grundsätzliche Kompatibilität zwischen den Regelungen, ist die nationale Bestimmung unter Berücksichtigung der Richtlinienbestimmung richtlinienkonform auszulegen. Dabei muss die Auslegung der RL 2011/95/EU ihrerseits die Achtung der Grundrechte und insbesondere die Befolgung der in der GRCh anerkannten Grundsätze gewährleisten und somit insbesondere im Lichte von Art. 18 GRCh erfolgen.18 Widerspricht nationales Recht hingegen einer Richtlinienbestimmung , so ersetzt die Richtlinienvorschrift die kollidierende nationale Vorschrift. Die entsprechende Bestimmung der RL 2011/95/EU ist anstelle der jeweiligen nationalen Regelung auf das konkrete Rechtsverhältnis unmittelbar anzuwenden.19 2.3. Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Art. 13 RL 2011/95/EU 2.3.1. Regelungen betreffend die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft Vor diesem Hintergrund dient die RL 2011/95/EU der Gewährleistung einheitlicher Anforderungen insbesondere im Hinblick auf die Anerkennung einer Flüchtlingseigenschaft im Rahmen des gemeinsamen Asylsystems.20 Der Begriff der Flüchtlingseigenschaft bezeichnet die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat (Art. 2 lit. e) RL 2011/95/EU). Für die Zwecke der RL 2011/95/EU wird der Ausdruck Flüchtling in Art. 2 lit. d) RL 2011/95/EU definiert als ein Drittstaatsangehöriger, "der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seines Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und 17 Vgl. Erwägungsgründe 2, 12 RL 2011/95/EU. 18 EuGH, verb. Rs. C-175, 176, 178 und 179/08 (Abdulla u.a.), Rn. 54. 19 Vgl. dementsprechend der Auslegungshinweis des BMI zur RL 2011/95/EU, abrufbar unter http://www.fluechtlingsinfo -berlin.de/fr/pdf/BMI_Hinweise_Qualifikationsrichtlinie.pdf. 20 Vgl. 12. Erwägungsgrund RL 2011/95/EU. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 9 den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt befindet und nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet“. Der betreffende Staatsangehörige muss somit aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände eine begründete Furcht vor einer Verfolgung haben, die sich aus zumindest einem der fünf in der RL 2011/95/EU und der GFK genannten Gründe gegen seine Person richtet.21 Vor diesem Hintergrund hat eine Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch die Mitgliedstaaten gemäß Art. 13 RL 2011/95/EU und die Ausstellung eines Aufenthaltstitels gemäß Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU dann zu erfolgen, wenn die Person die Voraussetzungen der Kapitel II und III der Richtlinie erfüllt. Während Kapitel II der RL 2011/95/EU im Wesentlichen die Modi zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz regelt, sieht Kapitel III die näheren Voraussetzungen für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Als Positivvoraussetzungen sieht die RL 2011/95/EU das Vorliegen einer Verfolgungshandlung (Artikel 9, hierzu 2.2.2.1.) und eines mit der Handlung verknüpften Verfolgungsgrundes (Artikel 10, hierzu 2.2.2.2.), als Negativvoraussetzungen das Nichtvorliegen von Erlöschens- (Art. 11, hierzu 2.2.2.3.) oder Ausschlussgründen (Art. 12, hierzu 2.2.2.4.) vor.22 2.3.1.1. Verfolgungshandlung, Art. 9 RL 2011/95/EU Die Anerkennung einer Flüchtlingseigenschaft setzt zunächst das Vorliegen einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A GFK voraus. Im Rahmen des gemeinsamen Asylsystems muss eine entsprechende Handlung gemäß Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU hierfür aufgrund ihrer Art und ihrer Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der absoluten Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Alternativ muss die Handlung durch Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, so gravierend sein, dass sie eine Person in ähnlicher Weise wie eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte betrifft. Nach diesen Bestimmungen stellt eine Verletzung von Grundrechten nur dann eine Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A GFK dar, wenn sie einen bestimmten Schweregrad erreicht.23 Die potenziellen Verfolgungsarten werden in Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU dahingehend konkretisiert , dass hierzu insbesondere Handlungen zählen wie physische und psychische Gewalt ein- 21 EuGH, Rs. C-472/13 (Shepherd), Rn. 24; EuGH, verb. Rs. C-175/08 u.a. (Abdulla u.a.), Rn. 56 f. 22 Vgl. hierzu im Überblick Dörig, Auf dem Weg in ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem, NVwZ 2014, S. 106 ff. 23 EuGH, verb. Rs. C-199/12 bis C-201/12 (X u.a.), Rn. 51 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 10 schließlich sexueller Gewalt, diskriminierende oder in diskriminierender Weise angewandte gesetzliche , bestimmte administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen24 oder Handlungen , die an die Geschlechtsangehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. 2.3.1.2. Verfolgungsgrund, Artikel 10 RL 2011/95/EU Die Verfolgungshandlung muss gemäß Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU mit einem durch Art. 10 RL 2011/95/EU näher konkretisierten Verfolgungsgrund verknüpft sein. Danach haben die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Anerkennungsprüfung insbesondere zu berücksichtigten: der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte der Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe; der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen; der Begriff der Nationalität bezieht sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern umfasst insbesondere die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird; unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere die Gefahr zu verstehen, von einem Staat, einer Partei oder Organisation oder einer nichtstaatlichen Stelle aufgrund einer Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung verfolgt zu werden. 2.3.1.3. Erlöschensgründe, Art. 11 RL 2011/95/EU Gemäß Art. 11 RL 2011/95/EU erlischt die Flüchtlingseigenschaft insbesondere dann, wenn ein Drittstaatsangehöriger sich freiwillig dem Schutz des Landes unterstellt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, nach dem Verlust seiner Staatsangehörigkeit diese freiwillig wiedererlangt hat, freiwillig in ein Land, das er aus Furcht vor Verfolgung verlassen hat, zurückgegehrt ist und sich dort niedergelassen hat oder er eine neue Staatsangehörigkeit erworben hat und den Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er erworben hat, genießt. 2.3.1.4. Ausschlussgründe, Art. 12 RL 2011/95/EU Schließlich setzt die Anerkennung einer Flüchtlingseigenschaft das Nichtvorliegen von Ausschlussgründen gemäß Art. 12 RL 2011/95/EU voraus. Danach kann ein Ausschluss insbesondere dann erfolgen, wenn ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen genießt oder von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat. Die Anerkennung einer Flüchtlingseigenschaft ist zudem dann ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen , dass ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen 24 Zur Auslegung von Art. 9 Abs. 2 lit. e) RL 2011/95/EU vgl. EuGH, Rs. C-472/13 (Shepherd), Rn. 36 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 11 die Menschlichkeit, eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Aufnahmelandes begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, oder sich Handlungen zuschulden kommen ließ, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen widersprechen.25 2.3.2. Folgerungen für die unionsrechtliche Zulässigkeit einer Weiterentwicklung des Asylrechts Vor diesem Hintergrund hat eine Reform der nationalen Bestimmungen über die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft26 und die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU im Lichte der zentralen GFK einschließlich der EMRK, der GRCh und der umsetzenden RL 2011/95/EU zu erfolgen. 2.3.2.1. Bestimmungen der RL 2011/95/EU als Mindestgewährleistungen Bei der Anwendung und Umsetzung der Bestimmungen über die Anerkennung einer Flüchtlingseigenschaft können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 3 RL 2011/95/EU günstigere Normen erlassen oder beibehalten.27 Der Vorbehalt in Art. 3 RL 2011/95/EU verwehrt es einem Mitgliedstaat daher , Bestimmungen zu erlassen oder beizubehalten, die mit der humanitären Zielsetzung der Richtlinie nicht vereinbar sind, Personen zu bestimmen, die wegen besonderer Umstände tatsächlich internationalen Schutz benötigen und rechtmäßig in der Union darum ersuchen.28 Vor diesem Hintergrund würde es einerseits der allgemeinen Systematik und den Zielen der RL 2011/95/EU widersprechen, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechtsstellungen Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen.29 Andererseits wären solche mitgliedstaatlichen Regelungen nicht mit den Bestimmungen der Richtlinie vereinbar, die trotz des Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung von internationalem Schutz weitergehende Voraussetzungen statuieren. Dieser Umstand, dass die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Anerkennung der Voraussetzungen für internationalen Schutz günstigere Regelungen erlassen oder beibehalten können und die Bestimmungen der RL 2011/95/EU dementsprechende Mindestanforderungen 25 Zu den Ausschlussgründen vgl. UNHCR-Vertretung für Deutschland und Österreich, UNHCR-Stellungnahme zur Auslegung der Ausschlussklauseln des Artikels 12 (2) b) und c) der Qualifikations- bzw. Statusrichtlinie, 2009, abrufbar unter http://www.unhcr.de/fileadmin/rechtsinfos/fluechtlingsrecht/2_europaeisch /2_2_asyl/2_2_3/FR_eu_asyl_status-HCR_Ausschluss.pdf. 26 Zur Umsetzung der RL 2011/95/EU vgl. das Gesetz vom 28.08.2013, BGBl. I S. 3474 sowie § 3 AsylVerfG und § 60 Abs. 1 AufenthaltsG. 27 Für die Voraussetzungen der Zuerkennung von subsidiären Schutz vgl. VG Lüneburg, Urteil vom 29. November 2006, 1 A 742/03; für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen vgl. EuGH, Rs. C-542/13 (M´Bodj), Rn. 46 mit der Feststellung, dass ein Mitgliedstaat, wenn er eine solche, nationalen Schutz beinhaltende Rechtsstellung aus anderen Gründen als dem, dass internationaler Schutz im Sinne von [Art. 2 lit. a) RL 2011/95/EU] gewährt werden muss, d. h. aus familiären oder humanitären Ermessensgründen gewährt wird, so fällt diese Gewährung im Übrigen nicht in den Anwendungsbereich der RL 2011/95/EU. 28 Vgl. EuGH, Rs. C-472/13 (Shepherd), Rn. 32 mit Verweis auf EuGH, verb. Rs. C-57/09 und C-101/09 (B und D), Rn. 93. 29 Vgl. EuGH, Rs. C-542/13 (M´Bodj), Rn. 43. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 12 statuieren, stellt sich – auch vor dem Hintergrund der Verpflichtungen aus der GFK – als ein tragender Grundsatz der Bestimmungen der gemeinsamen Asylpolitik dar. So sehen beispielsweise Art. 4 RL 2013/33/EU sowie Art. 3 RL 2004/83/EG, die Vorgängerregelung zu Art. 3 RL 2011/95/EU, die Möglichkeit günstigerer Bedingungen vor. 2.3.2.2. Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Art. 13 RL 2011/95/EU Die Verknüpfung der Anerkennung einer Flüchtlingseigenschaft mit einem bestimmten Bekenntnis des Antragstellers ist in der RL 2011/95/EU nicht ersichtlich. Das in der Fragestellung beschriebene Bekenntnis zu Grundwerten wie der Achtung des Gewaltmonopols des Staates, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Trennung von Staat und Religion sowie religiöse Toleranz gehört nicht zu den positiven Voraussetzungen oder den aufgeführten Ausschlussgründen . Fehlt es an einer ausdrücklichen Verknüpfung, so ergibt sich aus einem Umkehrschluss aus Art. 3 RL 2011/95/EU, dass die Mitgliedstaaten daran gehindert sind, strengere Vorschriften im Hinblick auf die Anerkennung einer Flüchtlingseigenschaft einzuführen. Mit Blick auf die Möglichkeit , günstigere Regelungen zu erlassen, würde eine entsprechende Verknüpfung der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit dem vorbeschriebenen Bekenntnis eine strengere Regelung darstellen, die grundsätzlich dazu geeignet ist, den effektiven Zugang der Personen, die internationalen Schutz beantragen, zu den ihnen durch die RL 2011/95/EU zuerkannten Rechten in Frage zu stellen. Die Rechte sind insoweit zuerkannt, dass die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grundlage der RL 2011/95/EU einen deklaratorischen Akt darstellt und insoweit „automatisch“ nach einer Prüfung und positiven Feststellung30 der Tatsachen und Umstände der in Kapitel II und III RL 2011/95/EU genannten Voraussetzungen zu erfolgen hat. Art. 13 RL 2011/95/EU in Verbindung mit den Voraussetzungen der Kapitel II und III RL 2011/95/EU gibt den Mitgliedstaaten vielmehr konkrete positive Verpflichtungen auf, aus denen sich klar definierte subjektive Rechte ergeben. Dementsprechend verengt sich der mitgliedstaatliche Handlungsspielraum und die Mitgliedstaaten dürfen ihre Befugnisse in Umsetzung der Richtlinie nicht in einer Weise wahrnehmen, die das humanitäre Ziel der Richtlinie und ihre praktische Wirksamkeit beeinträchtigen würde.31 Dementsprechend stünden einer solchen nationalen Regelung die entsprechenden Voraussetzungen der RL 2011/95/EU, insbesondere Art. 13 RL 2011/95/EU entgegen. 2.4. Ausstellung eines Aufenthaltstitels, Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU Fraglich ist, ob die Ausstellung eines Aufenthaltstitels gemäß Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU als Folge der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft von dem in der Fragestellung angesprochenen Bekenntnis abhängig gemacht werden kann. 30 Zum Verfahren gemäß Art. 4 RL 2011/95/EU vgl. EuGH, Rs. C-148/13 (A), Rn. 48 ff. 31 Vgl. EuGH, Rs. C-578 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 13 2.4.1. Systematik von Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, einem Flüchtling so bald wie möglich einen Aufenthaltstitel auszustellen, der mindestens drei Jahre gültig und verlängerbar ist. Von dieser Verpflichtung darf nur abgewichen werden, wenn der Ausstellung zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entgegenstehen. Dementsprechend statuiert Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU eine Regelausstellung, von der nur ausnahmsweise abgewichen werden darf. Dementsprechend müsste das in der Fragestellung angesprochene Bekenntnis einen zwingenden Grund der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entsprechend, um hiervon die Ausstellung eines Aufenthaltstitels abhängig machen zu können. 2.4.2. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Der Begriff „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ wird durch die RL 2011/95/EU nicht näher32 definiert und ist daher unter Berücksichtigung des Wortlauts, der verfolgten Ziele und der Systematik der betreffenden Bestimmungen auszulegen. 2.4.2.1. Ratio und Systematik Vor diesem Hintergrund hat der EuGH festgestellt, dass der Bestimmung die Ratio zugrunde liegt, den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu geben, unter bestimmten spezifischen Voraussetzungen die Freizügigkeit von Drittstaatsangehörigen im Schengen-Raum zu beschränken, um den Terrorismus zu bekämpfen und Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung einzudämmen.33 In systematischer Hinsicht kommt dem Begriff der „zwingenden Gründe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU eine weitere Bedeutung als der Begriff der „stichhaltigen Gründe“ in Art. 21 Abs. 2 RL 2011/95/EU zu, so dass bestimmte Umstände, die nicht den für eine Zurückweisung gemäß Art. 21 Abs. 2 RL 2011/95/EU erforderlichen Schweregrad aufweisen, die Mitgliedstaaten dazu berechtigen können, auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU dem betroffenen Flüchtling seinen Aufenthaltstitel zu entziehen.34 2.4.2.2. Konkretisierung durch die Rechtsprechung Im Hinblick auf den konkreten Gehalt der öffentlichen Ordnung und Sicherheit steht es den Mitgliedstaaten grundsätzlich frei, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, die konkreten Anforderungen zu bestimmen. Jedoch sind 32 Gemäß Erwägungsgrund 37 RL 2011/95/EG gilt der Begriff der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung auch für die Fälle, in denen ein Drittstaatsangehöriger einer Vereinigung angehört, die den internationalen Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt. 33 So zu der im Wortlaut identischen Vorgängerbestimmung in Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG EuGH, Rs. C-373713 (H.T.), Rn. 52; Rats-Dok. 8919/03, S. 24. 34 Vgl. EuGH, Rs. C-373713 (H.T.), Rn. 75. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 14 entsprechende Festlegungen aufgrund ihres Ausnahmecharakters eng zu verstehen und unter Beachtung des Unionsrechts zu treffen.35 Zudem kann der Umfang des Schutzes, den eine Gesellschaft ihren grundlegenden Interessen gewähren will, nicht je nach der Rechtsstellung der Person , die ihre Interessen beeinträchtigt, unterschiedlich ausfallen.36 Vor diesem Hintergrund hat der EuGH in Auslegung entsprechender Formulierungen der Richtlinie 2004/38/EG festgestellt, dass der Begriff „öffentliche Sicherheit“ sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst und dass daher die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können.37 Zudem setzt der Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ nicht nur das Vorliegen einer Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit voraus, sondern erfordert darüber hinaus, dass die Beeinträchtigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist, der im Gebrauch des Ausdrucks „zwingende Gründe“ zum Ausdruck kommt.38 Schließlich setzt der Begriff der öffentlichen Ordnung voraus, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.39 2.4.2.3. Folgerungen für die Ausstellung eines Aufenthaltstitels, Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU Vor diesem Hintergrund kann ein fehlendes Bekenntnis nicht mit zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung im Sinne von Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU gleichgesetzt werden. Dementsprechend kann ein unterbleibendes Bekenntnis nicht ein Versagen der Ausstellung eines Aufenthaltstitels rechtfertigen bzw. die Ausstellung eines Aufenthaltstitels gemäß Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU kann nicht mit dem in der Fragestellung angesprochenen Bekenntnis verknüpft werden. 2.4.3. Bestimmungen der RL 2011/95/EU als Mindestgewährleistungen Die in Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU angesprochenen Ablehnungsgründe für die Ausstellung eines Aufenthaltstitels sind ebenso wie die Gründe zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft als Mindestvoraussetzungen zu verstehen. Unter Berücksichtigung des mitgliedstaatlichen Handlungs - und Ermessensspielraums bei der Bestimmung zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung können die Mitgliedstaaten daher gemäß Art. 3 RL 2011/95/EU auch günstigere Bestimmungen erlassen oder beibehalten. Ein verpflichtendes Bekenntnis entspräche jedoch einem zusätzlichen, in Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU nicht vorgesehenen Erfordernis für 35 Vgl. EuGH, Rs. C-33/07 (Jipa), Rn. 23; EuGH, Rs. C-430/10 (Gaydarov), Rn. 32; EuGH, Rs. C-348/09 (P.I.), Rn. 23. 36 EuGH, Rs. C-373713 (H.T.), Rn. 77. 37 EuGH, Rs. C-373713 (H.T.), Rn. 78 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-145/09 (Tsakouridis), Rn. 43 f. 38 EuGH, Rs. C-373713 (H.T.), Rn. 78 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-145/09 (Tsakouridis), Rn. 41. 39 EuGH, Rs. C-373713 (H.T.), Rn. 78 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-249/11 (Byankov), Rn. 40. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 15 die Ausstellung eines Aufenthaltstitels und würde damit dem Regelungsziel der Richtlinie widersprechen . 3. Mit dem Aufenthaltstitel verbundene Pflichten 3.1. Fragestellung Ermöglicht das Unionsrecht eine Weiterentwicklung des innerstaatlichen Asylrechts dahingehend , dass der Erwerb des Aufenthaltstitels mit der Pflicht verbunden werden kann, an Integrationskursen (nach schwedischem Vorbild)40 teilzunehmen, in denen die Grundwerde des Aufenthaltsstaates vermittelt werden?41 3.2. Unionsrechtlicher Rahmen 3.2.1. Anforderungen aus Art. 34 RL 2011/95/EU Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist nach dem System und der humanitären Zielsetzung der RL 2011/95/EU nicht davon abhängig, dass die betreffende Person an einem Integrationskurs teilnimmt. Sofern einer Person internationaler Schutz zuerkannt worden ist und um die Integration dieser Personen in die Gesellschaft des Aufnahmestaates zu erleichtern, sieht Art. 34 RL 2011/95/EU vor, dass die Mitgliedstaaten den Zugang zu Integrationsprogrammen gewährleisten , die sie als den besonderen Bedürfnissen von Personen mit Flüchtlingsstatus oder subsidiärem Schutzstatus angemessen erachten. Alternativ sollen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Voraussetzungen schaffen, die den Zugang zu diesen Programmen garantieren. Art. 34 RL 2011/95/EU statuiert somit einen Gewährleistungsauftrag für die Mitgliedstaaten, den diese entsprechend ihren nationalen Bedürfnissen ausfüllen können. Der dementsprechend bestehende Handlungsspielraum darf von den Mitgliedstaaten jedoch nicht in einer Weise genutzt werden, die das humanitäre Ziel der RL 2011/95/EU und ihre praktische Wirksamkeit beeinträchtigen würde. Zudem müssen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts die Mittel, die von der nationalen Regelung zur Umsetzung von Art. 34 RL 2011/95/EU eingesetzt werden, zur Erreichung der mit der Regelung verfolgten Ziele geeignet sein und sie dürfen nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen.42 3.2.2. Mögliche Integrationsmaßnahmen Vor diesem Hintergrund der Zielsetzung von Art. 34 RL 2011/95/EU müssen die Integrationsprogramme dazu dienen, die Integration von Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in die Gesellschaft der Mitgliedstaaten zu erleichtern. Vor diesem Hintergrund hat der 40 Vgl. hierzu Rats-Dok. 14863/09 ADD 4, S. 22 sowie im Überblick https://ec.europa.eu/migrant-integration /country/schweden. 41 Zur gegenwärtigen Rechtslage in Deutschland vgl. Fachbereich WD 3 – 3000 – 241/15, S. 12 f. 42 Vgl. EuGH, Rs. C-508/10 (Kommission/Niederlande), Rn. 43. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 16 EuGH im Kontext der Richtlinie 2003/86/EG anerkannt, dass jedenfalls der Erwerb von Kenntnissen sowohl der Sprache als auch der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats die Verständigung zwischen den Drittstaatsangehörigen und den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats deutlich erleichtert und darüber hinaus die Interaktion und die Entwicklung sozialer Beziehungen zwischen ihnen begünstigt.43 Mit Blick auf die Gestattung des Zugangs zur Beschäftigung gemäß Art. 26 RL 2011/95/EU kann der Erwerb von Kenntnissen der Sprache des Aufnahmemitgliedstaats den Zugang der Drittstaatsangehörigen zu Arbeitsmarkt und Berufsausbildung erleichtern .44 3.2.3. Gewährleistung des Zugangs zu Integrationsmaßnahmen Art. 34 RL 2011/95/EU statuiert eine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, einen Zugang zu Integrationsmaßnahmen zu garantieren . Mit dieser Verpflichtung korrespondiert ein subjektives Recht des adressierten Personenkreises auf Teilnahme an Integrationsmaßnahmen. Fraglich ist jedoch, ob von Art. 34 RL 2011/95/EU auch eine Verpflichtung des adressierten Personenkreises zur Teilnahme an Integrationsmaßnahmen erfasst wird. 3.2.3.1. Möglichkeit einer Teilnahmepflicht Gegen eine Verpflichtungsmöglichkeit im Sinne der Fragestellung spricht der Wortlaut von Art. 34 RL 2011/95/EU, wonach die Mitgliedstaaten lediglich den Zugang zu Integrationsmaßnahmen gewährleisten. Diese Auslegung entspricht ein Vergleich von Art. 34 RL 2011/95/EU mit Art. 7 Abs. 2 RL 2003/86/EG und Art. 5 Abs. 2 RL 2003/109/EG. Nach diesen Bestimmungen können die Mitgliedstaaten gemäß dem nationalen Recht von Drittstaatsangehörigen verlangen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen. Diese Maßnahmen sollen die Integration von Familienangehörigen bzw. langfristig Aufenthaltsberechtigten erleichtern und werden im Rahmen der Richtlinien als zulässig angesehen, wenn sie ihrem Zweck dienen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen.45 Zwar kommt dem gemeinsamen Begriff der Integrationsmaßnahme in beiden Richtlinien eine unterschiedliche Bedeutung zu46 und er wird im Rahmen der RL 2003/86/EG ergebnisorientiert verstanden.47 Während im Falle von Art. 7 Abs. 2 RL 2003/86/EG die Möglichkeit einer Verpflichtung bestimmter Personengruppen zu Integrationsmaßnahmen vorgesehen ist, sieht Art. 34 RL 2011/95/EU lediglich die Möglichkeit einer Zugangsgewährung vor und somit gerade nicht die explizite Möglichkeit einer Teilnahmepflicht 43 EuGH, Rs. C-153/14 (K und A), Rn. 53. 44 EuGH, Rs. C-153/14 (K und A), Rn. 53 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-579/13 (P und S), Rn. 47. 45 Vgl. KOM(2008) 610 endg., S. 8 f., zu RL 2003/86/EG vgl. EuGH, Rs. C-153/14 (K und A), Rn. 47 ff.; zu RL 2003/109/EG vgl. EuGH, Rs. 579/13 (P und S), Rn. 34 ff. 46 Die englische bzw. französische Version der RL 2003/86/EG lautet integration measures bzw. mesures d'intégration , wohingegen die englische bzw. französische Version der RL 2011/95/EU access to integration facilities bzw. accès aux dispositifs d'intégration lautet 47 Vgl. BVerwG, Urteil vom 30. 3. 2010 - 1 C 8/09, Rn. 27. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 17 vor. Diese Divergenz lässt sich mit der unterschiedlichen Zielsetzung beider Bestimmungen begründen . Die Verpflichtungsmöglichkeit aus Art. 7 Abs. 2 RL 2003/86/EG dient der Integration von grundsätzlich langfristig Aufenthaltsberechtigten. Demgegenüber zielt die Integrationsmöglichkeit aus Art. 34 RL 2011/95/EU auf einen Aufenthalt ab, der vom Vorliegen der Gründe für einen internationalen Schutz abhängig und mithin grundsätzlich zeitlich begrenzt ist.48 Gegen die Annahme, dass Art. 34 RL 2011/95/EU der Möglichkeit einer Verpflichtung zur Teilnahme an Integrationskursen entgegensteht, sprechen jedoch sowohl das Ziel der Bestimmung, die Integration der Personen in die Gesellschaft zu erleichtern, als auch die hierfür in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellten Mittel. Weder gebietet noch untersagt Art. 34 RL 2011/95/EU den Mitgliedstaaten, von Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, Integrationspflichten zu verlangen. Art. 34 RL 2011/95/EU statuiert lediglich die Pflicht der Mitgliedstaaten , einen Zugang zu solchen Integrationsprogrammen zu gewährleisten, die sie für angemessen erachten. Art und Umfang der Programme obliegt demnach dem Ermessen der Mitgliedstaaten. Eine äußere Grenze findet der konkrete Modus von Integrationsprogrammen darin, dass diese nicht die Verwirklichung der mit der RL 2011/95/EU verfolgten Ziele gefährden und dieser damit ihre praktische Wirksamkeit nehmen dürfen.49 Vor dem Hintergrund, dass das wesentliche Ziel der RL 2011/95/EU darin besteht, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden , die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird, erscheint eine nationale Regelung betreffend eine Teilnahmepflicht an Integrationsprogrammen für sich genommen nicht die mit der RL 2011/95/EU verfolgten Ziele zu gefährden. Eine solche Pflicht für Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, kann vielmehr dazu beitragen, die Integration von Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in die Gesellschaft zu erleichtern . Eine solche Regelung ist grundsätzlich dazu geeignet, zu gewährleisten, dass die betref- 48 Vgl. Art. 14 Abs. 1, 19 Abs. 1 und 24 RL 2011/95/EU. 49 Vgl. EuGH, Rs. C-508/10 (Kommission/Niederlande), Rn. 65. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 18 fenden Personen insbesondere durch den Erwerb von Kenntnissen der Sprache und der Gesellschaft des jeweiligen Staates Fähigkeiten erwerben, die für die Ermöglichung der von Art. 34 RL 2011/95/EU50 angestrebten Integration von Nutzen sind.51 3.2.3.2. Ausgestaltung einer Teilnahmepflicht Die vorstehenden Erwägungen sprechen somit für die unionsrechtliche Zulässigkeit von verpflichtenden Integrationsprogrammen für Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist. Die Modalitäten zur Umsetzung einer solchen Pflicht dürfen jedoch nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ziele der RL 2011/95/EU gefährden. Mit Blick auf die humanitäre Zielsetzung der Richtlinie ist es zunächst ausgeschlossen, dass die Erfüllung einer Teilnahmepflicht oder gar die erfolgreiche Ablegung einer Integrationsprüfung für die Erlangung oder Aufrechterhaltung der Rechtsstellung einer Flüchtlingseigenschaft eine Bedingung darstellen darf. Fraglich ist, ob eine Teilnahmepflicht im Übrigen mit Sanktionen verbunden werden kann. Hiergegen spricht, dass Art. 34 RL 2011/95/EU als Angebot für Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, ausgestaltet ist, um deren besonderen Integrationsbedürfnissen gerecht zu werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, dass Sanktionen nur auf einen Entzug von solchen Begünstigungen abzielen dürfen, welche die Mitgliedstaaten gewähren, die über das Mindestniveau von Leistungen im Sinne der RL 2011/95/EU52 bzw. einen angemessenen Standard im Sinne der Art. 17 f. RL 2013/33/EU53 hinausgehen.54 50 Vgl. dementsprechend die Begründung der Kommission zu dem im Gesetzgebungsverfahren im Wesentlichen unveränderten Vorschlag betreffend den Zugang zu Integrationsmaßnahmen, KOM(2009) 551 endg., S. 10, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52009PC0551&from=DE, wonach die „tatsächlichen Integrationschancen von Schutzberechtigten wesentlich besser [wären], wenn die Integrationsmaßnahmen den unterschiedlichen Ausbildungen und Berufserfahrungen oder sonstigen Besonderheiten der Situation dieser Personen angemessen Rechnung tragen würden. Nach dem Vorschlag sind die Mitgliedstaaten gehalten, im Rahmen ihrer Integrationspolitik die Maßnahmen zu treffen, die sie für geeignet halten, um diesen besonderen Bedürfnissen gerecht zu werden.“ 51 Vgl. Rats-Dok. 14863/09 ADD2, S. 9. Zu den Integrationszielen die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Europäische Agenda für die Integration von Drittstaatsangehörigen, KOM(2011) 455 endg., abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52011DC0455&from=DE sowie zu der europäischen Integrationsagenda im Überblick https://ec.europa.eu/migrant-integration/index.cfm?action =furl.go&go=/the-eu-and-integration/eu-actions-to-make-integration-work; zu der Entsprechung mit den Gewährleistungen der GFK vgl. UNHCR-Kommentar, S. 40. 52 Vgl. 12. Erwägungsgrund RL 2011/95/EU. 53 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ABl. L 180/96, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32013L0033&qid=1447080173987&from=DE. 54 Vgl. EuGH, Rs. C-562/13 (Abdida), Rn. 54. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 19 3.3. Folgerungen für die Möglichkeit einer Verpflichtung zu Integrationskursen Vor dem Hintergrund der vorstehend dargestellten Prämissen ist eine Verpflichtung zur Teilnahme an Integrationsprogrammen für Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, grundsätzlich mit dem Unionsrecht vereinbar. Die konkrete Ausgestaltung obliegt dem mitgliedstaatlichen Ermessen und kann insbesondere den Erwerb von Kenntnissen der Sprache und der Gesellschaft des Staates umfassen. Sie darf jedoch nicht die mit der RL 2011/95/EU verfolgten Ziele gefährden und der Richtlinie ihre praktische Wirksamkeit nehmen. Zudem sind die Möglichkeiten der Sanktionierung von Verletzungen der Teilnahmepflicht enge Grenzen gesetzt. Es erscheint insbesondere nicht möglich, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 13 RL 2011/95/EU und die Ausstellung eines Aufenthaltstitels gemäß Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU von der Teilnahme an einem Integrationskurs oder einer erfolgreichen Integrationsprüfung abhängig zu machen. 4. Entzug des Aufenthaltstitels 4.1. Fragestellung Ermöglicht das Unionsrecht eine Weiterentwicklung des innerstaatlichen Asylrechts dahingehend , dass derjenige seinen Aufenthaltstitel55 verliert und den Aufenthaltsstaat verlassen muss, der als anerkannter Asylbewerber, als anerkannter Flüchtling, als Person mit einem anderen Aufenthaltstitel oder als geduldete Person eine andere Person wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe, Religion oder Sexualität attackiert oder in anderer Weise gröblich gegen das Anerkenntnis der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verstößt oder den Integrationskursen schuldhaft fernbleibt? 4.2. Unionsrechtlicher Rahmen 4.2.1. Aberkennungsgrundlage Die Fragestellung ist dahingehend zu verstehen, dass sie nicht auf eine Zurückweisung einer Person gemäß Art. 21 Abs. 2 RL 2011/95/EU abzielt, sondern auf die Aberkennung, Beendigung oder Nichtverlängerung56 einer bereits zuerkannten Flüchtlingseigenschaft aus den in Art. 14 Abs. 4 RL 2011/95/EU genannten Gründen. Von der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 14 Abs. 4 RL 2011/95/EU sind der Widerruf der Asylanerkennung gemäß Art. 14 Abs. 2 und 3 RL 2011/95/EU sowie insbesondere die Aufhebung des Aufenthaltstitels nach Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU57 abzugrenzen. Eine solche Aufhebung führt weder zur Aberkennung des Flüchtlingsstatus , noch zu einer Zurückweisung gemäß Art. 21 Abs. 2 RL 2011/95/EU. Vielmehr behält ein Flüchtling, dessen Aufenthaltstitel nach Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU aufgehoben wird, seinen Flüchtlingsstatus und die damit gemäß Kapitel VII RL 2011/95/EU verbundenen Vergünstigungen , sofern und solange ihm nicht dieser Status entzogen worden ist. 55 D.h. den Titel im Sinne von Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU. 56 Im Folgenden wir aus Gründen der Vereinfachung lediglich auf den Begriff der Aberkennung abgestellt. 57 Vgl. hierzu EuGH, R. C-373/13 (H.T.), Rn. 55 sowie oben 2.4.2. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 20 4.2.2. Voraussetzungen für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, Art. 14 RL 2011/95/EU Gemäß Art. 14 Abs. 4 RL 2011/95/EU ist eine Aberkennung dann möglich, „wenn ein Flüchtling eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedsstaates darstellt, in dem er sich aufhält“ oder wenn „er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedsstaates darstellt, weil er zu einer besonders schweren Straftat verurteilt wurde“.58 Bei der Anwendung und Auslegung der Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 4 RL 2011/95/EU sind einerseits die Verpflichtungen der GFK zu berücksichtigen , einen Flüchtling nur aus Gründen der Öffentlichen Sicherheit und Ordnung auszuweisen oder wenn er gemäß Art. 33 Abs. 2 GFK eine Gefahr für die Sicherheit des Landes, in dem er sich befindet oder für die Allgemeinheit dieses Landes darstellt.59 Zudem sind die Aberkennungsgründe aus Art. 14 Abs. 4 RL 2011/95/EU von den Gründen gemäß Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2011/95/EU abzugrenzen, wonach „zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung“ der Ausstellung eines Aufenthaltstitels entgegenstehen können. In der Systematik der Richtlinie findet eine möglicherweise von einem Flüchtling für den betreffenden Mitgliedstaat ausgehende gegenwärtige Gefahr im Rahmen von Art. 14 Abs. 4 lit. a) RL 2011/95/EU Berücksichtigung, wonach dieser Mitgliedstaat die einem Flüchtling zuerkannten Rechtsstellung insbesondere dann aberkennen kann, wenn es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass dieser eine Gefahr für die Sicherheit darstellt.60 In Auslegung von Art. 14 Abs. 4 lit. b) RL 2011/95/EU hat das BVerwG festgestellt, dass die rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren nur dann zu einer Aberkennung führen kann, wenn im Einzelfall eine konkrete Wiederholungsgefahr festgestellt wird. Dies ist der Fall, wenn in Zukunft neue vergleichbare Straftaten des Ausländers ernsthaft drohen. Bei dieser Prognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall drohenden Rechtsguts, aber auch die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen greift der Aberkennungsgrund, ohne dass es zusätzlich einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung bedarf.61 58 Vgl. dementsprechend die Voraussetzungen des Ausschlussgrundes in Art. 60 Abs. 8 S. 1 AufenthaltsG. 59 Vgl. UNHCR-Kommentar, S. 25, vgl. hierzu ergänzend die UNHCR-Richtlinien zur Beendigung, HCR/GIP/03/03, abrufbar unter http://www.unhcr.org/3e637a202.html, die UNHCR-Richtlinien zum Ausschluss samt Background Note, HCR/GIP/03/05, abrufbar unter http://www.unhcr.org/3f7d48514.html sowie die UNHCR, Note on the Cancellation of Refugee Status, 22. November 2004, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/41a5dfd94.html. 60 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-57/09 und C-101/09 (B und D), Rn. 101, vgl. für den Kontext der Richtlinie 2004/38/EG auch EuGH, Rs. C-145/09 (Land Baden-Württemberg/Tsakouridis), Rn. 44. 61 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. Mai 2011, AZ. 10 B 30/10. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/15 Seite 21 4.2.3. Folgerungen für eine mitgliedstaatliche Konkretisierung der Aberkennungsgründe Entsprechend den vorstehend dargestellten Maßstäben müsste die betreffende Person entweder durch einen Angriff auf andere Personen oder einen Verstoß gegen die Grundsätze der Verfassung eine Gefahr für die Sicherheit Deutschlands darstellen oder wegen eines Angriffs auf eine andere Person zu einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden sein. Für die Gründe gemäß Art. 14 Abs. 4 lit. a) und b) RL 2011/95/EU bedeutet dies, dass „stichhaltige Gründe“ für eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedsstaats oder für die Allgemeinheit gegeben sein müssen. Das individuelle Verhalten der betroffenen Person müsste eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellen.62 Vor diesem Hintergrund stellt zunächst ein schuldhaftes Fernbleiben von einem Integrationskurs keinen Tatbestand dar, der eine Aberkennung im Sinne von Art. 14 Abs. 4 RL 2011/95/EU zu begründen vermag. Im Hinblick auf die in der Fragestellung angesprochene Attacke einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, auf eine andere Person wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe, Religion oder Sexualität ist darauf zu verweisen, dass der Angriff von einem solchen Gewicht sein muss, dass er den oben unter 4.2.2. dargestellten Tatbeständen entspricht . Entsprechendes gilt im Hinblick auf den konkretisierungsbedürftigen Tatbestand des gröblichen Verstoßes gegen das Anerkenntnis der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Ergänzend ist anzumerken, dass eine Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft grundsätzlich die Rückführung der betreffenden Person zur Folge hat. Jedoch ist auch beim Vorliegen entsprechender Widerrufsgründe der in Art. 19 Abs. 2 GRCh zum Ausdruck kommende Grundsatz der Nichtzurückweisung (non refoulement) zu beachten, wonach niemand in einen Staat abgeschoben werden darf, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht. Diese Begrenzung stützt sich einerseits auf Art. 33 GFK, auf die die RL 2011/95/EU im 3. Erwägungsgrund Bezug nimmt. Andererseits findet diese Begrenzung eine Grundlage in der Rechtsprechung des EGMR, die gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 2 der Charta zu berücksichtigen ist.63 Art. 14 Abs. 6 RL 2011/95/EU stellt diesbezüglich klar, dass sich ein Flüchtling unmittelbar auf den Grundsatz berufen kann. Müsste der Flüchtling in sein Herkunftsland zurückkehren, wo ihm Verfolgung droht, wäre dies ein Verstoß und Eingriff in das Recht auf Asyl gemäß Art. 18 GRCh. - Fachbereich Europa - 62 Vgl. EuGH, Rs. C-371/08 (Ziebell/Land Baden-Württemberg), Rn. 82 für den Entzug einer Aufenthaltserlaubnis gemäß Art. 9 und 12 Abs. 1 Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen. 63 Danach kann ein Ausländer, der von einer Abschiebeentscheidung betroffen ist, zwar grundsätzlich kein Recht auf Verbleib in einem Staat geltend machen können, um dort beispielsweise weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung durch diesen Staat zu erhalten. Jedoch kann die Entscheidung, einen Ausländer , der an einer schweren physischen oder psychischen Krankheit leidet, in ein Land abzuschieben, in dem die Möglichkeiten einer Behandlung dieser Krankheit geringer sind als in dem entsprechenden Staat, in absoluten Ausnahmefällen Fragen unter dem Blickwinkel von Art. 3 EMRK aufwerfen, wenn die humanitären Erwägungen , die gegen die Abschiebung sprechen, zwingend sind, vgl. hierzu EuGH, Rs. C-562/13 (Abdida), Rn. 47.