© 2016 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 124/14 Unionsrechtliche Fragen betreffend die Schlachtung trächtiger Tiere Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 124/14 Seite 2 Unionsrechtliche Fragen betreffend die Schlachtung trächtiger Tiere Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 124/14 Abschluss der Arbeit: 14. Juli 2014 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 124/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Erste Frage 4 1.1. Kompetenzverteilung 4 1.2. Vereinbarkeit mit Sekundärrecht 5 1.3. Vereinbarkeit mit dem Primärrecht 6 1.3.1. Eröffnung des Schutzbereichs der Warenverkehrsfreiheit 6 1.3.2. Eingriff 7 1.3.3. Rechtfertigung 8 1.4. Zusammenfassung 9 2. Zweite Frage 9 2.1. Sekundärrechtliche Regelungen 9 2.1.1. Regelung der VO 1099/2009 zur Schlachtung von (trächtigen) Tieren 10 2.1.2. Der Rahmen für strengere nationale Regelungen (Art. 26 Abs. 2 VO 1099/2009) 10 2.1.3. Nationale Verbot aufgrund „neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse“ (Art. 26 Abs. 3 VO 1099/2009) 11 2.2. Zusammenfassung 11 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 124/14 Seite 4 1. Erste Frage Könnte man Betriebe im Wege nationalen Rechts verpflichten, beim Transport eines Tiers zur Schlachtung eine Bescheinigung beizufügen, aus der hervorgeht, ob das Tier trächtig ist und ggf. in welchem Stadium? Oder stehen Regelungen des nationalen Rechts oder des EU-Rechts dagegen (z.B. wenn sich der Betrieb darauf beruft, die Frage der Trächtigkeit seiner Tiere sei ein Betriebsgeheimnis )? Für die Frage, ob eine nationale Regelung, durch die Betriebe für den Tiertransport zur Beifügung einer Bescheinigung über die Trächtigkeit eines Tieres verpflichtet werden, mit dem Unionsrecht vereinbar ist, ist die unionsrechtliche Determinierung der mitgliedstaatlichen Handlungsspielräume entscheidend. Dies richtet sich nach der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten in diesem Bereich (1.1.) sowie nach den sekundärrechtlichen (1.2.) und primärrechtlichen (1.3.) Prämissen. 1.1. Kompetenzverteilung Eine nationale Regelung setzt eine entsprechende Handlungsmöglichkeit gemäß der Zuständigkeitsverteilung zwischen EU und den Mitgliedstaaten voraus. Hierbei ist insbesondere zwischen den ausschließlichen Unionszuständigkeiten (Art. 2 Abs. 1, Art. 3 AEUV) und den zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeiten (Art. 2 Abs. 2, Art. 4 AEUV) zu unterscheiden . Nur wenn der Regelungsgegenstand in den Bereich der geteilten Zuständigkeiten fällt bleiben die Mitgliedstaaten handlungsbefugt. Andernfalls darf nur die Union gem. Art. 2 Abs. 1, Art. 3 AEUV gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen und die Mitgliedstaaten sind im Wesentlichen auf die Durchführung der von der Union erlassenen Rechtsakte beschränkt. Fraglich ist somit, ob die Einführung einer nationalen Bescheinigungspflicht in Bezug auf die Gravidität von zu transportierenden Tieren zum Bereich der ausschließlichen Zuständigkeiten der EU gehört. Dies ist abhängig von dem konkreten Regelungsziel und dem Regelungsgehalt der Maßnahme. Ein konkreter Regelungsvorschlag liegt nicht vor, so dass für die Frage der Kompetenzgemäßheit einer Regelung vorliegend nur eine Einschätzung vorgenommen werden kann. Sofern eine Regelung primär auf den Tierschutz abstellt, ist darauf hinzuweisen, dass die EU keine allgemeine Kompetenz im Hinblick auf den Tierschutz besitzt. Regelungen, die ausschließlich Tierschutzaspekte verfolgen, liegen vielmehr in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten.1 Die Vorgaben aus Art. 13 AEUV betreffend den Tierschutz entfalten lediglich eine Direktionskraft bei der Konkretisierung bzw. Durchführung spezieller Politikbereiche. Dementsprechend müssen sich dem Tierschutz dienende Maßnahmen auf eine der in Art. 13 AEUV beispielhaft aufgezählten geteilten bzw. ausschließlichen Zuständigkeiten der EU stützen lassen. 1 Vgl. Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 13 AEUV, Rn. 10 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 124/14 Seite 5 Entsprechend der bestehenden Regelung von Tiertransporten auf Unionsebene durch die Verordnung (EG) Nr. 1/20052 (im Folgenden: VO 1/2005) dürfte sich eine nationale Bescheinigungspflicht auf den Schutz von Tieren beim Transport in Verbindung mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit und den damit zusammenhängenden Vorgängen beziehen. Die VO 1/2005 stützt sich auf Art. 37 EGV (nunmehr: Art. 43 AEUV), welcher die Gestaltung und Durchführung der gemeinsamen EU-Agrarpolitik (GAP) regelt. Mit Blick auf das potenzielle Ziel des Tierschutzes bei Transporten mit wirtschaftlichem Bezug sowie die Regelung auch grenzüberschreitender Sachverhalte dürfte auch die nationale Einführung einer Bescheinigungspflicht in Bezug auf die Gravidität von zu transportierenden Tieren primär unter die GAP fallen. Diese zählt jedoch nicht zu den in Art. 3 AEUV geregelten Bereichen der ausschließlichen EU-Zuständigkeiten. Vielmehr ergibt sich aus Art. 4 Abs. 2 lit. d) eine zwischen Union und Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit im Bereich der Landwirtschaft, so dass die Mitgliedstaaten regelungsbefugt bleiben, sofern die Union nicht kompetenzgemäß (Art. 2 Abs. 2 AEUV, Art. 4 und 5 EUV) von ihrer Zuständigkeit Gebrauch gemacht hat. Für die Ausübung der Harmonisierungskompetenz im Bereich der Landwirtschaft (Art. 43 Abs. 2, Art. 4 Abs. 2 lit. d AEUV) durch die Union sind Tierschutzbelange alleine hierbei nicht ausreichend, sondern es ist stets ein Bezug zum Binnenmarkt erforderlich. Demgemäß stützt sich auch die VO 1/2005 zur Regelung des grenzüberschreitenden Transports von Tieren zu Handelszwecken darauf, „die technischen Hemmnisse im Handel mit lebenden Tieren zu beseitigen und das reibungslose Funktionieren der jeweiligen Marktorganisationen sowie den angemessenen Schutz der betroffenen Tiere zu gewährleisten.“3 Somit spricht die europarechtliche Kompetenzverteilung nicht gegen den Erlass einer nationalen Regelung, die eine Bescheinigungspflicht für die Gravidität der Tiere bei Tiertransporten einführen würde. 1.2. Vereinbarkeit mit Sekundärrecht Gemäß Art. 2 Abs. 2 AEUV können die Mitgliedstaaten im Bereich der geteilten Zuständigkeiten keine eigenständigen Regelungen mehr treffen, sobald die EU ihre Zuständigkeiten ausgeübt hat. Damit stellt sich die Frage, ob bestehendes Sekundärrecht der Einführung einer Bescheinigungspflicht für die Gravidität der Tiere bei Tiertransporten entgegensteht. Hierfür ist mit Blick auf den potenziellen Regelungszweck und Regelungsgehalt einer solchen Regelung insbesondere die VO 1/2005 maßgeblich. Diese regelt den Transportvorgang von Tieren in Verbindung mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit. Im Hinblick auf den Transport von trächtigen Tieren enthält die Verordnung in Art. 3 lit. c sowie in Anhang I, („Technische Vorschriften“), Kapitel I Nr. 2 lit. c d die insbesondere die Transportunternehmer (Art. 6 Abs. 3 VO 1/2005) betreffende Regelungen, dass trächtige Tiere in fortgeschrittenem Gestationsstadium (90 % oder mehr) als nicht transportfähig gelten. 2 Verordnung (EG) Nr. 1/2005 des Rates vom 22. Dezember 2004 über den Schutz von Tieren beim Transport und damit zusammenhängenden Vorgängen sowie zur Änderung der Richtlinien 64/432/EWG und 93/119/EG und der Verordnung (EG) Nr. 1255/97, ABl. L 3/1, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/legalcontent/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32005R0001&qid=1398690207309&from=DE. 3 2. Erwägungsgrund Verordnung (EG) Nr. 1/2005. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 124/14 Seite 6 Die Verordnung enthält jedoch keine Vorgaben betreffend die Verpflichtung zur Einführung einer Bescheinigung, aus der die Gravidität und das Trächtigkeitsstadium der zu transportierenden Tiere hervorgeht. Vielmehr zählt dieses Kriterium gerade nicht zu den gem. Art. 4 VO 1/2005 in den Transportpapieren anzugebenden Informationen. Die in Art. 4 VO 1/2005 abschließenden aufgeführten Informationspflichten betreffen nur die Herkunft und Eigentümer der Tiere, den Versandort, den Tag und die Uhrzeit des Beginns der Beförderung, den vorgesehenen Bestimmungsort und die voraussichtliche Dauer der geplanten Beförderung. Die Gewährleistung der Transportfähigkeit eines Tieres zählt zu den allgemeinen4 und insbesondere gem. Art. 21 VO 1/2005 kontrollierten Pflichten der Transporteure.5 Eine explizite Pflicht zur Bescheinigung der Gravidität bzw. des Graviditätsstadiums folgt somit nicht aus der VO 1/2005, so dass die Verordnung im Umkehrschluss auch nicht der Einführung einer solchen Pflicht entgegensteht. Vielmehr stellt Art. 1 Abs. 3 VO 1/2005 klar, dass die Mitgliedstaaten zum besseren Schutz von Tieren auch weitergehende Maßnahmen erlassen können. 1.3. Vereinbarkeit mit dem Primärrecht Die Einführung einer nationalen Bescheinigungspflicht in Bezug auf die Gravidität von zu transportierenden Tieren müsste mit dem Primärrecht und insbesondere den Regeln über das Funktionieren des Binnenmarkts vereinbar sein. 1.3.1. Eröffnung des Schutzbereichs der Warenverkehrsfreiheit Fraglich ist, ob eine solche nationale Regelung mit den Regeln über den freien Warenverkehr gem. Art. 28 ff. AEUV vereinbar ist. Die Anwendbarkeit dieser Vorschriften setzt zunächst voraus, dass überhaupt ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt. Wenn die nationale Regelung über die Pflicht zur Gaviditätsbescheinigung bei wirtschaftlichen Tiertransporten allgemein gilt, d.h. nicht nur Tiertransporte innerhalb Deutschlands sondern auch von Deutschland zu exportierende und nach Deutschland zu importierende Tiere betrifft, ist von einem grenzüberschreitenden Sachverhalt auszugehen. Die Anwendung der Regeln über die Warenverkehrsfreiheit setzt ferner die Eröffnung des Schutzbereichs voraus, in den eine Gaviditätsbescheinigungspflicht potenziell ungerechtfertigt eingreifen könnte. Der Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit ist eröffnet, wenn Waren betroffen sind.6 Dementsprechend müssten im konkreten Fall auch Tiere als Waren zu subsumieren sein. Der Begriff der Ware setzt voraus, dass es sich um eine körperliche Sache handelt, die einen Handelswert hat und Gegenstand von Handelsgeschäften sein kann.7 Ob die durch die in Frage 4 Vgl. hierzu auch Art. 9 Abs. 3 und Art. 10 Abs. 1 des Europäisches Übereinkommen über den Schutz von Tieren beim internationalen Transport vom 6. November 2003 (BGBl. 2006 II S. 798), auf welches in Art. 21 Abs. 1 lit. e, Anhang II VO 1/2005 Bezug genommen wird. 5 Zum Umfang der durch die Mitgliedstaaten auszuübenden Kontrollen vgl. EuGH, Rs. C-455/06 (Heemskerk), Rn. 30 ff.; EuGH, Rs. C-416/07 (Kommission/Griechenland), 97 ff. 108 ff. 6 Allgemein zum Schutzbereich vgl. Haratch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 9. Auflage 2014, Rn. 852. 7 EuGH, Rs. 7/68 (Kunstschätze), Slg. 1968, S. 633, 642. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 124/14 Seite 7 kommende Regelung betroffenen Tieren diesem Schutzbereich zuzuordnen sind erscheint insoweit problematisch, als es sich um Tiere in Verbindung mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit handelt , welche wiederum den Regeln über landwirtschaftliche Erzeugnisse im Sinne der GAP unterliegen . Da landwirtschaftliche Erzeugnisse sowohl dem Warenbegriff des Art. 28 AEUV als auch den besonderen Vorschriften der GAP unterliegen, richtet sich die Vereinbarkeit einer nationalen Gaviditätsbescheinigungspflicht nach dem Verhältnis zwischen dem Anwendungsbereich der GAP und der Grundfreiheiten.8 Diesbezüglich bestimmt Art. 38 Abs. 2 AEUV, dass die Vorschriften für die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarkts auf landwirtschaftliche Erzeugnisse Anwendung finden, soweit in den nachfolgenden Art. 39-44 AEUV nicht etwas Abweichendes bestimmt ist.9 Die Bestimmungen der GAP enthalten jedoch keine Bestimmungen, die auf tierschutzrechtliche Regelungen über Graviditätsbescheinigung bei wirtschaftlichen Tiertransporten abzielen. Dementsprechend ist von der Eröffnung des Schutzbereichs der Warenverkehrsfreiheit auszugehen. 1.3.2. Eingriff Die Einführung einer nationalen Bescheinigungspflicht in Bezug auf die Gravidität von zu transportierenden Tieren müsste in die Warenverkehrsfreiheit in dem Sinne eingreifen, dass sie eine mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkung oder Maßnahme gleicher Wirkung darstellt (Art. 34, 35 AEUV).10 Unter die vorliegend relevanten Maßnahmen gleicher Wirkung fallen „alle staatlichen Maßnahmen, die geeignet sind, unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell den Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern“11. Dabei muss die Regelung nicht nach dem Land der Warenherkunft unterscheiden.12 Eine Maßnahme gleicher Wirkung kann auch dann vorliegen, wenn die staatliche Regelung inländische und ausländische Waren gleichermaßen betrifft, aber den Handel zwischen den Mitgliedstaaten erschwert,13 sofern es sich bei der nationalen Regelung nicht lediglich um bloße Verkaufs- oder Absatzmodalitäten handelt und sie somit nicht dazu geeignet wäre, den Marktzugang für ausländische Erzeugnisse im Vergleich mit inländischen Erzeugnissen zu versperren oder stärker zu behindern.14 Die fragliche Regelung würde den Transport von Tieren zu wirtschaftlichen Zwecken einer Bescheinigungspflicht aussetzen, wobei die Eingriffsqualität von der konkreten Ausgestaltung der Regelung abhängt. Ausgehend davon, dass wirtschaftliche Transporte von Tieren ohne eine sol- 8 Vgl. Kopp, in Streinz, EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 38 AEUV, Rn. 31 ff. 9 Vgl. Kopp, in Streinz, EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 38 AEUV, Rn. 35 f. 10 Haratch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 9. Auflage 2014, Rn. 861. 11 Vgl. EuGH, Rs. 8/74 (Dassonville), Rn. 5. 12 EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Rn. 5. 13 Haratch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 9. Auflage 2014, Rn. 868. 14 EuGH, verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck), Rn. 17; vgl. hierzu Haratch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 9. Auflage 2014, Rn. 874 m.w.N. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 124/14 Seite 8 che Bescheinigung nach der Einführung der Regelung nicht mehr möglich wären, würde diese Regelung eine Erschwerung eines grenzüberschreitenden Handels mit solchen Tieren darstellen. Demnach könnte eine entsprechende Regelung als eine Vorschrift über die Verkehrsfähigkeit von den Produkten (also Tieren) und damit als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit angesehen werden. 1.3.3. Rechtfertigung Der Eingriff der fraglichen Regelung in die Warenverkehrsfreiheit könnte nach Art. 36 S. 1 AEUV gerechtfertigt sein. Zu den ausdrücklichen Rechtfertigungsgründen des Art. 36 S. 1 AEUV zählt u.a. der Schutz des Lebens von Tieren, sodass auch ein Eingriff der hier fraglichen Regelung in die Warenverkehrsfreiheit durch das Regelungsziel des Tierschutzes gerechtfertigt sein könnte. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Gründe in Art. 36 S. 1 AEUV als Ausnahmen vom Grundsatz der Warenverkehrsfreiheit eng auszulegen sind.15 Danach sind insbesondere nationale Tierschutzmaßnahmen zulässig, die der Erhaltung der biologischen Vielfalt der Arten dienen oder die Handlungen verbieten, die Leiden für die Tiere mit sich bringen.16 Darüber hinaus kommen auch ungeschriebene, über Art. 36 S. 1 AEUV hinausgehende Rechtfertigungsgründe aus zwingenden Erfordernissen des Allgemeinwohls in Betracht, sofern sich der der Regelung zugrunde liegende Schutzzweck als besondere Ausprägung des Tierschutzes darstellt .17 Eine Rechtfertigung auf Grundlage ungeschriebener Rechtfertigungsgründe kommt jedoch nur ausnahmsweise in Betracht, wenn sekundärrechtliche Regelungen fehlen, die Maßnahme unterschiedslos für in- und ausländische Waren gilt und wenn sie mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.18 Insoweit stellt die VO 1/2005 potenziell eine sekundärrechtliche Ausgestaltung des Regelungsbereichs dar, die einer Rechtfertigung durch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe entgegensteht. Jedoch enthält die Verordnung keine Vorschriften hinsichtlich einer Pflicht zur Bescheinigung über die Gravidität der von einem Transport betroffenen Tiere,19 so dass sich vertreten ließe, dass zu diesem Punkt keine sekundärrechtliche Harmonisierung besteht und dementsprechend eine Rechtfertigung auf Grundlage ungeschriebener Rechtfertigungsgründe nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. In jedem Fall müsste eine solche Rechtfertigung verhältnismäßig, d.h. geeignet, erforderlich und angemessen sein, das verfolgte legitime Ziel der einschränkenden Maßnahme zu verwirklichen. Im Rahmen der Angemessenheit ist eine umfassende Einzelfallabwägung zwischen dem durch die Regelung zu schützenden Grund der Allgemeinwohls einerseits und den Auswirkungen der Regelung auf den freien Warenverkehr und den Binnenmarkt andererseits vorzunehmen. Auf der Seite des Erfordernisses des Allgemeinwohls 15 EuGH, Rs. 7/68 (Kunstschätze), Slg. 1968, S. 663, 644. 16 Vgl. EuGH, Rs. C-162/97 (Nilsson), Rn. 32 ff.; vgl. hierzu Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34-36 AEUV, Rn. 207. 17 Haratch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 9. Auflage 2014, Rn. 891 m.w.N.; Priebe, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 52. EL 2014, Art. 38 AEUV, Rn. 53. 18 Haratch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 9. Auflage 2014, Rn. 891 ff. 19 S.o. 1.2. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 124/14 Seite 9 wäre im Hinblick auf den Tierschutzes auf europäischer Ebene zu berücksichtigen, dass dieser „eine in Art. 13 AEUV vertraglich verankerte Querschnittsaufgabe [darstellt], der u. a. bei der Festlegung und Durchführung der Agrar- und Fischereipolitik Rechnung zu tragen ist.“ Die Erwägungsgründe hinter der in Frage kommender Regelung sind jedoch nach dem aktuellen Erkenntnisstand des Verfassers nicht ersichtlich, so dass sich eine pauschale Antwort zur Rechtfertigung des möglichen Eingriffs nach Art. 36 S. 1 AEUV nicht finden lässt. 1.4. Zusammenfassung Grundsätzlich erscheint die Einführung einer nationalen Bescheinigungspflicht in Bezug auf die Gravidität von zu transportierenden Tieren mit Blick auf die Kompetenzverteilung zwischen Union und den Mitgliedstaaten möglich. Eine solche Regelung wäre jedoch grundsätzlich dazu geeignet, bei grenzüberschreitenden Sachverhalten in die Warenverkehrsfreiheit einzugreifen. Dieser Eingriff könnte jedoch potenziell aus Gründen des Tierschutzes gerechtfertigt sein. Sowohl das Ausmaß des konkreten Eingriffs sowie die Rechtfertigungsfähigkeit einer Gaviditätsbescheinigungspflicht stehen in Abhängigkeit von der konkreten Ausgestaltung dieser Regelung. Ohne Vorliegen einer konkreten Regelung lässt sich daher die Unionsrechtskonformität einer solchen Regelung nicht abschließend bewerten. 2. Zweite Frage Wäre ein nationales Verbot der Schlachtung von Tieren, die sich im letzten Drittel der Tragezeit befinden, mit Unionsrecht vereinbar? Die Frage nach der Vereinbarkeit eines nationalen Schlachtverbots mit dem Unionsrecht richtet sich nach der unionsrechtlichen Determinierung der mitgliedstaatlichen Handlungsspielräume im jeweiligen Regelungsbereich. Entsprechend den Ausführungen unter 1.1. fiele ein nationales Schlachtverbot in den Regelungsbereich der GAP. Es beträfe somit eine zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeit, so dass die Mitgliedstaaten zum Erlass entsprechender Regelungen grundsätzlich zuständig wären. 2.1. Sekundärrechtliche Regelungen Gemäß Art. 2 Abs. 2 AEUV können die Mitgliedstaaten im Bereich der geteilten Zuständigkeiten keine eigenständigen Regelungen mehr treffen, sobald die EU ihre Zuständigkeiten ausgeübt hat. Damit stellt sich die Frage, ob bestehendes Sekundärrecht der Einführung einer Bescheinigungspflicht für die Gravidität der Tiere bei Tiertransporten entgegensteht. Hierfür ist mit Blick auf den potenziellen Regelungszweck und Regelungsgehalt einer solchen Regelung insbesondere die Verordnung (EG) Nr. 1099/200920 (im Folgenden: VO 1099/2009) maßgeblich. Sie hat sowohl die 20 Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 des Rates vom 24. September 2009 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung, ABl. L 303/1, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32009R1099&qid=1405354174379&from=DE. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 124/14 Seite 10 unionsrechtliche Vorgängerregelung (Richtlinie 93/119/EG) als auch die entsprechenden gesetzlichen Regelungen der Mitgliedsstaaten abgelöst. Aus dem Umstand, dass die EU zur Regelung der Materie nicht mehr die Rechtsform einer Richtlinie gewählt hat, die von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden muss, sondern eine unmittelbar in allen Mitgliedstaaten wirksame Verordnung erlassen hat21 ließe sich folgern, dass dies einer weitergehenden mitgliedstaatlichen Regelung entgegensteht. Dementsprechend stellt sich die Frage, ob die VO 1099/2009 den Bereich der Schlachtung von Tieren umfassend regelt und insbesondere Regelungen in Bezug auf die Schlachtung trächtiger Tiere enthält. 2.1.1. Regelung der VO 1099/2009 zur Schlachtung von (trächtigen) Tieren Die EU-Schlachtverordnung enthält Vorschriften über die Tötung von Tieren, die zur Herstellung von Lebensmitteln, Wolle, Häuten, Pelzen oder anderen Erzeugnissen gezüchtet oder gehalten werden sowie über die Tötung von Tieren zum Zwecke der Bestandsräumung und damit zusammenhängende Tätigkeiten (Art. 1 Abs. 1 VO 1099/2009). Durch die in Art. 1 Abs. 2 geregelten Ausnahmen wird der Anwendungsbereich der Verordnung überwiegend auf die Tötung von Tieren zu landwirtschaftlichen Zwecken beschränkt. Art. 2 lit. j) definiert den Begriff Schlachtung der Tiere als einen dem Zweck des menschlichen Verzehrs dienenden Unterfall der Tötung der Tiere. Damit enthält die Verordnung keine spezielle Vorschriften bezüglich der Schlachtung von graviden Tieren. 2.1.2. Der Rahmen für strengere nationale Regelungen (Art. 26 Abs. 2 VO 1099/2009) Art. 26 VO 1099/2009 regelt das Verhältnis zwischen der Verordnung und strengenden Vorschriften im nationalen Recht in „überlappenden“ Bereichen. In diesem Zusammenhang besagt Art. 26 Abs. 1 VO 1099/2009, dass „[d]iese Verordnung […] die Mitgliedstaaten nicht daran [hindert], zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung geltende nationale Vorschriften beizubehalten , mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung sichergestellt werden soll“. Das spezielle Verbot der Schlachtung von Tieren im letzten Drittel der Tragezeit würde mangels entsprechender Regelung der Schlachtung von graviden Tieren in der Verordnung eine solche strengere nationalrechtliche Vorschrift darstellen. Für den Fall, dass zur Zeit des Inkrafttretens keine entsprechende Regelung auf nationaler Ebene bestand und diese erst nachträglich erlassen werden soll, bestimmt Art. 26 Abs. 2 VO 1099/2009, dass die „Mitgliedstaaten […] nationale Vorschriften, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung als in dieser Verordnung vorgesehen sichergestellt werden soll, in folgenden Bereichen erlassen [können]: a) die Tötung von Tieren und damit zusammenhängende Tätigkeiten außerhalb eines Schlachthofs; 21 Für den Unterschied zwischen den Handlungsformen Richtlinie und Verordnung gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 9. Auflage 2014, Rn. 382. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 124/14 Seite 11 b) die Schlachtung von Farmwild im Sinne von Anhang I Nummer 1.6 der Verordnung (EG) Nr. 853/2004 einschließlich von Rentieren und damit zusammenhängende Tätigkeiten; c) die Schlachtung von Tieren gemäß Artikel 4 Absatz 4 und damit zusammenhängende Tätigkeiten .“ Dementsprechend können die Mitgliedstaaten nur in diesen Bereichen neue, über die VO 1099/2009 hinausgehende Bestimmungen erlassen. Ausweislich dieser abschließenden Aufzählung fallen hierunter keine Regelungen betreffend die Schlachtung von graviden Tieren unabhängig vom Graviditätsstadium. Dementsprechend stünde die VO 1099/2009 einer entsprechenden nationalen Regelung entgegen.22 2.1.3. Nationale Verbot aufgrund „neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse“ (Art. 26 Abs. 3 VO 1099/2009) Über die Ausnahmetatbestände des Art. 26 Abs. 2 VO 1099/2009 hinaus sieht Art. 26 Abs. 3 VO 1099/2009 die Möglichkeit für den Erlass weitergehender nationaler Regelungen vor, wenn „ein Mitgliedstaat es auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse für erforderlich [hält], Maßnahmen zu ergreifen, mit denen in Bezug auf die Betäubungsverfahren gemäß Anhang I ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung sichergestellt werden soll“. Ein nationales Verbot der Schlachtung gravider Tiere im letzten Drittel der Tragezeit erfordert damit den Nachweis, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse ein solches Verbot gebieten. In dem Fall muss der Mitgliedstaat gem. Art. 26 Abs. 3 VO 1099/2009 die Kommission von seinem wissenschaftlich begründeten Vorhaben unterrichten, welche ihrerseits die anderen Mitgliedstaaten darüber informiert. Die nationale Regelungsvorhaben steht dabei unter dem Vorbehalt der Genehmigung durch die Kommission: „Innerhalb eines Monats ab ihrer Unterrichtung muss die Kommission den in Artikel 25 Absatz 1 genannten [Ständigen Ausschuss für die Lebensmittelkette und Tiergesundheit unterstützt, der durch Artikel 58 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 eingesetzt wurde] mit dieser Frage befassen und die betreffenden nationalen Maßnahmen auf der Grundlage eines Gutachtens der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und gemäß dem Verfahren des Artikels 25 Absatz 2 genehmigen oder ablehnen“ (Art. 26 Abs. 3 VO 1099/2009). 2.2. Zusammenfassung Der umfassende Regelungsanspruch der VO 1099/2009 steht einem nationalen Verbot der Schlachtung gravider Tiere im letzten Drittel der Tragezeit grundsätzlich entgegen. Eine Möglichkeit zu einem nationalen Vorgehen bestünde nur im Falle eines Nachweises neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, die ein nationales Verbot rechtfertigen würden. Für den Fall, dass entsprechende Gründe vorliegen – was aus hiesiger Sicht nicht beurteilt werden kann – sowie vor- 22 Vgl. hierzu die Pressemitteilung der Bundestierärztekammer vom 26. März 2014, online abrufbar unter http://www.bundestieraerztekammer.de/downloads/btk/presse/2014/PM_08_2014_Schlachtung%20tragender% 20Rinder.pdf. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 124/14 Seite 12 behaltlich der notwendigen Genehmigung durch die Kommission müsste das Verbot insbesondere mit den Regeln der europäischen Warenverkehrsfreiheit entsprechend den unter 1.3. dargestellten Maßstäben vereinbar sein. - Fachbereich Europa -