PE 6 - 3000 - 112/20 (17. November 2020) © 2020 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Der Fachbereich ist um Auskunft gebeten worden, ob die Einführung eines Europäischen Mindestlohns auf Grundlage des Unionsrechts rechtlich möglich wäre. 1. Zur Kompetenzgrundlage Prüfungsmaßstab hierfür ist die zentrale Kompetenzgrundlage für die Sozialpolitik der Union und insbesondere das Arbeitsrecht in Art. 153 AEUV.1 Für die in Art. 153 Abs. 1 lit. a bis i AEUV ausdrücklich genannten Bereiche besitzt die Union eine Richtlinienkompetenz (vgl. Art. 153 Abs 2 lit. b AEUV) im Rahmen einer geteilten Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten(nach Art. 4 Abs. 2 lit. b) AEUV).2 Dabei hat die Union das Subsidiaritätsprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 5 Abs. 3, 4 EUV) zu beachten. Art. 153 Abs. 1 lit. b AEUV benennt die Arbeitsbedingungen. Was an dieser Stelle unter diesem Begriff zu verstehen ist, ist nicht abschließend geklärt. Einigkeit besteht insoweit, dass jedenfalls der Inhalt und die Begründung von Arbeitsverhältnissen von ihm erfasst sind und in den Grenzen des Art. 153 Abs. 5 AEUV auch das Arbeitsentgelt dazu zählt.3 Der Generalanwalt führte dazu aus, dass das Arbeitsentgelt „eine wesentliche Arbeitsbedingung dar[stellt], vielleicht sogar die wichtigste [...]“.4 Der Begriff der Arbeitsbedingungen wird dabei durch die übrigen in Art. 153 1 Rebhahn/Reiner, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 153 AEUV, Rn. 1. 2 Vgl. dazu auch Meyer, ZESAR 2020, 201 (205). 3 Langer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 153 AEUV, Rn. 20; Meyer, ZESAR 2020, 201 (205) und Maul-Sartori, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 23, subsumieren darüber hinaus das gesamte Arbeitsvertragsrecht unter die Arbeitsbedingungen im Sinne des Art. 153 Abs. 1 lit. b AEUV. 4 Schlussanträge des Generalanwalts in den verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 und C-541/12, Rn. 48. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Kurzinformation Zur Kompetenz der Europäischen Union zur Einführung eines Europäischen Mindestlohns Kurzinformation Zur Kompetenz der Europäischen Union zur Einführung eines Europäischen Mindestlohns Fachbereich PE 6 (Europa) Fachbereich Europa Seite 2 Abs. 1 AEUV aufgezählten Kompetenzbereiche begrenzt. Letztere sind insoweit als spezieller anzusehen .5 Art. 153 Abs. 1 lit. f AEUV nennt die Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer - und Arbeitgeberinteressen. Die Reichweite dieses Kompetenzbereichs ist ebenfalls umstritten : Es wird vertreten, dass das gesamte Tarifrecht aufgrund dessen Nähe zum Koalitionsrecht und dessen Durchsetzung mit Mitteln des Arbeitskampfes aufgrund des Art. 153 Abs. 5 AEUV einer unionsrechtlichen Regelung entzogen sei.6 Die besseren Argumente (insbesondere der Wortlaut und die Systematik) sprechen jedoch für eine Rechtsetzungskompetenz der Union auf dem Gebiet des Tarifrechts, insbesondere für Regelungen zu Kollektivverhandlungen.7 Diese ist aufgrund der Ausnahme des Koalitionsrechts, worunter die Binnenverhältnisse der Koalitionen zu verstehen sind, durch Art. 153 Abs. 5 AEUV begrenzt auf das Handeln der Koalitionen nach außen , also der Vertretung und Wahrnehmung der Mitgliederinteressen ohne die ebenfalls ausgenommenen Arbeitskampfmaßnahmen.8 Eine andere Auslegung würde Art. 153 Abs. 1 lit. f AEUV auch keinen hinreichenden Anwendungsbereich mehr belassen.9 Art. 153 Abs. 5 AEUV ist mit dem EuGH10 als Ausnahmevorschrift eng auszulegen und schließt lediglich die Festlegung der Höhe des Arbeitsentgeltes aus, nicht jedoch sämtliche Regelungen, die in einem wie auch immer gearteten Zusammenhang mit dem Arbeitsentgelt stehen.11 Der EuGH führte zu Art. 153 Abs. 5 AEUV aus, „dass diese Ausnahme so zu verstehen ist, dass sie sich auf Maßnahmen wie eine Vereinheitlichung einzelner oder aller Bestandteile und/oder der Höhe der Löhne und Gehälter oder die Einführung Arbeitsentgelte innerhalb der Union eingreifen würde. Sie lässt sich jedoch nicht auf alle mit dem Arbeitsentgelt in irgendeinem Zusammen- 5 Maul-Sartori, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 24. 6 Krebber, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 12; Klumpp, in: HdB ArbR, § 227, Rn. 3. 7 Benecke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Werkstand: 71. EL August 2020, Art. 153 AEUV, Rn. 104; Maul-Sartori, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 34; Rebhahn/Reiner, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 153 AEUV, Rn. 53. 8 Maul-Sartori, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 34. 9 Benecke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Werkstand: 71. EL August 2020, Art. 153 AEUV, Rn. 104. 10 EuGH, Urt. v. 19.06.2014, verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 und C-541/12, Rn. 33; EuGH, Urt. v. 10.06.2010, verb. Rs. C-395/08 und C-396/08, Rn. 35; EuGH, Urt. v. 15.04.2008, Rs. C-268/06, Rn. 35. 11 Meyer, ZESAR 2020, 201 (205); Maul-Sartori, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 24. Kurzinformation Zur Kompetenz der Europäischen Union zur Einführung eines Europäischen Mindestlohns Fachbereich PE 6 (Europa) Fachbereich Europa Seite 3 hang stehenden Fragen erstrecken, ohne dass einige in Art. 153 Abs. 1 AEUV aufgeführten Bereiche eines großen Teils ihrer Substanz beraubt würden [...].“12 Auch zur gleichlautenden Vorgängervorschrift urteilte er bereits, dass die Ausnahmevorschrift der Union „eine Gesetzgebungszuständigkeit für die Festlegung eines Mindestlohns auf Gemeinschaftsebene versage“, aber einer „Einbeziehung von Materien wie Arbeitsentgelt und Versorgungsbezüge in den Begriff ‚Arbeitsbedingungen‘ [...] nicht entgegenstehe“.13 Neben dem Arbeitsentgelt entzieht Art. 153 Abs. 5 AEUV auch das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht der Regelungskompetenz der Union. Es wird vertreten, dass dieser Ausschluss auch das Tarifrecht mit umfasse.14 Mit dem EuGH spricht sich die überwiegende , vorzugswürdige Ansicht jedoch auch insoweit für eine enge Auslegung des Art. 153 Abs. 5 AEUV aus.15 Die Vorschrift darf in systematischer Hinsicht insbesondere nicht so verstanden werden, dass den in Art. 153 Abs. 1 AEUV aufgezählten Kompetenzgebieten kein relevanter Anwendungsbereich mehr verbleibt.16 Das in Art. 153 Abs. 5 AEUV erwähnte Koalitionsrecht bezieht sich demnach nur auf die Gründung, Mitgliedschaft und innere Organisation der Koalition, während das Handeln nach außen, also die Vertretung und Wahrnehmung der Mitgliederinteressen , in den Anwendungsbereich des Art. 153 Abs. 1 lit. f AEUV fallen.17 Danach besteht insoweit eine Richtlinienkompetenz der Union, Mindestvorgaben für das Tarifvertragsrecht vorzusehen.18 12 EuGH, Urt. v. 19.06.2014, verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 und C-541/12, Rn. 33. 13 EuGH, Urt. v. 15.04.2008, Rs. C-268/06, Rn. 35. 14 Krebber, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 12; Klumpp, in: MHdB ArbR, § 227, Rn. 3. 15 So Benecke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Werkstand: 71. EL August 2020, Art. 153 AEUV, Rn. 103; Langer, in: von der Greben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht , 7. Auflage 2015, Art. 153 AEUV, Rn. 45; Rebhahn/Reiner, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 153 AEUV, Rn. 53; Thüsing, Traut, RdA, 65 (67). 16 Maul-Sartori, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 24. 17 So Thüsing, Traut, RdA, 65 (67); Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRV/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 153 AEUV, Rn. 129, 133. 18 So Langer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 153 AEUV, Rn. 47; Thüsing, Traut, RdA, 65 (67); nach Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRV/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 153 AEUV, Rn. 129, insbesondere zur Frage, unter welchen Voraussetzungen und Repräsentativitätsanforderungen mitgliedstaatliche Tarifverträge in anderen Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene als solche anzuerkennen sind. Kurzinformation Zur Kompetenz der Europäischen Union zur Einführung eines Europäischen Mindestlohns Fachbereich PE 6 (Europa) Fachbereich Europa Seite 4 2. Folgerungen für die unionsrechtlichen Regelungskompetenzen zur Einführung eines europäischen Mindestlohns Unionsrechtliche Regelungen im Bereich des Mindestlohns betreffen das Sachgebiet Arbeitsbedingungen und lassen sich daher im Grundsatz auf Art. 153 Abs. 1 lit. f AEUV stützen, soweit diese keine verbindlichen Festlegungen zur Höhe eines Mindestlohns treffen. Für letzteres verfügt die Europäischen Union nach Art. 153 Abs. 5 AEUV keine Regelungskompetenz. - Fachbereich Europa -