Deutscher Bundestag Maßnahmen der Europäischen Zentralbank zur Bekämpfung der Spannungen an den Finanzmärkten - Vereinbarkeit des Ankaufs von Staatsanleihen von Mitgliedstaaten mit den grundlegenden Verträgen der Europäischen Union - Sachstand Wissenschaftliche Dienste © 2010 Deutscher Bundestag WD 11 – 3000 – 120/10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 120/10 Seite 2 Maßnahmen der Europäischen Zentralbank zur Bekämpfung der Spannungen an den Finanzmärkten - Vereinbarkeit des Ankaufs von Staatsanleihen von Mitgliedstaaten mit den grundlegenden Verträgen der Europäischen Union Sachstand: WD 11 – 3000 – 120/10 Abschluss der Arbeit: 19. Mai 2010 Fachbereich: WD 11: Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 120/10 Seite 3 1. Einleitung Am 10. Mai 2010 beschloss der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB-Rat) mehrere Maßnahmen , mit denen den starken Spannungen in einigen Segmenten der Finanzmärkte entgegengewirkt und die Durchführbarkeit der auf mittelfristige Preisstabilität gerichteten Geldpolitik gesichert werden soll. Der EZB-Rat schloss aus, dass diese Maßnahmen Einfluss auf den geldpolitischen Kurs der EZB haben.1 Zu diesen Maßnahmen gehören Interventionen der EZB an den Märkten für öffentliche und private Schuldverschreibungen im Euro-Währungsgebiet, mit denen das Ziel verfolgt wird, die Beeinträchtigungen an den Wertpapiermärkten durch die Sicherstellung von Markttiefe und –liquidität in gestörten Marktsegmenten zu beheben und einen angemessenen geldpolitischen Transmissionsmechanismus wiederherzustellen. Auf der Grundlage dieses Beschlusses hat die EZB bis zum 14. Mai 2010 auf den Sekundärmärkten Staatsanleihen im Wert von 16,5 Mrd. Euro aufgekauft. Um die Auswirkungen dieser Marktintervention nach Maßgabe des EZB-Ratsbeschlusses zu kompensieren, hat sie am 18. Mai 2010 damit begonnen, die den veräußernden Banken zugeflossene Liquidität durch das Angebot einer einwöchigen Einlage bei der EZB wieder abzuschöpfen. Damit begegnet die EZB den Befürchtungen vor einer verstärkten Ausweitung der Geldmenge und Inflation.2 2. Zum Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung Nach der Verbotsnorm des Art. 123 AEUV ist es weder der EZB noch den nationalen Zentralbanken gestattet, der EU oder den Mitgliedstaaten direkte Kredite zu gewähren oder deren Schuldtitel unmittelbar zu erwerben (monetäre Haushaltsfinanzierung).3 Damit soll sichergestellt werden, dass sich die Union oder die Mitgliedstaaten nicht über die EZB oder die jeweilige nationale Zentralbank zu deren – im Vergleich zu den Kapitalmärkten günstigeren – Bedingungen finanzieren können sondern stattdessen den an den Finanzmärkten wirkenden Kräften ausgesetzt sind. Die Bestimmung soll auch die Möglichkeiten eines Mitgliedstaates ausschließen, sich direkt, d. h. unter Umgehung der Kapitalmärkte, bei einer Zentralbank – der EZB oder der nationalen Zentralbank – zu refinanzieren, da sich dies inflationsfördernd auswirken könnte. Eine vertragliche Verpflichtung oder die Möglichkeit der EZB oder der nationalen Zentralbanken, den Mitgliedstaaten und Organen der EU unbegrenzt Kredite zu gewähren, führte zum Verlust der Geldmengenkomponente aus dem Kontrollbereich der EZB und der Zentralbanken.4 Über die Höhe der monetären Basis würde die mitgliedstaatliche Budgetgestaltung entscheiden. Durch das Verbot der monetären Finanzierung durch die Zentralbanken wird der öffentliche Sektor zu einer Kreditfinanzierung an den Kapi- 1 Pressemitteilung der EZB vom 10. Mai 2010, abrufbar unter: http://www.bundesbank.de/download/ezb/pressenotizen/2010/20100510.ezb.pdf (19. Mai 2010). 2 Vgl. Die EZB kauft Anleihen in Milliardenhöhe, Handelsblatt vom 18. Mai 2010, abrufbar unter: http://www.handelsblatt.com/finanzen/anleihen/liquiditaetsspritze-die-ezb-kauft-anleihen-in-milliardenhoehe;2582988 (19. Mai 2010). 3 Zu den Bestimmungen des Art. 123 AEUV und den hierzu erlassenen Sekundärrechtsakten vgl. ausführlich: Robbe, Patrizia, Zur Reichweite des Verbots der monetären Finanzierung von öffentlichen Defiziten gemäß Art. 123 AEUV, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 11 – 3000 – 23/10), 9. Februar 2010. 4 Vgl. Gaitanides, Charlotte, Das Recht der Europäischen Zentralbank, Tübingen 2005, S. 98; Kempen, in: Streinz, Rudolf, EUV/EGV, München 2003, Art. 101 EGV Rn. 1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 120/10 Seite 4 talmärkten gezwungen. Unsolide Haushaltsführung wird hier mit Zinsaufschlägen quittiert.5 Das Verbot gemäß Art. 123 AEUV soll damit die Bemühungen um eine solide Haushaltspolitik fördern. 2.1. Reichweite des Verbots Das Verbot bezieht sich auf zwei Aspekte: einerseits auf die direkten Zentralbankkredite und andererseits auf den unmittelbaren Erwerb von Schuldtiteln durch die EZB oder die nationalen Zentralbanken . Die einzelnen Tatbestandsmerkmale des früheren Art. 101 EGV werden durch die auf der Grundlage von Art. 103 Abs. 2 EGV erlassene Verordnung (EG) Nr. 3603/936 inhaltlich konkretisiert. 2.1.1. Verbot des direkten Zentralbankkredits Art. 123 Abs. 1 Alt. 1 AEUV verbietet Überziehungs- und andere Kreditfazilitäten bei der EZB und den Zentralbanken der Mitgliedstaaten für die dort genannten Schuldner des öffentlichen Sektors. Das Verbot richtet sich an Gläubiger und Schuldner gleichermaßen.7 Eine Ausnahme gilt nach Art. 123 Abs. 2 AEUV nur für die Kreditinstitute im öffentlichen Eigentum. Diese sollen bei der Bereitstellung von Zentralbankkrediten wie private Kreditinstitute behandelt werden. Definiert wird eine „Überziehungsfazilität“ gem. Art. 1 Abs. 1 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 3603/93 als „jede Bereitstellung von Mitteln zugunsten des öffentlichen Sektors, deren Verbuchung einen Negativsaldo ergibt oder ergeben könnte“. Als „andere Kreditfazilität“ wird grundsätzlich jede andere bestehende Forderung, „jede Finanzierung von Verbindlichkeiten des öffentlichen Sektors gegenüber Dritten“ und „jede Transaktion mit dem öffentlichen Sektor, die zu einer Forderung an diesen führt oder führen könnte“ bezeichnet (Art. 1 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EG) Nr. 3603/93). 2.1.2. Verbot des unmittelbaren Erwerbs von Schuldtiteln Nach Art. 123 Abs. 1 Alt. 2 AEUV ist auch der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln der in der Vorschrift genannten öffentlichen Stellen durch die EZB und die nationalen Zentralbanken untersagt . Dieses Verbot betrifft den Ankauf staatlicher Wertpapiere direkt vom Emittenten am sog. Primärmarkt.8 Diese Regelung macht deutlich, dass jede Form der Finanzierung der öffentlichen Haushalte durch die EZB und die nationalen Zentralbanken ausgeschlossen sein soll.9 Würde die 5 Häde, Ulrich, in: Calliess, Christian/Ruffert, Matthias (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 101 EGV, Rn. 5. 6 Verordnung (EG) Nr. 3603/93 des Rates vom 13. Dezember 1993 zur Festlegung der Begriffsbestimmungen für die Anwendung der in Art. 104 und 104b Abs. 1 des Vertrages vorgesehenen Verbote, abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:31993R3603:DE:HTML (19. Mai 2010). Der Wechsel der Rechtsgrundlage von Art. 101 EGV zu Art. 123 AEUV hat nicht zur Unwirksamkeit der Verordnung 3603/93 geführt. Sie hat vielmehr auch Relevanz für die Auslegung des Art. 123 AEUV. 7 Kempen, in: Streinz, Art. 101 EGV Rn. 2. 8 Bandilla, Rüdiger, in Grabitz, Eberhard/Hilf, Meinhard, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Bd. II, München, 40. Erglfg. – Stand: Oktober 2009, Art. 101 EGV Rn. 5; Gaitanides, S. 101. 9 Gaitanides, S. 101; Häde, Ulrich, in: Calliess, Christian/Ruffert, Matthias (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG- Vertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 101 EGV, Rn. 12. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 120/10 Seite 5 EZB direkt Schuldverschreibungen von den Mitgliedstaaten übernehmen, käme dies einer direkten Kreditgewährung gleich.10 3. Einordnung der Marktintervention durch die Europäische Zentralbank Die zu den von der EZB beschlossenen Maßnahmen gehörende Intervention an den Märkten für öffentliche und private Schuldverschreibungen im Euro-Währungsgebiet durch den Ankauf von Staatsanleihen von Mitgliedstaaten der EU ist an der Verbotsbestimmung des Art. 123 Abs. 1 Alt. 2 AEUV zu messen. Fraglich ist, ob ein Verstoß gegen das Verbot des unmittelbaren Erwerbs von Schuldtiteln vorliegt. 3.1. Zulässigkeit des mittelbaren Erwerbs von Schuldtiteln am Sekundärmarkt Nach dem Wortlaut des Art. 123 Abs. 1 AEUV bezieht sich das Verbot im Hinblick auf Schuldtitel nur auf den unmittelbaren Erwerb. Der mittelbare Erwerb an den Kapitalmärkten bleibt zulässig .11 Danach dürfen die Zentralbanken entsprechende Titel für eigene Rechnung jederzeit auf dem Sekundärmarkt für Staatspapiere kaufen. Ziel dieser Regelung ist es, das traditionelle geldpolitische Instrument der Offenmarktpolitik zu bewahren, bei der die Zentralbankgeldmenge durch den Kauf oder Verkauf staatlicher Schuldtitel auf den Wertpapiermärkten reguliert wird.12 Darüber hinaus werden durch derartige Käufe am Sekundärmarkt weder die Flexibilität der Notenbankbilanz eingeschränkt, noch führen Sekundärmarktkäufe zu einer direkten Finanzierungsbeziehung zwischen dem öffentlichen Sektor und den Zentralbanken.13 Das Verbot des Art. 123 Abs. 1 Alt. 2 AEUV erfasst somit lediglich den Ankauf staatlicher Wertpapiere am Primärmarkt. 3.2. Intervention der Europäischen Zentralbank als mittelbarer Erwerb Im Rahmen der Intervention der EZB an den Märkten für öffentliche und private Schuldverschreibungen im Euro-Währungsgebiet hat die EZB Staatsanleihen nicht direkt von den öffentlichen Emittenten sondern mittelbar am Kapitalmarkt angekauft. Damit fällt dieser Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB nicht unter den Tatbestand des unmittelbaren Erwerbs; es handelt sich um einen Ankauf von Titeln auf dem Sekundärmarkt für Staatspapiere. 3.3. Ausschluss einer Umgehungsabsicht Dass diese Vorgehensweise gleichwohl nicht zu einer Umgehung des Verbots gem. Art. 123 Abs. 1 AEUV führen darf, stellt der 7. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 3603/93 klar, der geeignete Maßnahmen fordert, damit insbesondere das mit den monetären Finanzierungsverboten des öffentlichen Sektors verbundene Ziel nicht durch den Erwerb auf dem Sekundärmarkt umgangen wird.14 10 Gaitanides, S. 101. 11 Gaitanides, S. 101 12 Gaitanides, S. 102. 13 Gnan, Ernest, in: von der Groeben/Schwarze – Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 3. Auflage, 2003, Art. 101 EGV, Rn. 35. 14 Vgl. auch Bandilla, in: Grabitz/Hilf, Art. 101 EGV Rn. 5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 11 – 3000 – 120/10 Seite 6 Eine Umgehungsabsicht der EZB kommt aber bereits angesichts der Zielsetzung ihrer Marktintervention nicht in Betracht. Der Ankauf von Staatsanleihen war darauf gerichtet, festgestellte Beeinträchtigungen an den Wertpapiermärkten zu beheben und einen angemessenen geldpolitischen Transmissionsmechanismus wiederherzustellen, der die Durchführbarkeit der Geldpolitik der EZB sichert. Das Ziel bestand gerade nicht in der Übernahme von Schuldverschreibungen von Mitgliedstaaten zum Zwecke der Finanzierung ihrer Staatshaushalte, die der Regelungsabsicht des Art. 123 Abs. 1 Alt. 2 AEUV zuwiderliefe. 3.4. Fazit Somit steht das Verbot des Art. 123 Abs. 1 Alt. 2 AEUV den Interventionen der EZB an den Märkten für öffentliche und private Schuldverschreibungen durch den Ankauf von Staatsanleihen von EU-Mitgliedstaaten nicht entgegen.