© 2016 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 127/14 Unionsrechtliche Anforderungen an ein Punktesystem bei der Zuwanderung Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 127/14 Seite 2 Unionsrechtliche Anforderungen an ein Punktesystem bei der Zuwanderung Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 127/14 Abschluss der Arbeit: 10. Juli 2014 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 127/14 Seite 3 1. Fragestellung Ist für die Einführung eines nationales Punktesystems für die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen nach Deutschland ein europäischer Beschluss notwendig? 2. Antwort Für die nachfolgenden Ausführungen wird der Begriff des Punktesystems verstanden als ein Auswahlsystem zur zielgerechten, qualitativen Steuerung der Zuwanderung von Hochqualifizierten auf der Grundlage einer Punktevergabe für vorab festgelegte Kriterien bzw. Befähigungen der Zuwanderungswilligen mit dem Ziel der Steuerung langfristiger Zuwanderung sowie zur Deckung eines kurzfristigen Zuwanderungsbedarfs aufgrund berufsspezifischer Nachfrageüberschüsse nach Arbeitskräften.1 Für die Antwort auf die Frage, ob die Einführung eines solchen Punktesystems ein europäischer Beschluss2 notwendig wäre, ist die Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten und der ihnen verbleibende Handlungsspielraum entscheidend. 2.1. Unionszuständigkeit Nach Art. 79 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hat die Union den Auftrag, eine gemeinsame Einwanderungspolitik zu entwickeln, die in allen Phasen eine wirksame Steuerung der Migrationsströme sowie eine angemessene Behandlung von Drittstaatsangehörigen , die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, garantiert. Art. 79 AEUV enthält in Abs. 1 die Ziele und Grundsätze der gemeinsamen Einwanderungspolitik , Abs. 2 die konkrete Sachkompetenz der EU und die Verfahrensvorgaben. Art. 79 Abs. 2 lit. a AEUV gewährt der EU die Kompetenz zum Erlass von Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen bei der Einwanderung im Sinne eines längerfristigen, jedenfalls über drei Monate hinausgehenden Aufenthalts. Dabei ermöglicht Art. 79 Abs. 2 lit. a AEUV im Grundsatz die Harmonisierung aller materieller Voraussetzungen für Einreise und Aufenthalt sowie des hierauf bezogenen Verfahrensrechts.3 1 Vgl. § 20 des Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz), BT-Drs. 14/7387, online abrufbar unter http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/14/073/1407387.pdf sowie den Antrag „Fachkräfte ‐Einwanderung durch ein Punktesystem regeln“ in BT-Drs. 17/3862, abrufbar unter http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/17/038/1703862.pdf. Vgl. auch Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration, Migration und Integration – Erfahrungen nutzen, Neues wagen, Jahresgutachten 2004, S. 132 ff., online abrufbar unter http://archiv.dstgb.de/homepage/pressemeldungen/archiv2004/newsitem00996/996_2_4934.pdf; Hinte /Rinne/Zimmermann, Ein Punktesystem zur bedarfsorientierten Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland , I Z A Research Report No. 35, 2011, S. 5 ff., online abrufbar unter http://www.iza.org/files/report35.pdf. 2 Der Begriff des europäischen Beschlusses wird vorliegend untechnisch als Oberbegriff für alle rechtlichen Handlungserfordernisse und -formen verstanden. 3 Vgl. Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 79 AEUV, Rn.11 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 127/14 Seite 4 Einwanderungspolitische Maßnahmen fallen unter die geteilte Zuständigkeit der Union und der Mitgliedstaaten. Zusammen mit der Regelungsbefugnis für Kurzaufenthalte (Art. 77 AEUV) und Statusrechte (Art. 79 Abs. 2 lit. b AEUV) sind nahezu alle Sachbereiche des nationalen Aufenthaltsrechts zugleich Gegenstand einer Unionszuständigkeit. Ein Handeln der Union im Rahmen der geteilten Zuständigkeit muss damit einerseits den Grundsätzen der Subsidiarität (Art. 5 Abs. 3 EUV) und der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 4 EUV) entsprechen. Zudem ist das Handeln der Union durch die Bereiche der ausschließlichen Zuständigkeit4 der Mitgliedstaaten sowie die Einschränkungen des Art. 79 Abs. 5 AEUV limitiert. Hiernach bleibt insbesondere die Befugnis der Mitgliedstaaten von den unionsrechtlichen Regelungen unberührt, festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige in den jeweiligen Mitgliedstaat einreisen dürfen, um dort als Arbeitnehmer oder Selbständige Arbeit zu suchen (Art. 79 Abs. 5 AEUV). 2.2. Wahrnehmung der Zuständigkeit durch die Union Auf Grundlage dieser Zuständigkeiten hat der europäische Gesetzgeber insbesondere die folgenden Regelungen erlassen, welche die Erteilungsvoraussetzungen nach Aufenthaltszwecken differenzieren : Richtlinie 2004/114/EG5 für die ausbildungsbedingte Zuwanderung für die Zwecke eines Studiums, eines Schüleraustausches, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder eines Freiwilligenjahres;6 Richtlinie 2007/71/EG7 für die Zuwanderung aus wissenschaftlichen oder forschungsbedingten Gründen; Richtlinie 2014/36/EU8 für besondere Regelungen für Saisonarbeiter; Richtlinie 2014/66/EU9 für die Entsendung von Führungskräften, Fachkräften und Praktikanten zu Tochtergesellschaften oder Zweigstellen für Unternehmen und multinationale Konzerne. 4 Hierzu zählt insbesondere das Staatsangehörigkeitsrecht, vgl. EuGH, Rs. C-135/08 (Rottmann), Rn. 39 ff. 5 RL 2004/114/EG über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst, ABl.EU Nr. L 375/12, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32004L0114&from=DE. 6 Vgl. hierzu auch den Vorschlag für eine Richtlinie über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zu Forschungs- oder Studienzwecken, zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einem bezahlten oder unbezahlten Praktikum, einem Freiwilligendienst oder zur Ausübung einer Au-pair- Beschäftigung, KOM(2013)151 final, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2013:0151:FIN:DE:PDF. 7 RL 2007/71/EG über ein besonderes Zulassungsverfahren für Drittstaatsangehörige zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung, ABl. EU Nr. L 289/15, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32005L0071&from=DE. 8 RL 2014/36/EU über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Beschäftigung als Saisonarbeitnehmer, ABl.EU Nr. L 94/375, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014L0036&qid=1404745194204&from=DE. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 127/14 Seite 5 Von besonderer Relevanz für die vorliegende Fragestellung ist die Richtlinie 2009/50/EG10. Diese sog. Blue-Card-Richtline sieht einen besonderen Aufenthaltstitel für hochqualifizierte Beschäftigte vor („Blue Card EU“). Danach gilt ein beschleunigtes Verfahren für die Erteilung einer speziellen Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, durch das attraktivere Bedingungen für Drittstaatsangehörige geschaffen werden. Die Blue Card kann nur durch Erfüllung bestimmter Voraussetzungen beantragt werden. Der Drittstaatsangehörige muss einen mitgliedstaatlichen oder einen anerkannten ausländischen oder einen einem mitgliedstaatlichen Hochschulabschluss vergleichbaren ausländischen Hochschulabschluss sowie einen Arbeitsvertrag mit einem bestimmten Bruttojahresgehalt haben.11 2.3. Folgerungen Im Rahmen der gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. j AEUV iVm Art. 79 Abs. 2 AEUV zwischen der EU und den Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeit haben die Mitgliedstaaten grundsätzlich weiterhin die Möglichkeit zur eigenständigen Regelung des Einwanderungsrechts, sofern die Union von ihrer Zuständigkeit keinen Gebrauch gemacht hat (Art. 2 Abs. 2 S. 2 AEUV). Auf europäischer Ebene bestehen keine Regelungen für ein Punktesystem im oben beschriebenen Sinne. Spezifische Regelungen, die auf die Förderung des Zuzugs hochqualifizierter Personen abzielen, richten sich jeweils nach dem geltenden nationalen Aufenthalts‐ und Arbeitserlaubnisrecht . Dementsprechend ließe sich ein Punktesystem für die gezielte Einwanderungssteuerung grundsätzlich auf nationaler Ebene einrichten. Hierbei hat der nationale Gesetzgeber jedoch die bestehenden Vorgaben des europäischen Primär- und Sekundärrechts zu wahren und die auf die Einwanderung von hochqualifizierten Arbeitnehmern bezogenen gemeinsamen Strategien der Union12 zu berücksichtigen. Hieraus folgt, dass ein Gesetz zur Einführung eines Punktesystems, welches das Aufenthaltsgesetz als Teil des Zuwanderungsgesetzes tangieren würde, auch auf die Regelungen insbesondere zur Blue Card Bezug nehmen müsste. Die Blue-Card-Richtlinie zielt 9 RL 2014/66/EU über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen eines unternehmensinternen Transfers, ABl.EU Nr. L 157/1, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014L0066&from=DE. 10 RL 2009/50/EG über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung, ABl. EU Nr. L 155/17, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32009L0050&from=DE. 11 Zu der nationalen Umsetzung der Regelung über die Blue Card vgl. § 19 a des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG), BGBl. I S. 162, welches in § 19 über die Blue-Card-Regelungen hinausgehend einen gehaltsunabhängigen Aufenthaltstitel für Hochqualifizierte vorsieht. 12 Vgl. hierzu insbesondere die Lissabon-Strategie, Europäischer Rat, Tagung vom 23./24. März 2000, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, online abrufbar unter http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/00100-r1.d0.htm; das Haager Programm , Europäischer Rat, Tagung vom 4./5. November 2004, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, S. 4 ff., online abrufbar unter http://www.consilium.europa.eu/press/press-releases/latest-pressreleases /newsroomloaddocument?id=&lang=en&directory=de/ec/&fileName=82542.pdf, Europäischer Rat, Tagung vom 14./15. Dezember 2006, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, S. 5 ff., online abrufbar unter http://www.consilium.europa.eu/press/press-releases/latest-pressreleases /newsroomloaddocument?id=&lang=en&directory=de/ec/&fileName=92219.pdf. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 127/14 Seite 6 darauf ab, die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung einschließlich der Kriterien hinsichtlich einer Gehaltsschwelle im Rahmen des Bue-Card-Systems festzulegen. Darüber hinausgehende Systeme zur Steuerung der Zuwanderung und damit auch Regelungen der Mitgliedstaaten zur Festlegung von Zulassungsquoten für Drittstaatsangehörige, die in ihr Hoheitsgebiet für hochqualifizierte Beschäftigungen einreisen, bleiben von der Blue-Card-Richtlinie unberührt. Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass zur Einführung eines nationales Punktesystems für die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen nach Deutschland ein europäischer Beschluss nicht notwendig ist, sofern die konkrete Regelung mit den vorstehend beschriebenen Unionsregelungen vereinbar sind und den Rahmen der mitgliedstaatlichen Handlungsspielräume wahrt. - Fachbereich Europa -