© 2020 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 117/19 Der sog. Kohlekompromiss der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ und das EU-Beihilfenrecht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 2 Der sog. Kohlekompromiss der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ und das EU-Beihilfenrecht Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 117/19 Abschluss der Arbeit: 22.01.2020 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Überblick über das EU-Beihilferecht 4 2.1. Materielles EU-Beihilferecht 4 2.2. EU-Beihilfeverfahren 5 2.2.1. Vorabnotifizierung und Beihilfeverfahren 6 2.2.2. Freistellung von der Notifizierung und ex-post-Kontrolle 7 3. Der Kohlekompromiss im Lichte des Beihilferechts 7 3.1. Materielle Beihilferelevanz der im Kohlekompromiss vorgeschlagenen Maßnahmen 7 3.1.1. Erläuterungen zu den Beihilfemerkmalen 8 3.1.2. Beihilferelevanz der Maßnahmen im Energiesektor 10 3.1.2.1. Fehlende tatbestandliche Beihilferelevanz 10 3.1.2.2. Tatbestandliche Beihilferelevanz, ggf. in Abhängigkeit von der Ausgestaltung 10 3.1.3. Beihilferelevanz der Maßnahmen zur Begleitung des Strukturwandels in den betroffenen Revieren 11 3.1.3.1. Fehlende tatbestandliche Beihilferelevanz 12 3.1.3.2. Tatbestandliche Beihilferelevanz, ggf. in Abhängigkeit von der Ausgestaltung 13 3.1.4. Fazit 14 3.2. Materielle und verfahrensrechtliche Konsequenzen im Falle materieller Beihilferelevanz 14 4. Fazit 16 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 4 1. Einleitung Der Fachbereich wird um Beantwortung der Frage ersucht, welche Aspekte des sog. Kohlekompromisses , den die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ in ihrem Abschlussbericht vom Januar 2019 vorgestellt hat,1 durch das EU-Beihilferecht gefährdet sein könnten. Dabei geht es weniger um die Prüfung einzelner Maßnahmen , als vielmehr um die allgemeinen Auswirkungen und Begrenzungen, die sich aus diesem Bereich des Unionsrechts auf die im Kohlekompromiss vorgeschlagenen Lösungen ergeben können . Hierzu ist zunächst einleitend festzuhalten, dass das Beihilferecht als rechtlich zu beachtender Umstand im Kohlekompromiss an zahlreichen Stellen berücksichtigt wird.2 Bereits bei der einleitenden Darstellung der Bewertungsmaßstäbe wird darauf verwiesen, dass „die empfohlenen Maßnahmen […] europa- und EU-beihilferechtskonform, also rechtssicher, umzusetzen [sind].“3 Sodann ist anzumerken, dass die im Kohlekompromiss vorgeschlagenen Maßnahmen oftmals eher genereller Natur sind, eine konkretere beihilferechtliche Einschätzung erst im Fall der weiteren Ausgestaltung durch Bund, Länder oder Kommunen möglich ist. Im Folgenden wird zunächst ein kurzer Überblick über das EU-Beihilferecht gegeben (2.), bevor dann aufgezeigt wird, unter welchen Voraussetzungen und in Bezug auf welche Aspekte des Kohlekompromisses sich hieraus Auswirkungen und Beschränkungen ergeben (3.). 2. Überblick über das EU-Beihilferecht Das EU-Beihilferecht lässt sich in materielle (2.1.) und formal-verfahrensrechtliche Bestimmungen (2.2.) aufteilen. 2.1. Materielles EU-Beihilferecht Den materiellen Kern des EU-Beihilferechts bildet das an die Mitgliedstaaten gerichtete grundsätzliche Verbot staatlicher Beihilfen. Nach Art. 107 Abs. 1 AEUV sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen . Diesem Normtext werden mehrere Merkmale entnommen, die kumulativ erfüllt sein müssen, um von dem Vorliegen einer Beihilfe ausgehen zu können: Neben der aus staatlichen Mitteln gewährten Begünstigung an Unternehmen gehören hierzu die Selektivität (Begünstigung nur be- 1 Online abrufbar bspw. auf den Seiten des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) – im Folgenden : Kohlekompromiss. 2 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 8, 35, 58 f. 63, 66, 97 ff. 102 f. 3 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 8. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 5 stimmter Unternehmen oder Produktionszweige), die Wettbewerbsverfälschung und die Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels.4 Fehlt es nur an einem der Merkmale, so liegt keine Beihilfe nach Art. 107 Abs. 1 AEUV vor und das EU-Beihilferecht findet keine Anwendung .5 Sind die Merkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV hingegen erfüllt, so ist dies nicht gleichbedeutend mit einer Unionsrechtswidrigkeit der betreffenden nationalen Maßnahme. Denn das in dieser Vertragsvorschrift geregelte Beihilfeverbot gilt nicht absolut, sondern nur insoweit, als in den Verträgen nichts anderes bestimmt ist. Zu diesen „anderen Bestimmungen“ zählt insbesondere Art. 107 Abs. 3 AEUV6 und die dort aufgeführten Fallgruppen.7 Danach können Beihilfen unter bestimmten Voraussetzungen als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen und insoweit gerechtfertigt bzw. als unionsrechtlich zulässig angesehen werden. 2.2. EU-Beihilfeverfahren Der Vollzug des EU-Beihilferechts obliegt auf Grundlage von Art. 108 AEUV vor allem der Kommission .8 In verfahrenstechnischer Hinsicht sind dabei zwei Ansätze zu unterscheiden: eine primärrechtlich vorgesehene ex-ante-Prüfung (siehe unter 2.2.1.) und eine sekundärrechtlich geprägte ex-post-Kontrolle (siehe unter 2.2.2.). 4 Siehe zu den einzelnen Merkmalen und der dazu ergangenen Rechtsprechung die sog. Beihilfemitteilung der Kommission: Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl.EU 2016 Nr. C 262/1 (letztmaliger Abruf unter 22.01.20). In dieser Mitteilung erläutert die Kommission unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH die einzelnen Merkmale des Beihilfetatbestandes. 5 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 24.07.2003, Rs. C-280/00 (Altmark Trans), Rn. 74, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 6 Dazu zählen u. a. Beihilfen zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung von Gebieten, in denen die Lebenshaltung außergewöhnlich niedrig ist oder eine erhebliche Unterbeschäftigung herrscht (Buchst. a), Beihilfen zur Förderung wichtiger Vorhaben von gemeinsamem europäischen Interesse (Buchst. b Var. 1) und Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete (Buchst. c). 7 Weitere primärrechtliche Vorschriften in diesem Zusammenhang sind Art. 107 Abs. 2 AEUV (zwingende Legalausnahmen , u. a. Beihilfen sozialer Art an einzelne Verbraucher [Buchst. a] und Beihilfen zur Beseitigung von Schäden, die durch Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche Ereignisse entstanden sind [Buchst. b]) oder Art. 106 Abs. 2 AEUV für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind oder den Charakter eines Finanzmonopols haben. 8 Zu den wenigen, zum Teil auf Ausnahmesituationen beschränkten Kompetenzen des Rates im EU-Beihilfenrecht nach Art. 107 Abs. 3 lit. e, Art. 108 Abs. 2 UAbs. 3 sowie Art. 109 AEUV, vgl. allgemein, Frenz, Handbuch Europarecht, Band 3: Beihilfe- und Vergaberecht, 2007, Rn. 1224 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 6 2.2.1. Vorabnotifizierung und Beihilfeverfahren Nach Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV sowie der sekundärrechtlichen Konkretisierung dieser Bestimmungen in Gestalt der Beihilfenverfahrensordnung (Beihilfe-VerfO)9 sind mitgliedstaatliche Vorhaben vorab (präventiv) zu überprüfen. Verfahrensrechtlicher Ausgangspunkt ist hierbei die Pflicht der Mitgliedstaaten, Beihilfen vor ihrer Einführung bei der Kommission anzumelden (Notifizierungspflicht, vgl. Art. 108 Abs. 3 S. 1 AEUV10). Diese prüft sodann, ob eine Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegt und – wenn das der Fall ist – ob sie insbesondere nach Art. 107 Abs. 3 AEUV gerechtfertigt werden kann.11 Bis zum Abschluss des Verfahrens darf der betreffende Mitgliedstaat die Beihilfe nicht durchführen (sog. Durchführungsverbot, vgl. Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV12). Verstöße hiergegen können zur Aussetzung oder vorläufigen Rückforderung von bereits gewährten Beihilfen führen und zwar unabhängig von der (noch festzustellenden) materiellen Rechtmäßigkeit der betreffenden Maßnahme.13 Von hoher praktischer Relevanz für die Beihilfeprüfung sind zahlreiche Sekundärrechtsakte, in denen die Kommission einerseits die beihilferechtliche Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Beihilfetatbestand des Art. 107 Abs. 1 AEUV und andererseits ihre Ermessenspraxis insbesondere zur Auslegung des Art. 107 Abs. 3 AEUV verschriftlicht hat, um die Rechtssicherheit (Vorhersehbarkeit ) und Transparenz ihres Entscheidungsprozesses zu erhöhen.14 Zu diesen Rechtsakten gehören überwiegend nicht verbindliche Maßnahmen, die – ähnlich wie nationale Verwaltungsvorschriften – zumindest eine Selbstbindung der Kommission begründen.15 Diese nichtverbindlichen Maßnahmen werden in Form von (zum Teil bereichsspezifischen) Leitlinien, Unionsrahmen und Mitteilungen16 erlassen. Von Bedeutung ist in tatbestandlicher Hinsicht die 2016 erlassene sog. Beihilfemitteilung, in welcher die Kommission den Beihilfetatbestand des Art. 107 Abs. 1 AEUV anhand der bis zu diesem 9 Verordnung (EU) Nr. 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 AEUV, ABl.EU 2015 Nr. L 248/9 (letztmaliger Abruf am 22.01.20). 10 Vgl. auch Art. 2 Abs. 1 Beihilfe-VerfO (Fn. 9). 11 Vgl. auch Art. 4, 6, 7 Beihilfe-VerfO (Fn. 9). 12 Vgl. auch Art. 3 Beihilfe-VerfO (Fn. 9). 13 Vgl. Art. 13 Beihilfe-VerfO (Fn. 9). Ist eine Beihilfe materiell nicht rechtfertigungsfähig, ist sie endgültig zurückzufordern , vgl. Art. 16 Beihilfe-VerfO (Fn. 9). 14 Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 107 AEUV, Rn. 4. 15 Vgl. bspw. EuGH, Urt. v. 5.10.2000, Rs. C-288/96 (Deutschland/Kommission), Rn. 62; EuGH, Urt. v. 7.03.2002, Rs. C-310/99 (Italien/Kommission), Rn. 52. 16 Ein Gesamtüberblick über die verschiedenen Rechtsakte findet sich auf den Seiten der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission (unveränderter Stand vom 15.04.2014, letztmaliger Abruf am 22.01.20). Zur Frage der Rechtsverbindlichkeit der ermessenskonkretisierenden Kommissionsakte, vgl. Frenz (Fn. 8), Rn. 747 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 7 Zeitpunkt ergangenen Rechtsprechung erläutert.17 Hinsichtlich der hier relevanten Rechtsakte für die Ebene der Rechtfertigung wird auf die Ausführungen unten unter 3.2. verwiesen.18 2.2.2. Freistellung von der Notifizierung und ex-post-Kontrolle Neben der primärrechtlich vorgegebenen (präventiven) ex-ante Kontrolle eröffnet das Primärrecht die Möglichkeit, Beihilfen auch ohne vorherige Anmeldung und Kommissionsüberprüfung zu gewähren, soweit bestimmte vorab bekannte materielle und formale Anforderungen eingehalten werden.19 Diese Anforderungen ergeben sich v. a. aus sog. Freistellungsverordnungen, die die Kommission u. a. auf Grundlage von Art. 108 Abs. 4 AEUV in Verbindung mit einer sie dazu ermächtigenden Verordnung des Rates im Sinne des Art. 109 AEUV erlassen kann.20 Bei Einhaltung der jeweiligen Vorgaben werden die Mitgliedstaaten von der Pflicht zur (vorherigen) Notifizierung des Beihilfevorhabens und seiner Vorab-Kontrolle nach Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV freigestellt . Die Kommission kann die ihr gleichwohl anzuzeigende Gewährung solcher Beihilfen jedoch nachträglich kontrollieren. 3. Der Kohlekompromiss im Lichte des Beihilferechts Im Hinblick auf den Kohlekompromiss ist zunächst zu fragen, inwieweit dieser in materieller Hinsicht beihilferelevante Maßnahmen empfiehlt (3.1.). Nur soweit das der Fall ist, kann das Beihilferecht Auswirkungen auf die dort vorgeschlagenen Maßnahmen zeitigen bzw. zu Begrenzungen führen, die bei der Umsetzung des Kohlekompromisses zu beachten sind (3.2.). 3.1. Materielle Beihilferelevanz der im Kohlekompromiss vorgeschlagenen Maßnahmen Der Kohlekompromiss führt eine Vielzahl verschiedener Maßnahmen auf, mit denen vor allem den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der dort vorgeschlagenen Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung begegnet werden soll. Beihilferelevant sind diese Maßnahmen nur, soweit sie im Einzelnen die oben genannten Beihilfemerkmale im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllen . Von entscheidender Bedeutung sind dabei sowohl in genereller Hinsicht als auch im vorliegenden Fall die Merkmale „Unternehmen“, „Begünstigung“, „staatliche Mittel“ und „Selektivität “, die im Folgenden kurz erläutert werden (3.1.1.). Anschließend sind auf dieser Grundlage die 17 Siehe oben Fn. 4. 18 Siehe unten S. 14 ff. 19 Dieser Bereich des Beihilferechts wurde im Zuge der 2014 durchgeführten Beihilferechtsreform („State Aid Modernisation “) ausgebaut, vgl. Soltész, Das neue europäische Beihilferecht, NJW 2014, S. 3128 (3130). 20 Bei der Verordnung des Rates auf Grundlage von Art. 109 AEUV handelt es sich um die Verordnung (EU) 2015/1588 des Rates vom 13. Juli 2015 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen, ABl.EU 2015 Nr. L 248/1, (letztmaliger Abruf am 22.01.20). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 8 im Kohlekompromiss empfohlenen Maßnahmen im Energiesektor21 (3.1.2.) und die Maßnahmen für die Begleitung des Strukturwandels22 zu betrachten (3.1.3.). 3.1.1. Erläuterungen zu den Beihilfemerkmalen Das Beihilferecht erfasst nur die Begünstigung von Unternehmen. Das ist nach ständiger Rechtsprechung jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform (öffentlich oder privatrechtlich) und der Art ihrer Finanzierung.23 Als wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Unternehmensdefinition gilt jedes Anbieten von Waren und Dienstleistungen auf einem Markt.24 Obgleich mit Blick auf die Rechtsform im Grundsatz auch öffentliche Einrichtungen einschließlich des Staates und seiner Untergliederungen Unternehmen in diesem Sinne sein können, findet das Beihilferecht – ungeachtet eventueller Abgrenzungsschwierigkeiten im Einzelfall – keine Anwendung auf die staatliche Tätigkeit als „öffentliche Hand“, also die Ausübung hoheitlicher Befugnisse und Aufgaben.25 Unter einer Begünstigung oder einem Vorteil (so die Bezeichnung in der Beihilfemitteilung) ist jede wirtschaftliche Vergünstigung zu verstehen, die ein Unternehmen unter normalen Marktbedingungen , d. h. ohne Eingreifen des Staates, nicht erhalten könnte.26 Die Vergünstigung kann dabei sowohl in der Gewährung positiver wirtschaftlicher Leistungen (etwa klassische Subventionen ) als auch in der Befreiung von sonst zu tragenden wirtschaftlichen Belastungen bestehen .27 Entscheidend sind dabei allein die Auswirkungen einer Maßnahme auf das betreffende Unternehmen, auf die Gründe oder Ziele des staatlichen Handelns kommt es ebenso wenig an, wie auf die genaue Art der Maßnahme.28 Eine Begünstigung oder ein Vorteil sind insbesondere dann ausgeschlossen, wenn das Unternehmen eine der wirtschaftlichen Vergünstigung angemessene Gegenleistung erbringt.29 21 Siehe die Übersicht im Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 61, sowie die einzelnen Maßnahmen auf S. 62 ff. 22 Siehe Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 86 ff. 23 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 7, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 24 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 12, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 25 Vgl. im Einzelnen die Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 17 ff., mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 26 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 66, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 27 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 68. 28 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 67 u. 68, jeweils mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 29 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 73 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 9 Begünstigungen von Unternehmen sind nur dann beihilferelevant, wenn die dafür eingesetzten Mittel solche des Staates sind bzw. von ihm kontrolliert werden.30 In der Regel muss der Begünstigung eine dem Staat zurechenbare31 Belastung des Staatshaushaltes zugrunde liegen.32 Dieses Merkmal dürfte im vorliegenden Kontext jedenfalls dann zu bejahen sein, wenn die nach dem Kohlekompromiss vorgesehenen Finanzmittel entweder aus dem Bundeshaushalt oder den Haushalten der Länder stammen, da es sich dann unzweifelhaft um staatliche im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV handelt. Die Selektivität einer Begünstigung liegt vor, wenn sie nur bestimmten Unternehmen oder Produktionszweigen zugutekommt. Das ist dann zu bejahen, wenn die betreffende nationale Maßnahme geeignet ist, bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige gegenüber anderen Unternehmen oder Produktionszweigen zu begünstigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden .33 Maßnahmen von rein allgemeinem Charakter, die nicht bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige begünstigen, sondern allen Unternehmen und Produktionszweigen in gleicher Weise zugutekommen, fallen daher grundsätzlich nicht unter Artikel 107 Abs. 1 AEUV.34 Als nicht selektive Maßnahmen wird die staatliche Bereitstellung und Finanzierung bestimmter Infrastruktur angesehen.35 An die nach Art. 107 Abs. 1 AEUV ferner erforderlichen Merkmale der Verfälschung des Wettbewerbs sowie der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels werden bei Vorliegen der oben genannten Merkmale in der Regel keine hohen Anforderungen mehr gestellt, insbesondere, wenn es sich nicht um rein lokale oder kommunale Vorhaben handelt.36 Auf weitere Ausführungen hierzu wird daher verzichtet und auf die Beihilfemitteilung der EU-Kommission verwiesen.37 30 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 38 ff. 31 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 39 ff. 32 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 47 ff. Siehe zur Bedeutung der Belastung des Staatshaushalts, EuGH, Urt. v. 28.3.2019, Rs. C-405/16 P (Deutschland/Kommission, „EEG“), Rn. 60. 33 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 117 ff. Siehe auch EuGH, Urt. v. 08.11.2001, Rs. C-142/99 (Adria-Wien Pipeline GmbH, Wietersdorf & Peggauer Zementwerke GmbH/Finanzlandesdirektion für Kärten), Rn. 41, mit weiteren Nachweise aus der Rechtsprechung. 34 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 118, mit den dort angeführten Ausnahmen zum Grundsatz. 35 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 199 ff. 36 Vgl. EuGH, Urt. v. 08.05.2013, Rs. C-197/11 und C-203/11 (Libert u. a), Rn. 76,77: Beihilfe muss nur geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, vgl. EuGH, Urt. v. 17.09.1980 Rs. C-730/79 (Phillip Morris), Rn. 11: Staatliche Maßnahmen drohen den Wettbewerb zu verfälschen, wenn sie die Wettbewerbsposition des Empfängers im Vergleich zu seinen Wettbewerbern verbessern könnten. 37 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 185 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 10 3.1.2. Beihilferelevanz der Maßnahmen im Energiesektor Bei den im Kohlekompromiss aufgeführten Maßnahmen im Energiesektor finden sich solche, die keine tatbestandliche Beihilferelevanz aufweisen (3.1.2.1.), und solche, bei denen eine Beihilfequalität unklar ist oder ggf. in Abhängigkeit von der Ausgestaltung bestehen könnte (3.1.2.2.). 3.1.2.1. Fehlende tatbestandliche Beihilferelevanz Zu ersteren, nicht beihilferelevanten Maßnahmen zählen bspw. die Stilllegung von CO2-Zertifikaten im Rahmen des Europäischen Emissionshandels, die Weiterentwicklung des Versorgungssicherheits -Monitorings, die Weiterentwicklung und Fortführung der Kraft-Wärme-Koppelung, soweit es um regulatorische Rahmenbedingungen geht,38 oder die Beschleunigung der Genehmigungsverfahren für neue Gaskraftwerke.39 All diese Maßnahmen beinhalten keine Begünstigung von Unternehmen im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV. Keine Beihilfe im Sinne dieser Vorschrift liegt grundsätzlich auch vor, wenn zwar eine Begünstigung besteht, diese aber nicht Unternehmen zugutekommt, sondern Verbrauchern, wie etwa im Fall der Entlastung von Strompreisanstiegen für private Haushalte.40 Im Kohlekompromiss wird ferner vorgeschlagen, das „bestehende System der Entgelte, Abgaben und Umlagen im Energiesektor umfassend zu überarbeiten“, wobei auch eine „Absenkung der Stromsteuer“ empfohlen wird.41 All diesen Maßnahmen dürfte die Beihilferelevanz jedenfalls dann fehlen, wenn die Änderungen und insbesondere eine Absenkung der Stromsteuer alle hiervon Betroffenen und insbesondere die Unternehmen in gleicher Weise treffen. Denn in einem solchen Fall würde es sich nicht um selektive Maßnahme handeln. 3.1.2.2. Tatbestandliche Beihilferelevanz, ggf. in Abhängigkeit von der Ausgestaltung Eine selektive Maßnahme wäre hingegen anzunehmen, wenn – wie ebenfalls im Kohlekompromiss vorgeschlagen – gezielt oder in stärkerem Umfang nur energieintensive Unternehmen von den ansteigenden Stromkosten entlastet werden sollen. Eine derartige (auch teilweise) Befreiung von ansonsten zu tragenden Belastungen stellt in der Regel eine selektive Begünstigung dar. Mit Blick auf die geltende Ausgestaltung des Umlagesystems und seinen Befreiungen besteht jedoch die Frage, ob es sich dabei um staatliche Mittel handelt. Diese Frage war unionsrechtlich lange Zeit insbesondere für das EEG und die danach vorgesehenen Umlagebefreiungen umstritten. Während die EU-Kommission und auch das Europäische Gericht (EuG) hier eine staatliche Mittelherkunft im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV bejaht hatten, hat der EuGH dies in einem 38 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 68. 39 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 68. 40 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 66. Unter bestimmten Umständen kann allerdings auch in einer Begünstigung etwa von Verbrauchern eine „mittelbare“ Begünstigung an Unternehmen gesehen werden. Siehe hierzu Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 115 f. 41 Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 70. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 11 Rechtsmittelverfahren, welches im März letzten Jahres durch Urteil entschieden wurde, verneint .42 Ob und inwieweit die Rechtsprechung des EuGH auf andere Umlagesysteme und deren Befreiung wie im Fall von Netzentgelten oder dem Kraft-Wärme-Koppelungs-Gesetz, dessen Weiterförderung im Kohlekompromiss empfohlen wird,43 übertragen werden kann, ist noch nicht abschließend geklärt.44 Die Beihilferelevanz der vorgeschlagenen Entlastung bestimmter Unternehmen von steigenden Strompreisen dürfte somit entscheidend von der Ausgestaltung der Regelungen abhängen.45 Je mehr diese dem geltenden EEG-System entsprechen, desto größer die Wahrscheinlichkeit , dass auch eventuelle Befreiungen nicht als Beihilfen im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV anzusehen sein werden. Zu den beihilferechtlich nicht eindeutig zu qualifizierenden Fällen zählt auch der Vorschlag, die Energiebetreiber im Zusammenhang mit der Reduzierung und Beendigung der Kohlverstromung zu entschädigen. Hier stellt sich die Frage, ob eine Entschädigungszahlung überhaupt als Begünstigung angesehen werden kann. Für Ausgleichleistungen im Fall von Enteignungen wird dies bspw. grundsätzlich verneint.46 Letztlich dürfte auch hier entscheidend sein, wie die Entschädigung ausgestaltet wird und ob sie als „angemessene Gegenleistung“ für den Verzicht auf die Fortsetzung der Kohleverstromung seitens der Unternehmen angesehen werden kann.47 Schließlich wird im Kohlekompromiss an verschiedenen Stellen im Zusammenhang mit der Versorgungssicherheit , der Absicherung des Strommarktes und dem Netzausbau empfohlen, einschlägige Investitionsrahmen zu prüfen und für Investitionsanreize zu sorgen.48 Soweit letztere (auch) finanzieller Natur sein und Unternehmen zugutekommen sollen, würde dies ebenfalls den Tatbestand des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllen. Somit handelt es sich auch in diesem Fall um eine Frage der weiteren Ausgestaltung, auf die im Kohlekompromiss in dieser Hinsicht nicht weiter eingegangen wird. 3.1.3. Beihilferelevanz der Maßnahmen zur Begleitung des Strukturwandels in den betroffenen Revieren Hinsichtlich der vorgeschlagenen Maßnahmen für den Strukturwandel ist zu unterscheiden zwischen solchen, die keine tatbestandliche Beihilferelevanz aufweisen (3.1.3.1.), und solchen, bei 42 Vgl. EuGH, Urt. v. 28.3.2019, Rs. C-405/16 P (Deutschland/Kommission, „EEG“), Rn. 86 f. 43 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 65. 44 Siehe zur zitierten Entscheidung des EuGH zum EEG 2012, seinen Konsequenzen für das EEG 2014 und 2017 sowie das KWKG das ebenfalls am Fachbereich Europa erstellte Gutachten „Das Urteil des EuGH zum EEG 2012 und seine Übertragung auf andere Förderkonstellationen im Energiebereich“, PE 6 - 3000 - 42/19 vom 5.6.19, Siehe ferner Soltész, Wichtige Entwicklungen im Europäischen Beihilferecht im Jahre 2019, EuZW 2020, S. 5 f. 45 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 66, wonach die Bundesregierung aufgefordert wird, ein „beihilfekonformes Instrument zu entwickeln“. 46 Siehe Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 71. 47 Auch im Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 63, wird eine „beihilferechtlich zulässig[e]“ Ausgestaltung angemahnt. 48 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 67, 68, 69. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 12 denen das, ggf. in Abhängigkeit von der konkreten Ausgestaltung, der Fall ist bzw. sein kann (3.1.3.2.). 3.1.3.1. Fehlende tatbestandliche Beihilferelevanz Keine tatbestandliche Beihilferelevanz weist die vorgeschlagene Ansiedlung von Behörden und öffentlichen Einrichtungen sowie von öffentlichen Forschungskapazitäten auf.49 Gleiches gilt für die Stärkung von und Vernetzung mit bestehenden Forschungseinrichtungen.50 Hierbei handelt es sich nicht um unternehmensbezogene Aktivitäten im Sinne des beihilferechtlichen Unternehmensbegriffs . Ebenfalls nicht unternehmensbezogen in diesem Sinne sind grundsätzlich auch die im Rahmen des Abschnitts „Sicherheitszusagen an die Beschäftigten und Auszubildenden“ empfohlenen Maßnahmen, wie etwa der aktive und präventive Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente, Möglichkeiten eines früheren Übergangs in den Ruhestand oder das Anpassungsgeld – Braunkohle .51 Denn die damit verbundenen finanziellen Begünstigungen kommen nicht Unternehmen, sondern Arbeitnehmern zugute. Dies gilt jedenfalls insoweit, als durch den darauf bezogenen Einsatz staatlicher Mittel Unternehmen nicht von Belastungen freigestellt werden, die sie sonst zu tragen haben. Wäre das nicht der Fall, müsste geprüft werden, ob den Begünstigungen der Arbeitnehmer nicht zugleich (mittelbare) Begünstigungen der betroffenen Unternehmen zugrunde liegen. Ob und inwieweit das auch der Fall bei den vorgeschlagenen tariflichen Vereinbarungen sein wird, nach denen Beschäftigungseinbußen (zusätzlich) auszugleichen sind und dieser Ausgleich durch die öffentlichen Hand ggf. finanziell zu unterstützen ist, soweit die Unternehmen die daraus entstehenden Belastungen nicht umfassend alleine tragen können,52 bedarf der Prüfung im konkreten Einzelfall. Hinsichtlich der tatbestandlichen Beihilferelevanz bei den vorgeschlagenen Maßnahmen zur Raumentwicklung, dem Infrastrukturausbau sowie der -ausbaubeschleunigung ist sodann zu differenzieren .53 Sie fehlt bei allen planerischen und regulatorischen Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung etc.54 Sie fehlt darüber hinaus aus bei der Finanzierung und Errichtung von Infrastruktur , die anschließend nicht kommerziell zum Anbieten von Waren oder Dienstleistungen genutzt wird.55 Derartige Maßnahmen weisen keine Selektivität auf. Das ist insbesondere für den 49 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 97 bzw. 92 ff. 50 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 92 ff. 51 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 98 f. 52 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 99. 53 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 86 ff. 54 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 91 f. 55 Siehe Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 203, 220. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 13 ebenfalls vorgeschlagenen Straßenbau der Fall.56 Für die Finanzierung und Errichtung von Eisenbahninfrastruktur , auf die sich weitere Empfehlungen beziehen,57 gilt dies im Ergebnis ebenfalls, soweit die betreffende Infrastruktur potenziellen Nutzern zu gleichen und diskriminierungsfreien Bedingungen zur Verfügung gestellt wird,58 wovon in Deutschland auszugehen ist. Für den auch vorgeschlagenen Breitbandausbau in Bereichen, in denen er nicht marktgetrieben erfolgt und mit Hilfe staatlicher Eingriff gewährleistet werden soll,59 geht die EU-Kommission hingegen allgemein von einer Beihilferelevanz aus.60 3.1.3.2. Tatbestandliche Beihilferelevanz, ggf. in Abhängigkeit von der Ausgestaltung Von tatbestandlicher Beihilferelevanz sind vor allem die Maßnahmen für Industrie und Mittelstand , soweit es sich dabei um Förderprogramme handelt, da diese auf wirtschaftliche Begünstigung von Unternehmen zielen.61 Gleiches gilt für die unternehmensbezogene Forschungsförderung 62 sowie die Förderung von entgeltlich zur Verfügung gestellter Kunst und Kultur,63 die im Rahmen der Maßnahmen zur regionalen Verankerung und Beteiligung der Zivilgesellschaft vorgeschlagen wird.64 Nicht beihilferelevant ist der in diesem Zusammenhang geäußerte Vorschlag, den Eigenanteil der Kommunen im Rahmen der Förderprogramme abzusenken. Hierbei handelt es sich um eine Mittelverschiebung innerhalb der öffentlichen Hand und nicht um eine unternehmensbezogene Maßnahme. Tatbestandlich beihilferelevant sind ferner Maßnahmen im Zusammenhang mit kommerziell genutzter Infrastruktur. Dies betrifft den bereits oben erwähnten Breitbandausbau im Rahmen der Maßnahmen zur Stärkung der digitalen Infrastruktur. Zum anderen kann auch die vorgeschlagene Verkürzung von Taktzeiten des Schienenpersonennahverkehrs und die Ertüchtigung der bestehenden Verbindungen in die Metropolen Beihilferelevanz aufweisen, soweit hierbei von den 56 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 87 ff., Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 220. 57 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 87 ff. 58 Siehe Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 219. 59 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 87. 60 Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 216. 61 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 86. 62 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 93. 63 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 4), Rn. 33 ff. 64 Vgl. Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 101. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 14 verantwortlichen öffentlichen Einrichtungen für die Verkehrsbetreiberunternehmen Ausgleichsleistungen für die Erbringung derartiger Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse gezahlt werden.65 3.1.4. Fazit Die vorstehenden Ausführungen machen deutlich, dass nur ein Teil der im Kohlekompromiss vorgeschlagenen Maßnahmen als beihilferelevant einzustufen ist. Insbesondere im Hinblick auf die Maßnahmen im Energiesektor bestehen zudem Zweifel, ob im Fall von Umlagesystemen die Merkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV überhaupt erfüllt sind. Hier dürfte es sehr auf die Ausgestaltung bei der Umsetzung ankommen. 3.2. Materielle und verfahrensrechtliche Konsequenzen im Falle materieller Beihilferelevanz Sind Maßnahmen nach dem Kohlekompromiss als Beihilfen im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV zu qualifizieren, so stellt sich die Frage nach ihrer unionsrechtlichen Rechtfertigung. Vor allem Art. 107 Abs. 3 AEUV bietet hier mit seinen Ermessenstatbeständen eine Vielzahl an Möglichkeiten . Die Konkretisierung dieser Tatbestände obliegt der für die Durchführung des Beihilferechts zuständigen EU-Kommission. Die von dieser erlassenen zahlreichen verbindlichen und unverbindlichen Rechtsakte spiegeln dabei in der Regel die Kommissionspolitik in den von der staatlichen Förderung jeweils betroffenen Sachbereichen wider. Die derzeitigen Rechtsakte stammen zu einem beachtlichen Teil aus dem Jahre 2014 und sind ursprünglich – entsprechend der Amtsdauer der EU-Kommission – auf fünf Jahre, d.h. bis 2020, ausgelegt. Die EU-Kommission hat zwar schon Anfang 2019 angekündigt, die Geltungsdauer eines Teils dieser Maßnahmen um zwei weitere Jahre zu verlängern.66 Hierzu gehören auch Vorschriften wie die Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen67, die für die im Kohlekompromiss vorgeschlagenen Maßnahmen im Energiesektor relevant sind, und die Leitlinien für Regionalbeihilfen68, die vor allem für die Vorschläge zur Begleitung des Strukturwandels zu beachten sind und nach derzeitigen Stand nur die im Osten Deutschlands gelegenen Reviere 65 Vgl. dazu die Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Beihilfevorschriften der Europäischen Union auf Ausgleichsleistungen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, ABl.EU 2012 Nr. C 8/4. 66 Siehe Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 7.1.2019, IP/19/182, „Staatliche Beihilfen: EU-Kommission plant Verlängerung beihilferechtlicher Vorschriften und Einleitung einer Evaluierung“. 67 Kommission, Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014-2020, ABl.EU 2014 Nr. C 200/1. 68 Kommission, Leitlinien für Regionalbeihilfen 2014-2020, ABl.EU 2014 Nr. C 209/1. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 15 erfassen.69 Zugleich sollen diese und weitere hier relevante Maßnahmen während der zweijährigen Fortgeltung evaluiert werden.70 Ob an diesem Zeitplan festgehalten werden wird, bleibt abzuwarten. Mit Blick auf den von der neuen EU-Kommission Ende 2019 vorgestellten sog. Green Deal,71 der u. a. umfangreiche und auch finanzielle Maßnahmen zugunsten der Regionen und Sektoren vorsieht, die von der Umstellung auf eine „grüne“ Wirtschaft am meisten betroffen sind (sog. Just Transition Mechanism),72 ist jedenfalls zu erwarten, dass entweder neue Vorschriften in den einschlägigen Bereichen von der EU-Kommission erlassen oder bestehende entsprechend angepasst werden, um die neue Kommissionspolitik auch im Hinblick auf die (mitglied-)staatliche Förderung des Strukturwandels in den Kohleregionen schnellstmöglich umsetzen zu können. So hat die EU-Kommission selbst im Zusammenhang mit dem Green Deal angekündigt, die einschlägigen Leitlinien für staatliche Beihilfen, darunter auch die Leitlinien für Umweltschutz- und Energiebeihilfen, bereits 2021 zu überprüfen.73 Auch der Presse lassen sich derartige Aussagen entnehmen.74 In Abhängigkeit von der zeitlichen Umsetzung der beihilferelevanten Maßnahmen dürften somit nicht die derzeit geltenden Beihilfevorschriften als Prüfungsmaßstab für die im Kohlekompromiss empfohlene staatliche Förderung zur Anwendung gelangen, sondern die zukünftigen Vorgaben , die den klimabedingten Strukturwandel mitberücksichtigen. Dessen ungeachtet bieten auch die erstgenannten Vorschriften viel Raum für eine Rechtfertigung finanzieller Fördermaßnahmen wie sie im Kohlekompromiss vorgeschlagen werden. Dies betrifft sowohl die nicht verbindlichen Vorschriften, die im Rahmen von Notifizierungsverfahren herangezogen werden, als auch die Freistellungsverordnungen, die bei Einhaltung der darin vorgegebenen Voraussetzungen von der Pflicht zur vorherigen Notifizierung befreien. Darüber hinaus steht es der EU-Kommission frei, notifizierte staatliche Maßnahmen, die über die geltenden Vorschriften hinausgehen, unmittelbar am Maßstab der jeweils einschlägigen Ermessenstatbestände des Art. 107 Abs. 3 AEUV zu genehmigen . Dessen ungeachtet ist darauf hinzuweisen, dass das EU-Beihilferecht aufgrund seiner Vorgaben der (mitglied-)staatlichen Förderung von Unternehmen hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Ausgestaltung Grenzen setzt, die auch bei der Umsetzung des Kohlekompromisses zu beachten 69 Siehe hierzu auch die Ausführungen im Kohlekompromiss (Fn. 1), S. 58 f. 70 Siehe Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 7.1.2019, IP/19/182, „Staatliche Beihilfen: EU-Kommission plant Verlängerung beihilferechtlicher Vorschriften und Einleitung einer Evaluierung“. 71 Siehe hierzu die Mitteilung der Kommission „Der europäische Grüne Deal“, KOM(2019) 640 endg., sowie die einschlägigen Angaben auf den Internetseiten der Kommission. 72 Siehe hierzu die Angaben auf den Internetseiten der Kommission. 73 Siehe den Anhang zur Kommissionsmitteilung „Der europäische Grüne Deal“ (Fn. 71), unter der Rubrik „Einbeziehung der Nachhaltigkeit in alle Politikbereiche der EU“. 74 Vgl. etwa den Artikel auf Spiegel Online vom 13.1.2020 „Von der Leyens ‚Green Deal‘ – Das Billionen-Versprechen “, wonach „offenbar auch die Regeln für die Vergabe staatlicher Beihilfen angepasst werden [sollen]“, „um den Strukturwandel in den anspruchsberechtigten Gebieten zu erleichtern […].“ Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 117/19 Seite 16 sein werden. Dass die dort vorgesehenen beihilferelevanten Maßnahmen hierdurch hinsichtlich ihres „Ob“ gefährdet wären, ist jedoch nicht erkennbar. Von der jeweiligen beihilferelevanten Maßnahme und den einschlägigen Rechtfertigungsvorschriften wird im Einzelfall auch abhängen, welcher verfahrensrechtliche Weg zu beschreiten ist, ob eine Maßnahme bei der EU-Kommission vor ihrer Inkraftsetzung zu notifizieren ist oder ob eine Freistellung in Betracht kommt. 4. Fazit Zusammenfassend ist festzuhalten, dass nur ein Teil der im Kohlekompromiss empfohlenen Maßnahmen überhaupt beihilferelevant ist. Nur soweit die Vorschläge tatbestandlich alle Merkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllen, unterliegen sie dem EU-Beihilferecht und erfordern eine Rechtfertigung am Maßstab insbesondere der Ermessenstatbestände des Art. 107 Abs. 3 AEUV. Die zu deren Konkretisierung erlassenen verbindlichen und unverbindlichen Vorschriften der EU-Kommission bieten bereits in der noch geltenden Fassung viel Raum für die unionsrechtliche Zulässigkeit der im Kohlekompromiss vorgeschlagenen und im Einzelnen noch ausgestaltungsbedürftigen Maßnahmen. Dieser Raum dürfte mit Blick auf das nun in Angriff genommene EU- Kommissionsvorhaben des Green Deal und die damit einhergehende klimabedingte Neuausrichtung aller dafür relevanten EU-Politiken einschließlich des Beihilferechts eher größer werden. Dessen ungeachtet ist davon auszugehen, dass sowohl die jetzigen als auch die zukünftig geltenden Beihilfevorschriften der Umsetzung der beihilferelevanten Maßnahmen hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Ausgestaltung Grenzen setzen (werden). Das „Ob“ dieser Maßnahmen dürfte hiervon allerdings nicht berührt sein. – Fachbereich Europa –