© 2018 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Freizügigkeitsrecht ausländischer Unionsbürger und Zugang zu ausgewählten sozialen Leistungen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 2 Freizügigkeitsrecht ausländischer Unionsbürger und Zugang zu ausgewählten sozialen Leistungen Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Abschluss der Arbeit: 21. September 2018 Fachbereich: WD 6: Fachbereich Arbeit - und Soziales PE 6: Fachbereich Europa Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 6 2. Rechtlicher Rahmen nach deutschem Recht 6 2.1. Anwendbarkeit des Sozialgesetzbuches 6 2.2. SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende 7 2.2.1. Territorialitätsprinzip 7 2.2.2. Leistungsausschluss für Ausländer 8 2.2.2.1. Leistungsausschluss in den ersten drei Monaten des Aufenthalts 8 2.2.2.2. Leistungsausschluss ab dem vierten Monat des Aufenthalts 9 2.2.2.3. Leistungen ab dem sechsten Jahr des Aufenthalts 9 2.3. SGB XII – Sozialhilfe 10 2.3.1. Verhältnis SGB XII zu SGB II 10 2.3.2. Territorialitätsprinzip 11 2.3.3. Leistungen für Ausländer 11 2.3.3.1. Leistungsausschluss 11 2.3.3.2. Überbrückungsleistungen 12 2.3.3.3. Angemessene Kosten der Rückreise 12 2.3.4. Leistungen für Deutsche im Ausland 12 3. Rechtlicher Rahmen nach EU-Recht 14 3.1. Unionsrechtliche Grenzen mitgliedstaatlicher Ausgestaltung der Systeme der sozialen Sicherheit 14 3.1.1. Diskriminierungsverbot und Aufenthaltsrecht 15 3.1.2. Daueraufenthaltsrecht 18 3.2. EU-Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit 19 3.2.1. Verordnung 883/2004 19 3.2.2. Verordnung 883/2004 und Leistungen nach SGB II und SGB XII 20 3.2.2.1. Wohnsitz als Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des anwendbaren (Sozial-) Rechts und Günstigkeitsprinzip 21 3.2.2.2. Beachtung des koordinierungsrechtlichen Diskriminierungsverbots 22 4. Fallgruppen zu Leistungen nach dem SGB II beziehungsweise SGB XII 22 4.1. Fallgruppe „Aufenthalt in Deutschland und Arbeitsuche“ 22 4.1.1. Rechtslage nach deutschem Recht 23 4.1.2. Rechtslage nach EU-Recht 24 4.1.2.1. Aufenthaltsrecht 24 4.1.2.2. Diskriminierungsverbot und Ausnahmen 25 4.1.2.3. Zwischenergebnis 26 4.2. Fallgruppe „Aufenthalt in Deutschland und geringfügige Beschäftigung“ 26 4.2.1. Rechtslage nach deutschem Recht 26 4.2.1.1. Leistungssystem 26 4.2.1.2. Sanktionssystem 27 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 4 4.2.2. Rechtslage nach EU-Recht 28 4.2.2.1. Aufenthaltsrecht 28 4.2.2.2. Diskriminierungsverbot und Ausnahmen 29 4.2.2.3. Zwischenergebnis 29 4.3. Fallgruppe „Aufenthalt in Deutschland und keine Erwerbsabsicht“ 29 4.3.1. Rechtslage nach deutschem Recht 29 4.3.2. Rechtslage nach EU-Recht 30 4.3.2.1. Aufenthalt während der ersten drei Monate 30 4.3.2.2. Aufenthalt von mehr als drei Monaten 31 4.3.2.3. Zwischenergebnis 33 4.4. Fallgruppe „Aufenthalt in Deutschland und Arbeitslosigkeit nach Erwerbstätigkeit in Deutschland“ 33 4.4.1. Rechtslage nach deutschem Recht 33 4.4.2. Rechtslage nach EU-Recht 34 4.4.2.1. Aufenthaltsrecht 34 4.4.2.2. Diskriminierungsverbot und Ausnahmen 35 4.4.2.3. Zwischenergebnis 35 4.5. Fallgruppe „Aufenthalt im EU-Ausland und Arbeitslosigkeit nach Erwerbstätigkeit in Deutschland“ 35 4.5.1. Rechtslage nach deutschem Recht 35 4.5.2. Rechtslage nach EU-Recht 35 4.5.3. Zwischenergebnis 36 4.6. Ausweisungen von EU-Ausländern im Zusammenhang mit Leistungsbezug nach SGB II oder SGB XII 36 4.6.1. Rechtslage nach deutschem Recht 36 4.6.2. Rechtslage nach EU-Recht 36 4.6.2.1. Vorgaben des Art. 14 Freizügigkeitsrichtlinie 37 4.6.2.2. Vorgaben des Art. 15 Freizügigkeitsrichtlinie 38 4.6.2.3. Zwischenergebnis 38 5. Fragen betreffend Ansprüche von EU-Ausländern auf Kindergeld 38 5.1. Rechtslage nach deutschem Recht 38 5.2. Rechtslage nach EU-Recht 39 5.2.1. Verordnung 883/2004 sowie Freizügigkeitsverordnung 492/2011 39 5.2.2. Freizügigkeitsrichtlinie 39 6. Fragen betreffend Ansprüche von EU-Ausländern auf BAföG 41 6.1. Rechtslage nach deutschem Recht 41 6.2. Rechtslage nach EU-Recht 41 6.2.1. Freizügigkeitsrichtlinie 41 6.2.2. Freizügigkeitsverordnung 492/2011 42 7. Fragen betreffend Ansprüche von deutschen Staatsangehörigen nach SGB II und SGB XII 42 7.1. Abwanderung ins Ausland 42 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 5 7.1.1. SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende 42 7.1.2. SGB XII – Sozialhilfe 43 7.2. Sanktionssystem 43 7.2.1. SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende 43 7.2.2. SGB XII – Sozialhilfe 43 8. Fragen betreffend die Vereinbarkeit der Leistungsausschlüsse mit Verfassungs- und Unionsrecht 44 8.1. Aus verfassungsrechtlicher Sicht 44 8.1.1. Leistungsausschlüsse für Ausländer 44 8.1.2. Leistungsausschlüsse aufgrund der Sanktionsmechanismen 45 8.2. Aus unionsrechtlicher Sicht 47 8.2.1. Unionsrechtmäßigkeit der Ausnahmeregelung in Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie 47 8.2.2. Unionsrechtmäßigkeit aufenthaltsrechtlicher Voraussetzungen nach der Freizügigkeitsrichtlinie 48 8.2.3. Unionsrechtmäßigkeit mitgliedstaatlicher Umsetzung beziehungsweise sich daraus ergebender Konsequenzen im nationalen Recht 49 9. Anlagenverzeichnis 51 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 6 1. Einleitung Die Fachbereiche Arbeit und Soziales (WD 6), Europa (PE 6) und Verfassung und Verwaltung (WD 3) wurden um die Beantwortung mehrerer Fragen im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsrecht ausländischer Unionsbürger sowie deren Zugang zu ausgewählten deutschen Sozialleistungen ersucht. Im Vordergrund stehen dabei verschiedene Fallgruppen bezüglich der Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II sowie SGB XII). Gefragt wurde ferner nach Kindergeld und Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG). Im Folgenden wird zunächst der rechtliche Rahmen zur Beantwortung dieser Fragen dargestellt, zunächst in Bezug auf das nationale Recht (2.) und sodann hinsichtlich des europäischen Unionsrechts (3.). Anschließend werden verschiedene Fallgruppen zur Inanspruchnahme von Leistungen nach SGB II und SGB XII erörtert (4.), wobei jeweils zwischen der deutschen und der Rechtslage nach Unionsrecht unterschieden wird. Gleiches gilt für den Aufbau der Untersuchung zum Kindergeldbezug (5.) sowie zu den BAföG-Leistungen (6.). Gesondert erörtert werden ferner Fragen zur Inanspruchnahme von SGB II- und SGB XII-Leistungen durch deutsche Staatsangehörige , die sich im Ausland aufhalten (7.), sowie zur verfassungs- und unionsrechtlichen Vereinbarkeit der Ausschlüsse von Leistungen nach SGB II und SGB XII (8.). Dem Gutachten sind mehrere ältere Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sowie des Fachbereichs Europa als Anlagen beigefügt (9.). In diesen Arbeiten finden sich vertiefte Darstellungen zu einigen der hier im Raum stehenden Fragen. Auf die dortigen Ausführungen wird verwiesen. 2. Rechtlicher Rahmen nach deutschem Recht Die in den einzelnen Fallgruppen (4.) besprochenen Konstellationen betreffen einerseits EU-Ausländer , die sich zumindest für eine bestimmte Dauer in Deutschland aufhalten, und andererseits deutsche Staatsangehörige, die sich im EU-Ausland aufhalten. Allgemein stellen sich deshalb Fragen zur Anwendbarkeit des Sozialgesetzbuches (2.1.) sowie zu an den Aufenthalt beziehungsweise an die Staatsangehörigkeit anknüpfenden Regelungen im SGB II (2.2.) und SGB XII (2.3.). 2.1. Anwendbarkeit des Sozialgesetzbuches Das Sozialrecht knüpft an die Territorialität an. Gemäß § 30 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) gelten die Vorschriften der einzelnen Bücher des Sozialgesetzbuches beziehungsweise die in § 68 SGB I aufgezählten besonderen Teile des Gesetzbuches wie etwa das BAföG nur für diejenigen Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes haben. Demnach gelten die Vorschriften grundsätzlich nicht für EU-Ausländer beziehungsweise für deutsche Staatsangehörige, die weder ihren Wohnsitz nach § 30 Abs. 3 Satz 1 SGB I noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I in Deutschland haben. Sie haben somit grundsätzlich keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II beziehungsweise nach dem SGB XII. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 7 Hiervon sind wiederum Ausnahmen in den einzelnen Büchern des Sozialgesetzbuches beziehungsweise in den in § 68 SGB I aufgezählten besonderen Teilen des Gesetzbuches gemäß § 37 SGB I zulässig. Darüber hinaus enthalten die einzelnen Anspruchsgrundlagen im SGB II und SGB XII weitere Tatbestandsmerkmale, die explizit auf die Staatsangehörigkeit des Anspruchstellers beziehungsweise den Aufenthaltsort des Anspruchstellers abstellen. Im SGB II enthält die Regelung der Leistungsberechtigten in § 7 Abs. 1 SGB II entsprechende Merkmale. Im SGB XII beziehen sich die Regelungen der §§ 23, 24, 41 SGB XII explizit auf die Staatsangehörigkeit beziehungsweise den Aufenthaltsort. 2.2. SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende 2.2.1. Territorialitätsprinzip Leistungen nach dem SGB II erhalten gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erwerbsfähige Leistungsberechtigte . Darunter fallen aufgrund der Legaldefinition Personen, - die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben (Nr. 1), - die erwerbsfähig sind (Nr. 2), - die hilfebedürftig sind und (Nr. 3) - ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4). Das Tatbestandsmerkmal des gewöhnlichen Aufenthalts in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II verweist auf den in § 30 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 SGB I allgemein geregelten gewöhnlichen Aufenthalt einer Person in Deutschland. Demnach hat eine Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo sie sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Regelung folgt einerseits dem allgemeinen Grundsatz, dass steuerfinanzierte Leistungen an den Wohnsitz anknüpfen1 sowie andererseits dem Grundgedanken , dass ein Sozialleistungssystem, welches in erster Linie die Wiedereingliederung der Arbeitsuchenden in den Arbeitsmarkt bezweckt, dieses Ziel vernünftigerweise nur dann realisieren kann, wenn der Betroffene einen bestimmten Aufenthaltsort innerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Leistungsträgers hat2. Keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben somit EU-Ausländer, die ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort außerhalb Deutschlands haben. Entscheidend ist hierbei der Lebensmittelpunkt des 1 Becker in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 7 Rn. 21. 2 Valgoligo in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 6/2017, § 7 Rn. 106 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 8 Anspruchstellers.3 Dabei ist unerheblich, ob der EU-Ausländer in Deutschland bereits gearbeitet hat4 oder eventuell sogar noch arbeitet. Auch deutsche Staatsangehörige, die ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort ins Ausland verlegen, haben keinen Leistungsanspruch nach dem SGB II.5 2.2.2. Leistungsausschluss für Ausländer Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II werden wiederum bestimmte erwerbsfähige Leistungsberechtigte von der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn sie gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben . Neben dem Ausschluss von Leistungsberechtigten nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG), § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II, werden unter bestimmten Voraussetzungen Ausländer von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 2 SGB II. 2.2.2.1. Leistungsausschluss in den ersten drei Monaten des Aufenthalts Ausländer einschließlich ihrer Familienangehörigen sind gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts grundsätzlich von den Leistungen ausgeschlossen. Der befristete Leistungsausschluss betrifft insbesondere Unionsbürger, die gemäß § 2 Abs. 5 Freizügigkeitsgesetz /EU (FreizügG/EU) ein voraussetzungsloses Aufenthaltsrecht in Deutschland für die Dauer von drei Monaten genießen. Von dem Leistungsausschluss werden drei Rückausnahmen gemacht, die folglich zu einer Leistungsberechtigung für Ausländer auch innerhalb der ersten drei Monate ihres Aufenthalts führen: Zunächst sind gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II Ausländer einschließlich ihrer Familienangehörigen nicht von den Leistungen ausgeschlossen, wenn sie in Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige sind. Weiterhin sind gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II Ausländer einschließlich ihrer Familienangehörigen nicht von den Leistungen ausgeschlossen, wenn sie in Deutschland gemäß § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind. Freizügigkeitsberechtigt im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU sind insbesondere Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige, die infolge einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend erwerbsgemindert sind. Letztlich bleibt in allen Fallgruppen des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU die Erwerbstätigeneigenschaft trotz Verlust des Arbeitsplatzes beziehungsweise der Beschäftigungsmöglichkeit bestehen,6 für die Aspekte der 3 Becker in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 7 Rn. 22. 4 Vgl. BSG vom 18.1.2011 – B 4 AS 14/10 R – Rn. 12 ff. 5 Valgoligo in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 6/2017, § 7 Rn. 107. 6 Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 2 FreizügG/EU Rn. 103. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 9 Freizügigkeit wird die beschäftigungslose Phase mit der eines Erwerbstätigen beziehungsweise Beschäftigten gleichgesetzt. Eine dritte Ausnahme zum grundsätzlichen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II enthält zudem § 7 Abs. 1 Satz 3 SGB II: Für den Fall, dass sich Ausländer mit einem Aufenthaltstitel aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) in Deutschland aufhalten, sind sie auch schon innerhalb der ersten drei Monate leistungsberechtigt. 2.2.2.2. Leistungsausschluss ab dem vierten Monat des Aufenthalts Nach Ablauf der ersten drei Monate des Aufenthalts in Deutschland ist für die Leistungsberechtigung der Aufenthaltszweck entscheidend. Nicht leistungsberechtigt sind ab dem vierten Monat gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II Ausländer einschließlich ihrer Familienangehörigen, die kein Aufenthaltsrecht haben, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (§ 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU) oder die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht aus dem Zweck der Arbeitsuche aus Art. 10 VO EU 492/2011 (Recht zum allgemeinen Schul- oder Ausbildungsbesuch) ableiten . 2.2.2.3. Leistungen ab dem sechsten Jahr des Aufenthalts Gem. § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II sind Ausländer leistungsberechtigt für Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben, solange nicht der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde. Hierbei kommt es explizit nicht auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts an. Der Gesetzgeber hat vielmehr die Verfestigung des Aufenthalts ab einem Zeitraum von fünf Jahren festgelegt .7 Ab diesem Zeitpunkt sind Ausländer nicht mehr von den Leistungen ausgeschlossen. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II beginnt die Fünfjahresfrist mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde, gemäß § 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II werden Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts , in denen eine Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 FreizügG/EU bestand, nicht auf die Frist angerechnet . Voraussetzung für eine solche Ausreisepflicht ist allerdings, dass der Verlust des Freizügigkeitsrechts von der Ausländerbehörde festgestellt wurde. Erwerbsfähige Leistungsberechtigte erhalten damit ab dem sechsten Jahr ihres Aufenthalts reguläre Leistungen nach dem SGB II entsprechend dem allgemein geltenden Grundsatz des Förderns und Forderns. 7 BT-Drs. 18/10211, S. 11, 14 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 10 2.3. SGB XII – Sozialhilfe 2.3.1. Verhältnis SGB XII zu SGB II Gemäß § 21 Satz 1 SGB XII beziehungsweise § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB II sind erwerbsfähige Personen im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II von den Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII ausgeschlossen. Erwerbsfähig sind gemäß der Legaldefinition Personen , die nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Das Bundessozialgericht schränkt allerdings die Reichweite des Leistungsausschlusses in § 21 Satz 1 SGB XII ein: Der Leistungsausschluss gelte nicht für Personen, die trotz Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind.8 Es bezieht sich dabei speziell auf den Wortlaut des § 21 Satz 1 SGB XII, welcher nur Personen von Leistungen nach dem SGB XII ausschließt, die „als Erwerbsfähige (…) dem Grunde nach leistungsberechtigt sind“. Das Bundessozialgericht stellt damit nicht mehr abschließend auf die Erwerbsfähigkeit gemäß § 8 Abs. 1 SGB II ab, sondern auf die tatsächlich Leistungsberechtigung nach dem SGB II. Insbesondere EU-Ausländer, die zwar erwerbsfähig sind, aber etwa gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, seien nicht von dem Leistungsausschluss erfasst.9 Diese Ausnahme vom Leistungsausschluss ist in der untergerichtlichen Rechtsprechung stark umstritten und wird teilweise mit Verweis auf Art. 20 Abs. 3 GG nicht angewandt .10 Der Gesetzgeber hat auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts umgehend reagiert und die Leistungen für Ausländer nach dem SGB II und SGB XII neu geregelt. Durch das „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch “ vom 22. Dezember 201611 werden Ausländer innerhalb der ersten fünf Jahre ihres Aufenthalts in Deutschland grundsätzlich von Leistungen nach dem SGB II und SGB XII ausgeschlossen .12 8 BSG vom 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 40 ff.; vgl. hierzu auch BT-Drs. 18/10211, S. 11 sowie die Entscheidungsbesprechung von Thym, Sozialhilfe für erwerbsfähige Unionsbürger: Das Bundessozialgericht auf Umwegen , NZS 2016, S. 441; BSG vom 20.1.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 34 ff.; BSG vom 30.8.2017 – B 14 AS 31/16 R – Rn. 33. 9 So ausdrücklich BSG vom 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 43. 10 Vgl. Grube in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl. 2018, § 21 Rn. 5 m. w. N.; vgl. auch mit Verweis auf das Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG SG Berlin vom 9.7.2018 – S 135 AS 23938/15 – Rn. 62. 11 BT-Drs. 18/10211, vgl. insbesondere zur Zielsetzung der Regelungen S. 11. 12 Vgl. zum Leistungsausschluss im SGB II oben 2.2.2., S. 8 ff.; zum Leistungsausschluss im SGB XII unten 2.3.3., S. 11 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 11 2.3.2. Territorialitätsprinzip § 19 SGB XII regelt die Leistungsberechtigten für Leistungen der Sozialhilfe. Ergänzt werden diese Festsetzungen von Spezialnormen zur Leistungsberechtigung in den jeweiligen, die einzelnen Sozialhilfeleistungen regelnden Kapiteln des SGB XII. So werden in § 27 SGB XII die Leistungsberechtigung für die Hilfe zum Lebensunterhalt und in § 41 SGB XII die Leistungsberechtigung für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung festgelegt. Diese Spezialregelungen der einzelnen Leistungsarten der Sozialhilfe stellen nur teilweise auf den gewöhnlichen Aufenthalt ab: Während § 19 Abs. 1 SGB XII in Verbindung mit § 27 SGB XII keine Festsetzungen in Hinblick auf den Aufenthalt des Anspruchstellers treffen, stellen § 19 Abs. 2 SGB XII in Verbindung mit § 41 Abs. 1 SGB XII für die Leistungsberechtigung auf den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland ab. Dementsprechend kommt es für die Leistungsberechtigung für Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung auf den gewöhnlichen Aufenthaltsort im Inland an, während für Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt der Aufenthaltsort im Rahmen des Tatbestands der Leistungsberechtigung zunächst nicht maßgeblich ist. Allerdings enthalten die §§ 23, 24 SGB XII Sondervorschriften für Ausländer (§ 23 SGB XII) und für Deutsche im Ausland (§ 24 SGB XII): 2.3.3. Leistungen für Ausländer 2.3.3.1. Leistungsausschluss § 23 SGB XII regelt die Sozialhilfeansprüche für Ausländer. Gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII besteht zwar grundsätzlich ein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege. Im Übrigen kann grundsätzlich gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII Sozialhilfe nach pflichtgemäßen Ermessen gewährt werden . Abweichend hiervon enthalten die § 23 Abs. 2, 3 SGB XII die entscheidenden Ausnahmevorschriften . Zunächst haben gemäß § 23 Abs. 2 SGB XII Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG keinen Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe. Ergänzend schließt § 23 Abs. 3 Satz 1, 2 SGB XII entsprechend der Regelungen bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende in § 7 Abs. 1 Satz 2, 3 SGB II13 Ausländer von den Leistungen der Sozialhilfe aus. § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 3 SGB XII regeln den Leistungsausschluss innerhalb der ersten drei Monate des Aufenthalts, § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, 3 SGB XII regeln den Leistungsausschluss ab dem vierten Aufenthaltsmonat. Einzige Besonderheit der Ausschlussregelungen im SGB XII ist der Leistungsausschluss in § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB XII für diejenigen Ausländer und ihre Familienangehörigen, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen. Ebenfalls nach fünf Jahren erhalten Ausländer und ihre Familienangehörigen umfassende Leistungen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 7 SGB XII. 13 Vgl. oben 2.2.2., S.8 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 12 2.3.3.2. Überbrückungsleistungen Innerhalb der ersten fünf Jahre haben Ausländer allerdings Ansprüche auf Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 2 Satz 3–6 SGB XII. Nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII wird ihnen bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren eingeschränkte Hilfe gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen). Die Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen. Voraussetzung für die Leistungserbringung ist allerdings ein erkennbarer Ausreisewille.14 Die Überbrückungsleistungen umfassen gemäß § 23 Abs. 3 Satz 5 SGB XII - Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege (Nr. 1), - Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe (Nr. 2), - die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen und (Nr. 3), - Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft nach § 50 Nr. 1–3 SGB XII (Nr. 4). § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII enthält zudem eine Härtefallklausel. Soweit besondere Umstände es im Einzelfall erfordern, werden weitere Leistungen zu Überwindung einer besonderen Härte erbracht beziehungsweise wird die Leistung über den Zeitraum von einem Monat hinaus erbracht. 2.3.3.3. Angemessene Kosten der Rückreise Darüber hinaus werden für Ausländer gemäß § 23 Abs. 3a SGB XII auch die angemessenen Kosten der Rückreise übernommen. Dieser Anspruch ist antragsabhängig und wird formal durch die Gewährung eines Darlehens erfüllt. Die Rückzahlung erfolgt aber nur, wenn die Ausreisenden wieder nach Deutschland zurückkehren, die Rückforderung gegen sich im Ausland aufhaltende Darlehensschuldner wird hingegen aufgrund bürokratischer Hindernisse in der Praxis nicht durchgeführt.15 2.3.4. Leistungen für Deutsche im Ausland Gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB XII sind deutsche Staatsangehörige, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, grundsätzlich von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen. Demnach sind sie auch von denjenigen Leistungen der Sozialhilfe ausgeschlossen, die nicht auf 14 SG München vom 30.1.2017 – S 40 AS 3074/16 ER – Rn. 47. 15 Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl. 2018, § 23 Rn. 83. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 13 den tatsächlichen Aufenthaltsort des Leistungsberechtigten im Inland abstellen, wie insbesondere die Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt, § 19 Abs. 1 SGB XII in Verbindung mit § 27 SGB XII.16 Eine Rückausnahme vom Leistungsausschluss für deutsche Staatsangehörige im Ausland enthält § 24 Abs. 1 Satz 2 SGB XII. Im Einzelfall können bestimmte Sozialhilfeleistungen auch an deutsche Staatsangehörige gewährt werden, die sich im Ausland aufhalten. Zunächst ist hierfür eine außergewöhnliche Notlage erforderlich aufgrund welcher die Leistungsgewährung unabweisbar sein muss. Zudem darf eine Rückkehr in das Inland aus folgenden objektiven Gründen nicht möglich sein: - Pflege und Erziehung eines Kindes, das aus rechtlichen Gründen im Ausland bleiben muss, Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, - längerfristige stationäre Betreuung in einer Einrichtung, Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Alt. 1, - Schwere der Pflegebedürftigkeit, Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Alt. 2, - hoheitliche Gewalt, Abs. 1 Satz 2 Nr. 3. Gemäß § 24 Abs. 2 SGB XII werden die Leistungen allerdings nicht erbracht, soweit sie von dem hierzu verpflichteten Aufenthaltsland oder von anderen erbracht werden oder zu erwarten sind. Die Leistungen werden nur auf Antrag gewährt, § 24 Abs. 4 Satz 1 SGB XII. Art und Maß der Leistungserbringung sowie der Einsatz des Einkommens und des Vermögens richten sich nach den besonderen Verhältnissen im Aufenthaltsland, § 24 Abs. 3 SGB XII. Zudem steht die Leistung im Ermessen der Behörde. Liegen die engen Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 Satz 2 SGB XII vor, dürfte das Entschließungsermessen der Behörde, von seltenen Einzelfällen abgesehen, aber auf Null reduziert sein (intendiertes Ermessen), weil existenzielle Rechtsgüter des Hilfesuchenden gefährdet sind und keine andere Möglichkeit besteht, diese Gefahr abzuwenden , so dass öffentliche Belange in aller Regel zurücktreten müssen.17 In der Kommentarliteratur ist umstritten, welche Leistungen zu erbringen sind. Teilweise wird angenommen, die in § 8 SGB XII aufgeführten Leistungen seien nicht maßgeblich, die Art der Leistungen bestimme sich vielmehr nach den besonderen Verhältnissen im Aufenthaltsland.18 Nach anderer Ansicht sollen die in § 8 SGB XII aufgeführten Leistungen prinzipiell anwendbar sein. Nicht anwendbar seien hingegen jedenfalls die Leistungen der Grundsicherung im Alter 16 Vgl. oben 2.3.2., S 10. 17 Coseriu in: Coseriu/Eicher/Siefert, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 24 Rn. 44. 18 Coseriu in: Coseriu/Eicher/Siefert, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 24 Rn. 56; Groth in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm /Udsching, BeckOK Sozialrecht, 49. Edition, Stand 1.6.2018, § 24 SGB XII Rn. 9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 14 und bei Erwerbsminderung, da gemäß § 41 Abs. 1 SGB XII nur Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland leistungsberechtigt sind.19 Die Leistungen umfassen demnach insbesondere die Hilfe zum Lebensunterhalt, §§ 27 ff. SGB XII. 3. Rechtlicher Rahmen nach EU-Recht Die inhaltliche Ausgestaltung der Systeme der sozialen Sicherheit obliegt den Mitgliedstaaten. Das betrifft unter anderem Fälle wie sie durch SGB II und SGB XII erfasst werden. Eine Harmonisierung durch die EU hat es in diesen und anderen Bereichen der sozialen Sicherheit bisher nicht gegeben. Sie wäre ohnehin nur einschränkt möglich, da die hierfür einschlägigen Rechtsgrundlagen in Art. 153 Abs. 2 Buchst. b AEUV in Verbindung mit Art. 153 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 4 Splgstr. 1 AEUV sowohl in materieller als auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht sehr restriktiv ausgestaltet sind.20 Hieraus folgt zwar, dass die Mitgliedstaaten weiterhin zuständig sind zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang sie Leistungen der sozialen Sicherheit wie die nach SGB II oder SGB XII gewähren.21 Ungeachtet einer fehlenden (inhaltlichen) Harmonisierung dürfen die Mitgliedstaaten diese Zuständigkeit allerdings nur unter Beachtung des (sonstigen) Unionsrechts ausüben.22 Die in diesem Bereich einschlägigen Grenzen ergeben sich dabei vor allem aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der allgemeinen Freizügigkeit und dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit (3.1.). Daneben sind die EU-Vorgaben zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zu beachten (3.2.). 3.1. Unionsrechtliche Grenzen mitgliedstaatlicher Ausgestaltung der Systeme der sozialen Sicherheit Materielle Schranken für die mitgliedstaatliche Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme ergeben sich vor allem aus dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Ist sein jeweiliger Anwendungsbereich eröffnet, verbietet es Ungleichbehandlungen von ausländischen Unionsbürgern im Verhältnis zu Inländern des betreffenden Mitgliedstaates beziehungsweise gebietet es die Gleichstellung dieser beiden Personengruppen. Abweichungen hiervon bedürfen der 19 Schlette in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand 9/2016, § 24 Rn. 35; Bieback in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl. 2018, § 24 Rn. 36. 20 So darf die EU unter anderem nur Richtlinien mit Mindestvorschriften erlassen, die die in den Mitgliedstaaten bestehenden Bedingungen und technischen Regelungen beachten müssen (vgl. Art. 153 Abs. 2 Buchst. b UAbs. 1 AEUV). Diese Richtlinien können im Bereich der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer zudem nur einstimmig erlassen werden (vgl. Art. 153 Abs. 2 Buchst. b UAbs. 3 AEUV). Darüber hinaus dürfen diese Richtlinien „nicht die anerkannte Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen, [berühren,] und dürfen das finanzielle Gleichgewicht dieser Systeme nicht erheblich beeinträchtigen“ (vgl. Art. 153 Abs. 4 Spgstr. 1 AEUV). Siehe hierzu etwa Benecke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, das Recht der Europäischen Union, Art. 153 AEUV (56. Erglfg. April 2015), Rn. 5 ff., 68 ff. 21 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 14.6.2016, Rs. C-308/14 (Kommission/Vereinigtes Königreich), Rn. 65. 22 Vgl. EuGH, Urt. 14.10.2010, Rs. C-345/09 (Delft u. a.), Rn. 84. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 15 Rechtfertigung oder müssen unions(-sekundär-)rechtlich vorgesehen sein. Dies gilt auch im Hinblick auf die hier im Zentrum stehende Ausgestaltung von Leistungen nach SGB II oder SGB XII, sofern deren Vorschriften in den Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots fallen und ein Aufenthaltsrecht besteht (3.1.1.). Einer gesonderten Erwähnung bedarf insoweit das Daueraufenthaltsrecht (3.1.2.). 3.1.1. Diskriminierungsverbot und Aufenthaltsrecht Voraussetzung dafür, dass die Vorschriften des SGB II oder SGB XII am Maßstab des Unionsrechts zu prüfen sind, ist zunächst, dass sie auf ausländische Unionsangehörige anwendbar sind beziehungsweise diese betreffen. Das ist – wie oben dargestellt – der Fall.23 Zum anderen müssen sich ausländische Unionsbürger im konkreten Fall24 – je nach persönlicher Situation – insbesondere auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV25 oder auf die allgemeine unionsbürgerliche Freizügigkeit nach Art. 21 Abs. 1 AEUV berufen können. Während die Arbeitnehmerfreizügigkeit als Grundfreiheit selbst ein Aufenthaltsrecht (vgl. Art. 45 Abs. 3 Buchst. b u. c AEUV) und ein Diskriminierungsverbot (vgl. Art. 45 Abs. 2 AEUV) beinhaltet,26 gewährt die allgemeine Freizügigkeit an sich zwar nur ein Bewegungs- und insbesondere ein Aufenthaltsrecht (vgl. Art. 21 Abs. 1 AEUV). Sind die Voraussetzungen dafür erfüllt, wird hierdurch aber zugleich der (sachliche) Anwendungsbereich des allgemeinen Diskriminierungsverbots aus Art. 18 Abs. 1 AEUV eröffnet, so dass der Freizügigkeitsberechtigte während seines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat Schutz vor Diskriminierungen genießt.27 Fehlt es hingegen an den aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen, kann die betreffende Person kein Aufenthaltsrecht nach Art. 21 Abs. 1 AEUV und damit auch keinen Anspruch auf Gleichbehandlung geltend machen.28 23 Siehe oben unter 2.2.2., S. 8 ff. sowie 2.3.3., S. 11 ff. 24 Einer Betroffenheit im konkreten Fall bedarf es nicht, wenn die betreffenden mitgliedstaatlichen Vorschriften etwa im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens Gegenstand einer Prüfung am Maßstab des Unionsrechts sind. Dafür genügt, dass sie auf aufenthaltsberechtigte EU-Ausländer anwendbar sind bzw. diese von Leistungen ausschließen. 25 Arbeitnehmern insoweit gleichgestellt sind selbständig Erwerbstätige, die bei dauerhafter Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV unterfallen. Für diese Personengruppe gelten im Grundsatz die gleichen Vorgaben und Rechte wie für Arbeitnehmer im Sinne des Art. 45 AEUV, vgl. hierzu etwa EuGH, Urt. v. 20.12.2017, Rs. C-442/16 (Gusa), Rn. 26 ff., insb. 35 ff. Im Folgenden wird daher auf eine gesonderte Erörterung der Situation von selbständig Erwerbstätigen verzichtet. 26 Die Arbeitnehmerfreizügigkeit und auch die Niederlassungsfreiheit beinhalten darüber hinaus noch ein unterschiedslose Maßnahmen erfassendes Beschränkungsverbot, vgl. Koenig/Haratsch/Pechstein, Europarecht, 11. Aufl. 2018, Rn. 954 ff., 1006 ff., jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. Das Beschränkungsverbot spielt für die vorliegenden Fragen keine Rolle und wird daher im Folgenden nicht weiter erörtert. 27 Vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 59, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 28 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 49; EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 69; EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 38 – jeweils im Zusammenhang mit dem Zugang zu sozialen Leistungen im Aufenthaltsmitgliedstaat. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 16 Auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV können sich Arbeitnehmer im Sinne dieser Vorschrift29 und – in reduziertem Umfang – auch Arbeitsuchende berufen,30 ohne weitere Voraussetzungen erfüllen zu müssen.31 Personen, die diese Eigenschaften nicht aufweisen,32 steht hingegen an erster Stelle die allgemeine Freizügigkeit nach Art. 21 Abs. 1 AEUV offen. Das daraus folgende Aufenthaltsrecht ist jedoch beispielsweise bei Aufenthalten von mehr als drei Monaten an die Voraussetzung geknüpft, dass die betreffende Person über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen muss.33 Diese Voraussetzung sowie weitere Bedingungen und auch Ausnahmen vom Diskriminierungsverbot ergeben sich dabei nicht aus dem Primärrecht, sondern sind sekundärrechtlich vorgesehen und gestalten insoweit die primärrechtlichen Vorgaben aus.34 Zu nennen ist hier an erster Stelle die sogenannte Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG (im Folgenden: Freizügigkeitsrichtlinie oder RL 2004/38).35 Dieser Rechtsakt konkretisiert – zum Teil in Anknüpfung an die Rechtsprechung des EuGH zu den primärrechtlichen Bestimmungen – das sich aus den personenbezogenen Grundfreiheiten und der Freizügigkeit nach Art. 21 Abs. 1 AEUV ergebende Aufenthaltsrechtsregime .36 In diesem Rechtsakt finden sich sowohl die Voraussetzung ausreichender Existenzmittel bei Aufenthalten von mehr als drei Monaten (vgl. Art. 7 Abs. 1 Buchst. b u. c RL 2004/38), als auch eine sekundärrechtliche Verankerung des Diskriminierungsverbots (vgl. Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38) sowie Ausnahmen von diesem (vgl. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38). Letztere betreffen – wie noch zu zeigen sein wird – unter anderem auch die hier relevanten Fallgruppen, die unten erörtert werden.37 29 Koenig/Haratsch/Pechstein, Europarecht, 11. Aufl. 2018, Rn. 931 ff., mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 30 Vgl. insbesondere EuGH, Urt. v. 23.3.2004, Rs. C-138/02 (Collins), Rn. 58 ff.; EuGH, Urt. v. 15.9.2005, Rs. C-258/04 (Ioannidis), Rn. 21 f., wonach Arbeitsuchende Gleichbehandlung nur hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung bzw. zum Arbeitsmarkt genießen, nicht aber in Bezug auf steuerliche und soziale Vergünstigung, die eine (bestehende) abhängige Beschäftigung voraussetzen. 31 Vgl. in diesem Sinne EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 75. 32 Und die auch nicht selbstständig erwerbstätig sind, so dass sie der Niederlassungsfreiheit unterliegen (Fn. 25). 33 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 70 ff., insbesondere Rn. 75. 34 Vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 61, 64. 35 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten , zur Änderung […], ABl.EU 2004 Nr. L 158/77, konsolidierte Fassung online abrufbar unter https://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02004L0038-20110616&from=DE (letztmaliger Abruf am 24.09.18). 36 Vgl. v. a. Erwägungsgründe Nr. 1 bis 4 der Freizügigkeitsrichtlinie (Fn. 35). 37 Siehe unten unter 4., S. 22 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 17 Hinzuweisen ist ferner auf die sogenannte Freizügigkeitsverordnung38 (im Folgenden: Freizügigkeitsverordnung 492/2011 oder VO 492/2011), die vor allem eine Konkretisierung der sich aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit ergebenden Ansprüche auf Gleichbehandlung im Zusammenhang mit dem Zugang zur und der Ausübung der Beschäftigung beinhaltet. Aus den geschilderten inhaltlichen Vorgaben des Primär- und Sekundärrechts folgt insgesamt, dass die im SGB II und SGB XII vorgesehenen Vorschriften im Zusammenhang mit ausländischen Unionsbürgern und ihrem Zugang beziehungsweise Ausschluss von Leistungen nach diesen Gesetzen materiell am Maßstab des Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu messen sind, soweit der betreffenden Person ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zusteht. Daraus ergibt sich zugleich eine bestimmte Prüfungsreihenfolge, die sich auch in den einschlägigen Entscheidungen des Gerichtshofs widerspiegelt: Zuerst wird nach dem Bestehen eines Aufenthaltsrechts gefragt und erst im Fall seiner Bejahung das Diskriminierungsverbot und eventuelle Ausnahmen hiervon untersucht.39 Diese Prüfungsfolge wird auch bei der Erörterung der hier erfragten Fallgruppen zugrunde gelegt.40 Dabei lassen die jüngeren Entscheidungen des EuGH erkennen, dass entsprechende Prüfungen nicht (mehr) unmittelbar am Maßstab der primärrechtlichen Gewährleistungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV, des Diskriminierungsverbots nach Art. 18 Abs. 1 AEUV und der allgemeinen Freizügigkeit gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgenommen werden.41 Vielmehr wird das diese Bestimmungen konkretisierende Sekundärrecht unmittelbar herangezogen, allen voran die eben erwähnte Freizügigkeitsrichtlinie.42 Dies entspricht im Übrigen dem Grundsatz, wonach die sekundärrechtliche Konkretisierung des Unionsgesetzgebers vorrangig vor den ausgestaltbaren Bestimmungen des Primärrechts (als Prüfungsmaßstab) anzuwenden sind.43 Dessen ungeachtet bleiben die primärrechtlichen Wertungen und Vorgaben auch für das Sekundärrecht 38 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl.EU 2011 Nr. L 141/1, letzte konsolidierte Fassung online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02011R0492- 20180513&qid=1535443278989&from=DE (letztmaliger Abruf am 24.09.18). 39 EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 51; EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 40. 40 Siehe unten unter 4., S. 22 ff. 41 Zum Teil begünstigt durch die Vorlagefragen mitgliedstaatlicher Gerichte, die zumindest auch nach der Auslegung der Freizügigkeitsrichtlinie fragen, vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 45; EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 38; EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 34. 42 Vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 56 ff.; EuGH, Urt. v. 15.09.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic ), Rn. 48 ff.; EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 36 ff. Siehe auch Koenig/ Haratsch/Pechstein, Europarecht, 11. Aufl. 2018, Rn. 749. 43 Vgl. zu diesem Rechtsgrundsatz Ludwigs, in: Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I. Grundregeln (42. EL August 2017), Rn. 50, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung; Koenig/Haratsch/Pechstein, Europarecht , 11. Aufl. 2018, Rn. 842 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 18 maßgeblich beziehungsweise darf dieses dahinter nicht zurückbleiben.44 Aus diesem Grund erfolgt die Erörterung der hier erfragten Fallgruppen zwar primär am Maßstab insbesondere der Freizügigkeitsrichtlinie, auf die primärrechtlichen Bezugspunkte der einschlägigen Richtlinienvorschriften wird jedoch ebenfalls hingewiesen. 3.1.2. Daueraufenthaltsrecht Neben den aus Art. 21 AEUV sowie den personenbezogenen Grundfreiheiten folgenden Aufenthaltsrechten sieht die Freizügigkeitsrichtlinie noch ein weiteres Aufenthaltsrecht vor, das sogenannte Recht auf Daueraufenthalt, welches in einem gesonderten Kapitel dieses Rechtsaktes geregelt wurde (Kap. IV, Art. 16 bis 21 RL 2004/38). Es steht nach Art. 16 Abs. 1 S. 1 RL 2004/38 jedem Unionsbürger zu, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat. Die gegebenenfalls für andere Aufenthaltsrechte vorgesehenen Voraussetzungen , etwa der Nachweis ausreichender Existenzmittel, gelten für diese Rechtsposition nicht, vgl. Art. 16 Abs. 1 S. 2 RL 2004/38. Wurde dieses Recht erworben, führt nach Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38 nur eine mehr als zweijährige Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat zu seinem Verlust. Zwar stehen im Lichte der angefragten Fallgruppen andere Aufenthaltsrechte als das Recht auf Daueraufenthalt im Vordergrund. Gleichwohl soll im Folgenden der Vollständigkeit halber auf die damit einhergehende Inländergleichbehandlung kurz eingegangen werden. Ebenso wie Inhabern anderer Aufenthaltsrechte nach der Freizügigkeitsrichtlinie steht auch den daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgern die Berufung auf das Diskriminierungsverbot des Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 zu. Der daraus folgende Anspruch auf Gleichbehandlung mit Inländern unterliegt – anders als bei einigen anderen Aufenthaltsrechtskonstellationen – jedoch keinen Ausnahmen, insbesondere nicht im Hinblick auf den Zugang zu Sozialhilfe im Sinne des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38. Daueraufenthaltsberechtigte Unionsbürger genießen daher nach der Freizügigkeitsrichtlinie, ebenso wie Arbeitnehmer, umfassende und ausnahmslose Gleichbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat, auch im Zusammenhang mit dem Zugang zu sozialen Leistungen aller Art wie beispielsweise nach SGB II oder SGB XII. Dessen ungeachtet gilt auch hier, wie generell im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit, dass mitgliedstaatliche Einschränkungen gleichwohl möglich bleiben, wenn sie gerechtfertigt sind und insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen.45 Wie oben ausgeführt, stehen daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgern Leistungen nach SGB II und SGB XII zu.46 44 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 4.6.2009, verb. Rs. C-22/08 u. 23/08 (Vatsouras u. Koupatantze), Rn. 44 f. Siehe auch Koenig/Haratsch/Pechstein, Europarecht, 11. Aufl. 2018, Rn. 842. 45 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 4.10.2012, Rs. C-75/11 (Kommission/Österreich), Rn. 49 ff., insb. 52. Siehe ferner Koenig/Haratsch/Pechstein, Europarecht, 11. Aufl. 2018, Rn. 766 f. 46 Siehe oben unter 2.2.2.3., S. 9 f ., sowie 2.3.3.1., S. 11 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 19 3.2. EU-Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit Weitere unionsrechtliche Vorgaben für den Bereich der sozialen Sicherheit ergeben sich aus der Koordinierung mitgliedstaatlicher Systeme sozialer Sicherheit. Die hierfür vorgesehene Rechtsgrundlage war von Anbeginn im Primärrecht vorgesehen und findet sich nun in Art. 48 AEUV. Der darin enthaltende Rechtssetzungsauftrag wird derzeit durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit47 (im Folgenden: Verordnung 883/2004 oder VO 883/2004) umgesetzt (3.2.1.).48 Sie enthält auch Vorschriften, die die Leistungen nach SGB II und SGB XII erfassen (3.2.2.). 3.2.1. Verordnung 883/2004 Ihr Koordinierungsanliegen erreicht die Verordnung 883/2004 vor allem durch die Bestimmung des jeweils anwendbaren mitgliedstaatlichen (Sozial-)Rechts (vgl. Art. 11 ff. VO 883/2004).49 Hierdurch sollen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten zum einen die gleichzeitige Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten vermieden werden (vgl. Art. 11 Abs. 1 S. 1 VO 883/2004); zum anderen soll verhindert werden, dass Personen der Schutz im Bereich der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil gar keine Rechtsvorschriften auf sie anwendbar sind.50 Allgemeiner formuliert geht es nach dem Rechtssetzungsauftrag in Art. 48 AEUV darum, mögliche Nachteile, die sich aus der Wahrnehmung der wirtschaftsbezogenen Personenfreiheiten für die soziale Absicherung ergeben, zu beseitigen .51 Vorbehaltlich von Sonderregelungen bestimmen die in Art. 11 Abs. 3 Buchst. a) bis e) VO 883/2004 enthaltenen Kollisionsnormen52, welches mitgliedstaatliche (Sozial-)Recht zur Anwendung gelangt: Danach unterliegen Arbeitnehmer und Selbständige grundsätzlich dem Recht des 47 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl.EU 2004 Nr. L 166/1 (letzte konsolidierte Fassung online abrufbar unter http://eur-lex.europa .eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:2004R0883:20130701:DE:PDF – letztmaliger Abruf am 24.09.18). 48 EuGH, Urt. v. 19.9.2013, Rs. C-140/12 (Brey), Rn. 43. Allgemein zu dem im EU-Recht nicht näher definierten Begriff der Koordinierung, insbesondere in Abgrenzung zur sog. Harmonisierung, vgl. etwa Schulte, in: Maydell/Ruland/Becker, Sozialrechtshandbuch, 5. Aufl. 2012, § 33, Rn. 31. 49 Vgl. hierzu etwa EuGH, Urt. v. 14.6.2016, Rs. C-308/14 (Kommission/Vereinigtes Königreich), Rn. 63 ff. 50 Vgl. EuGH, Urt. v. 14.6.2016, Rs. C-308/14 (Kommission/Vereinigtes Königreich), Rn. 64; EuGH, Urt. v. 19.9.2013, Rs. C-140/12 (Brey), Rn. 40, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 51 Vgl. in Bezug auf die Zusammenschau der Bestimmungen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie Niederlassungsfreiheit EuGH, Urt. v. 19.3.2002, verb. Rs. C-393/99 und C-394/99 (Hervein u. a.), Rn. 44 ff., insb. Rn. 47. 52 Zum Begriff siehe Schulte, in: Maydell/Ruland/Becker, Sozialrechtshandbuch, 5. Aufl. 2012, § 33, Rn. 75. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 20 Mitgliedstaates, in dem sie erwerbstätig sind (Buchst. a), wirtschaftlich nicht aktive Personen dagegen überwiegend den Vorschriften des Wohnmitgliedstaates (vgl. Buchst. c und e).53 Welche Leistungen beziehungsweise Zweige der sozialen Sicherheit von den Koordinierungsvorschriften der Verordnung 883/2004 erfasst werden, ergibt sich aus der Aufzählung in Art. 3 VO 883/2004 zum sachlichen Geltungsbereich dieses Rechtsaktes. Nach dessen Absatz 1 sind etwa Leistungen bei Krankheit (Buchst. a), Alter (Buchst. d), Arbeitslosigkeit (Buchst. h) und Familienleistungen (Buchst. j) erfasst. Leistungen wie sie das SGB II und SGB XII vorsehen, fallen zwar nicht in den Katalog des Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004, insbesondere handelt es sich hierbei nicht um Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Sinne von Buchst. h. Sie unterliegen jedoch auch nicht der sozialen Fürsorge, die nach Art. 3 Abs. 5 Buchst. a VO 883/2004 von dem Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen ist. Vielmehr unterfallen sie der Kategorie sogenannter besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen nach Art. 3 Abs. 3 VO 883/2004 (dazu sogleich). Weitere zentrale Bestimmungen der Verordnung 883/2004 sind das sogenannte Exportprinzip, wonach die Leistungsgewährung nicht dadurch beeinträchtigt werden darf, dass die anspruchsberechtigte Person in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnt (vgl. Art. 7 VO 883/2004), der Grundsatz der Sicherstellung von Anwartschaften (vgl. Art. 6 VO 883/2004) sowie das auf den Anwendungsbereich der Verordnung bezogene Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (vgl. Art. 4 VO 883/2004). 3.2.2. Verordnung 883/2004 und Leistungen nach SGB II und SGB XII Unter besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen versteht die VO 883/2004 nach dem einschlägigen Art. 70 Abs. 1 VO 883/2004 solche, die „sowohl Merkmale der in Art. 3 Absatz 1 genannten Rechtvorschriften der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozialhilfe aufweisen.“ Weitere Definitionsmerkmale enthält Art. 70 Abs. 2 Buchst. a bis c 883/2004. Von entscheidender Bedeutung ist dabei Buchst. c dieser Vorschrift, wonach die Leistungen in Anhang X der Verordnung 883/2004 aufgeführt sein müssen. Für Deutschland finden sich dort folgende Einträge: „a) Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch. b) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende, soweit für diese Leistungen nicht dem Grunde nach die Voraussetzungen für den befristeten Zuschlag nach Bezug von Arbeitslosengeld (§ 24 Absatz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch ) erfüllt sind.“ Danach unterfallen auch die hier gegenständlichen Leistungen nach SGB II (Grundsicherung für Arbeitslose – Buchst. b) und SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – 53 Zu beiden Grundregeln finden sich in den Art. 12 ff. VO 883/2004 Ausnahmen für besondere Fallkonstellationen . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 21 Buchst. a) als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen der unionsrechtlichen Koordinierung nach der Verordnung 883/2004.54 Die Koordinierungsvorgaben hierzu enthalten Art. 70 Abs. 3 und 4 VO 883/2004. Nach Art. 70 Abs. 4 VO 883/2004 werden derartige Leistungen „ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, und nach dessen Rechtsvorschriften gewährt. Die Leistungen werden vom Träger des Wohnorts und zu seinen Lasten gewährt.“ (3.2.2.1.) Nach Art. 70 Abs. 3 VO 883/2004 gelten Art. 7 VO 883/2004 (Exportprinzip) und die anderen Kapitel des Titels II über besondere Bestimmungen über die verschiedenen Arten von Leistungen (Art. 17 bis 69 VO 883/2004) nicht für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen. Anwendung findet hingegen das koordinierungsrechtliche Diskriminierungsverbot aus Art. 4 VO 883/2004 (3.2.2.2.). 3.2.2.1. Wohnsitz als Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des anwendbaren (Sozial-) Rechts und Günstigkeitsprinzip Für die hier relevanten Fälle bedeutet dies erstens, dass in Bezug auf besondere beitragsunabhängige Geldleistungen der Wohnort des betreffenden EU-Ausländers über die Zuständigkeit des jeweiligen mitgliedstaatlichen Systems der sozialen Sicherheit entscheidet. Soweit den von Seiten des Auftraggebers erfragten Fallgruppen die Annahme zugrunde liegt, dass der betreffende ausländische Unionsbürger seinen Wohnort in Deutschland hat,55 ist davon auszugehen, dass das deutsche Recht einschlägig ist und die Person den betreffenden Rechtsvorschriften im SGB II beziehungsweise SGB XII unterliegt. Fehlt es an einem Wohnort in Deutschland, gebietet das Koordinierungsrecht zwar keine Anwendung der deutschen Vorschriften zu diesen beiden besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen . Allerdings steht das Unionsrecht in solchen Fällen nicht entgegen, wenn die einschlägigen Vorschriften des nicht zuständigen Mitgliedstaates gleichwohl eine Leistungsgewährung vorsehen . Denn nach einem in der Rechtsprechung des EuGH entwickelten Rechtsgrundsatz – im Schrifttum auch als Günstigkeitsprinzip bezeichnet56 – ist es den Mitgliedstaaten unbenommen, freizügigkeitsberechtigten Personen und deren Familienmitgliedern ein Mehr an sozialer Sicherheit einzuräumen, als sich aus den Vorgaben des (koordinierenden) EU-Sozialrechts ergibt.57 Es wäre und ist Deutschland somit nicht verwehrt, Leistungen nach SGB II oder SGB XII auch bei Wohnort im EU-Ausland zu gewähren. 54 Siehe in Bezug auf SGB II-Leistungen Derksen, Keine Grundsicherung für Arbeitsuchende für EU-Ausländer?, ZAR 2016, S. 324 (326). 55 Unter Wohnort im Sinne der Verordnung 883/2004 wird nach der Legaldefinition in Art. 1 Buchst. j VO 883/2004 der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts verstanden. 56 Siehe hierzu Devetzi, Familienleistungen im Kontext der Freizügigkeit: Rechtsprechung und aktuelle Entwicklungen , NZS 2017, S. 881 (883 f.). 57 EuGH, Urt. v. 12.6.2012, verb. Rs. C-611/10 u. 612/10 (Hudzinski u. Wawrzyniak), Rn. 55. Siehe auch EuGH, Urt. v. 16.7.2009, Rs. C-208/07 (Von Chamier-Glisczinski), Rn. 56. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 22 3.2.2.2. Beachtung des koordinierungsrechtlichen Diskriminierungsverbots Von Bedeutung ist für die Kategorie der besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen ferner, dass auch das Diskriminierungsverbot der Verordnung 883/2004 in Art. 4 zu beachten ist, da es – anders als das Exportprinzip in Art. 7 VO 883/2004 – nach Art. 70 Abs. 3 VO 883/2004 nicht von der Anwendung auf diese Leistungszweig der sozialen Sicherheit ausgeschlossen ist.58 Da Art. 4 VO 883/2004 in Verbindung mit den sonstigen Vorschriften der Verordnung 883/2004 jedoch im Gegensatz zum Diskriminierungsverbot der Freizügigkeitsrichtlinie nach Art. 24 RL 2004/38 weder an ein Aufenthaltsrecht knüpft noch – hier relevante – Ausnahmen vorsieht, ist im Schrifttum umstritten, in welchem Verhältnis die beiden Diskriminierungsverbote zueinander stehen.59 Die Rechtsprechung geht offensichtlich sowohl im Hinblick auf die Anknüpfung an ein Aufenthaltsrecht als auch bezüglich der Ausnahmen in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 im Ergebnis von einem Gleichlauf beider Diskriminierungsverbote aus.60 Darüber hinaus ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass SGB II-Leistungen als Leistungen im Sinne des Art. 70 VO 883/2004 unter den Begriff der Sozialhilfe in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 fallen und damit für den dort geregelten Fall sowohl vom Diskriminierungsverbot des Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 als auch des Art. 4 VO 883/2004 ausgenommen sind.61 Gleiches dürfte für Leistungen nach SGB XII gelten. 4. Fallgruppen zu Leistungen nach dem SGB II beziehungsweise SGB XII 4.1. Fallgruppe „Aufenthalt in Deutschland und Arbeitsuche“ Sachverhalt: Ein EU-Ausländer verlegt seinen Wohnsitz nach Deutschland und ist in Deutschland auf Arbeitsuche. Er hat zuvor nicht in Deutschland gearbeitet. Er erhält keine Sozialleistungen aus seinem Herkunftsstaat und verfügt nicht über ausreichende Mittel, um seinen Lebensunterhalt und den seiner Angehörigen zu bestreiten. 58 Vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 46 ff., 55. Siehe hierzu auch Derksen, Keine Grundsicherung für Arbeitsuchende für EU-Ausländer?, ZAR 2016, S. 324 (326). 59 Vgl. Derksen, Keine Grundsicherung für Arbeitsuchende für EU-Ausländer?, ZAR 2016, S. 324 (326 f.). 60 Siehe EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 82 f., bzgl. der Anknüpfung an den Aufenthalt, und EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 51 f., bzgl. der Ausnahmen nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38. Im ersten Fall stellt sich das Problem, das Art. 4 VO 883/2004 seinen Anwendungsbereich von einem Wortlaut her – anders als Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 – nicht an ein Aufenthaltsrecht knüpft. Der EuGH verweist zwar insoweit darauf, dass die Mitgliedstaaten berechtigt sind, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zu regeln und diese daher auch an einen rechtmäßigen Aufenthalt knüpfen dürfen, vgl. etwa EuGH, Urt. v. 19.9.2013, Rs. C-140/12 (Brey), Rn. 44. Die darin liegende mittelbare Diskriminierung muss jedoch gerechtfertigt sein. Das ist nach EuGH, Urt. v. 14.6.2016, Rs. C-308/14 (Kommission/Vereinigtes Königreich), Rn. 80 ff. mit Blick auf den Schutz der Finanzen des Aufnahmemitgliedstaates, dem Grunde nach gerechtfertigt. 61 EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 43 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 23 4.1.1. Rechtslage nach deutschem Recht Ein EU-Ausländer, der seinen Wohnsitz nach Deutschland verlegt um in Deutschland nach Arbeit zu suchen, ist gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II für die ersten drei Monate seines Aufenthalts von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. b, c SGB II ist er ab dem vierten Aufenthaltsmonat von den Leistungen ausgeschlossen, wenn sich sein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche , allein aus Art. 10 VO (EU) 492/2011 (Recht zum allgemeinen Schul- oder Ausbildungsbesuch ) oder sowohl aus dem Zweck der Arbeitsuche als auch aus Art. 10 VO (EU) 492/2011 ergibt. Erst ab dem sechsten Aufenthaltsjahr erhält ein nach Arbeit suchender EU-Ausländer als Leistungsberechtigter gemäß § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II vollumfänglich Leistungen nach dem SGB II, sofern nicht der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde. Dieser Anspruch besteht unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts, insbesondere unabhängig von der Frage, ob ein Aufenthaltsrecht aufgrund einer Arbeitsuche im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU im Einzelfall überhaupt noch gegeben ist62 sowie unabhängig von einem eventuellen Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU, welches im Gegensatz zum Anspruch nur bei einem rechtmäßigen fünfjährigen Aufenthalt in Deutschland besteht63. Die Leistungen nach dem SGB II umfassen Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach dem 1. Abschnitt des SGB II sowie Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 2. Abschnitt des SGB II. Darin enthalten ist insbesondere das Arbeitslosengeld II nach § 19 Abs. 1 SGB II, welches sich aus dem Regelbedarf, gegebenenfalls Mehrbedarfen und den angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung zusammensetzt. Die tatsächliche Höhe der gewährten Leistungen hängt vom Einzelfall ab. Die Bundesagentur für Arbeit erfasst statistisch die gezahlten Leistungen.64 EU-Ausländer sind in den ersten fünf Jahren ihres Aufenthalts in der Regel gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII von Leistungen nach dem SGB XII entsprechend der Ausschlussregelungen im SGB II ausgeschlossen. Hiervon sind in Einzelfällen Ausnahmen möglich.65 62 Zur Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU vgl. Brinkmann in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 2 FreizügG/EU Rn. 26 ff.; vgl. auch oben 2.2.2.3., S. 9. 63 Schumacher in: Oestreicher, SGB II, SGB XII, Stand 3/2017, § 7 SGB II Rn. 51; Becker in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 7 Rn. 53. 64 Vgl https://statistik.arbeitsagentur.de/nn_1021940/SiteGlobals/Forms/Rubrikensuche/Rubrikensuche_Suchergebnis _Form.html?view=processForm&resourceId=210358&input_=&pageLocale=de&topicId=1023398®ion =&year_month=201803&year_month.GROUP=1&search=Suchen (letztmaliger Abruf am 24.09.2018). 65 Vgl. oben 2.3.3.1., S. 11 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 24 Trotz des Leistungsausschlusses haben EU-Ausländer gemäß § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII pro Zweijahreszeitraum einen einmaligen Anspruch auf Überbrückungsleistungen sowie einen antragsabhängigen Anspruch auf Übernahme der angemessenen Kosten der Rückreise nach § 23 Abs. 3a Satz 1 SGB XII. 4.1.2. Rechtslage nach EU-Recht Wie oben ausgeführt, ist in unionsrechtlicher Hinsicht zunächst nach dem Bestehen eines Aufenthaltsrechts zu fragen (4.1.2.1.).66 Liegt ein solches vor, kommt es für Fragen des Zugangs beziehungsweise des Ausschlusses von SGB II- und SGB XII-Leistungen für EU-Ausländer auf das einschlägige Diskriminierungsverbot und eventuelle Ausnahmen hiervon an (4.1.2.2.). 4.1.2.1. Aufenthaltsrecht Das Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche verortet der Gerichtshof mittlerweile in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b) RL 2004/38.67 Wie oben ausgeführt, folgt es primärrechtlich aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV.68 Eine explizite Regelung zu seiner Dauer enthält die Vorschrift des Art. 14 Abs. 4 Buchst. b) RL 2004/38 allerdings nicht. Sie knüpft vielmehr an die Rechtsprechung des EuGH an und legt lediglich fest, dass Arbeitsuchende einen Schutz vor Ausweisung genießen, „solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden.“69 Unter Beachtung dieser Vorgabe sind die Mitgliedstaaten nach Auffassung EuGH frei, für den Aufenthalt zur Arbeitsuche einen angemessenen Zeitraum festzulegen.70 Daneben besteht die Möglichkeit, den Aufenthalt zur Arbeitsuche für die ersten drei Monate auf Art. 6 Abs. 1 RL 2004/38 zu stützen. Danach hat jeder Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates. Vorausgesetzt wird lediglich der Besitz eines gültigen Ausweisdokuments. Da die Freizügigkeitsrichtlinie hierbei keine Unterscheidung zwischen erwerbstätigen und nicht erwerbstätigen Unionsbürgern vornimmt, sondern erst bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten (vgl. Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38), ließe sich Art. 6 Abs. 1 AEUV als einschlägige Bestimmungen für alle Aufenthaltsrechtskonstellationen im ersten Dreimonatszeitraum verstehen. Bei einem solchen Verständnis würde sie auch dem Art. 14 Abs. 4 Buchst. b) 66 Siehe oben unter 3.1.1., S. 14 ff. 67 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 58. Kritisch hierzu aus Gründen des Wortlauts und der Systematik dieser Vorschrift GA Wathelet, Schlussanträge vom 26.7.2017 zu EuGH, Rs. C-442/16, Rn. 69 ff., der dies eher in der einschlägigen Grundfreiheit, gegebenenfalls noch in Art. 7 Abs. 3 RL 2004/38 verortet sieht. 68 Siehe oben unter 3.1.1., S. 14 ff. 69 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.3.2004, Rs. C-138/02 (Collins), Rn. 37. 70 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.3.2004, Rs. C-138/02 (Collins), Rn. 37, mit weiteren Nachweisen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 25 RL 2004/38 innerhalb der ersten drei Monate vorgehen. Der Rechtsprechung lässt sich ein solches Verhältnis für diese Konstellation weder explizit entnehmen, noch schließen es die bisher entschiedenen Fälle implizit aus.71 Erfolgt die Arbeitsuche bereits vom ersten Tag an, bestehen in materieller Hinsicht keine Unterschiede , ob man das Aufenthaltsrecht ausschließlich in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b RL 2004/38 verortet oder sukzessive auf beide Vorschriften stützt. 4.1.2.2. Diskriminierungsverbot und Ausnahmen Ausgehend von dem Vorliegen der aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen zur Arbeitsuche – ob ausschließlich nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b) RL 2004/38 oder in Kombination mit Art. 6 RL 2004/38 – kann sich der betreffende EU-Ausländer zwar grundsätzlich auf Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 berufen und eine Gleichbehandlung beim Zugang zu SGB II und SGB XII geltend machen . Für die Gewährung von Sozialhilfe sieht Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 jedoch zwei Ausnahmen vor, in denen die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, diese Art der Leistungen EU-Ausländern zu gewähren. Beide betreffen die Gruppe nicht erwerbstätiger Personen, wobei die erste Ausnahme den Zeitraum der ersten drei Monate eines Aufenthalts und die zweite einen „gegebenenfalls “ längeren Zeitraum im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b) RL 2004/38 zur Arbeitsuche erfasst. Wie oben ausgeführt,72 unterfallen besondere beitragsunabhängige Geldleistungen wie hier nach SGB II und SGB XII dem Begriff der Sozialhilfe im Sinne des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38, so dass beide Ausnahmen zum Tragen kommen und Arbeitsuchenden ungeachtet der jeweils anwendbaren aufenthaltsrechtlichen Grundlage nach der Freizügigkeitsrichtlinie keine Leistungen nach SGB II oder SGB XII im Fall der Arbeitsuche zu gewähren sind. Beide Ausnahmen werden vorliegend auch nicht durch das ausnahmslos gewährleistete Diskriminierungsverbot aus Art. 45 AEUV überlagert, welches Arbeitsuchenden primärrechtlich (ebenfalls ) zusteht. Denn dieses ist bei Arbeitsuche im sozialen Kontext auf Leistungen beschränkt, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen.73 Für SGB II-Leistungen hat der EuGH eine solche Qualifizierung vereint.74 Für SGB XII-Leistungen dürfte dies erst recht gelten, da diese nur Personen zukommen, die als nicht-erwerbsfähig gelten.75 71 Der Fall EuGH, Urt. v. 15.09.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), betraf Personen, die vorher schon gearbeitet hatten und sich auch im Übrigen seit längerer Zeit in Deutschland aufhielten, vgl. Rn. 27, so dass ein Rückgriff auf Art. 6 RL 2004/38 nicht in Betracht kam. In EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), ging es zwar um ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 RL 2004/38. Den Sachverhaltsdarstellungen lässt sich aber nicht entnehmen , ob die betreffenden Personen auf Arbeitsuche waren (vgl. Rn. 29 ff.). 72 Siehe oben unter 3.2.2.2., S. 21 f. 73 EuGH, Urt. v. 23.3.2004, Rs. C-138/02 (Collins), Rn. 58. 74 EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 42 ff., 46. 75 Siehe oben 2.3.1., S. 10. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 26 4.1.2.3. Zwischenergebnis Vor diesem Hintergrund sind die im deutschen Recht geregelten Ausschlüsse nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 sowie Nr. 2 Buchst. b SGB II einerseits sowie nach § 23 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 SGB XII andererseits mit den unionsrechtlichen Vorgaben vereinbar beziehungsweise setzen diese entsprechend um. 4.2. Fallgruppe „Aufenthalt in Deutschland und geringfügige Beschäftigung“ Sachverhalt: Ein EU-Ausländer hat seinen Wohnsitz in Deutschland. Er erhält keine Sozialleistungen aus seinem Herkunftsstaat. Er ist in Deutschland geringfügig beschäftigt, verfügt aber nicht über ausreichende Mittel, um seinen Lebensunterhalt und den seiner Angehörigen zu bestreiten . 4.2.1. Rechtslage nach deutschem Recht 4.2.1.1. Leistungssystem Ein EU-Ausländer, der in Deutschland einer geringfügigen Beschäftigung nachgeht, ist grundsätzlich leistungsberechtigt für Leistungen nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II, da der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II aufgrund seiner Arbeitnehmerstellung nicht greift. Fehlt es an der Arbeitnehmerstellung, ist der EU-Ausländer von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Entscheidend für die Leistungsberechtigung des EU-Ausländers ist demnach, ob die ausgeübte Beschäftigung – unabhängig von der zivilrechtlichen Einordnung als Arbeitsverhältnis – als Arbeit im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II zu bewerten ist. Die Bundesagentur für Arbeit sowie die einheitliche Rechtsprechung der Landessozialgerichte geht von einem unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff aus.76 Die Einordnung ergibt sich aufgrund der Tatsache, dass durch die Regelung im SGB II die Freizügigkeitsrichtlinie umgesetzt wurde. Arbeit im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II liegt insbesondere dann nicht vor, wenn das zivilrechtliche Arbeitsverhältnis einen so geringen Umfang hat, dass es sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt. Der zeitliche Umfang der geleisteten Arbeit ist nicht maßgebend, entscheidend ist vielmehr die Höhe der erzielten Vergütung, deren Wertigkeit im prozentualen Vergleich zur Höhe des Regelbedarfs ermittelt werden kann. Das Bundessozialgericht hat im Jahr 2010 Einkünfte in Höhe von 100 Euro als ausreichend anerkannt.77 Monatliche Einkünfte über 150 Euro sind vom Landessozialgericht Sachsen-Anhalt im Jahr 2016 als nicht unwesentlich bewertet worden.78 76 Vgl. Fachliche Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II S. 5, https://con.arbeitsagentur .de/prod/apok/ct/dam/download/documents/dok_ba015897.pdf (letztmaliger Abruf am 24.09.2018); Voelzke in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 6/2017, § 7 Rn. 130 m. w. N. 77 BSG vom 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R – Rn. 18. 78 LSG Sachsen-Anhalt vom 7.6.2016 – L 2 AS 84/16 B ER – Rn. 47. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 27 Der Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II wird wie beim Nichterwerbstätigen gemäß §§ 14 ff. SGB II und §§ 19 ff. SGB II ermittelt. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld II nach § 19 Abs. 1 SGB II umfasst auch für geringfügig Beschäftigte Regelbedarf, gegebenenfalls Mehrbedarfe und die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Das Einkommen aus der geringfügigen Beschäftigung ist hierbei gemäß § 19 Abs. 3 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 11 SGB II auf die jeweiligen Bedarfe anzurechnen, der Anspruch wird folglich gekürzt. Ab dem sechsten Aufenthaltsjahr ist der EU-Ausländer – dann unabhängig von der Einordnung der ausgeübten Tätigkeit als Arbeit im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II – leistungsberechtigt nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II. Hinsichtlich der im Einzelfall gezahlten Leistungen wird auf die Statistik der Bundesagentur für Arbeit hingewiesen.79 Gemäß § 21 Satz 1 SGB XII schließt die Leistungsberechtigung nach dem SGB II Leistungen nach dem SGB XII aus. 4.2.1.2. Sanktionssystem Da der EU-Ausländer trotz seiner geringfügigen Beschäftigung in das allgemeine Leistungssystem des SGB II einbezogen ist, hat er nach dem Grundsatz des § 2 SGB II80 als auch insbesondere nach § 15 SGB II und der Eingliederungsvereinbarung Pflichten zu befolgen. Für einen geringfügig Beschäftigten , der seinen Lebensunterhalt gemäß § 9 Abs. 1 SGB II nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und der die erforderliche Hilfe nicht von anderen erhält, gelten die allgemeinen Regeln des Förderns und Forderns nach § 2 SGB II. Demnach wird dem Leistungsberechtigten gemäß § 15 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II auferlegt, welche Bemühungen in welcher Häufigkeit zur Eingliederung in Arbeit mindestens erforderlich sind und in welcher Form er die Bemühungen nachzuweisen hat. Gemäß § 15 Abs. 3 Satz 3 SGB II können die Anforderungen alternativ durch Verwaltungsakt durchgesetzt werden, sollte eine einvernehmliche Eingliederungsvereinbarung nicht abgeschlossen werden können. Folglich unterfallen die EU-Ausländer auch dem Sanktionssystem der §§ 31 ff. SGB II. Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II liegt eine Pflichtverletzung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten vor, wenn sie sich weigern, die in der Eingliederungsvereinbarung oder in dem die Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt festgelegten Pflichten zu erfüllen, solange hierfür kein wichtiger Grund nachgewiesen wurde. Folge der Pflichtverletzung ist eine automatische Minderung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II gemäß der Staffelung des § 31a Abs. 1 SGB II. 79 Vgl https://statistik.arbeitsagentur.de/nn_1021940/SiteGlobals/Forms/Rubrikensuche/Rubrikensuche_Suchergebnis _Form.html?view=processForm&resourceId=210358&input_=&pageLocale=de&topicId=1023398®ion =&year_month=201803&year_month.GROUP=1&search=Suchen (letztmaliger Abruf am 24.09.2018). 80 Adolph in: Adolph, SGB II, SGB XII, AsylbLG, Stand 4/2018, § 2 SGB II Rn. 6 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 28 Zu beachten ist, dass es für die Sanktionen nach §§ 31 ff. SGB II allein auf die Eingliederungsvereinbarung beziehungsweise den ersetzenden Verwaltungsakt ankommt. Die Wirksamkeit der Eingliederungsvereinbarung beziehungsweise des Verwaltungsaktes sind inzident zur prüfen, wobei auf die Besonderheiten der Rechtsnatur von Vereinbarung (öffentlich-rechtlicher Vertrag)81 und Verwaltungsakt einzugehen ist. Ist der Verwaltungsakt bestandskräftig geworden, erfolgt insbesondere keine inzidente Prüfung, ob die festgelegte Pflicht auch zumutbar ist.82 4.2.2. Rechtslage nach EU-Recht Zu unterscheiden sind auch hier Aufenthaltsrecht (4.2.2.1.) und Diskriminierungsverbot sowie die insoweit bestehenden Ausnahmen (4.2.2.2.). 4.2.2.1. Aufenthaltsrecht Auch bei einer nur geringfügigen Beschäftigung kann sich das Aufenthaltsrecht des betreffenden EU-Ausländers aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV beziehungsweise seiner sekundärrechtlichen Konkretisierung in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/38 ergeben. Voraussetzung hierfür ist, dass die Person im Hinblick auf ihre Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer im Sinne des Art. 45 AEUV anzusehen ist. Nach ständiger Rechtsprechung ist „Arbeitnehmer […] jede Person, die eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält […].“83 Damit wäre auch im Fall einer geringfügigen Beschäftigung von einer Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Art. 45 AEUV auszugehen, wenn die betreffende Erwerbstätigkeit sich nicht als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt. Wann diese Schwelle erreicht ist, dürfte wohl eine Frage des Einzelfalls sein. Abstrakte Vorgaben im Sinne eines Mindestverdienstes o. ä. lassen sich der Rechtsprechung der Unionsgerichte nicht entnehmen.84 Genügt die geringfügige Beschäftigung nicht für eine Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Art. 45 AEUV, so dass die Voraussetzungen für das entsprechende Aufenthaltsrecht nicht vorliegen , so ist zu prüfen, ob sich ein Aufenthaltsrecht nicht aus anderen Gründen ergibt. Insoweit wird auf die anderen Fallgruppen verwiesen. 81 S. Knickrehm/Hahn in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 7 Rn. 22. 82 LSG Berlin-Brandenburg 7.6.2018 – L 31 AS 671/18 B ER – Rn. 21. 83 Vgl. bspw. EuGH, Urt. v. 17.7.2008, Rs. C-94/07 (Raccanelli), Rn 33; EuGH, Urt. v. 21.2.2013, Rs C-46/12 (N.), Rn. 40, 42; EuGH, Urt. v. 4.6.2009, verb. Rs. C-22 u. 23/08 (Vatsouras/Koupatantze), Rn. 26. 84 Siehe hierzu Franzen, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 45 AEUV, Rn. 25 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 29 4.2.2.2. Diskriminierungsverbot und Ausnahmen Liegt eine Arbeitnehmereigenschaft und damit ein entsprechendes Aufenthaltsrecht vor, kann sich der betreffende EU-Ausländer unter anderem auf den Gleichbehandlungsanspruch aus Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 berufen. Die in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 geregelten Ausnahmen gelten ausweislich ihres Wortlauts unter anderem nicht für Arbeitnehmer, so dass Leistungen insbesondere nach SGB II unter den gleichen Voraussetzungen zu gewähren sind wie für Inländer. Zum gleichen Ergebnis gelangt man über eine Anwendung von Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011, der Arbeitnehmern Anspruch auf die gleichen sozialen Vergünstigungen gewährt wie sie Inländern zustehen . 4.2.2.3. Zwischenergebnis Folglich stimmen auch in diesem Fall das deutsche Recht und das Unionsrecht überein. 4.3. Fallgruppe „Aufenthalt in Deutschland und keine Erwerbsabsicht“ Sachverhalt: Ein EU-Ausländer verlegt seinen Wohnsitz nach Deutschland. Er hat zuvor nicht in Deutschland gearbeitet. Er erhält keine Sozialleistungen aus seinem Herkunftsstaat und verfügt nicht über ausreichende Mittel, um seinen Lebensunterhalt und den seiner Angehörigen zu bestreiten . Er beabsichtigt nicht, in Deutschland nach Arbeit zu suchen. 4.3.1. Rechtslage nach deutschem Recht Ein EU-Ausländer, der seinen Wohnsitz nach Deutschland verlegt und nicht die Absicht hat, in Deutschland nach Arbeit zu suchen, ist gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II für die ersten drei Monate seines Aufenthalts von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. a, c SGB II ist er ab dem vierten Aufenthaltsmonat von den Leistungen ausgeschlossen, wenn er kein Aufenthaltsrecht hat oder sein Aufenthaltsrecht sich allein aus Art. 10 VO (EU) 492/2011 (Recht zum allgemeinen Schul- oder Ausbildungsbesuch) ergibt. Ab dem sechsten Aufenthaltsjahr erhält der EU-Ausländer als Leistungsberechtigter gemäß § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II vollumfänglich Leistungen nach dem SGB II, sofern nicht der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 1 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde. Die Leistungen nach dem SGB II sowie gegebenenfalls nach dem SGB XII entsprechen denen eines arbeitsuchenden EU-Ausländers.85 85 Vgl. oben 4.1.1., S. 22 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 30 4.3.2. Rechtslage nach EU-Recht In Zusammenhang mit dieser Fallgruppe ist abweichend von dem obigen Vorgehen zwischen den ersten drei Monaten des Aufenthalts (4.3.2.1.) und dem anschließenden Zeitraum zu unterscheiden (4.3.2.2.). 4.3.2.1. Aufenthalt während der ersten drei Monate Für die ersten drei Monate besteht ungeachtet einer Erwerbsabsicht oder sonstiger materieller Voraussetzungen wie dem ausreichender Existenzmittel ein voraussetzungsloses Aufenthaltsrecht nach Art. 6 RL 2004/38. Dieses Aufenthaltsrecht steht den betreffenden Personen nach Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38 zu, „solange sie [in diesem Zeitraum] Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates nicht unangemessen in Anspruch nehmen.“86 Inwieweit aus dieser Voraussetzung in tatsächlicher Hinsicht eine eventuelle Einschränkung des dreimonatigen Aufenthaltsrechts folgen kann, ist insbesondere aus zwei Gründen fraglich. Der erste ergibt sich aus Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38, wonach die Mitgliedstaaten zu einer Gewährung von Sozialhilfe und damit von Leistungen nach SGB II und SGB XII an nicht erwerbstätige Personen während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts nicht verpflichtet sind. Macht der betreffende Mitgliedstaat – wie etwa Deutschland in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II und § 23 Abs. 3 Nr. 1 Var. 2 SGB XII – hiervon Gebrauch, so kommt der betreffende Unionsbürger von Gesetzes wegen gar nicht erst in den Genuss entsprechender Leistungen. Die Gefahr einer unangemessenen Inanspruchnahme dürfte somit nicht entstehen. Werden hiervon im Einzelfall Ausnahmen gemacht und Leistungen aufgrund der besonderen Situation der betreffenden Personen dennoch gewährt, so stellt sich zwar die Frage einer unangemessenen Inanspruchnahme nach Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38 und damit nach dem Fortfall des Aufenthaltsrechts nach Art. 6 RL 2004/38. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Unangemessenheit jedoch im Lichte der Gesamtbelastung des jeweiligen sozialen Systems zu bestimmen : „Was zudem die individuelle Prüfung angeht, mit der eine umfassende Beurteilung der Frage vorgenommen werden soll, welche Belastung die Gewährung einer Leistung konkret für das gesamte im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Sozialhilfesystem darstellen würde, ist festzustellen, dass die einem einzigen Antragsteller gewährte Hilfe schwerlich als „unangemessene Inanspruchnahme“ eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 eingestuft werden kann; eine sol- 86 Vgl. hierzu auch EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 70; EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 42. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 31 che Inanspruchnahme kann nämlich den betreffenden Mitgliedstaat nicht infolge eines einzelnen Antrags, sondern nur nach Aufsummierung sämtlicher bei ihm gestellten Einzelanträge belasten.“87 Danach dürfte eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialleistungen des Aufenthaltsstaates nur im Ausnahmefall nachzuweisen sein. Vor diesem Hintergrund dürfte die Regelung des Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38 faktisch leerlaufen, eine mitgliedstaatliche Einschränkung des Aufenthaltsrechts nach Art. 6 RL 2004/38 für die ersten drei Monate unter Anwendung dieser Vorschrift de facto nicht möglich sein. Da die Mitgliedstaaten in diesem Zeitraum nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 jedoch nicht verpflichtet sind, Sozialhilfe zu gewähren, folgen daraus für die Mitgliedstaaten keine sich aus dem Diskriminierungsverbot ergebenden sozialrechtlichen Anspruchslagen .88 4.3.2.2. Aufenthalt von mehr als drei Monaten Für den anschließenden Zeitraum bis zum Vorliegen eines eventuellen Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 ff. RL 2004/38 setzt das primärrechtlich aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgende Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38 unter anderem das Vorliegen ausreichender Existenzmittel voraus.89 In diesem Zusammenhang hat der EuGH mit Blick auf das zwischen erwerbstätigen und nicht erwerbstätigen Unionsbürgern differenzierende Rechtsregime der Freizügigkeitsrichtlinie ausgeführt, dass ein „Mitgliedstaat daher gemäß Art. 7 der Richtlinie 2004/38 die Möglichkeit haben [muss], nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaats zu kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen, Sozialleistungen zu versagen.“90 Hieraus schließt der Gerichthof, dass die Mitgliedstaaten bei der Beurteilung, ob die Voraussetzung ausreichender Existenzmittel im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38 erfüllt ist, „eine konkrete Prüfung der wirtschaftlichen Situation jedes Betroffenen vorzunehmen [haben], ohne die beantragten Sozialleistungen zu berücksichtigen.“91 87 EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 50 (Hervorhebung durch Verfasser). Siehe auch EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 62. 88 Vgl. hierzu EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 45, wonach es legitim sei, dass dem Aufenthaltsmitgliedstaat in dem Zeitraum der ersten drei Monate eines Aufenthalts nicht auferlegt wird, für die betreffenden Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten die Kosten zu tragen, weil das Aufenthaltsrecht für diesen Zeitraum eben voraussetzungslos besteht. 89 Vgl. dazu insbesondere EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 73. 90 EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 78, siehe auch Rn. 73 ff. 91 EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 80. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 32 Der bisherigen Rechtsprechung lässt sich nicht klar entnehmen, ob auch in diesem Zusammenhang eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialleistungen als Prüfungspunkt von Bedeutung ist. Anders als im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38 findet sich diese Formulierung jedenfalls weder im Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38 noch des Art. 14 Abs. 2 RL 2004/38. Die erstgenannte Vorschrift stellt insoweit lediglich darauf ab, dass der Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel zu verfügen hat, „so dass [er] während [seines] Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen […] in Anspruch nehmen [muss].“ Und nach Art. 14 Abs. 2 RL 2004/38 steht Unionsbürgern das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 RL 2004/38 zu, „solange die dort genannten Voraussetzungen vorliegen.“ Dessen ungeachtet kann die Rechtssache Brey aus dem Jahre 2013 dahingehend verstanden werden , dass es auch im Rahmen der Prüfung eines Aufenthaltsrechts nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38 darauf ankommt, ob der betreffende Unionsbürger Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch genommen hat.92 In der Rechtssache Dano, in der es ebenfalls um das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38 ging, findet sich diese Anforderung hingegen nicht, was allerdings auch den Umständen des Ausgangsverfahrens und den Vorgaben des vorlegenden Gerichts geschuldet sein könnte.93 Die nachfolgenden Urteile deuten – wenngleich ihnen andere Aufenthaltsrechte als die nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38 zugrunde lagen – eher darauf hin, dass die Unangemessenheitsprüfung auf Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38 und damit auf das dreimonatige Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 RL 2004/38 beschränkt ist.94 Hier bleibt die weitere Rechtsprechung abzuwarten . Zu beachten ist im Übrigen Art. 8 Abs. 4 RL 2004/38, der gewisse Vorgaben zur Bestimmung ausreichender Existenzmittel enthält. Danach dürfen die Mitgliedstaaten unter anderem keinen festen Betrag für die Existenzmittel festlegen, sondern müssen die persönliche Situation des Betroffenen berücksichtigen. Fällt die entsprechende Prüfung der Voraussetzungen nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38 im Ergebnis negativ aus, so kann der Unionsbürger kein Aufenthaltsrecht im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38 geltend machen,95 so dass auch das Gleichbehandlungsgebot in Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 keine Anwendung findet. Gleiches gilt in diesen Fällen nach der Rechtsprechung für das Diskriminierungsverbot in Art. 4 VO 883/2004.96 Dem betreffenden Unionsbürger steht in 92 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.9.2013, Rs. C-140/12 (Brey), Rn. 63 ff., siehe insb. Rn. 72, 79. 93 Siehe EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 39, 66, 80 f. 94 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 62; EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García- Nieto), Rn. 50. 95 Vgl. hierzu EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 81 sowie Rn. 35 ff. in Bezug auf die diesem Fall zugrunde liegenden Feststellungen der tatsächlichen Umstände durch das vorlegende Gericht. 96 Siehe oben unter 3.2.2.2., S. 21 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 33 einer solchen Situation somit kein Anspruch auf Gleichbehandlung beim Zugang zu Leistungen nach SGB II oder SGB XII zu. 4.3.2.3. Zwischenergebnis Nach Unionsrecht entfällt der Anspruch auf Leistungen nach SGB II oder SGB XII in der hier erörterten Konstellation für die ersten drei Monate des Aufenthalts aufgrund der Ausnahme in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 für den Sozialhilfebezug in dieser Zeit. Ist mangels ausreichender Existenzmittel für den anschließenden Zeitraum von dem Nichtbestehen eines Aufenthaltsrechts nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38 auszugehen, so entfällt der Anspruch auf Leistungen nach SGB II oder SGB XII, weil sich der Unionsbürger mangels unionsrechtlichem Aufenthaltsrecht weder auf das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 noch auf das nach Art. 4 VO 883/2004 berufen kann. Dieser Rechtslage entsprechen die in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a SGB II beziehungsweise in § 23 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 Var. 1 SGB XII geregelten Leistungsausschlüsse. 4.4. Fallgruppe „Aufenthalt in Deutschland und Arbeitslosigkeit nach Erwerbstätigkeit in Deutschland“ Sachverhalt: Ein EU-Ausländer lebt in Deutschland. Er hat in Deutschland gearbeitet und ist arbeitslos geworden. Er erhält keine Sozialleistungen aus seinem Herkunftsstaat und verfügt nicht über ausreichende Mittel, um seinen Lebensunterhalt und den seiner Angehörigen zu bestreiten. 4.4.1. Rechtslage nach deutschem Recht EU-Ausländer, die zunächst in Deutschland gearbeitet haben und dann arbeitslos geworden sind, sind grundsätzlich Leistungsberechtigte im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Dies ist nicht der Fall, wenn sie gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von den Leistungen ausgeschlossen sind, weil sie insbesondere keine Arbeitnehmer im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1. SGB II gewesen sind. Hinsichtlich der Arbeitnehmereigenschaft ist unabhängig von den zivilrechtlichen Voraussetzungen eines Arbeitsverhältnisses erneut ein unionsrechtlicher Arbeitnehmerbegriff maßgebend. Das zivilrechtliche Arbeitsverhältnis darf keinen so geringen Umfang haben, dass es sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt. Insbesondere bei geringfügigen Beschäftigungen liegt zwar zivilrechtlich ein Arbeitsverhältnis vor, unterschreitet die erzielte Vergütung aber ein gewisse Schwelle97, ist der EU-Ausländer kein Arbeitnehmer gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II. Bei Arbeitnehmern, die nach einer Tätigkeit in Deutschland arbeitslos geworden sind, ist ein mögliches Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 3 FreizügG/EU entscheidend. Unter Umständen kann das Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU trotz Arbeitslosigkeit fortbestehen. Das ist gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU bei unfreiwilliger und durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit unbefristet der Fall, sofern die Tätigkeit bereits ein Jahr 97 Vgl. dazu auch schon zur ähnlichen Problematik bei einer geringfügigen Beschäftigung oben 4.2.1.1., S. 26 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 34 durchgeführt wurde. Der Arbeitnehmer enthält in diesem Fall zeitlich unbefristet Sozialleistungen nach dem SGB II. Bei Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung besteht das Freizügigkeitsrecht allerdings nur für sechs Monate fort, § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU. Die Sozialleistungen sind dann auf diesen Sechsmonatszeitraum beschränkt. Besteht das Freizügigkeitsrecht nicht mehr fort, gelten die bereits geschilderten allgemeinen Regelungen für EU-Ausländer. Leistungen nach dem SGB II beziehungsweise SGB XII sind grundsätzlich für die ersten fünf Jahre des Aufenthalts ausgeschlossen, allerdings bestehen Ansprüche auf Überbrückungsleistungen beziehungsweise auf Übernahme der Kosten der Rückreise.98 4.4.2. Rechtslage nach EU-Recht 4.4.2.1. Aufenthaltsrecht In aufenthaltsrechtlicher Sicht stellt sich im Fall des Eintretens von Arbeitslosigkeit die Frage, ob eine vorher bestehende Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Art. 45 AEUV beziehungsweise Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38 fortwirkt. Vorgaben hierzu finden sich in Art. 7 Abs. 3 Buchst. b und c RL 2004/38. Nach Art. 7 Abs. 3 Buchst. b RL 2004/38 bleibt dem betreffenden Unionsbürger die Arbeitnehmereigenschaft zu aufenthaltsrechtlichen Zwecken auf Dauer erhalten, wenn er „sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung [stellt.]“ Er gilt dann aufenthaltsrechtlich unabhängig von der Arbeitslosigkeit als Arbeitnehmer, dem ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/38 zusteht. Bei geringerer Beschäftigungsdauer als einem Jahr bleibt die Arbeitnehmereigenschaft zu aufenthaltsrechtlichen Zwecken nach Art. 7 Abs. 3 Buchst. c RL 2004/38 nur im Mindestmaß von sechs Monaten erhalten. Voraussetzung ist, dass der Unionsbürger „sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung [stellt.]“ Bei fortbestehender Arbeitslosigkeit nach Ablauf der entsprechenden Frist entfällt somit das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38 als Arbeitnehmer. Aus der Rechtsprechung ergibt sich jedoch, dass im Fall einer anschließenden oder dann aufgenommenen Arbeitsuche ein Aufenthaltsrecht zu diesem Zweck nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b RL 2004/38 besteht.99 98 Vgl. oben 4.1.1., S. 23 ff. 99 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 53 ff. Siehe zu diesem Aufenthaltsrecht oben unter 4.1.2.1., S. 24. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 35 4.4.2.2. Diskriminierungsverbot und Ausnahmen Bleibt ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer erhalten, so steht dem betreffenden Unionsbürger für diesen Zeitraum nach Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 ein Anspruch auf Gleichbehandlung beim Zugang zu Leistungen nach SGB II oder SGB XII zu. Die Ausnahmen des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 greifen in diesem Fall nicht. Endet das aus Gründen der Arbeitslosigkeit bestehende zeitlich begrenzte Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer und besteht dann ein Aufenthaltsrecht wegen Arbeitsuche, kann sich der betreffende Unionsbürger zwar grundsätzlich auf den Anspruch auf Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 berufen, es greift – wie oben ausgeführt – jedoch die in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 geregelte Ausnahme für den Sozialhilfebezug nicht erwerbstätiger Unionsbürger während der Arbeitsuche.100 4.4.2.3. Zwischenergebnis Auch in diesem Fall stimmen die deutschen Vorschriften zur Aufrechterhaltung des Aufenthalts als Arbeitnehmer infolge von Arbeitslosigkeit mit den unionsrechtlichen Vorgaben überein. 4.5. Fallgruppe „Aufenthalt im EU-Ausland und Arbeitslosigkeit nach Erwerbstätigkeit in Deutschland“ Sachverhalt: Ein EU-Ausländer lebt im Ausland. Er hat in Deutschland gearbeitet und ist arbeitslos geworden. 4.5.1. Rechtslage nach deutschem Recht Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II ist der EU-Ausländer schon mangels gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II. Weiterhin stellt § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII für Leistungen an EU-Ausländer auf deren tatsächlichen Aufenthalt im Inland ab. Unter dem tatsächlichen Aufenthalt ist die tatsächliche physische Anwesenheit zu verstehen, die wohl schon bei kurzzeitigen, vorübergehenden Aufenthalten im Ausland, jedenfalls aber bei Auslandsaufenthalten ab einem Monat nicht mehr gegeben ist.101 Der sich im Ausland aufhaltenden EU-Ausländer ist demnach auch nicht leistungsberechtigt nach dem SGB XII. 4.5.2. Rechtslage nach EU-Recht Fehlt es an einem Aufenthalt im Inland, besteht auch kein Raum (und Bedarf) für ein entsprechendes Aufenthaltsrecht. Die Freizügigkeitsrichtlinie findet in diesem Fall keine Anwendung, so dass auch eine Berufung auf das dort in Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 geregelte Gleichbehandlungsgebot im Zusammenhang mit Ansprüchen auf Leistungen nach SGB II oder SGB XII nicht in Betracht kommt. 100 Siehe oben unter 4.1.2.2., S. 24 f. 101 Vgl. Schlette in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand 3/2018, § 23 Rn. 7 m. w. N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 36 Zum gleichen Ergebnis gelangt man aus koordinierungsrechtlicher Perspektive. Wie oben ausgeführt , bestimmt Art. 70 Abs. 4 VO 883/2004, dass der Wohnort über die jeweils anwendbaren mitgliedstaatlichen Vorschriften entscheidet. Liegt dieser nicht in Deutschland, gebietet das EU- Koordinationsrecht keine Anwendung der Vorschriften des SGB II oder des SGB XII. Etwas anderes könnte sich allenfalls für Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. h VO 883/2004 ergeben. Die hierauf anwendbaren Art. 64, 65 und 65a VO 883/2004 sehen unter bestimmten Voraussetzungen vor, dass der Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit auch bei Wohnort in einem anderen Mitgliedstaat fortbesteht.102 Wie oben ausgeführt, unterfallen Leistungen nach SGB II und SGB XII nicht dem Begriff der Leistungen bei Arbeitslosigkeit.103 4.5.3. Zwischenergebnis Auch in dieser Konstellation besteht ein Gleichlauf zwischen Unions- und nationalem Recht. 4.6. Ausweisungen von EU-Ausländern im Zusammenhang mit Leistungsbezug nach SGB II oder SGB XII 4.6.1. Rechtslage nach deutschem Recht Die Ausreisepflicht von Unionsbürgern nach deutschem Recht ist der zu entnehmen. Anlage 1 4.6.2. Rechtslage nach EU-Recht Die Frage nach der Ausweisung von ausländischen Unionsbürgern im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Leistungen nach SGB II oder SGB XII stellt sich unionsrechtlich nur insoweit , als es um Konstellationen geht, in denen Unionsbürgern nach EU-Recht keinen Anspruch auf Zugang zu diesen Leistungen haben. Dies kann der Fall sein, weil es bereits an einem Aufenthaltsrecht in materieller Hinsicht mangels Erfüllung der Voraussetzungen hierfür fehlt oder weil ein solches zwar besteht, aber eine Ausnahme von dem in Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 verankerten Anspruch auf Gleichbehandlung gemäß Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 einschlägig ist. In allen anderen Fällen ist der Zugang zu Leistungen wie solchen nach SGB II oder SGB XII unionsrechtlich geboten, so dass eine Ausweisung aus diesem Grunde gegen das Unionsrecht verstoßen würde. Regelungen zur Ausweisung beziehungsweise Beschränkungen von Aufenthaltsrechten sieht die Freizügigkeitsrichtlinie zum einen im Zusammenhang mit Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit in ihrem Kapitel VI (Art. 27 bis 33 RL 2004/38) vor. Vorschriften zu Ausweisungen beziehungsweise Beschränkungen von Aufenthaltsrechten aus anderen Gründen 102 Siehe hierzu aus der Rechtsprechung etwa EuGH, Urt. v. 21.3.2018, Rs. C-551/16 (Klein-Schiphorst), Rn. 30 ff. 103 Siehe oben unter 3.2.1., S. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 37 finden sich in Art. 14 RL 2004/38 (4.6.2.1.) und Art. 15 RL 2004/38 (4.6.2.2.). Diese beiden Vorschriften wären einschlägig, wenn es um eine Ausweisung geht, die im Zusammenhang mit einer unionsrechtlich nicht vorgesehenen Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Raum steht. 4.6.2.1. Vorgaben des Art. 14 Freizügigkeitsrichtlinie Art. 14 RL 2004/38 regelt ausweislich seiner Überschrift die „Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts “. Fragen der Ausweisung adressiert diese Vorschrift zum einen in ihrem Absatz 3 und zum anderen in ihrem Absatz 4. Nach Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38 darf die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen nicht automatisch zu einer Ausweisung führen. Nach Art. 14 Abs. 4 RL 2004/38 darf – abgesehen von aufenthaltsrechtlichen Beschränkungen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit, die auch zur Ausweisung führen können (vgl. Art. 27 ff. RL 2004/38) – gegen Unionsbürger „auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden“, wenn die betreffenden Unionsbürger Arbeitnehmer oder Selbständige sind (Buchst. a) oder Arbeitsuchende (Buchst. b). Aus diesen Regelungen folgt, dass Ausweisungen außerhalb der Gründe der öffentlichen Ordnung , Sicherheit und Gesundheit erstens nur in bestimmten Aufenthaltskonstellationen möglich sind und zweitens nicht ohne weiteres aufgrund eines Bezugs von Leistungen nach SGB II und SGB XII erfolgen dürfen. Zu den betroffenen Aufenthaltskonstellationen zählen wegen des Ausweisungsausschlusses in Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38 nur die Aufenthalte nicht erwerbstätiger und auch nicht arbeitsuchender Unionsbürger, wobei Personen mit Daueraufenthaltsrecht hiervon ausgenommen sind.104 Übrig bleiben somit Aufenthalte bis zu drei Monaten im Sinne von Art. 6 RL 2004/38 und von vier Monaten bis zu fünf Jahren nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und c RL 2004/38. Erfolgt in dieser Zeit eine Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen beziehungsweise werden diese beantragt, so darf allein dieser Umstand nach Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38 nicht automatisch zur Ausweisung führen. Hierzu findet sich in Erwägungsgrund Nr. 16 folgende Aussage: „Solange die Aufenthaltsberechtigten die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen, sollte keine Ausweisung erfolgen. Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen sollte daher nicht automatisch zu einer Ausweisung führen. Der Aufnahmemitgliedstaat sollte prüfen, ob es sich bei dem betreffenden Fall um vorübergehende Schwierigkeiten handelt, und die Dauer des Aufenthalts , die persönlichen Umstände und den gewährten Sozialhilfebetrag berücksichtigen, um zu beurteilen, ob der Leistungsempfänger die Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch genommen hat, und in diesem Fall seine Ausweisung zu veranlassen.“ Hieraus ist der Schluss zu ziehen, dass in jedem Fall eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist und sonstige weitere persönliche Umstände dabei in die Erwägung einzustellen sind. Dem entspricht auch die Regelung in Art. 8 Abs. 4 RL 2004/38 zu den Vorgaben bzgl. der Höhe der Existenzmit- 104 Siehe oben 3.1.2., S. 17 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 38 tel. Nach S. 1 dieser Vorschrift dürfen die Mitgliedstaaten keinen festen Betrag für die Existenzmittel festlegen, die sie als ausreichend betrachten, sondern müssen die persönliche Situation des Betroffenen berücksichtigen. 4.6.2.2. Vorgaben des Art. 15 Freizügigkeitsrichtlinie Art. 15 RL 2004/38 enthält Verfahrensgarantien für alle aufenthaltsbeschränkenden Maßnahmen, die aus anderen Gründen als der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit erfolgen. Nach Art. 15 Abs. 1 RL 2004/38 sind die Art. 30 und Art. 31 RL 2004/38 entsprechend anzuwenden . Die erstgenannte Vorschrift enthält Vorgaben zur Mitteilung entsprechender beschränkender Entscheidungen an den betreffenden ausländischen Unionsbürger. Art. 31 RL 2004/38 schreibt die von den Mitgliedstaaten einzuhaltenden Verfahrensgarantien vor. Zu diesen zählen nach Art. 31 Abs. 1 RL 2004/38 insbesondere das Recht auf einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und nach Art. 31 Abs. 3 RL 2004/38 die Vorgabe, dass im Rechtsbehelfsverfahren die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, überprüft werden müssen. Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38 schreibt schließlich vor, dass eine Ausweisungsverfügung nicht mit einem Einreiseverbot des Aufnahmemitgliedstaat einhergehen darf. 4.6.2.3. Zwischenergebnis Ausweisungen ausländischer Unionsbürger im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Leistungen nach SGB II oder SGB XII sind generell nur insoweit zulässig, als das Unionsrecht einem Ausschluss vom Zugang zu diesen Leistungen nicht entgegensteht. Ist danach ein Ausschluss möglich, kommen Ausweisungen ferner nur in bestimmten Aufenthaltskonstellationen und nur nach Prüfung der Umstände im Einzelfall in Betracht. Eine automatische Ausweisung darf nicht erfolgen. Darüber hinaus sind die auch bei Ausweisungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einzuhaltenden Verfahrensgarantien aus Art. 30 und Art. 31 RL 2004/38 zu beachten. Schließlich darf eine Ausweisung nicht mit der Verhängung eines Einreiseverbots einhergehen. 5. Fragen betreffend Ansprüche von EU-Ausländern auf Kindergeld 5.1. Rechtslage nach deutschem Recht Zur Frage, ob ein aufstockender EU-Ausländer einen Anspruch auf Kindergeld hat, wird auf den Sachstand des Fachbereichs Haushalt und Finanzen verwiesen, welcher der Ausarbeitung als Anlage 2 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 39 beigefügt ist.105 5.2. Rechtslage nach EU-Recht Hinsichtlich der Rechtslage nach EU-Recht ist zwischen der Verordnung 883/2004 und der Freizügigkeitsverordnung 492/2011 einerseits (5.2.1.) sowie der Freizügigkeitsrichtlinie andererseits (5.2.2.) zu unterscheiden. 5.2.1. Verordnung 883/2004 sowie Freizügigkeitsverordnung 492/2011 Das Kindergeld nach deutschem Recht ist eine Familienleistung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst j VO 883/2004 und unterfällt der Verordnung 883/2004.106 Ferner dürfte es eine soziale Vergünstigung im Sinne von Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 sein.107 Zu der daraus folgenden Rechtslage und den Gleichbehandlungsansprüchen in Bezug auf Zugang zu Kindergeld im Sine des deutschen Rechts wird auf ein früheres Gutachten des Fachbereichs Europa verwiesen, welches der Ausarbeitung als Anlage 3 beigefügt ist.108 Soweit ersichtlich, stellt bisher vor allem die Verordnung 883/2004 den maßgeblichen Rechtsakt dar, an dessen Maßstab im Schrifttum und der Rechtsprechung Fragen rund um den Zugang zu Kindergeld beantwortet werden.109 5.2.2. Freizügigkeitsrichtlinie Soweit das Kindergeld an einen (rechtmäßigen) Aufenthalt im Inland geknüpft ist, ließe sich ein gleichberechtigter Zugang aufenthaltsberechtigter Unionsbürger auch auf Grundlage der Freizügigkeitsrichtlinie und des dort in Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 geregelten Gleichbehandlungsgebots begründen. Ob die in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 geregelten Ausnahmen in Bezug auf Sozialhilfe diese Leistung erfassen, ist fraglich. Denn nach der Rechtsprechung des EuGH sind unter dem Begriff der 105 Sachstand des Fachbereichs WD 4 – Haushalt und Finanzen des Wissenschaftlichen Dienstes vom 24.7.2018 „Kindergeldanspruch für aufstockende EU-Arbeitnehmer“, WD 4 - 3000 - 114/18. 106 Vgl. Selder in: Heuermann/Brandis (Hrsg.), Blümich - Kommentar zum EStG, KStG und GewStG Blümich, EStG, KStG, GewStG, § 62 EStG (141. Aufl. 2018), Rn. 14. 107 So Franzen, in: Streinz (Fn. 84), Art. 45 AEUV, Rn. 105. Das zum Nachweis zitierte Urteil bezieht sich auf Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz. Die Prüfung der im Raum stehenden Diskriminierung erfolgt jedoch unmittelbar am Maßstab des Art. 45 AEUV. 108 Ausarbeitung des Fachbereichs PE 6 – Europa der Unterabteilung Europa vom 25.03.2014 „Kürzungen des Kindergeldes und EU-Recht, PE 6 - 3000 - 08/14. 109 Vgl. etwa aus neuerem Schrifttum Hohnerlein, Kindergeld zwischen europäischem und deutschem Recht, ZESAR 2018, S. 157 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 40 Sozialhilfe im Sinne des Art. 21 Abs. 2 RL 2004/38 „sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme [zu verstehen], die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt […].“110 Das Kindergeld soll nach § 31 S. 1 EStG hingegen in erster Linie die steuerliche Freistellung des Existenzminimums eines Kindes gewährleisten. Nur soweit es hierfür nicht erforderlich ist, dient es nach § 31 S. 2 EStG der Förderung der Familie und ist eine an die Bedürftigkeit anknüpfende Sozialleistung.111 Allenfalls insoweit könnte es daher als Sozialhilfe im Sinne des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 angesehen werden, da es in diesen Fällen faktisch der Bestreitung der Grundbedürfnisse des Unionsbürgers und seiner Familie dienen dürfte. Ob dieser Anteil jedoch genügt, um das Kindergeld in Gänze als Sozialhilfe im Sinne von Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 zu qualifizieren, ist offen. Rechtsprechung zu dieser Frage liegt nicht vor. Soweit ersichtlich lassen sich auch dem Schrifttum hierzu keine Aussagen entnehmen. Im Zusammenhang mit Leistungen nach SGB II und der Frage, ob diese aufgrund der Anknüpfung an die Förderung der Erwerbsfähigkeit (vgl. § 1 Abs. 2 SGB II) den Zugang zum Arbeitsmarkt betreffen und damit dem Art. 45 AEUV unterfallen oder als Sozialhilfe im Sinne des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 anzusehen sind, entschied der EuGH, dass es auf ihre überwiegende Funktion ankommt. Diese sah er mit Blick auf § 1 Abs. 1 SGB II darin, „das Minimum an Existenzmitteln zu gewährleisten, das erforderlich ist, um ein Leben zu führen, das der Menschenwürde entspricht.“112 Eine derartige Abgrenzung nach der überwiegenden Funktionalität lässt sich beim Kindergeld nicht treffen, da sich die Abgrenzung nicht eindeutig aus der Leistung selbst heraus bestimmen lässt, sondern von der (materiellen) Situation des jeweiligen Kindergeldempfängers abhängt. Wie eine solche Konstellation im Lichte des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 zu beurteilen ist, lässt sich der Rechtsprechung ebenso wenig entnehmen wie die Frage, ob mitgliedstaatliche Leistungen dann aufzuspalten wären. Wäre das Kindergeld ganz oder teilweise als Sozialleistung im Sinne des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 anzusehen, wäre der nach Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 bestehende Gleichbehandlungsanspruch sodann nur für die von dieser Ausnahme in personeller Hinsicht erfassten Unionsbürger ausgeschlossen, nämlich für andere Personen als Arbeitnehmer und Selbständige sowie Personen , denen dieser Status erhalten bleibt, während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts und während der Zeit der Arbeitsuche nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b RL 2004/38. In welchem Verhältnis hierzu gegebenenfalls abweichende Vorgaben der Verordnung 883/2004 stünden, ist bisher ebenfalls nicht Gegenstand der Rechtsprechung gewesen und soll an dieser Stelle mit Blick auf 110 EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 44; EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 63. 111 Vgl. Selder, in: Blümich (Fn. 106), § 31 EStG (142. EL 2018), Rn. 40 112 EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 45. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 41 die Zweifel hinsichtlich der Einschlägigkeit des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 auch nicht weiter erörtert werden. 6. Fragen betreffend Ansprüche von EU-Ausländern auf BAföG 6.1. Rechtslage nach deutschem Recht Die Anspruchsvoraussetzungen von EU-Ausländern für eine Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) können der Anlage 4 entnommen werden.113 6.2. Rechtslage nach EU-Recht Leistungen nach dem BAföG unterfallen – anders als solche nach SGB II und SGB XII sowie das Kindergeld – nicht der Verordnung 883/2004. Ansprüche auf gleichberechtigten Zugang ausländischer Unionsbürger zu diesen Leistungen ergeben sich jedoch vor allem aus der Freizügigkeitsrichtlinie (7.2.1.). Zum anderen ist die Freizügigkeitsverordnung 492/2011 zu beachten (7.2.2.). 6.2.1. Freizügigkeitsrichtlinie Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 21 Abs. 1 RL 2004/38 für aufenthaltsberechtigte Unionsbürger unterliegt im Zusammenhang mit dem Zugang zu „Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens“ einer in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 geregelten Ausnahme, die auch das BAföG erfassen dürfte. Danach sind die Mitgliedstaaten gegenüber bestimmten Gruppen aufenthaltsberechtigter Unionsbürger nicht verpflichtet, derartige Leistungen zu gewähren. Nicht betroffen hiervon sind jedoch zum einen Arbeitnehmer oder Selbständige sowie Personen, denen dieser Status erhalten bleibt,114 und zum anderen Unionsbürger mit dem Recht auf Daueraufenthalt.115 Diese aufenthaltsberechtigen Unionsbürger haben den gleichen Anspruch auf BAföG wie Inländer. 113 Sachstand des Fachbereichs WD 8 – Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung des Wissenschaftlichen Dienstes vom 22.5.2018 „Anspruch Ausländischer Studierender auf eine Förderung nach dem BAföG“, WD 8 - 3000 - 047/18. 114 Einschließlich ihrer Familienangehörigen, vgl. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38. 115 Vgl. EuGH, Urt. v. 12. 2.2013, Rs. C-46/12 (L.N.), Rn. 35; siehe auch EuGH, Urt. v. 20.6.2013, Rs. C-20/12 (Giersch), Rn. 80. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 42 6.2.2. Freizügigkeitsverordnung 492/2011 Von Bedeutung ist ferner Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011. Danach haben Arbeitnehmer einen Anspruch unter anderem auf die gleichen sozialen Vergünstigungen wie sie inländischen Arbeitnehmern zustehen. Hierunter fallen nach der Rechtsprechung auch Beihilfen zur beruflichen Qualifikation und Weiterbildung,116 von denen auch das BAföG erfasst sein dürfte. Zu weiteren, von der unmittelbaren Eigenschaft als Arbeitnehmer losgelösten aber damit im Zusammenhang stehenden personalen Konstellationen und den Bedingungen, in denen auf Grundlage dieser Vorschrift ein Gleichbehandlungsanspruch auf BAföG und andere Beihilfen zur beruflichen Qualifikation und Weiterbildung besteht, wird auf die Kommentarliteratur verwiesen.117 7. Fragen betreffend Ansprüche von deutschen Staatsangehörigen nach SGB II und SGB XII 7.1. Abwanderung ins Ausland 7.1.1. SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende Für die Leistungsberechtigung nach dem SGB II kommt es entscheidend auf den gewöhnlichen Aufenthalt des deutschen Staatsangehörigen an: Verlegt ein deutscher Staatsangehöriger seinen Wohnsitz ins Ausland und hat er auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland, sind SGB II und SGB XII gemäß § 30 Abs. 1 SGB I grundsätzlich nicht anwendbar. Ein abwandernder deutscher Staatsangehöriger ist somit nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II. Behält hingegen der abwandernde deutsche Staatsangehörige seinen gewöhnlichen Aufenthalt trotz Wohnsitzaufgabe in Deutschland, ist das Sozialgesetzbuch gemäß § 30 Abs. 1 SGB I anwendbar . Der deutsche Staatsangehörige bleibt zudem Leistungsberechtigter gemäß § 7 Abs. 1 SGB II. Für den gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland ist entscheidend, ob der Anspruchsteller seinen Lebensmittelpunkt im Inland hat, ein Wohnsitz im Inland ist hierfür nicht erforderlich .118 Allein der Wohnsitz in Deutschland ist hingegen nicht ausreichend. Zwar ist das Sozialgesetzbuch gemäß § 30 Abs. 1 SGB I anwendbar, allerdings sind die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 SGB II mangels gewöhnlichen Aufenthaltes im Inland nicht erfüllt. Der deutsche Staatsangehörige ist nicht leistungsberechtigt. 116 Siehe Kreuschitz, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 45 AEUV, Rn. 105, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 117 Siehe etwa Franzen, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 45 AEUV, Rn. 103 ff.; Kreuschitz, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 45 AEUV, Rn. 103 ff. – jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 118 Becker in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 7 Rn. 22. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 43 7.1.2. SGB XII – Sozialhilfe Auch für Leistungen nach dem SGB XII ist der gewöhnliche Aufenthalt des Hilfebedürftigen maßgeblich. Gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB XII sind deutsche Staatsangehörige, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, grundsätzlich nicht leistungsberechtigt. Im Einzelfall können allerdings bei besonderen Notlagen nach § 24 Abs. 1 Satz 2 SGB XII Leistungen gewährt werden. Dies gilt aber nur für Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt, §§ 27 ff. SGB XII. Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung scheiden aus, da für diese gemäß § 41 Abs. 1 SGB XII nur Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland leistungsberechtigt sind.119 7.2. Sanktionssystem 7.2.1. SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende Die §§ 31 ff. SGB II enthalten die Sanktionsregelungen des SGB II. Intention des Gesetzgebers ist es hierbei, die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zu verpflichten, konkrete Schritte zur Behebung ihrer Hilfebedürftigkeit zu unternehmen. Die Vorschriften konkretisieren den in § 2 SGB II verankerten Grundsatz des Forderns demzufolge die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit – insbesondere durch den Einsatz ihrer Arbeitskraft – ausschöpfen müssen.120 § 31 SGB II enthält eine Auflistungen an Pflichtverletzungen, bei deren Eintritt sich das Arbeitslosengeld nach dem System des § 31a SGB II abhängig von der Häufigkeit der Pflichtverletzung automatisch um 30 Prozent beziehungsweise 60 Prozent mindert beziehungsweise das Arbeitslosengeld komplett entfallen lässt. 7.2.2. SGB XII – Sozialhilfe Erwerbsfähige Leistungsberechtigte im Sinne der §§ 7 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1 SGB II sind gemäß § 21 Satz 1 SGB XII nicht leistungsberechtigt für Leistungen nach dem SGB XII. In Einzelfällen können Hilfebedürftige zwar nicht erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II sein, weil sie nicht dazu imstande sind, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Allerdings kann es ihnen in geringerem Umfang möglich und zumutbar sein, eine Tätigkeit aufzunehmen. Hierzu sind die Hilfebedürftigen zur Entlastung des Sozialhilfeträgers gemäß § 11 Abs. 3 Satz 4 SGB XII verpflichtet. Weigern sich die Hilfebedürftigen eine solche Tätigkeit aufzunehmen beziehungsweise an einer erforderlichen Vorbereitung teilzunehmen, kann sich der maßgebliche Regelbedarf der Hilfe zum Lebensunterhalt gemäß § 39a SGB XII mindern. Die Minderung steht allerdings im Gegensatz zu § 31 SGB II nur im pflichtgemäßen Ermessen des Sozialhilfeträgers. 119 Bieback in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl. 2018, § 24 Rn. 36; vgl. auch oben 2.3.4., S. 12 f. 120 BT-Drs. 15/1516, S. 60. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 44 8. Fragen betreffend die Vereinbarkeit der Leistungsausschlüsse mit Verfassungs- und Unionsrecht 8.1. Aus verfassungsrechtlicher Sicht Die Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts eines Menschen erfolgt sowohl durch das Leistungssystem des SGB II als auch durch das Leistungssystem des SGB XII.121 Da die Leistungsausschlüsse für Ausländer sowie die Sanktionsmechanismen die Gewährung von Leistungen verhindern , haben sie unmittelbare Auswirkungen auf den notwendigen Lebensunterhalt. Inwiefern dies mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist, wird im Folgenden geprüft. 8.1.1. Leistungsausschlüsse für Ausländer Durch das „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“ vom 22. Dezember 2016122 werden Ausländer nach dem oben dargestellten System grundsätzlich von den Leistungen ausgeschlossen. Umstritten ist, ob der Ausschluss der EU-Ausländer gegen das in Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG garantierte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums , welches unstrittig auch EU-Ausländer erfasst,123 verstößt.124 Aus Sicht des Gesetzgebers beziehungsweise einzelner Literaturmeinungen ist der Leistungsausschluss dadurch gerechtfertigt, dass Unionsbürger ohne Gefahr für ihre Rechtsgüter in ihre Herkunftsstaaten zurückkehren können und dort Leistungen beziehen können. Im Gegensatz zu Asylbewerbern stünde ihnen diese Möglichkeit zu, die Verpflichtung der Herkunftsstaaten zu entsprechenden Leistungen ergebe sich aus Art. 13 Europäische Sozialcharta.125 Zudem folge aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass einem Menschen nur staatliche Hilfe zu leisten ist, wenn ihm die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen 121 Grube in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl. 2018, Einl. Rn. 19. 122 BT-Drs. 18/10211. 123 BVerfG vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10 – Rn. 62. 124 Die Verfassungswidrigkeit bejahen Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 6/2017, § 7 Rn. 143; Devetzi/Janda, Das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende und in der Sozialhilfe – Verfassungs- und europarechtliche Bedenken gegen den Ausschluss von Unionsbürgern , ZESAR 2017, S. 197, 199 f.; Meyer-Höger, Grundsicherung für Arbeitsuchende: Ermittlung angemessener Unterkunftskosten; Anforderungen an ein schlüssiges Konzept zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenze, infoalso 2017, S. 99, 104 f.; vgl. allgemein zur Reichweite der Menschenwürde und die Möglichkeiten der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber Ulmer, Menschenwürde im Kontext der EU-Binnenmigration, DVBl 2017, S. 482. 125 BT-Drs. 18/10211, S. 14; Ulmer, Menschenwürde im Kontext der EU-Binnenmigration, DVBl 2017, S. 482, 483 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 45 noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann.126 Weder Wortlaut noch Sinn und Zweck des Begriffs „Zuwendungen Dritter“ würden einen Anhaltspunkt bieten, zwischen Leistungen von deutschen Trägern oder anderen europäischen Trägern der Sozialhilfe zu differenzieren.127 Insofern also EU-Ausländer Leistungen von Sozialhilfeträgern ihres Herkunftslandes durch Rückreise erhalten können, haben sie keinen Anspruch auf Leistungen in Deutschland. Die Gegenmeinung hält den Leistungsausschluss für verfassungswidrig. Zunächst sei bereits fragwürdig , ob die soziale Mindestsicherung im Herkunftsstaat im Einzelfall auch tatsächlich gegeben sei. Darüber hinaus sei eine Rückkehroption so lange unbeachtlich, wie der tatsächliche Aufenthalt in Deutschland faktisch geduldet werde, da der Leistungsanspruch in dem Moment erfüllt werden müsse, in dem der zu deckende elementare menschliche Lebensbedarf entstehe.128 Das Sozialgericht Mainz hat mit Beschluss vom 18. April 2016129 dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, inwiefern § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II alter Fassung (entspricht § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. b SGB II) mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist. Das Gericht ist der Überzeugung, dass es dem Gesetzgeber verwehrt sei, Personen, die sich in Deutschland tatsächlich aufhalten, trotz bestehender Hilfebedürftigkeit von sämtlichen existenzsichernden Sozialleistungen auszuschließen. Das Verfahren ist beim Bundesverfassungsgericht unter dem Aktenzeichen 1 BvL 4/16 anhängig. Eine abschließende Entscheidung hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Leistungsausschlüsse für EU-Ausländer bleibt dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. 8.1.2. Leistungsausschlüsse aufgrund der Sanktionsmechanismen Weiterhin führen der Sanktionsmechanismus des § 31 SGB II und der Sanktionsmechanismus des § 39a SGB XII zu einem Ausschluss der Leistungen im Einzelfall. Teile der Literatur sehen speziell durch den Sanktionsmechanismus des § 31 SGB II einen Verstoß gegen das in Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG garantierte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.130 126 BVerfG vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 – Rn. 136 m. w. N. 127 Ulmer, Menschenwürde im Kontext der EU-Binnenmigration, DVBl 2017, S. 482, 484. 128 Meyer-Höger, Grundsicherung für Arbeitsuchende: Ermittlung angemessener Unterkunftskosten; Anforderungen an ein schlüssiges Konzept zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenze, infoalso 2017, S. 99, 105; Devetzi /Janda, Das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende und in der Sozialhilfe – Verfassungs- und europarechtliche Bedenken gegen den Ausschluss von Unionsbürgern, ZESAR 2017, S. 197, 200. 129 SG Mainz vom 18.4.2016 – S 3 AS 149/16. 130 Vgl. zum Meinungsstand Drohsel, Sanktionen nach dem SGB II und das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, NZS 2014, S. 96, 97; Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 3/2018, § 31 Rn. 39 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 46 Hingegen hat das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 29. April 2015 die Minderung um 30 Prozent als verfassungskonform gebilligt.131 Zwar verweist das Gericht unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Regelbedarfsermittlung vom 9. Februar 2010132 darauf, dass der Staat verpflichtet sei die materiellen Voraussetzungen zur Verfügung zu stellen, wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann. Allerdings müssten die Mittel nicht bedingungslos zur Verfügung gestellt werden. Vielmehr sei dem Gesetzgeber bei der Konkretisierung ein Gestaltungsspielraum zugewiesen, innerhalb dessen er die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Für das Bundessozialgericht war nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber von Verfassungs wegen gehindert wäre, die Gewährung existenzsichernder Leistungen nach dem SGB II an Mitwirkungsobliegenheiten zu knüpfen und bei deren Verletzung leistungsrechtliche Minderungen vorzusehen. Das Sozialgericht Gotha hat durch Beschluss vom 2. August 2016133 dem Bundesverfassungsgericht allerdings die Frage vorgelegt, inwiefern die Sanktionsregelungen der §§ 31, 31a, 31b SGB II mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sind, als sich das für die Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums maßgebliche Arbeitslosengeld II auf Grund von Pflichtverletzungen um 30 beziehungsweise 60 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs mindert beziehungsweise bei weiteren Pflichtverletzungen vollständig entfällt. Im Sanktionsfall sei das verfassungsrechtlich garantierte soziokulturelle Existenzminimum nicht mehr sichergestellt, da andernfalls der Regelbedarf des Arbeitslosengeldes II über das Existenzminimum hinausgehen müsse. Das Verfahren ist beim Bundesverfassungsgericht unter dem Aktenzeichen 1 BvL 7/16 anhängig. Eine abschließende Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit bleibt dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Die Sanktionsregelungen im SGB XII sind hingegen verfassungsrechtlich weniger umstritten. Durch die ermessensabhängige Neuregelung des § 39a SGB XII sollten verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber der zwingenden Vorgängerregelung des § 25 BSHG beseitigt werden.134 Da der Staat Mittel auch im Bereich des Existenzminimums nicht bedingungslos zur Verfügung stellen 131 BSG vom 29.4.2015 – B 14 AS 19/14 R. 132 BVerfG vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09. 133 SG Gotha vom 2.8.2016 – S 15 AS 5157/14; vgl. auch Anmerkung Nielsson, NZS 2017, S. 194. 134 Vgl. Luthe in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand 11/2012, § 39a Rn. 11 m. w. N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 47 muss,135 stehen einer ermessensabhängigen Sanktion im SGB XII soweit ersichtlich keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber. 8.2. Aus unionsrechtlicher Sicht Wie oben dargestellt, beruhen die Leistungsausschlüsse im SGB II und SGB XII entweder auf unionsrechtlichen Ausnahmen zum Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 oder sie rechtfertigen sich aus dem Fehlen aufenthaltsrechtlicher Voraussetzungen der Freizügigkeitsrichtlinie, die einer Anwendung beziehungsweise einer Berufung auf das dort geregelte Diskriminierungsverbot entgegenstehen.136 Beide Fälle gehen auf Entscheidungen des Unionsgesetzgebers zurück (8.2.1. und 8.2.2.), die ihrerseits mit dem Primärrecht vereinbar sein müssen. Letzteres gilt auch für die mitgliedstaatliche Umsetzung dieser Richtlinienbestimmungen beziehungsweise ihre Konsequenzen im nationalen Recht (8.2.3.). 8.2.1. Unionsrechtmäßigkeit der Ausnahmeregelung in Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie Soweit ersichtlich, wurde dem Gerichtshof eine Gültigkeitsfrage in Bezug auf die Ausnahmetatbestände des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 bisher nicht gestellt. Den hierzu vorliegenden Verfahren lagen allesamt Auslegungsfragen nach Art. 267 Abs. 1 Buchst. b Var. 2 AEUV zugrunde. Dass der EuGH bei deren Beantwortung von einer Rechtmäßigkeit des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 ausging, lässt sich jedoch spätestens der Rechtsache García-Nieto entnehmen. Der dort streitgegenständlich Leistungsausschluss nach SGB II beruhte auf Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 bzgl. der Ausnahme vom Sozialleistungsbezug für die ersten drei Monate des Aufenthalts.137 Die in diesem Zusammenhang getätigten Ausführungen des Gerichtshofs gehen über eine bloße Auslegung und Anwendung dieser Richtlinienbestimmung hinaus138 und lassen sich als Bestätigung der Rechtmäßigkeit deuten. Der EuGH führte nämlich in diesem Zusammenhang aus, dass diese Richtlinienbestimmung „im Einklang mit dem Ziel der Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten [steht], das mit der Richtlinie 2004/38 verfolgt wird, was sich u. a. aus deren zehntem Erwägungsgrund ergibt. Da die Mitgliedstaaten von Unionsbürgern nicht verlangen dürfen, dass diese für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten im Hoheitsgebiet des jeweiligen Mitgliedstaats über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts und eine persönliche Absicherung für den Fall der Krankheit verfügen, ist es legitim, dass den betreffenden Mitgliedstaaten nicht auferlegt wird, während dieses Zeitraums die Kosten für sie zu übernehmen.“139 Zudem stellte er fest, dass diese Bestimmung mit Blick auf ihren Inhalt „geeignet [ist], bei der Gewährung von Sozialhilfeleistungen im Rahmen der Grundsicherung 135 BVerfG vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09. 136 Siehe oben unter 4., S. 22 ff. 137 Vgl. EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 27 ff., 42 f. 138 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 57 ff.; siehe auch EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 64 f. 139 Vgl. EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 45 (Hervorhebung durch Verfasser). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 48 ein erhöhtes Maß an Rechtssicherheit und Transparenz zu gewährleisten, und […] zugleich im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit [steht].“140 Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass der Gerichtshof Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 als primärrechtskonforme Einschränkung des Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit ansieht. 8.2.2. Unionsrechtmäßigkeit aufenthaltsrechtlicher Voraussetzungen nach der Freizügigkeitsrichtlinie Die wohl relevanteste aufenthaltsrechtliche Voraussetzung in diesem Zusammenhang ist die des Vorliegens ausreichender Existenzmittel, wie sie in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und c RL 2004/38 enthalten ist. Zwar liegen hierzu – soweit ersichtlich – keine vergleichbar deutlichen Aussagen des EuGH wie die eben zu Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 zitierten vor. Dass der Gerichthof jedoch insoweit von einer primärrechtskonformen Ausgestaltung der in Art. 21 Abs. 1 AEUV angelegten sekundärrechtlichen Einschränkungsbefugnis ausgeht, lässt sich etwa der Rechtssache Dano entnehmen . Dort stand die Frage im Raum, ob die betreffende ausländische, nicht erwerbstätige Unionsbürgerin über ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38 verfügt, wobei es entscheidend auf das Vorliegen ausreichender Existenzmittel ankam.141 Der EuGH führt insoweit aus: „Ließe man zu, dass Personen, denen kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zusteht, unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer Sozialleistungen beanspruchen könnten, liefe dies dem in ihrem zehnten Erwägungsgrund genannten Ziel zuwider, eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats durch Unionsbürger, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, zu verhindern. Überdies unterscheidet die Richtlinie 2004/38 hinsichtlich der Voraussetzung , über ausreichende Existenzmittel zu verfügen, zwischen erwerbstätigen und nicht erwerbstätigen Personen. Der erstgenannten Gruppe von Unionsbürgern […] steht […] das Aufenthaltsrecht zu, ohne dass sie weitere Voraussetzungen erfüllen muss. Dagegen wird in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie von nicht erwerbstätigen Personen verlangt, dass sie über ausreichende eigene Existenzmittel verfügen. Somit ist festzustellen, dass Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 nicht erwerbstätige Unionsbürger daran hindern soll, das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Anspruch zu nehmen. Wie der Generalanwalt […] ausgeführt hat, ist das eventuelle Vorliegen einer Ungleichbehandlung von Unionsbürgern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt Gebrauch gemacht haben, und Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats bei der Gewährung von Sozialleistungen eine unvermeidliche Folge der Richtlinie 2004/38. Eine solche potenzielle Ungleichbehandlung beruht nämlich auf dem Verhältnis, das der Unionsgesetzgeber in Art. 7 dieser Richtlinie zwischen dem Erfordernis ausreichender Existenzmittel als Voraussetzung für den Aufenthalt und dem Bestreben, keine Belastung für die Sozialhilfesysteme der Mitgliedstaaten herbeizuführen, geschaffen hat. Ein Mitgliedstaat muss daher gemäß Art. 7 140 Vgl. EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 49 (Hervorhebung durch Verfasser). 141 EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 73. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 49 der Richtlinie 2004/38 die Möglichkeit haben, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaats zu kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen, Sozialleistungen zu versagen. Würde einem betroffenen Mitgliedstaat diese Möglichkeit genommen, hätte dies […] zur Folge, dass Personen, die bei ihrer Ankunft im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, um für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, automatisch in den Genuss solcher Mittel kämen […].“142 Hieraus kann geschlussfolgert werden, dass der EuGH das zwischen erwerbstätigen und nicht erwerbstätigen Unionsbürgern differenzierende Aufenthaltsrechtregime der Freizügigkeitsrichtlinie insgesamt als zulässig ansieht und damit auch die Voraussetzung ausreichender Existenzmittel für die letztgenannte Gruppe. 8.2.3. Unionsrechtmäßigkeit mitgliedstaatlicher Umsetzung beziehungsweise sich daraus ergebender Konsequenzen im nationalen Recht Ist vor diesem Hintergrund davon auszugehen, dass sowohl die sekundärrechtlichen Leistungsausschlüsse als auch die aufenthaltsrechtliche Voraussetzung ausreichender Existenzmittel unionsrechtlich zulässig sind, stellt sich die Frage, ob dies auch für die sich daraus ergebende Umsetzung beziehungsweise ihre Konsequenzen im nationalen Recht gilt. Als unionsrechtlicher Prüfungsmaßstab kommen hierfür allenfalls Unionsgrundrechte in Betracht. An diese sind die Mitgliedstaaten nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 Grundrechte-Charta jedoch nur bei der „Durchführung des Rechts der Union“ gebunden. Eine solche Durchführung von Unionsrecht verneint der Gerichthof allerdings, soweit es beispielsweise um die Ausgestaltung beitragsunabhängiger Geldleistungen im Sinne des Art. 70 VO 883/2004 und damit auch um Leistungen nach SGB II oder SGB XII geht.143 Denn hierfür sind – mangels unionsrechtlicher Vorgaben – die Mitgliedstaaten zuständig.144 Der EuGH stellt insoweit abschließend fest: „Die Mitgliedstaaten führen folglich nicht das Recht der Union durch, wenn sie die Voraussetzungen und den Umfang der Gewährung besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen festlegen. Daher ist der Gerichtshof für die Beantwortung der […] Frage nicht zuständig.“145 142 EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 74 bis 79. 143 EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 87 ff., insb. 91. 144 EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 89 f. 145 EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 91 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 50 Mangels Anwendbarkeit der EU-Grundrechte zur Prüfung der Voraussetzungen und des Umfangs der Gewährung von Leistungen wie sie im SGB II und SGB XII vorgesehen sind, sind diese Aspekte und die sich daraus ergebenden abstrakt-generellen Konsequenzen im nationalen Recht nicht am Maßstab des Unionsrechts zu messen.146 Der Vollständigkeit halber ist abschließend darauf hinzuweisen, dass hieraus nicht der Schluss zu ziehen ist, dass das Unionsrecht einer Gewährung von Leistungen nach SGB II oder SGB XII in Situationen, in denen dies zwar unionsrechtlich nicht vorgegeben, aber verfassungsrechtlich geboten sein kann, entgegensteht. Verwiesen wird insoweit auf einen in der Rechtsprechung des EuGH entwickelten Rechtsgrundsatz – im Schrifttum auch als Günstigkeitsprinzip bezeichnet147 – wonach es den Mitgliedstaaten unbenommen ist, freizügigkeitsberechtigten Personen und deren Familienmitgliedern ein Mehr an sozialer Sicherheit einzuräumen, als sich aus den Vorgaben des (koordinierenden) EU-Sozialrechts ergibt.148 Dies dürfte auch dann gelten, wenn es entweder an der Freizügigkeitsberechtigung des ausländischen Unionsbürgers fehlt oder eine der in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 vorgesehenen Ausnahmen greift. 146 Etwas anderes gilt für die Anwendung der Richtlinienvorgaben im Einzelfall und die darauf bezogene Prüfung der Unionsrechtskonformität. Um diese geht es vorliegend jedoch nicht. 147 Siehe hierzu Devetzi, Familienleistungen im Kontext der Freizügigkeit: Rechtsprechung und aktuelle Entwicklungen , NZS 2017, S. 881 (883 f.). 148 EuGH, Urt. v. 12.6.2012, verb. Rs. C-611/10 u. 612/10 (Hudzinski u. Wawrzyniak), Rn. 55. Siehe auch EuGH, Urt. v. 16.7.2009, Rs. C-208/07 (Von Chamier-Glisczinski), Rn. 56. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 077/18; PE 6 - 3000 - 121/18 Seite 51 9. Anlagenverzeichnis Anlage 1: „Ausreisepflicht von Unionsbürgern nach deutschem Recht“ Kurzinformation des Fachbereiches WD 3 Verfassung und Verwaltung WD 3-3000-331/18 vom 20. September 2018 Anlage 2: „Kindergeldanspruch für aufstockende EU-Arbeitnehmer“ Sachstand des Fachbereichs WD 4: Haushalt und Finanzen WD 4 - 3000 - 114/18 vom 24.7.2018 Anlage 3: „Kürzungen des Kindergeldes und EU-Recht“Ausarbeitung des Fachbereichs PE 6: Europa PE 6 - 3000 - 008/14 vom 25.3.2014 Anlage 4: „Anspruch Ausländischer Studierender auf eine Förderung nach dem BAföG“ Sachstand des Fachbereichs WD 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung WD 8 - 3000 - 047/18 vom 22.5.2018 ***