© 2016 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 129/14 Mitgliedstaatliche Verbote von Weichmachern Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/14 Seite 2 Mitgliedstaatliche Verbote von Weichmachern Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 129/14 Abschluss der Arbeit: 22. Juli 2014 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Hintergrund 4 3. Antwort 5 3.1. Zulässigkeit nationaler Beschränkungen und Verbote von Phthalaten 5 3.1.1. Kompetenz zum Verbot von Phthalaten 5 3.1.2. Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten 5 3.1.2.1. Sekundärrechtliche Konkretisierung 5 3.1.2.2. Sekundärrechtliche Regelung betreffend Phthalate 7 3.1.2.3. Folgerungen für mitgliedstaatliche Handlungsspielräume 8 3.1.2.3.1. Das Regulierungssystem der VO 1907/2006 8 3.1.2.3.2. Die Rolle der Mitgliedstaaten im Rahmen des Regulierungssystems der VO 1907/2006 9 3.1.2.3.3. Art. 128 Abs. 1 VO 1907/2006 10 3.1.2.3.4. Art. 129 Abs. 1 VO 1907/2006 10 3.1.3. Zusammenfassung 10 3.2. Bedeutung der Bewertungen europäischer Agenturen bzw. Ausschüsse 11 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/14 Seite 4 1. Fragestellung Die Ausarbeitung setzt sich mit der Frage auseinander, ob ein rein nationales Verbot von Weichmachern (Phthalaten) mit dem Unionsrecht vereinbar ist und wie die Bewertungen der Ausschüsse der Europäischen Chemikalienagentur rechtlich einzuordnen sind. 2. Hintergrund Den Hintergrund der Fragestellung bildet der dänische Vorschlag für ein nationales Verbot von Phthalaten in allen verbrauchernahen Produkten, die in direkten Kontakt mit Haut oder Schleimhäuten kommen können, wobei dieses rein nationale Verbot über die entsprechenden Regelungen auf EU-Ebene hinausgehen würde.1 Bereits 1999 hat das dänische Umweltministerium einen Aktionsplan zur Reduzierung und zum Abbau der Nutzung von Phthalaten in Plastikprodukten vorgelegt, wonach Spielzeuge und Babyartikel mit einer Phthalaten-Konzentration von mehr als 0,05 Prozent nicht in Umlauf gebracht werden dürfen. Im November 2012 erfolgte ein Verbot der Phthalate DEHP, DBP, BBP und DIBP in allen verbrauchernahen Produkten, die in direkten Kontakt mit der Haut oder den Schleimhäuten kommen. Alltagsprodukte, die anteilig mehr als 0,1 Prozent des Gewichts an Weichmachern enthalten, dürfen nicht mehr verkauft werden. Die dänische Regierung stützt dieses Verbot auf die mit der Verwendung von Phthalaten mögliche Gesundheitsgefährdung insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Unfruchtbarkeit bei Männern. Nunmehr strebt die dänische Regierung die Entwicklung einer Strategie an, welche auf die Identifizierung und Handhabung der in Dänemark und der EU genutzten Phthalate abzielt. Die Strategie dient dem Schutz von Gesundheit und Umwelt gegen unerwünschte Auswirkungen und zur Verminderung der Risiken dieser Substanzen. Im Rahmen der Strategie sollen zunächst Informationen über Phthalate gesammelt, ausgewertet und daraus abgeleitet werden auf Grundlage einer Untersuchung über die Nutzung und Menge dieser Substanzen im Zusammenhang mit dem Einfluss auf Umwelt und Gesundheit. Nach einer wissenschaftlich fundierten Risikoeinschätzung sollen unter Einbeziehung der Industrie, von NGOs und weiteren Ebenen Strategien zur bestmöglichen Nutzung von Phthalaten und zu Handlungsalternativen entwickelt werden. Zusätzlich soll die Notwendigkeit einer weiteren Regulierung, einer Beschränkung oder eines Verbots von Phthalaten erörtert werden. Vor diesem Hintergrund will das dänische Umweltministerium schließlich Mitte 2015 einen Statusbericht zum Umgang mit Phthalaten sowie für potenzielle Maßnahmen vorlegen. 1 The Danish Environmental Protection Agency, Denmark at the leading edge regarding phthalates, 9. April 2013, online abrufbar unter: eng.mst.dk/about-the-danish-epa/news/denmark-at-the-leading-edge-regardingphthalates /; The Danish Environmental Protection Agency, Phthalate strategy, online abrufbar unter www.eng.mst.dk/media/mst/Attachments/strategiUK.pdf. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/14 Seite 5 3. Antwort 3.1. Zulässigkeit nationaler Beschränkungen und Verbote von Phthalaten 3.1.1. Kompetenz zum Verbot von Phthalaten Der Erlass eines rein nationalen Verbots von Weichmachern setzt voraus, dass die Mitgliedstaaten hierfür im Rahmen der europäischen Rechtsordnung die Zuständigkeit besitzen. Hierfür ist die Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten und der letzteren verbleibende Handlungsspielraum entscheidend. Für die Regulierung von Phthalaten kommen insbesondere die geteilten Zuständigkeiten in den Bereichen Binnenmarkt, Umwelt (Art. 191-193 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und Verbraucherschutz (Art. 169 AEUV) in Betracht (Art. 4 Abs. 2 lit. a, e und f AEUV). Grundsätzlich können gesundheitsschutzrelevante Maßnahmen auch auf die Binnenmarkt -Kompetenz des Art. 114 AEUV gestützt werden. Art. 114 AEUV regelt die Angleichung der Rechts und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten mit dem Ziel der Errichtung und des Funktionierens des Binnenmarktes (Abs. 1). Gem. Art. 114 Abs. 3 AEUV geht die Kommission bei ihren Vorschlägen im Bereich des Binnenmarktes aber auch explizit von einem hohen Schutzniveau u. a. im Bereich des Gesundheit- und Verbraucherschutzes aus und berücksichtigt bei ihren Vorschlägen alle auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützten neuen Entwicklungen. Voraussetzung für das Stützen eines Unionsrechtsakts auf die Binnenmarktkompetenz ist der Binnenmarktbezug . Die Maßnahme muss also den Zweck haben, die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zu verbessern. Soweit diese Voraussetzung für die Anwendung des Art. 114 AEUV als Rechtsgrundlage erfüllt sind, steht nach der Rechtsprechung des EuGH auch „nicht entgegen, dass dem Gesundheitsschutz bei den zu treffenden Entscheidungen maßgebende Bedeutung zukommt“. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Kompetenz für ein Verbot von Weichmachern zwischen der EU und den Mitgliedstaaten geteilt ist. Dementsprechend können die Mitgliedstaaten grundsätzlich in diesem Bereich tätig werden, sofern die Union ihre entsprechende Zuständigkeit nicht ausgeübt hat (Art. 2 Abs. 2 S. 2 AEUV) und sofern die nationale Maßnahme insgesamt mit dem Unionsrecht vereinbar ist. 3.1.2. Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten Vor dem Hintergrund der zwischen den Mitgliedstaaten und der Union geteilten Kompetenz sind nationale Regelungen zur Verwirklichung zwingender Erfordernisse weiterhin grundsätzlich möglich. Dies setzt jedoch voraus, dass die betreffende Frage durch sekundäres Unionsrecht nicht oder nicht vollständig geregelt ist und dass die nationale Regelung mit dem Unionsrecht insgesamt, insbesondere mit den Regeln des Binnenmarktes vereinbar ist. 3.1.2.1. Sekundärrechtliche Konkretisierung Auf Grundlage von Art. 95 EGV hat die Union von ihrer Harmonisierungskompetenz Gebrauch gemacht. Die sekundärrechtlichen Regelungen dienen dem Zweck, das wirksame Funktionieren des Binnenmarktes in Bezug auf das Inverkehrbringen von Materialien und Gegenständen in der Gemeinschaft sicherzustellen, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln unmittelbar oder mit- Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/14 Seite 6 telbar in Berührung zu kommen, und gleichzeitig die Grundlage für ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und die Verbraucherinteressen zu schaffen.2 REACH-Verordnung – Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Chemikalienagentur , zur Änderung der Richtlinie 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488/94 der Kommission, der Richtlinie 76/769/EWG des Rates sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission.3 CLP-Verordnung – Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen, zur Änderung und Aufhebung der Richtlinien 67/548/EWG und 1999/45/EG und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006.4 Richtlinie 2006/121/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Änderung der Richtlinie 67/548/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe im Hinblick auf ihre Anpassung an die Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH) und zur Schaffung eines Europäischen Amtes für chemische Stoffe.5 Richtlinie 2005/84/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2005 zur 22. Änderung der Richtlinie 76/769/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen (Phthalate in Spielzeug und Babyartikeln).6 Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 2004 über Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln 2 Vgl. Art. 1 VO (EG) 1935/2004. 3 ABl. L 396/1, konsolidierte Fassung 2014 abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/?qid=1405064000349&uri=CELEX:02006R1907-20140410. 4 ABl. L 353/1, konsolidierte Fassung 2013 abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/?qid=1405064542177&uri=CELEX:02008R1272-20131201. 5 ABl. L 396/852, konsolidierte Fassung abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32006L0121&rid=1. 6 ABl. L 344/40, konsolidierte Fassung 2006 abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/?qid=1405066432282&uri=CELEX:02005L0084-20060116. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/14 Seite 7 in Berührung zu kommen und zur Aufhebung der Richtlinien 80/590/EWG und 89/109/EWG.7 Verordnung (EU) Nr. 10/2011 der Kommission vom 14. Januar 2011 über Materialien und Gegenstände aus Kunststoff, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen.8 Richtlinie 2007/19/EG der Kommission vom 30. März 2007 zur Änderung der Richtlinie 2002/72/EG über Materialien und Gegenstände aus Kunststoff, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen, und der Richtlinie 85/572/EWG des Rates über die Liste der Simulanzlösemittel für die Migrationsuntersuchungen von Materialien und Gegenständen aus Kunststoff, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen.9 Richtlinie 93/42/EG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte.10 Richtlinie 2007/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. September 2007 zur Änderung der Richtlinien 90/385/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über aktive implantierbare medizinische Geräte und 93/42/EWG des Rates über Medizinprodukte sowie der Richtlinie 98/8/EG über das Inverkehrbringen von Biozid-Produkten.11 Richtlinie 2007/42/EG der Kommission vom 29. Juni 2007 über Materialien und Gegenstände aus Zellglasfolien, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen.12 3.1.2.2. Sekundärrechtliche Regelung betreffend Phthalate Insbesondere die VO 1907/2006 und VO 1272/2008 enthalten Regelungen betreffend die Regulierung von Phthalaten. So dürfen nach der VO 1907/2006 die Phthalate DEHP, DBP und BBP nicht als Stoffe oder in Gemischen in Konzentrationen von mehr als 0,1 Gew.-% des weichmacherhal- 7 ABl. L 338/4, konsolidierte Fassung 2009 abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/?qid=1405066781877&uri=CELEX:02004R1935-20090807; vgl. auch die auf die Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 gestützte und bis zum 30. April 2009 gültige Verordnung (EG) Nr. 372/2007 der Kommission vom 2. April 2007 zur Festlegung vorläufiger Migrationsgrenzwerte für Weichmacher in Deckeldichtungen, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen, ABl. L 092/9, konsolidierte Fassung 2008 abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1405066781877&uri=CELEX:02007R0372- 20080701. 8 ABl. L 012/1, konsolidierte Fassung 2014 abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/?qid=1405068760632&uri=CELEX:02011R0010-20140324. 9 ABl. L 091/17,konsolidierte Fassung 2007 abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/?qid=1405067939665&uri=CELEX:02007L0019-20070420. 10 ABl. L 169/1, konsolidierte Fassung 2007 abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/?qid=1405067939665&uri=CELEX:01993L0042-20071011. 11 ABl. L 247/21, konsolidierte Fassung 2007 abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/ALL/?uri=CELEX:32007L0047&qid=1405069895809. 12 ABl. L 172/71, konsolidierte Fassung 2007 abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/ALL/?uri=CELEX:32007L0042&qid=1405067939665. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/14 Seite 8 tigen Materials in Spielzeug und Babyartikeln verwendet werden. Weiterhin dürfen die Phthalate DINP, DIDP und DNOP nicht als Stoffe oder in Gemischen in Konzentrationen von mehr als 0,1 Gew.-% des weichmacherhaltigen Materials in Spielzeug und Babyartikeln verwendet werden, die von Kindern in den Mund genommen werden können. Spielzeug und Babyartikel, die die o. g. Phthalate in Konzentrationen von mehr als 0,1 Gew.-% enthalten, dürfen nicht in Verkehr gebracht werden. Die Phthalate BBP, DEHP, DBP und DIBP sind zudem in Anhang XIV der VO 1907/2006 gelistet und unterliegen ab dem 21.2.2015 einer Zulassungspflicht. Die genannten Phthalate dürfen ab diesem Zeitpunkt nicht mehr verwendet werden, es sei denn, es wurde rechtzeitig eine Zulassung beantragt und bewilligt, sofern der Antragsteller die sichere Verwendung der Stoffe nachweisen kann.13 Darüber hinaus hat die VO 1272/2008 durch Einstufung der Phthalate in verschiedene Gefahrenklassen ebenfalls einen direkten Einfluss darauf, wie diese Substanzen reguliert und ob sie ggf. verboten werden. 3.1.2.3. Folgerungen für mitgliedstaatliche Handlungsspielräume Von besonderer Bedeutung für mitgliedstaatliche Regulierungsmöglichkeiten ist die VO 1907/2006. Sie zielt darauf ab, einen unionsweit einheitlichen Regelungsrahmen für die Registrierung , Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe zu etablieren.14 Dieses dient zunächst der Binnenmarktharmonisierung und der damit verbundenen Verbesserung von Wettbewerbsfähigkeit und Innovation der europäischen chemischen Industrie, aber auch der Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die menschliche Gesundheit und für die Umwelt .15 3.1.2.3.1. Das Regulierungssystem der VO 1907/2006 Das europäische Regulierungssystem wird durch die VO 1907/2006 im Grundsatz wie folgt ausgestaltet :16 Die VO 1907/2006 sieht eine grundsätzliche Registrierungspflicht für chemische Stoffe vor. Das in der REACH-VO (EG) geregelte Registrierungsverfahren ist sehr ausdifferenziert und enthält für Registranten diverse Pflichten bereits im Vorfeld der Einreichung einer Registrierung sowie für diese selbst. Die Registrierung hat bei der durch die REACH-VO (EG) geschaffenen Europäischen Chemikalienagentur (European Chemicals Agency, im Folgenden: ECHA) in Helsinki zu erfolgen .17 Nach dem Grundsatz „Ohne Daten kein Markt“ bildet die erfolgreiche Registrierung die 13 Zum Zulassungsverfahren siehe unten 3.2. 14 Art. 1 Abs. 1 VO 1907/2006. 15 Art. 1 Abs. 1 VO 1907/2006. 16 Für einen eingehenden Überblick zum REACH-System der Chemikalienregulierung vgl. die Darstellung bei Becker/Tiedemann, Chemikalienrecht: Leitfaden zum europäischen und deutschen Recht der gefährlichen Stoffe und Gemische, 2011, Abschnitt II 2. 17 Vgl. Art. 45, 75 ff. VO 1907/2006. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/14 Seite 9 Voraussetzung dafür, dass ein Stoff in der Europäischen Union hergestellt oder in Verkehr gebracht werden darf. Während die Erteilung der Registrierung lediglich von der Einhaltung formaler Vorgaben abhängig ist, erfolgt seitens der Europäischen Chemikalienagentur sowie der hierfür verantwortlichen mitgliedstaatlichen Behörden in einem zweiten Schritt eine Evaluation oder Bewertung der mit der Registrierung vorgelegten Daten. Darüber hinaus sieht die Verordnung für bestimmte, besonders besorgniserregende Stoffe18 ein europäisches Verbot mit ebenso europäischem Erlaubnisvorbehalt im Sinne einer Zulassungspflicht gem. Art. 55 VO 1907/2006 vor. Im Rahmen des Zulassungsverfahrens gem. Art. 60 ff. enthält die VO 1907/2006 Regelungen zur Begründung der Zulassungspflicht für einen Stoff und für den Fall der Begründung einer solchen sodann zu einem besonderen Zulassungsverfahren, wobei auch die Möglichkeit einer Ersetzung (Substitution) des Stoffes besonders zu prüfen ist. Die Zulassungspflicht kann daneben unter bestimmten Voraussetzungen auch entfallen. Zudem kann die Zulassung nach Überprüfung durch die Kommission bzw. durch die Agentur erlöschen, Art. 61 VO. Schließlich sieht des Regulierungssystems nach der REACH-VO (EG) als „ultima ratio“ die Möglichkeit der Beschränkung der Herstellung, Inverkehrbringung und Verwendung von Stoffen vor. In diesen Fällen unterliegt der Stoff im Umfang der Beschränkung einem entsprechenden Verbot, ohne dass eine Befreiung grundsätzlich möglich ist. 3.1.2.3.2. Die Rolle der Mitgliedstaaten im Rahmen des Regulierungssystems der VO 1907/2006 Die Mitgliedstaaten sind im Rahmen des europäischen Regulierungsverfahrens im Wesentlichen beschränkt auf eine Zuarbeit, amtliche Kontrollen und weitere zweckdienliche Tätigkeiten.19 Mit Blick auf die unmittelbare Wirkung der VO 1907/2006 in den Mitgliedstaaten und ihres weiten Anwendungsbereichs im Hinblick auf die Etablierung eines europäischen Systems der Chemikalienregulierung sowie vor dem Hintergrund des Regelungsziels, einen unionsweit einheitlichen Regelungsrahmen für die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe zu etablieren, ist der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten für autonome Regelungen auf die in den Art. 128 f. der VO 1907/2006 benannten Fälle beschränkt. Dementsprechend besagt Art. 128 Abs. 1 VO 1907/2006 ausdrücklich, dass die Mitgliedstaaten vorbehaltlich des Art. 128 Abs. 2 VO 1907/2006 die Herstellung, die Einfuhr, das Inverkehrbringen oder die Verwendung eines unter diese Verordnung fallenden Stoffes als solchem, in einem Gemisch oder in einem Erzeugnis, der dieser Verordnung und gegebenenfalls gemeinschaftlichen Rechtsakten zur Durchführung dieser Verordnung entspricht, nicht untersagen, beschränken oder behindern dürfen. 18 Zur Definition vgl. insb. Art. 57 VO 1907/2006. 19 Art. 125 VO 1907/2006. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/14 Seite 10 3.1.2.3.3. Art. 128 Abs. 1 VO 1907/2006 Ein autonomes Handeln der Mitgliedstaaten kommt zunächst nach Maßgabe des Art. 128 Abs. 1 VO 1907/2006 in Betracht. Danach steht die VO 1907/2006 der Möglichkeit nicht entgegen, dass die Mitgliedstaaten innerstaatliche Vorschriften für den Schutz der Arbeitnehmer, der menschlichen Gesundheit und der Umwelt in Fällen beibehalten oder einführen, in denen die Anforderungen an die Herstellung, das Inverkehrbringen oder die Verwendung mit dieser Verordnung nicht harmonisiert werden. Diese Möglichkeit dürfte im Hinblick auf ein rein mitgliedstaatliches Verbot bestimmter Phthalate dadurch ausgeschlossen sein, dass die VO 1907/2006 bestimmte Phthalate in Anhang XIV, Nr. 4-7 als zulassungspflichtige Stoffe ausweist und in den Nr. 51 und 52 des Anhangs XVII spezifische Vorgaben für die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Verwendung bestimmter Phthalate trifft. 3.1.2.3.4. Art. 129 Abs. 1 VO 1907/2006 Eine weitere Möglichkeit für ein autonomes mitgliedstaatliches Handeln besteht im Rahmen der Schutzklausel des Art. 129 VO 1907/2006. Danach kann ein Mitgliedstaat geeignete vorläufige Maßnahmen treffen, sofern er berechtigten Grund zu der Annahme hat, „dass hinsichtlich eines Stoffes als solchem, in einem Gemisch oder in einem Erzeugnis auch bei Übereinstimmung mit den Anforderungen dieser Verordnung sofortiges Handeln erforderlich ist, um die menschliche Gesundheit oder die Umwelt zu schützen“. Hierüber hat der Mitgliedstaat jedoch unverzüglich die Kommission, die Agentur und die übrigen Mitgliedstaaten unter Angabe der Gründe für diese Entscheidung zu unterrichten und die wissenschaftlichen oder technischen Informationen vorzulegen, auf denen diese vorläufige Maßnahme beruht. Auf dieser Grundlage besitzt die Kommission gem. Art. 129 Abs. 2 VO 1907/2006 das Letztentscheidungsrecht. Sie hat im Verfahren gem. Art. 133 Abs. 3 VO 1907/2006 zu entscheiden , ob die vorläufige Maßnahme für einen bestimmten Zeitraum zugelassen wird oder ob der Mitgliedstaat die vorläufige Maßnahme widerrufen muss. 3.1.3. Zusammenfassung Vor dem Hintergrund des umfassenden Anwendungsbereichs der VO 1907/2006 und des Umstandes , dass auch spezifische Regelungen im Hinblick auf die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Verwendung bestimmter Phthalate vorgesehen sind, können Mitgliedstaaten grundsätzlich keine eigenständigen Maßnahmen zur Beschränkung oder zum Verbot bestimmter Phthalate vornehmen. Angesichts der insoweit umfassenden Sperrwirkung der sekundärrechtlichen Regelung steht den Mitgliedstaaten lediglich ein Vorgehen im Wege der Schutzklausel gem. Art. 129 VO 1907/2006 offen. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Beschränkung der Mitgliedstaaten auf ein Vorgehen im Wege der Schutzklausel der der VO 1907/2006 zugrundeliegenden Ratio der Binnenmarktintegration entspricht. Das Primärrecht zielt in den Bereichen des Umwelt- und Verbraucherschutzes auf ein hohes Schutzniveau (vgl. Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV, Art. 11, 12, 114 Abs. 3 und 191 Abs. 2 AEUV). Entsprechend dieser Zielsetzung reguliert die VO 1907/2006, gestützt auf den Grundsatz der Vorsorge (Art. 1 Abs. 3 S. 2 VO), sowohl die in der EU hergestellten Stoffe und Erzeug- Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/14 Seite 11 nisse als auch die in die EU importierten. Eine mitgliedstaatliche Regelung, die einen Einsatz bestimmter Substanzen verbietet, ist grundsätzlich geeignet, den Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 28 Abs. 1, 34 AEUV zu behindern. Über unionsrechtliche Harmonisierungsregelungen hinausgehende Bestimmungen der Mitgliedstaaten müssten daher entsprechend Art. 36 AEUV gerechtfertigt sein. Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn die mitgliedstaatlichen Vorschriften unter der Sicherheitsperspektive im Hinblick auf die im Sinne Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV, Art. 11, 12, 114 Abs. 3 und 191 Abs. 2 AEUV Anforderungen zwingender Erfordernisse des Allgemeinwohls,20 insbesondere Belange der menschlichen Gesundheit , der Umwelt und des Verbraucherschutzes verfolgen. 3.2. Bedeutung der Bewertungen europäischer Agenturen bzw. Ausschüsse Durch die VO 1907/2006 wurde die ECHA für die Verwaltung und in einigen Fällen für die Durchführung der technischen, wissenschaftlichen und administrativen Aspekte der VO 1907/2006 und zur Gewährleistung der Einheitlichkeit auf Gemeinschaftsebene errichtet.21 Für die Erfüllung ihrer Aufgaben richtet die Agentur u.a. einen Ausschuss für Risikobeurteilung sowie einen Ausschuss für sozioökonomische Analyse ein,22 denen primär fachlich beratende Funktionen zukommen. In dem sekundärrechtlich festgelegten Rahmen ist die ECHA beispielsweise dafür verantwortlich, den Prozess der Stoffbewertung zu koordinieren und die Bewertung der im fortlaufenden Aktionsplan der Gemeinschaft enthaltenen Stoffe zu gewährleisten (Art. 45 Abs. 1 VO 1907/2006), die Zulassungsanträge für Chemikalien entgegenzunehmen und durch den Ausschuss für Risikobeurteilung sowie den Ausschuss für sozioökonomische Analyse Stellungnahmen im Hinblick auf eine mögliche Zulassung abzugeben (Art. 62, 70 VO 1907/2006). Im Rahmen ihrer Aufgaben erteilt die ECHA den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft den bestmöglichen wissenschaftlichen und technischen Rat in Bezug auf Fragen zu chemischen Stoffen, die in ihren Aufgabenbereich fallen und mit denen sie gemäß dieser Verordnung befasst wird.23 Insgesamt kommt den Stellungnahmen der Ausschüsse der ECHA die Funktion zu, die Entscheidungen der Kommission beispielsweise über die Zulassung eines bestimmten Stoffes (Art. 60, 73 VO 1907/2006) vorzubereiten und zu unterstützen, ohne dass die Kommission jedoch durch die Stellungnahmen gebunden wird. 20 EUGH, Rs. C-188/84 (Holzverarbeitung), Rn. 17; EuGH, Rs. C-120/78 (Cassis de Dijon), Rn. 8. 21 Art. 75 ff. VO 1907/2006, vgl. auch http://echa.europa.eu/web/guest. 22 Art. 76 I 1 lit c, d VO 19907/2006. 23 Art. 77 Abs. 1 VO 19907/2006. Zu den umstrittenen Handlungsmöglichkeiten und -grenzen der europäischen Agenturen vgl. Skowron, Die Zukunft europäischer Agenturen auf dem Prüfstand, EuR 2014, S. 250 ff.; Orator, Die unionsrechtliche Zulässigkeit von Eingriffsbefugnissen der ESMA im Bereich von Leerverkäufen, EuZW 2013, S. 852 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 129/14 Seite 12 - Fachbereich Europa -