© 2018 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 112/18 Zur Fiktion der Nichteinreise im Transitverfahren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 2 Zur Fiktion der Nichteinreise im Transitverfahren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 112/18 Abschluss der Arbeit: 02.08.2018 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Vorgaben des Unionsrechts zu Transitzonen 4 2.1. Asylverfahrensrichtlinie 4 2.2. Aufnahmerichtlinie 6 2.3. Dublin-III-Verordnung 7 2.4. Visakodex der EU 7 2.5. Rückführungsrichtlinie 8 2.6. Zwischenergebnis 8 3. Schlussfolgerungen zum unionsrechtlichen Rahmen für Transitverfahren 9 3.1. Möglichkeit von Transitverfahren (an den Binnengrenzen) 9 Asylverfahrensrichtlinie 9 Dublin-III-Verordnung 10 Zwischenergebnis 10 3.2. Möglichkeit einer Fiktion der Nichteinreise 11 Schengener Grenzkodex 11 Rückführungsrichtlinie 12 Dublin-III-Verordnung 13 Zwischenergebnis 15 3.3. Bindung an das Unionsrecht in Transitzonen 15 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 4 1. Fragestellung Im Koalitionsausschuss vom 5. Juli 2018 haben die Koalitionspartner vereinbart, für Asylsuchende , die bereits in einem anderen EU-Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt haben, an der deutsch-österreichischen Grenze ein sog. Transitverfahren durchzuführen. Es wurde festgelegt, dass die Bundespolizei für die Transitverfahren ihre bestehenden Einrichtungen in unmittelbarer Grenznähe nutzt, sofern die Personen nicht unmittelbar in die bestehende Unterbringungsmöglichkeit im Transitbereich des Flughafens München gebracht werden und von dort aus in den Erstaufnahmestaat zurückkehren können. Laut den Beschlüssen des Koalitionsausschusses reisen die betroffenen Personen im Transitverfahren, wie beim bestehenden Flughafenverfahren, rechtlich nicht nach Deutschland ein.1 Aus der Pressemitteilung zu den Beschlüssen des Koalitionsausschusses geht nicht eindeutig hervor, wie das „Transitverfahren“ konkret ausgestaltet werden soll. Hierbei scheint es sich um ein Verfahren zur Überstellung bzw. Zurückweisung von Asylsuchenden, die in anderen Mitgliedstaaten bereits einen Antrag gestellt haben, in diese Staaten zu handeln. Während des Verfahrens sollen die Asylsuchenden zwar physisch, aber nicht rechtlich nach Deutschland einreisen . Es soll demnach rechtlich eine Nichteinreise fingiert werden. In der nachfolgenden Ausarbeitung wird im Unionsrecht nach Vorgaben gesucht, die für ein derartiges „Transitverfahren“ relevant sein könnten (2.). Der Begriff des Transitverfahrens wird im Unionsrecht, soweit ersichtlich, nicht verwendet. Es finden sich jedoch in verschiedenen Sekundärrechtsakten des Unionsrechts Vorgaben zu sog. Transitzonen bzw. Transitbereichen, zu beschleunigten Verfahren im Asylrecht und zur rechtlichen Nichteinreise trotz Grenzübertritts. Diese Vorgaben sollen im Folgenden dargestellt werden. Darauf aufbauend wird geprüft, ob die Durchführung von Transitverfahren in der Form beschleunigter Verfahren an der deutsch-österreichischen Grenze, mithin an einer EU-Binnengrenze, mit dem Unionsrecht vereinbar ist (3.1.), ob die in diesem Kontext diskutierte „Fiktion einer Nichteinreise“ mit dem Unionsrecht vereinbar ist (3.2.) und ob in Transitzonen eine Bindung an das Unionsrecht besteht (3.3.). 2. Vorgaben des Unionsrechts zu Transitzonen 2.1. Asylverfahrensrichtlinie Die meisten Vorgaben zu Transitzonen sind in der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU2, welche das Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes regelt, enthalten. 1 Pressemitteilung 16/18 der CDU vom 06.07.2018 – Beschlüsse des Koalitionsausschusses vom 5. Juli 2018, abrufbar unter https://www.cdu.de/artikel/beschluesse-des-koalitionsausschusses-vom-5-juli-2018. 2 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. vom 29.6.2013, Nr. L 180/60, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32013L0032&from=DE. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 5 Die Asylverfahrensrichtlinie enthält in ihrem Art. 2 zu Begriffsbestimmungen keine Definition der Transitzone. Der Begriff ist mithin nicht definiert, er wird lediglich in mehreren Normen erwähnt .3 Gemäß Art. 3 Abs. 1 der Asylverfahrensrichtlinie gilt die Richtlinie für alle Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden, sowie für die Aberkennung des internationalen Schutzes. Verschiedene Artikel der Asylverfahrensrichtlinie enthalten Verfahrensvorgaben oder normieren subjektive Rechte der Antragsteller, die jeweils auch ausdrücklich in Transitzonen gelten. Nach Art. 8 Abs. 1 Asylverfahrensrichtlinie stellen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die sich in Gewahrsamseinrichtungen oder an Grenzübergangsstellen an den Außengrenzen , einschließlich Transitzonen, befinden, Informationen über die Möglichkeit einer Antragstellung zur Verfügung, wenn es Anzeichen dafür gibt, dass sie möglicherweise einen Antrag auf internationalen Schutz stellen möchten. Die Mitgliedstaaten stellen zudem gemäß Art. 8 Abs. 2 Asylverfahrensrichtlinie sicher, dass Organisationen und Personen, die Beratungsleistungen für Antragsteller erbringen, effektiven Zugang zu Antragstellern an Grenzübergangsstellen an den Außengrenzen, einschließlich Transitzonen, erhalten. Gemäß Art. 23 Abs. 2 Asylverfahrensrichtlinie stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass der Rechtsanwalt oder sonstige Rechtsberater, der einen Antragsteller unterstützt oder vertritt, zum Zweck der Beratung Zugang zu abgeschlossenen Bereichen, wie Gewahrsamseinrichtungen oder Transitzonen, erhält. Die Mitgliedstaaten gewähren gemäß Art. 29 Abs. 1 lit. a der Asylverfahrensrichtlinie auch dem Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) Zugang zu Antragstellern. Darunter auch zu denen , die sich in Gewahrsam, an der Grenze oder in Transitzonen befinden. Art. 31 Asylverfahrensrichtlinie regelt das Prüfungsverfahren eines Antrags auf internationalen Schutz und benennt in seinem Absatz 8 Voraussetzungen unter denen die Mitgliedstaaten festlegen können, dass das Prüfungsverfahren beschleunigt und/oder an der Grenze oder in Transitzonen nach Maßgabe von Art. 43 der Richtlinie durchgeführt wird. Gemäß Art. 43 Abs. 1 der Asylverfahrensrichtlinie können die Mitgliedstaaten Verfahren festlegen, um an der Grenze oder in Transitzonen des Mitgliedstaats über die Zulässigkeit eines an derartigen Orten gestellten Antrags auf internationalen Schutz und/oder die Begründetheit des Antrags in einem Verfahren nach Art. 31 Abs. 8 Asylverfahrensrichtlinie zu entscheiden. Art. 31 Abs. 8 i.V.m. Art. 43 der Asylverfahrensrichtlinie regelt mithin die Durchführung eines ggf. beschleunigten Asylverfahrens an der Grenze oder in Transitzonen. Gemäß Art. 46 Abs. 1 lit. a) iii) Asylverfahrensrichtlinie stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Antragsteller das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht gegen eine Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz haben, einschließlich einer Entscheidung, die an der Grenze oder in den Transitzonen eines Mitgliedstaats nach Art. 43 Abs. 1 ergangen ist. 3 Tohidipur, Transitzonen für Schutzsuchende: Neue Vokabel für eine alte Idee, LTO vom 28.10.2015, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/transitzone-fluechtlinge-asyl-fluechtlingskonvention-dublin-iinon -refoulement/. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 6 2.2. Aufnahmerichtlinie Die Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU4 soll ausweislich ihres Erwägungsgrunds Nr. 8 eine unionsweite Gleichbehandlung von Antragstellern sicherstellen und enthält Vorgaben für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen. Auch in dieser Richtlinie findet der Begriff der Transitzone Verwendung, ohne ausdrücklich definiert zu werden. Gemäß Art. 3 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie erstreckt sich ihr Anwendungsbereich auf alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen internationalen Schutz beantragen , solange sie als Antragsteller im Hoheitsgebiet verbleiben dürfen, sowie ggf. für ihre Familienangehörigen . Art. 8 der Aufnahmerichtlinie regelt die Möglichkeiten und Voraussetzungen einer Inhaftnahme. Gemäß Art. 8 Abs. 3 lit. c darf ein Antragsteller in Haft genommen werden, um im Rahmen eines Verfahrens über das Recht des Antragstellers auf Einreise in das Hoheitsgebiet zu entscheiden. Allerdings bestimmt Art. 8 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie, dass in Fällen, in denen es erforderlich ist, die Mitgliedstaaten den Antragsteller nur auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung in Haft nehmen dürfen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.5 Gemäß Art. 10 Abs. 5 Aufnahmerichtlinie tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass in Haft befindlichen Antragstellern systematisch Informationen zu den in der Einrichtung geltenden Regeln bereitgestellt und ihnen ihre Rechte und Pflichten in einer Sprache erläutert werden, die sie verstehen oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass sie sie verstehen. In begründeten Ausnahmefällen können die Mitgliedstaaten für einen angemessenen Zeitraum, der so kurz wie möglich sein sollte, von dieser Verpflichtung abweichen, falls der Antragsteller an einer Grenzstelle oder in einer Transitzone in Haft genommen wird. Diese Ausnahmeregelung gilt allerdings nicht für beschleunigte Verfahren nach Art. 43 der Asylverfahrensrichtlinie. Art. 11 zur Inhaftnahme von schutzbedürftigen Personen und von Antragstellern mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme regelt in seinem Absatz 6 ebenfalls Ausnahmemöglichkeiten von den Vorgaben zur Inhaftnahme, wenn ein Antragsteller an einer Grenzstelle oder in einer Transitzone in Haft genommen wird. Auch diese Ausnahmeregelung gilt nicht in den besonderen Asylverfahren gemäß Art. 43 der Asylverfahrensrichtlinie. 4 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung), ABl. vom 29.6.2013, Nr. L 180/96, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=OJ:L:2013:180:0096:0116:DE:PDF. 5 Peek/Tsourdi, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Art. 8 RL 2013/33/EU, Rn. 20. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 7 Außerdem werden Transitzonen in Art. 18 Abs. 1 lit. a der Aufnahmerichtlinie erwähnt, der die Modalitäten einer Unterbringung als Sachleistung regelt und dabei die Räumlichkeiten zur Unterbringung von Antragstellern für die Dauer der Prüfung eines an der Grenze oder in Transitzonen gestellten Antrags auf internationalen Schutz erwähnt. 2.3. Dublin-III-Verordnung Die Dublin-III-Verordnung6 legt die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats fest, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Art. 15 der Dublin-III-Verordnung regelt, dass ein Mitgliedstaat für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, wenn ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im internationalen Transitbereich eines Flughafens des Mitgliedstaats einen solchen Antrag stellt. Es handelt sich hierbei um eine Regelung, die den Inhalt des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Dublin-III-Verordnung bestätigt, wonach die Mitgliedstaaten jeden Antrag auf internationalen Schutz prüfen, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt.7 Der Anwendungsbereich des Art. 15 der Dublin -III-Verordnung ist dem Wortlaut zufolge auf den internationalen Transitbereich der Flughäfen von Mitgliedstaaten beschränkt. Der Begriff des Transitbereichs wird in der Verordnung nicht näher definiert. 2.4. Visakodex der EU Der Visakodex der EU8 legt Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa fest, Titel II des Visakodex enthält Vorgaben zum Flughafentransit. Die Staatsangehörigen der in Anhang IV aufgeführten Drittländer müssen gemäß Art. 3 Abs. 1 des Visakodex zur Durchreise durch die internationalen Transitzonen der im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gelegenen Flughäfen im Besitz eines Visums für den Flughafentransit sein. Wie auch in der Dublin-III-Verordnung wird der Begriff der Transitzone bzw. des Transitbereichs auf Flughäfen bezogen verwendet. 6 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), ABl. vom 29.6.2013, Nr. L 180/31, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri Serv.do?uri=OJ:L:2013:180:0031:0059:de:PDF. 7 Koehler, Praxiskommentar zum Europäischen Asylzuständigkeitssystem, 2018, Art. 15 Dublin-III-VO, Rn. 1. 8 Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex), ABl. vom 15.9.2009, Nr. L 243/1, konsolidierte Fassung abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02009R0810-20160412&from=EN. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 8 2.5. Rückführungsrichtlinie Die Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG9 enthält Normen und Verfahrensvorgaben für die Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger. Der Begriff „Transitzone“ bzw. „Transitbereich“ findet in der Richtlinie selbst keine Erwähnung, sie enthält jedoch in ihrem Art. 2 spezielle Vorgaben zur Einreise bzw. Nichteinreise von Drittstaatsangehörigen, die an den Außengrenzen der EU aufgegriffen werden. Gemäß Art. 2 Abs. 2 lit. a der Rückführungsrichtlinie können die Mitgliedstaaten beschließen, die Rückführungsrichtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die einem Einreiseverbot nach Art. 13 des Schengener Grenzkodex unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land-, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten. Die Kommission hat zu dieser Regelung in einer Empfehlung für ein gemeinsames Rückkehr-Handbuch ausgeführt, dass Personen, denen die Einreise im Transitbereich eines Flughafens oder an einer Grenzübergangsstelle im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verweigert wird, grundsätzlich in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fallen, da sie sich physisch bereits im Hoheitsgebiet aufhalten.10 Allerdings könnten die Mitgliedstaaten von der Ausnahmeregelung nach Art. 2 Abs. 2 lit. a Gebrauch machen, und gesetzlich festlegen, dass die Rückführungsrichtlinie auf diese Fälle keine Anwendung findet. Art. 2 Abs. 2 lit. a der Rückführungsrichtlinie sieht mithin für Mitgliedstaaten die Möglichkeit vor, ein besonderes, von der Rückführungsrichtlinie abweichendes Verfahren für Personen anzuwenden, die im Transitbereich aufgegriffen werden. 2.6. Zwischenergebnis Das Unionsrecht enthält keine Vorgaben für ein spezielles Transitverfahren. Es finden sich im Unionsrecht Regelungen für die spezielle Situation von Asylsuchenden in Transitzonen, ohne jedoch den Begriff der Transitzone zu definieren. In einigen Sekundärrechtsakten wird der Begriff der Transitzone speziell im Zusammenhang mit Flughäfen und/oder Außengrenzen verwendet , in anderen nicht. Zudem ist auf Unionsebene die Möglichkeit eines beschleunigten Asylverfahrens geregelt, welches möglicherweise dem geplanten Transitverfahren entspricht. Auch enthält das Unionsrecht in der Rückführungsrichtlinie Vorgaben zu einer Art Nichteinreisefiktion. 9 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. vom 24.12.2008, Nr. L 348/98, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32008L0115&from=DE. 10 Empfehlung (EU) 2017/2338 der Kommission vom 16. November 2017 für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch “, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist, ABl. vom 19.12.2017, Nr. L 339/38, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/?qid=1531818881436&uri=CELEX:32017H2338. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 9 3. Schlussfolgerungen zum unionsrechtlichen Rahmen für Transitverfahren Wie oben einleitend ausgeführt, enthalten die Beschlüsse des Koalitionsausschusses kein detailliertes Konzept des Transitverfahrens und der Fiktion der Nichteinreise an der deutsch-österreichischen Grenze. Es wird daher im Folgenden nur der Rahmen, den das Unionsrecht vorgibt, dargestellt werden. 3.1. Möglichkeit von Transitverfahren (an den Binnengrenzen) Das europäische Sekundärrecht enthält keine Vorgaben zu einem Transitverfahren und legt nicht ausdrücklich fest, wo Transitzonen eingerichtet werden können. In der Literatur wird daher strittig diskutiert, ob die Einrichtung von Transitzonen bzw. die Durchführung eines Transitverfahrens auch an den EU-Binnengrenzen möglich ist oder nur an den Außengrenzen.11 Im Folgenden soll zum einen überprüft werden, ob das Unionsrecht besondere Verfahren ermöglicht, die als sog. Transitverfahren im nationalen Recht normiert werden können und ob ein solches Transitverfahren an der deutsch-österreichischen Grenze, mithin an einer EU-Binnengrenze, möglich ist. Asylverfahrensrichtlinie Gemäß Art. 31 Abs. 8 der Asylverfahrensrichtlinie können die Mitgliedstaaten festlegen, dass das Prüfungsverfahren im Einklang mit den Grundsätzen und Garantien nach Kapitel II beschleunigt und/oder an der Grenze oder in Transitzonen nach Maßgabe von Art. 43 der Asylverfahrensrichtlinie durchgeführt wird, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Es geht aus Art. 31 Abs. 8 nicht eindeutig hervor, ob mit dem Begriff der Grenze die Außengrenzen der EU, ihre Binnengrenzen oder sämtliche Grenzen der Mitgliedstaaten bezeichnet werden. Die Asylverfahrensrichtlinie verwendet den Begriff „Grenze“ wie auch den Begriff der „Außengrenze “, die „Binnengrenze“ findet in der Richtlinie keine Erwähnung. Es ist nicht zweifelsfrei zu klären, ob der Begriff der „Grenze“ in der Asylverfahrensrichtlinie die Außen- wie auch die Binnengrenzen oder nur die Binnengrenzen oder nur die Außengrenzen bezeichnet. Eine Entscheidung ist jedoch vorliegend nicht erforderlich, da die Möglichkeit eines beschleunigten Verfahrens nicht auf Situationen an der Grenze und Transitzonen beschränkt ist. Die Durchführung eines beschleunigten Asylverfahrens ist gemäß Art. 31 Abs. 8 auch in anderen Gebieten (Stichwort : „und/oder“) möglich.12 Selbst wenn der Begriff der Grenze in Art. 31 Abs. 8 Asylverfahrensrichtlinie nur die Außengrenzen der EU umfassen würde, wäre ein beschleunigtes Asylverfahren dennoch auch an den EU-Binnengrenzen möglich. 11 Einige Stimmen in der Diskussion verweisen auf die unterschiedlichen Gegebenheiten des Flughafenverfahrens und einer Einreise über die EU-Binnengrenzen und lehnen daher die Errichtung von Transitzonen bzw. die Durchführung eines Transitverfahrens an den Binnengrenzen ab (vgl. Kleist, Versionen fiktiver Migrationspolitik und was sie unterscheidet: Transitzentren, Flughafenverfahren und die australische non-Migration Zone, Verfassungsblog vom 05.07.2018, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/versionen-fiktiver-migrationspolitikund -was-sie-unterscheidet-transitzentren-flughafenverfahren-und-die-australische-non-migration-zone/). 12 Vedsted-Hansen, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Art. 43 RL 2013/32/EU, Rn. 2. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 10 Aus Art. 43 Abs. 1 lit. b Asylverfahrensrichtlinie folgt, dass im beschleunigten Verfahren gemäß Art. 31 Abs. 8 Asylverfahrensrichtlinie an der Grenze bzw. in der Transitzone die Begründetheit eines Antrags auf internationalen Schutz geprüft wird. Das beschleunigte Verfahren kann mithin grundsätzlich dann Anwendung finden, wenn ein Mitgliedstaat für die Durchführung eines Verfahrens zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist und dessen Zulässigkeit und Begründetheit prüft. Dublin-III-Verordnung Bei einem Antrag innerhalb der EU, und nicht an dessen Außengrenzen, stellt sich in der Regel zunächst die gemäß den Vorgaben der Dublin-III-Verordnung zu klärende Frage, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Es ist daher zu überlegen, ob auch die Prüfung der Zuständigkeit gemäß der Dublin-III-Verordnung in einem beschleunigten Verfahren erfolgen kann. Gemäß ihrem Erwägungsgrund Nr. 53 betrifft die Asylverfahrensrichtlinie nicht die Verfahren zwischen Mitgliedstaaten im Rahmen der Dublin-III-Verordnung. Gemäß Erwägungsgrund 12 der Dublin-III-Verordnung soll die Asylverfahrensrichtlinie jedoch zusätzlich und unbeschadet der Bestimmungen über die in der Dublin-III-Verordnung geregelten Verfahrensgarantien, vorbehaltlich der Anwendungsbeschränkung der Asylverfahrensrichtlinie, Anwendung finden. Die Dublin -III-Verordnung sieht in ihrem Art. 36 Abs. 1 zudem die Möglichkeit für Mitgliedstaaten vor, sich bilateral durch die Vereinfachung der Verfahren und die Verkürzung der Fristen auf schnellere Verfahrensabläufe zu verständigen. Schnellere Verfahren (zur Zuständigkeitsbestimmung) sind mithin grundsätzlich auch im Anwendungsbereich der Dublin-III-Verordnung möglich. Zwischenergebnis Stimmen in der Literatur bejahen unter Bezugnahme auf die Möglichkeit eines beschleunigten Asylverfahrens gemäß Art. 31 Abs. 8 (i.V.m. Art. 43) der Asylverfahrensrichtlinie die Möglichkeit eines sog. Transitverfahrens an den EU-Binnengrenzen13 bzw. die früher in der Diskussion befindliche Idee von Transitzonen an den EU-Binnengrenzen.14 Ein schnelleres bzw. beschleunigtes Verfahren ist sowohl zur Ermittlung des für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats gemäß den Vorgaben der Dublin- III-Verordnung möglich, als auch zur Begründetheitsprüfung gemäß den Vorgaben der Asylverfahrensrichtlinie . In beiden Fällen legt das Unionsrecht nicht abschließend fest, an welchen Örtlichkeiten ein solches Verfahren durchzuführen ist bzw. durchgeführt werden kann. Beschleunigte bzw. schnellere Verfahren sind mithin grundsätzlich auch mit Unionsrecht vereinbar, wenn sie an den EU-Binnengrenzen durchgeführt werden. 13 Thym, Das Asylpaket der GroKo: Schnellere Dublin-Verfahren jenseits politischer Rhetorik, Gastbeitrag auf LTO vom 06.07.2018, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/asyl-kompromiss-fluechtlinge-zurueckweisung -transitverfahren-dublin-schnellere-verfahren/. 14 Ritgen, Grundlagen, Entwicklung und Perspektiven der Gesetzgebung zur Organisation und Verfahren der Asylverwaltung in Deutschland, ZG 2015, S. 297 (347 f.). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 11 3.2. Möglichkeit einer Fiktion der Nichteinreise Die Fiktion der Nichteinreise bezeichnet die juristische Konstellation, dass ein Ausländer rechtlich betrachtet noch nicht eingereist ist, obwohl er tatsächlich bereits die physische Grenze eines Staates passiert hat. Die Nichteinreisefiktion im nationalen Recht ist der Literatur zufolge in der Regel insbesondere für die Frage entscheidend, ob ein Ausländer (an der Grenze) zurückgewiesen werden kann oder eine Rückführung erforderlich ist.15 Durch die Fiktion einer Nichteinreise wird die Möglichkeit einer Zurückweisung an der Grenze aufrechterhalten. Gemäß den Vorgaben des AufenthG liegt im deutschen Recht rechtlich regelmäßig noch keine Einreise vor, wenn lediglich die Staatsgrenze überschritten wurde, vielmehr muss auch die Grenzübergangsstelle passiert worden sein. Die Vorschrift bezweckt, dass eine Zurückweisung – die gemäß § 15 AufenthG vor der Einreise erfolgen muss – auch dann noch möglich ist, wenn die Grenzübergangsstelle ins Inland verlagert wurde.16 Im Unionsrecht ist die Fiktion der Nichteinreise nicht ausdrücklich geregelt. Es finden sich jedoch Vorgaben, die denen des AufenthG ähneln . Schengener Grenzkodex Der Schengener Grenzkodex (SGK)17 enthält Vorgaben zum Grenzübertritt an den Außengrenzen des so genannten Schengenraums und zur Aufhebung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen . Gemäß Art. 5 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex (SGK) dürfen die Außengrenzen der EU nur an den Grenzübergangsstellen und während der festgesetzten Verkehrsstunden überschritten werden . Der EuGH hat zur Vorgängernorm des Art. 5 Abs. 1 SGK ausgeführt, dass die Frage, ob ein Drittstaatsangehöriger, der sich in der Transitzone eines Mitgliedstaats aufhält, im Sinne des Schengener Grenzkodex eine Außengrenze der EU überschritten hat oder nicht, für die Anwendbarkeit anderer Vorgaben des Unionsrechts, im fraglichen Fall der Verordnung Nr. 1889/2005 über die Überwachung von Barmitteln, die in die Gemeinschaft oder aus der Gemeinschaft verbracht werden, unerheblich ist.18 Der EuGH differenzierte in seinem Urteil mithin zwischen einer Einreise im Sinne des SGK und einer Einreise in das Unionsgebiet als Voraussetzung der Anwendbarkeit einer anderen Bestimmung des Unionsrechts. 15 Kluth, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2. Aufl. 2017, § 3 Einreise, Rn. 238; Westphal, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 13 AufenthG, Rn. 10. 16 S. hierzu die Ausarbeitung des Fachbereichs WD 3, WD 3 – 3000 – 256/18. 17 Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl. vom 23.3.2016, Nr. L 77/1, konsolidierte Fassung abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02016R0399-20170407&from=EN. 18 EuGH, Urt. vom 04.05.2017, Rs. C-17/16 – Oussama El Dakkak, Rn. 36. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 12 Wie in der Ausarbeitung von WD 3 dargestellt, erfordern Transitverfahren mit der Fiktion einer Nichteinreise die Durchführung von Grenzkontrollen an Grenzübergangsstellen.19 Die Außengrenzen der EU dürfen gemäß Art. 5 Abs. 1 SGK nur an den Grenzübergangsstellen überschritten werden. Die Binnengrenzen der EU dürfen hingegen gemäß Art. 22 SGK unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden. Der Schengener Grenzkodex gestattet jedoch in Art. 25 und 29 unter bestimmten Voraussetzungen die zeitlich begrenzte Wiedereinführung von nationalen Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen. In Deutschland wurden im September 2015 Grenzkontrollen an der Grenze zu Österreich vorübergehend wiedereingeführt und seitdem kontinuierlich verlängert.20 Unter diesen Voraussetzungen wird die Durchführung von Transitverfahren an EU-Binnengrenzen in der Literatur für möglich erachtet.21 Rückführungsrichtlinie Wie oben ausgeführt können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 2 Abs. 2 lit. a der Rückführungsrichtlinie ein besonderes Zurückweisungsverfahren für Personen anwenden, die in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land-, See- oder Luftwege aufgegriffen werden, statt diese gemäß den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie zu behandeln . In der Empfehlung der Kommission für ein gemeinsames Rückkehr-Handbuch findet in diesem Kontext die Fiktion der Nichteinreise ausdrücklich Erwähnung. Im Rückkehr-Handbuch steht zu dem Punkt Anwendungsbereich 2.1.: „Für Personen, denen die Einreise verweigert wurde und die sich in einer Transitzone oder in einem Grenzgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, gelten häufig besondere Regelungen: Aufgrund einer „juristischen Fiktion“ werden diese Personen zuweilen nicht als „im Hoheitsgebiet des (betreffenden) Mitgliedstaats aufhältig“ angesehen, und es finden bestimmte Regelungen Anwendung. In der Rückführungsrichtlinie wird dieser Ansatz nicht zugrunde gelegt, und es wird davon ausgegangen, dass jeder Drittstaatsangehörige, der sich physisch im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, in ihren Anwendungsbereich fällt.“22 Die Mitgliedstaaten könnten jedoch gemäß Art. 2 Abs. 2 lit. a beschließen, die Rückführungsrichtlinie auf bestimmte Grenzfälle nicht anzuwenden. Die Anordnung einer Fiktion der Nichteinreise 19 WD 3 – 3000 – 256/18. 20 S. den Überblick der Kommission „Member States’ notifications of the temporary reintroduction of border control at internal borders pursuant to Article 25 et seq. of the Schengen Borders Code”, abrufbar unter https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/what-we-do/policies/borders-and-visas/schengen/reintroduction -border-control/docs/ms_notifications_-_reintroduction_of_border_control_en.pdf. 21 Thym, Das Asylpaket der GroKo: Schnellere Dublin-Verfahren jenseits politischer Rhetorik, Gastbeitrag auf LTO vom 06.07.2018. 22 Empfehlung (EU) 2017/2338 der Kommission vom 16. November 2017 für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch “, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist, ABl. vom 19.12.2017, Nr. L 339/38, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/?qid=1531818881436&uri=CELEX:32017H2338. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 13 wird den Mitgliedstaaten an ihren Außengrenzen in Bezug auf die Vorgaben der Rückführungsrichtlinie in Art. 2 Abs. 2 lit. a Rückführungsrichtlinie mithin unionsrechtlich gestattet. In der Empfehlung der Kommission für ein gemeinsames Rückkehr-Handbuch wird zwischen Binnen- und Außengrenzen differenziert und zur Ausnahmeregelung des Art. 2 Abs. 2 lit. a der Rückführungsrichtlinie ausgeführt: „Die in Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a festgelegten Ausnahmen sind für „Grenzfälle“ nur dann anwendbar, wenn der Aufgriff an einer Außengrenze und nicht an einer Binnengrenze erfolgt […]. Durch die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen werden Binnengrenzen nicht wieder zu Außengrenzen. Dieser Umstand berührt also nicht den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie.“23 Die Möglichkeit von den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie abzuweichen und Personen an der Grenze in Drittstaaten zurückzuweisen statt sie gemäß den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie dorthin zu überstellen, besteht somit aus Sicht der Kommission und auch nach Ansicht der Literatur nur an den Außengrenzen der EU, nicht an ihren Binnengrenzen.24 Dies folgt aus der Tatsache, dass die Rückführungsrichtlinie die Beendigung eines illegalen Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen in der EU durch die Rückführung in einen Drittstaat außerhalb der EU regelt. Es ist daher abschließend festzuhalten, dass die Rückführungsrichtlinie keine speziellen Vorgaben für den Umgang mit Antragstellern an den Binnengrenzen der EU enthält. Dublin-III-Verordnung Die Fiktion der Nichteinreise dient dem Erhalt der Möglichkeit, eine Person zurückzuweisen, obwohl sie bereits physisch in einen Staat eingereist ist. Die Rückführungsrichtlinie gestattet den Mitgliedstaaten die gesetzliche Normierung einer solchen Fiktion an ihren Außengrenzen. Fraglich ist, ob eine solche Fiktion auch an den Binnengrenzen der EU möglich ist. Damit zusammenhängend stellt sich die Frage, ob eine Zurückweisung von Antragstellern (der die Fiktion einer Nichteinreise in der Regel dient) an den EU-Binnengrenzen mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Die Rückführungsrichtlinie regelt, wie oben bereits festgestellt, die Beendigung eines illegalen Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen in der EU durch die Rückführung in einen Drittstaat außerhalb der EU. Der EuGH hat diesbezüglich entschieden, „dass Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit deren neuntem Erwägungsgrund dahin auszulegen ist, dass diese Richtlinie auf einen Drittstaatsangehörigen, der […] um internationalen Schutz ersucht hat, im Zeitraum zwischen der Antragstellung bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über diesen Antrag oder gegebenenfalls bis zur Entscheidung über einen allfälligen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung keine Anwendung findet.“25 Die Rückführungsrichtlinie greift mithin dann, wenn sich Drittstaatsangehörige illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und sie in keinem Staat, in dem die Dublin-III-Verordnung anwendbar ist, einen Antrag auf internationalen 23 Empfehlung (EU) 2017/2338 der Kommission vom 16. November 2017 für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch “, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist, ABl. vom 19.12.2017, Nr. L 339/38. 24 Hörich, Die Rückführungsrichtlinie: Entstehungsgeschichte, Regelungsgehalt und Hauptprobleme, ZAR 2011, S. 281 (282 f.); Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Art. 2 RL 2008/115/EG, Rn. 9. 25 EuGH, Urt. v.30.5.2013, Rs. C- 534/11 – Arslan, Rn. 49. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 14 Schutz gestellt haben oder wenn negativ über den Antrag auf internationalen Schutz entschieden worden ist. Die Rückführungsrichtlinie kommt folglich dann zur Anwendung, wenn ein Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich der Dublin-III-Verordnung fällt. Bei dem Aufgriff eines Antragstellers, dessen Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, ist daher grundsätzlich nicht die Rückführungsrichtlinie, sondern die Dublin-III-Verordnung der relevante Rechtsakt. Es ist in derartigen Fällen zu klären, welcher Mitgliedstaat gemäß der Dublin-III-Verordnung für den Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist. Es ist in der Literatur umstritten, ob die Mitgliedstaaten der EU aufgrund eines Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen einer Binnengrenzkontrolle zur Prüfung verpflichtet sind, welcher Mitgliedstaat gemäß den Vorgaben der Dublin-III-Verordnung für die Prüfung dieses Antrags verantwortlich ist. Darauf aufbauend wird die Frage diskutiert, ob aufgrund dieser Verfahrenszuständigkeit Antragsteller nicht gemäß den Vorgaben des nationalen Rechts an der Grenze zurückgewiesen werden können, sondern eine Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß den Vorgaben der Dublin-III-Verordnung erfolgen muss. Nach einer Ansicht muss der die Grenzkontrolle durchführende Mitgliedstaat im Falle einer Antragstellung an der Grenze gemäß Art. 20 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung den entsprechend der Dublin-III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat ermitteln.26 Wenn dieser sich zur Übernahme bereit erklärt hat, wird der Antragsteller in den zuständigen Dublin-Staat überstellt. Eine Zurückweisung an der Grenze ist nach dieser Ansicht grundsätzlich nicht möglich. Das nationale Recht, insbesondere § 18 AsylG, werde durch die Dublin-III-Verordnung überlagert, welche das weitere Überweisungsverfahren regelt.27 Nach anderer Ansicht ist ein Mitgliedstaat bei einer Antragstellung an seiner EU-Binnengrenze nicht zur Prüfung verpflichtet, welcher Mitgliedstaat gemäß den Vorgaben der Dublin-III-Verordnung für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz verantwortlich ist.28 Vertreter dieser Ansicht stützen sich auf Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-Verordnung, wonach die Bestimmung des für den Antrag auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Antragsteller aufhält, obliegt, auch wenn der Antragsteller bei den zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats einen Antrag auf internationalen Schutz stellt. Sie argumentieren, rechtlich befinde sich der Antragsteller, bevor ihm die Einreise gestattet worden ist, noch im Hoheitsgebiet des anderen Mitgliedstaats29 und könne dorthin zurückgewiesen wer- 26 Farahat/Markard, Recht an der Grenze: Flüchtlingssteuerung und Schutzkooperation in Europa, JZ 2017, S. 1088 (1092); Wieckhorst, Rechts- und verfassungswidriges Regierungshandeln in der sogenannten Flüchtlingskrise ?, ThürVBl. 2016, S. 181 (184); Winkelmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12 Aufl. 2018, § 18 AsylG, Rn. 23. 27 Bruns, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 18 AsylG, Rn. 23. 28 Möstl, Verfassungsfragen der Flüchtlingskrise 2015/16, AöR 2017, S. 175 (221 f.); Peukert/Hillgruber/ Foerste/Putzke, Einreisen lassen oder zurückweisen? Was gebietet das Recht in der Flüchtlingskrise an der deutschen Staatsgrenze?, ZAR 2016, S. 131 (132 f.); Koehler, Praxiskommentar zum Europäischen Asylzuständigkeitssystem , 2018, Art. 20 Dublin-III-VO, Rn. 20. 29 Möstl, Verfassungsfragen der Flüchtlingskrise 2015/16, AöR 2017, S. 175 (222). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 15 den für die Prüfung, wer gemäß der Dublin-III-Verordnung für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Die Dublin-III-Verordnung verpflichtet dieser Ansicht zufolge einen Mitgliedstaat nicht, bei Anträgen auf internationalen Schutz an seinen (Binnen-)Grenzen den für den Antrag zuständigen Mitgliedstaaten zu ermitteln und den Antragsteller dorthin zu überstellen. Eine Entscheidung in der Streitfrage, ob die Bundesrepublik aufgrund der Dublin-III-Verordnung für an ihren Grenzen gestellte Anträge auf internationalen Schutz eine Verfahrenszuständigkeit besitzt und deshalb Antragsteller nicht in einen benachbarten Mitgliedstaat zurückweisen kann, ist mangels einschlägiger Rechtsprechung des EuGH zu den relevanten Normen der Dublin-III- Verordnung vorliegend nicht möglich. Folglich kann auch die Frage nicht geklärt werden, ob die Fiktion einer Nichteinreise zur Bewahrung einer solchen Zurückweisungsmöglichkeit mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Zwischenergebnis Die Rückführungsrichtlinie enthält keine Vorgaben für die Frage, ob eine Nichteinreisefiktion an den Binnengrenzen der EU möglich ist, sie ermöglicht in ihrem Anwendungsbereich lediglich die Fiktion einer Nichteinreise an den Außengrenzen zwecks Abweichung von ihren Vorgaben. Es ist in der Literatur umstritten und kann mangels Rechtsprechung des EuGH zu dieser Frage vorliegend nicht entschieden werden, ob die Dublin-III-Verordnung die nationale Möglichkeit einer Zurückweisung an den Binnengrenzen der EU überlagert und dieser sowie der die Möglichkeit einer Zurückweisung aufrechterhaltenden Fiktion der Nichteinreise entgegensteht. Wenn die Dublin-III-Verordnung auf die Antragstellung an Binnengrenzen keine Anwendung findet, wäre eine Zurückweisung und die Möglichkeit von deren Aufrechterhaltung durch die Fiktion der Nichteinreise nach nationalem Recht zu bestimmen. 3.3. Bindung an das Unionsrecht in Transitzonen Nach Ansicht der Literatur sind die Mitgliedstaaten auch in Transitzonen grundsätzlich an die Vorgaben des Unionsrechts gebunden. Auch im Rahmen eines sog. Transitverfahrens seien die Vorgaben des europäischen Sekundärrechts zu beachten.30 Das folgt zum Teil bereits ausdrücklich aus den Sekundärrechtsakten selbst. So steht in Art. 3 Abs. 1 der Asylverfahrensrichtlinie zu deren Anwendungsbereich: „Diese Richtlinie gilt für alle Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden […].“ Eine Ausnahme , die inzident die Regel bestätigt, dass Unionsrecht auch in den Transitzonen der Mitgliedstaaten gilt, ist die Regelung in Art. 2 Abs. 2 lit. a der Rückführungsrichtlinie, wonach Mitgliedstaaten ausnahmsweise in dem Umgang mit Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land-, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden, von den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie abweichen können. 30 Thym, Das Asylpaket der GroKo: Schnellere Dublin-Verfahren jenseits politischer Rhetorik, Gastbeitrag auf LTO vom 06.07.2018. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 16 Die Bindung der Mitgliedstaaten an das Unionsrecht in ihren Transitzonen hat 2015 auch die Europäische Kommission in einer Pressemitteilung anlässlich des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Ungarn wegen asylrechtlicher Verstöße betont und ausgeführt: „In der Neufassung der Asylverfahrensrichtlinie sind gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes und klare Vorschriften für die Beantragung von Asyl festgelegt. Sie gilt für alle Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet – auch an den Grenzen, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden.“31 Auch in dem bereits mehrfach erwähnten gemeinsamen Rückkehr-Handbuch der Kommission wird darauf hingewiesen, „dass die Garantien gemäß den Asylvorschriften der Union (insbesondere Zugang zum Asylverfahren) durch den Beschluss der Mitgliedstaaten, die Rückführungsrichtlinie nicht auf „Grenzfälle“ anzuwenden, in keiner Weise außer Kraft gesetzt werden.“32 Der EuGH hat sich bereits mit dem speziellen Fall des Flughafentransits und der diesbezüglichen Anwendbarkeit von Unionsrecht befasst. In der Rechtssache Oussama El Dakkak führte er aus, dass die Flughäfen der Mitgliedstaaten zum Unionsgebiet gehören.33 Der EuGH differenziert in seiner Entscheidung zwischen einer Einreise im Sinne der Verordnung Nr. 1889/2005 über die Überwachung von Barmitteln, die in die Gemeinschaft oder aus der Gemeinschaft verbracht werden und der Einreise in die EU im Sinne der Verordnung Nr. 562/2006 (der Vorgängernorm des aktuellen Schengener Grenzkodex).34 Der Aufenthalt in der Transitzone steht nach Ansicht des EuGH nicht der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1889/2005 entgegen. Die rechtlichen Besonderheiten eines Aufenthalts in einer Transitzone erstrecken sich mithin nicht auf alle Vorgaben des Unionsrechts bzw. schließen deren Anwendbarkeit laut EuGH nicht per-se aus. Das Urteil des EuGH entspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bereits mehrfach die Anwendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in den Transitzonen der Mitgliedstaaten bejaht hat. In der ersten Entscheidung zu dieser Frage, in der Rechtssache Amuur, führte der EGMR aus: „The Court notes that even though the applicants were not in France within the meaning of the Ordinance of 2 November 1945, holding them in the international zone of Paris-Orly Airport made them subject to French law. Despite its name, the international zone does not have extraterritorial status.”35 31 Pressemitteilung vom 10.12.2015, Kommission leitet gegen Ungarn Vertragsverletzungsverfahren wegen asylrechtlicher Verstöße ein, abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-6228_de.htm. 32 Empfehlung (EU) 2017/2338 der Kommission vom 16. November 2017 für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch “, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist, ABl. vom 19.12.2017, Nr. L 339/38. 33 EuGH, Urt. vom 04.05.2017, Rs. C-17/16 – Oussama El Dakkak, Rn. 25. 34 EuGH, Urt. vom 04.05.2017, Rs. C-17/16 – Oussama El Dakkak, Rn. 26 und 36 ff. 35 EGMR, Urt. vom 25.06.1996, Rs. 19776/92 – Amuur, Rn. 52. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/18 Seite 17 Diese Rechtsprechung bestätigte er in seinen nachfolgenden Urteilen, bspw. in den Rechtssachen Nolan36 und Ilias und Ahmed37. – Fachbereich Europa – 36 EGMR, Urt. vom 12.02.2009, Rs. 2512/04 – Nolan, Rn. 95. 37 EGMR, Urt. vom 14.03.2017, Rs. 47287/15 – Ilias und Ahmed (Die Entscheidung ist nunmehr der großen Kammer vorgelegt worden).