© 2016 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 112/16 Zurücknahme eines Antrags gemäß Art. 50 EUV Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/16 Seite 2 Zurücknahme eines Antrags gemäß Art. 50 EUV Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 112/16 Abschluss der Arbeit: 28. Juli 2016 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Anforderungen aus Art. 50 EUV 4 3. Möglichkeit der Rücknahme eines Antrags gemäß Art. 50 EUV 6 3.1. Bedeutung der Mitteilung gemäß Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV 6 3.2. Vorbemerkung 7 3.3. Argumente gegen die Möglichkeit einer Rücknahme 9 3.3.1. Systematik 9 3.3.2. Wortlaut und Entstehungsgeschichte 9 3.4. Argumente für die Möglichkeit einer Rücknahme 10 3.4.1. Wortlaut 10 3.4.2. Telos 10 3.4.3. Systematik 12 3.4.4. Völkerrechtlicher Rahmen 13 4. Zusammenfassung 14 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/16 Seite 4 1. Fragestellung Die Ausarbeitung setzt sich mit der Frage auseinander, ob die Mitteilung über einen Austritt aus der Europäischen Union (EU) gemäß Art. 50 Abs. 2 EUV durch das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland (im Folgenden: Vereinigtes Königreich) in Folge des Referendums vom 23. Juni 20161 vor dem Wirksamwerden des Austritts zurückgenommen werden kann. 2. Anforderungen aus Art. 50 EUV Art. 50 EUV wurde mit dem Vertrag von Lissabon in das Unionsrecht aufgenommen und regelt die bis dahin umstrittene,2 nicht ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit des freiwilligen Austritts eines Mitgliedstaats aus der Union.3 Die Bestimmung geht zurück auf die Diskussionen im Verfassungskonvent 4 sowie den nachfolgenden Regierungskonferenzen zum Verfassungsvertrag und zum Vertrag von Lissabon. In diesen Diskussionen setzte sich die Auffassung durch, dass es politisch weder möglich noch wünschenswert wäre, einen Staat gegen seinen Willen in der Union zu halten, und dass daher ein geregeltes Verfahren für die Abwicklung eines Austritts aus der EU vorzuziehen ist.5 Die Entscheidung über einen Austritt liegt ausschließlich bei dem betreffenden Mitgliedstaat, im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften (Art. 50 Abs. 1 EUV).6 Gemäß Art. 50 1 Vgl. hierzu EPRS, Briefing v. 24. Juni 2016, The UK referendum ,abrufbar unter http://www.europarl.europa .eu/RegData/etudes/BRIE/2016/585208/EPRS_BRI(2016)585208_EN.pdf sowie EPRS, At a glance, 7. Juli 2016, Brexit: What next for Britain and Europe?, abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/Reg- Data/etudes/ATAG/2016/585209/EPRS_ATA(2016)585209_EN.pdf. Zur Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der EU vgl. Thiele, Der Austritt aus der EU – Hintergründe und rechtliche Rahmenbedingungen eines „Brexit“, EuR 2016, S. 281 (284 ff.). 2 Vgl. Everling, Zur Stellung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union als “Herren der Verträge”, in: Petersmann u.a. (Hrsg.), FS Rudolf Bernhardt, 1995, S. 1161 ff.; Doehring, Einseitiger Austritt aus der EG, in: Dörr u.a. (Hrsg.), FS Hartmut Schiedermair, 2001, S. 695 ff.; Zeh, Recht auf Austritt, ZEuS 2004, S. 173 (180 ff.); Hofmeister , ‘Should I Stay or Should I Go?’ – A Critical Analysis of the Right to Withdraw from the EU, European Law Journal 16 (2010), S. 591 ff. 3 Zur Möglichkeit eines Austritts auch ohne Art. 50 EUV vgl. BVerfGE 123, 267 (350): „Es handelt sich nicht um eine -- völkerrechtlich problematische -- Sezession aus einem Staatsverband (Tomuschat, Secession and Self- Determination, in: Kohen, Secession -- International Law Perspectives, 2006, S. 23 ff.), sondern lediglich um den Austritt aus einem auf dem Prinzip der umkehrbaren Selbstbindung beruhenden Staatenverbund.“ Zu der Anerkennung einer Austrittsmöglichkeit durch Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten vgl. Wyrozumska, in: Blanke/Mangiameli (Hrsg.), The Treaty on European Union, 2013, Art. 50 TEU, Rn. 31 ff. 4 Vgl. Europäischer Konvent, Entwurf der Verfassung, Band I, Überarbeiteter Text von Teil I, 28. Mai 2003, CONV 724/1/03 REV 1 ANNEX 2, S. 133 ff., abrufbar unter http://european-convention.europa .eu/pdf/reg/de/03/cv00/cv00724.de03.pdf; zu den Änderungsvorschlägen im Konvent vgl. http://europeanconvention .europa.eu/DE/amendments/amendments4fde.html?content=46&lang=DE, Thiele, Der Austritt aus der EU – Hintergründe und rechtliche Rahmenbedingungen eines „Brexit“, EuR 2016, S. 281 (288 ff.). 5 Vgl. BT-Drs. 16/8300, S. 168 (Denkschrift zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007). 6 Vgl. BVerfGE 123, 267 (396): „Jeder Mitgliedstaat kann auch gegen den Willen der anderen Mitgliedstaaten aus der Europäischen Union austreten (vgl. Art. 54 Buchstabe a des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge [Wiener Vertragsrechtsübereinkommen] vom 23. Mai 1969, BGBl. 1985 II S. 926 ff.). Die Entscheidung, Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/16 Seite 5 Abs. 2 S. 1 EUV teilt ein „Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, dem Europäischen Rat seine Absicht“ mit.7 Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen gemäß Art. 218 Abs. 3 AEUV8 über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird (Art. 50 Abs. 2 S. 3 und 4 EUV).9 Ein solches Abkommen, das auf EU-Seite vom Rat mit qualifizierter Mehrheit mit Zustimmung des Europäischen Parlaments beschlossen wird und die Modalitäten eines Austritts regelt,10 soll binnen zwei Jahren geschlossen werden. Es ist jedoch nicht konstitutiv für den Austritt.11 Der Austritt (d.h. die Nichtanwendung des Unionsrechts auf den betreffenden Staat) wird ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder automatisch zwei Jahre nach der Mitteilung der Austrittsabsicht wirksam, sofern der Europäische Rat diese Zweijahresfrist nicht einstimmig und im Einvernehmen mit auszutreten, muss nicht zwingend durch ein Austrittsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem betreffenden Mitgliedstaat umgesetzt werden. Für den Fall, dass ein Abkommen nicht zustandekommt, wird der Austritt zwei Jahre nach Mitteilung der Austrittsentscheidung wirksam (Art. 50 Abs. 3 EUV-Lissabon). Das Austrittsrecht kann auch ohne weitere Bindungen ausgeübt werden, weil der austrittswillige Mitgliedstaat seine Entscheidung nicht begründen muss. Art. 50 Abs. 1 EUV-Lissabon verweist lediglich darauf, dass der Austritt des Mitgliedstaates "im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften" erfolgen muss. Ob diese im Einzelfall eingehalten wurden, kann jedoch nur durch den Mitgliedstaat selbst, nicht aber durch die Europäische Union oder die anderen Mitgliedstaaten überprüft werden.“ 7 Diese Mitteilung gemäß Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV wird in der aktuellen Diskussion auch als Antrag bezeichnet. Die Bezeichnung ist insofern irreführend, da sie impliziert, dass die EU den Austritt genehmigen muss. Gemäß Art. 50 Abs. 3 EUV ist ein Austritt jedoch nicht von einer solchen „Genehmigung“ anhängig. Zu Austrittsformen vgl. Helfer, Exiting Treaties, Virginia Law Review 91 (2005), S. 1579 ff., abrufbar unter http://www.virginialawreview .org/volumes/content/exiting-treaties. 8 D.h. die Kommission legt dem Rat Empfehlungen vor und der Rat erlässt einen Beschluss über die Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen. 9 Für einen Überblick über das Verfahren sowie weitere Fragen im Zusammenhang mit einem Austritt vgl. EPRS, Briefing vom Februar 2016, Article 50 TEU: Withdrawal of a Member State from the EU, abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2016/577971/EPRS_BRI(2016)577971_EN.pdf. 10 Neben dem Austrittsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich zur Regelung der Austrittsmodalitäten ist ein Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU und ihren Mitgliedstaaten zur Neuregelung der Beziehungen gegenüber dem Vereinigten Königreich als Drittstaat sowie – für die Unionsrechtsordnung – eine Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten zur Anpassung der Unionsverträge nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs (Art. 48 EUV) zu erwarten, vgl. Lippert/von Ondarza, Der Brexit als Neuland , SWP-Aktuell, Juli 2016, S. 2 f., abrufbar unter https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products /aktuell/2016A42_lpt_orz.pdf. 11 Vgl. Europäischer Konvent, Entwurf der Verfassung, Band I, Überarbeiteter Text von Teil I, 28. Mai 2003, CONV 724/1/03 REV 1 ANNEX 2, S. 135, abrufbar unter http://european-convention.europa .eu/pdf/reg/de/03/cv00/cv00724.de03.pdf: „Das Präsidium ist der Auffassung, dass der Austritt eines Mitgliedstaats aus der Union nicht vom Abschluss eines Austrittsabkommens mit dieser abhängig gemacht werden kann, da nach Ansicht vieler das Austrittsrecht besteht, auch wenn es keine ausdrückliche Bestimmung hierüber gibt. Daher ist vorgesehen, dass der Austritt auf jeden Fall zwei Jahre nach der diesbezüglichen Mitteilung wirksam wird.“ Vgl. hierzu auch Wieduwilt, Article 50 TEU – The Legal Framework of a Withdrawal from the European Union, ZEuS 2015, S. 169 (175 ff.); Friel, Providing a Constitutional Framework for Withdrawal from the EU: Article 59 of the Draft European Constitution, The International and Comparative Law Quarterly, 2004, S. 407 ff.; Bruha/Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? Anmerkungen zu Art. I-59 des Entwurfs eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, Archiv des Völkerrechts 2004, S. 1 (7 ff.). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/16 Seite 6 dem betroffenen Mitgliedstaat verlängert (Art. 50 Abs. 3 EUV).12 Ein ausgetretener Mitgliedstaat kann nur nach dem normalen Beitrittsverfahren (Art. 49 EUV) erneut Mitglied werden (Art. 50 Abs. 5 EUV). 3. Möglichkeit der Rücknahme eines Antrags gemäß Art. 50 EUV 3.1. Bedeutung der Mitteilung gemäß Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV Mit den Gemeinschafts- bzw. Unionsverträgen wurde eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die aus einer autonomen Rechtsquelle fließt und weder Bestandteil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht ist.13 Jedoch bleiben die Mitgliedstaaten dauerhaft die Herren der Verträge über das Völkervertrags- oder Primärrecht als eine abgeleitete Grundordnung. Im „europäischen Staatenverbund “14 bilden die in ihren Staaten demokratisch verfassten Völker Europas die Quelle der Unionsgewalt und der sie konstituierenden europäischen Verfassung im funktionellen Sinne.15 Die Frage des Austritts aus der EU bzw. die hierbei erforderlichen und möglichen Handlungen betreffen das grundlegende Rechtsverhältnis zwischen der EU als internationale Organisation zu den Mitgliedstaaten. Vor dem Hintergrund, dass die EU auf einem multilateralen Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten beruht, an dem sie selbst nicht beteiligt ist, ist die EU in Bezug auf die Mitgliedschaftsverhältnisse der Mitgliedstaaten eine dritte Partei.16 Dementsprechend kann der EU-Austritt, d.h. die rechtliche Beendigung der multilateralen Verträge, auf denen die EU-Mitgliedschaft beruht, nicht durch einen bilateralen Vertrag zwischen dem austrittswilligen Mitgliedstaaten und der EU beendet werden, da eine solche konstitutive Wirkung des Austrittsabkommens der Regel „pacta tertiis nec nocent nec prosunt“17 (d.h. dem Verbot der Drittwirkung von Verträgen, vgl. Art. 34 WVK) und damit dem völkerrechtlichen Konsensprinzip widersprechen würde.18 Vielmehr ist die souveräne Entscheidung für die Mitteilung der Austrittsabsicht als einseitiges Gestaltungsrecht des austrittswilligen Staates konstitutiv für den Austritt aus der 12 Zum weiteren Verfahren vgl. EPRS, At a glance, UK withdrawal from the EU – Next steps, 28 Juni 2016, abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes /ATAG/2016/583855/EPRS_ATA(2016)583855_EN.pdf. 13 EuGH, Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, S. 1251 (1269); EuGH, Rs. 294/83 (Les Verts), Rn. 23, vgl. auch BVerf GE 22, 293 (296); 31, 145 (173 f.); 37, 217 (277). 14 BVerfGE 89, 155 (207), vgl. hierzu Kirchhof, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Hommelhoff /Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 11 ff.; Kokott, Deutschland im Rahmen der Europäischen Union – zum Vertrag von Maastricht, AöR 119 (1994), S. 207 ff. 15 BVerfGE 123, 267 (349). 16 Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 58. EL 2016, Art. 50 EUV, Rn. 13. 17 Weder schaden Verträge Dritten noch nützen sie ihnen. 18 Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 58. EL 2016, Art. 50 EUV, Rn. 13 mit dem Hinweis, dass die EU im Rahmen des Austrittsabkommens auch keine Vertretungsbefugnis besitzt, da ihr in Art. 50 Abs. 2 S. 2 EUV nur für die „Einzelheiten des Austritts“, nicht aber für einen austrittsbegründenden Vertrag eine Vertretungsmacht eingeräumt wird. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/16 Seite 7 EU.19 Dabei bewirkt die Mitteilung der Austrittsabsicht zunächst keine Änderungen der EU-Mitgliedschaft . Die Mitteilung bildet den Rechtsgrund für den Austritt, wobei ihre Wirkung nicht „unmittelbar rechtsgestaltend“20, sondern durch die in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehene Frist „aufschiebend bedingt“21 ist. 3.2. Vorbemerkung Die Frage nach der Möglichkeit, ob und wie eine Mitteilung gemäß Art. 50 EUV und ihre aufschiebend bedingte Wirkung zurückgenommen werden kann, ist insbesondere in der rechtswissenschaftlichen Literatur umstritten.22 Zudem gehen die Diskussionen von verschiedenen Rücknahmeszenarien und damit von divergierenden Prämissen für eine Rücknahmemöglichkeit aus.23 Zur Anwendung von Art. 50 EUV existieren weder Anwendungsfälle24 noch eine Rechtsprechung , auf die eine abschließende Aussage zur Auslegung von Art. 50 EUV gestützt werden 19 Vgl. Europäischer Konvent, Entwurf der Verfassung, Band I, Überarbeiteter Text von Teil I, 28. Mai 2003, CONV 724/1/03 REV 1 ANNEX 2, S. 135, abrufbar unter http://european-convention.europa .eu/pdf/reg/de/03/cv00/cv00724.de03.pdf; Wieduwilt, Article 50 TEU – The Legal Framework of a Withdrawal from the European Union, ZEuS 2015, S. 169 (175 ff.). 20 Thiele, EuR 2016, S. 281 (295). 21 Bruha/Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? Anmerkungen zu Art. I-59 des Entwurfs eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, Archiv des Völkerrechts 2004, S. 1 (7); Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim , Das Recht der Europäischen Union, 58. EL 2016, Art. 50 EUV, Rn. 17. 22 Für eine Rücknahmemöglichkeit vgl. House of Commons Library, Brexit: how does the Article 50 process work?, Commons Briefing papers CBP-7551 v. 30. Juni 2016, S. 15 f., abrufbar unter http://researchbriefings.parliament .uk/ResearchBriefing/Summary/CBP-7551; House of Lords, European Union Committee, 11th Report of Session 2015–16, HL Paper 138, The process of withdrawing from the European Union, S. 4 f., abrufbar unter http://www.publications.parliament.uk/pa/ld201516/ldselect/ldeucom/138/138.pdf; Thiele, Austritt aus der EU – Hintergründe und rechtliche Rahmenbedingungen eines „Brexit“, EuR 2016, S. 281 (295); Herbst, Observations on the Right to Withdraw from the European Union: Who are the „Masters of the Treaties“?, German Law Journal 2005, S. 1755 (1756, 1758); Friel, Providing a Constitutional Framework for Withdrawal from the EU, International and Comparative Law Quarterly 2004, S. 407 (426). Gegen eine Rücknahmemöglichkeit vgl. Mayer, Zwei Jahre sind nicht immer gleich zwei Jahre: wann beginnt der Brexit-Countdown?, Verfassungsblog v. 26. Juni 2016, http://verfassungsblog.de/franz-mayer-brexit-countdown/; Renwick, What happens if we vote for Brexit?, abrufbar unter https://constitution-unit.com/2016/01/19/what-happens-if-we-vote-for-brexit/; Peers, Article 50 TEU: The uses and abuses of the process of withdrawing from the EU, abrufbar unter http://eulawanalysis .blogspot.de/2014/12/article-50-teu-uses-and-abuses-of.html. 23 So sind beispielsweise Szenarien denkbar, wonach die Verhandlungen nicht mit dem Ziel eines Austritts, sondern mit Blick auf veränderte Bedingungen einer Mitgliedschaft geführt werden, um die Mitteilung ggf. nach einem weiteren Referendum zurückzunehmen (vgl. The Sunday Times v. 28. Mai 2015, Boris calls for ‘no’ to Europe - then ‘yes’, abrufbar unter http://www.thesundaytimes.co.uk/sto/news/uk_news/article1574571.ece), dass das Vereinigte Königreich seine Austrittsabsicht aufgibt, um durch die Rücknahme das Verfahren nach Art. 50 EUV abzubrechen oder dass das Vereinigte Königreich die Zweijahresfrist als zu kurz ansehen könnte und durch die Rücknahme der Austrittsmitteilung und ggf. eine spätere erneute Mitteilung die Zweijahresfrist erneut anlaufen lassen könnte, ohne eine einstimmige Verlängerung durch den Europäischen Rat zu benötigen (vgl. Peers, Article 50 TEU: The uses and abuses of the process of withdrawing from the EU, abrufbar unter http://eulawanalysis.blogspot.de/2014/12/article-50-teu-uses-and-abuses-of.html). 24 Der „Austritt“ Grönlands im Jahr 1985 erfolgte in Form einer territorialen Begrenzung des Anwendungsbereichs des damaligen Gemeinschaftsrechts und einer Anwendung der Regelung für die überseeischen Länder und Hoheitsgebiete auf Grönland (vgl. Art. 204 AEUV), ABl. L 29 vom 1. Februar 1985, S. 1, abrufbar unter http://eur- Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/16 Seite 8 könnte.25 Zudem ist insbesondere mit Blick auf die durch den Europäischen Rat festzulegenden Leitlinien (Art. 50 Abs. 2 S. 2 EUV) von einem weiten politischen Handlungsspielraum im Rahmen des Verfahrens gemäß Art. 50 EUV auszugehen. Vor diesem Hintergrund kann vorliegend keine abschließende Bewertung einer Rücknahmemöglichkeit getroffen werden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher auf eine Zusammenfassung der für und gegen die Möglichkeit einer Rücknahme sprechenden Erwägungen im Rahmen einer Auslegung der Voraussetzungen des Art. 50 EUV. Hierbei gehen die folgenden Ausführungen von der Situation aus, dass die Austrittsabsicht zunächst mitgeteilt wird und diese Mitteilung innerhalb der in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehenen Frist und vor Inkrafttreten eines Austrittsabkommens zurückgenommen wird. Ergänzend ist anzumerken, dass im Rahmen der folgenden Ausführungen die Fragen ausgeklammert bleiben, welche die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen (vgl. Art. 50 Abs. 1 EUV) des Vereinigten Königreichs für einen Austritt bzw. für die Rücknahme der Mitteilung betreffen.26 lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=OJ:L:1985:029:TOC. Ergänzend kann auf Art. 1 Abs. 3 der Satzung des Völkerbundes (vgl. http://avalon.law.yale.edu/20th_century/leagcov.asp) als historisches Vergleichsbeispiel zur Einordnung der Mitteilung gemäß Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV verwiesen werden („Jedes Bundesmitglied kann nach zweijähriger Kündigung aus dem Bunde austreten, vorausgesetzt, daß es zu dieser Zeit alle seine internationalen Verpflichtungen einschließlich derjenigen aus der gegenwärtigen Satzung erfüllt hat.“). Vergleichbar mit Art. 50 EUV muss eine Austrittserklärung erfolgen, deren Rechtsfolgen erst zwei Jahre später eintreten. Für die Zeit zwischen dem Zugang der Erklärung und dem Eintritt der Rechtswirkungen fehlt es an einer Regelung zur Rücknahme der Erklärung. Diese Vorschrift wurde so angewendet, dass eine Rücknahme der Kündigung möglich war (für den Austritt Spaniens vgl. Westarp, Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund im Lichte des Rechts, DJZ 1933, Sp. 1391). Zur Begründung wurde in der Literatur darauf verwiesen, dass während der Zweijahresfrist noch keine Rechtswirksamkeit eintrat (vgl. Pfluger, Die einseitigen Rechtsgeschäfte im Völkerrecht, 1936, S. 132). Eine andere Ansicht verlangte für den Zeitpunkt nach Kündigung die Zustimmung aller Vertragsparteien , weshalb nach der Kündigung wieder ein formeller Aufnahmeakt erforderlich gewesen wäre (vgl. Mc Nair, La Terminaison et la Dissolution des Traités, Recueil des Cours, 1928 II, S. 516, Fn. 3). 25 Vgl. Renwick, What happens if we vote for Brexit?, abrufbar unter https://constitutionunit .com/2016/01/19/what-happens-if-we-vote-for-brexit/: „We could have a second referendum (the UK parliament can call a referendum on anything it likes), but a vote to reject the negotiated terms would leave us in legal limbo. The European Court of Justice might rule (if asked) that an ability to withdraw such a notification is implied by Article 50 – but it might equally well rule that it is not implied.“ 26 Für die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der EU vgl. den European Communities Act 1972, abrufbar unter http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1972/68/contents sowie für das Referendum vom 23. Juni 2016 den European Union Referendum Act 2015, abrufbar unter http://www.legislation.gov.uk/ukpga/2015/36/contents /enacted. Für die gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Diskussionen im Vereinigten Königreich vgl. beispielsweise Georgopoulos, ‘Brexit’, Article 50 TEU and the Constitutional Significance of the UK Referendum, abrufbar unter http://www.ejiltalk.org/brexit-article-50-teu-and-the-constitutional-significance-of-the-uk-referendum /, Douglas-Scott, Brexit, the Referendum and the UK Parliament: Some Questions about Sovereignty, abrufbar unter https://ukconstitutionallaw.org/2016/06/28/sionaidh-douglas-scott-brexit-the-referendum-andthe -uk-parliament-some-questions-about-sovereignty/ sowie zur Klage der britischen Kanzlei Mishcon de Reya http://www.mishcon.com/news/firm_news/article_50_process_on_brexit_faces_legal_challenge_to_ensure_parliamentary _involvement_07_2016. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/16 Seite 9 3.3. Argumente gegen die Möglichkeit einer Rücknahme 3.3.1. Systematik Sofern sich durch das Inkrafttreten des Austrittsabkommens oder eine vom Europäischen Rat beschlossene Fristverlängerung keine abweichende Regelung ergibt, finden die EU-Verträge zwei Jahre nach der Mitteilung der Austrittsabsicht keine Anwendung mehr auf den austrittswilligen Staat (Art. 50 Abs. 3 EUV). Die Vorschrift sieht keine Ausnahme vor für den Fall, dass der zunächst austrittswillige Mitgliedstaat seine Meinung ändert und seinen Willen bekundet, in der EU zu verbleiben. Vielmehr könnte sich aus der Formulierung „es sei denn“ in Art. 50 Abs. 3 EUV a.E. ableiten lassen, dass die einvernehmliche und einstimmige Fristverlängerung durch den Europäischen Rat eine abschließende Ausnahmevorschrift darstellt.27 Ausgehend von der Annahme, dass eine nicht explizit vorgesehene Ausnahme im Rahmen des Art. 50 EUV ausgeschlossen ist, wäre eine Rücknahme der Mitteilung unzulässig. Darüber hinaus könnte auch das in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehene Erfordernis einer Verlängerung der Zweijahresfrist durch einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates gegen die Möglichkeit einer Rücknahme sprechen. Könnte der austrittswillige Staat für den Fall, dass diese Einstimmigkeit nicht erreichbar ist, die Mitteilung zurücknehmen, um die Zweijahresfrist durch eine zweite Mitteilung erneut in Gang zu setzen, so könnten hierdurch sowohl die Fristbindung als auch das Einstimmigkeitserfordernis für eine Fristverlängerung umgangen werden. Ein solche Umgehungsmöglichkeit der Regelungen in Art. 50 Abs. 3 EUV ließe sich a priori nur durch die Unzulässigkeit einer Rücknahme ausschließen. Gleiches ist ebenfalls für den potenziellen „Missbrauch “ des Austrittsverfahrens für die Durchsetzung von politischen Forderungen ohne tatsächlich bestehende Austrittsabsicht anzunehmen.28 3.3.2. Wortlaut und Entstehungsgeschichte Gegen die Möglichkeit einer Rücknahme könnte zudem der Wortlaut von Art. 50 EUV unter Berücksichtigung einer historischen Auslegung sprechen. Die Formulierung in Art. 50 Abs. 4 EUV („austretenden Mitgliedstaat“29) spricht für einen abgeschlossenen und mithin unumkehrbaren Willensbildungsprozess. Er ist dabei abzugrenzen von einem Vorschlag im Rahmen des Verfassungskonvents mit der Formulierung „État membre […] qui demande son retrait“30, welche für 27 Vgl. Peers, Article 50 TEU: The uses and abuses of the process of withdrawing from the EU, abrufbar unter http://eulawanalysis.blogspot.de/2014/12/article-50-teu-uses-and-abuses-of.html. 28 Vgl. Friel, Providing a Constitutional Framework for Withdrawal from the EU: Article 59 of the Draft European Constitution, The International and Comparative Law Quarterly, 2004, S. 407 (426); Rieder, The Withdrawal Clause of the Lisbon Treaty in the Light of EU Citizenship, Fordham International Law Journal 2013, S. 147 (157 f.). 29 Französisch: „État membre qui se retire“; Englisch: „the withdrawing Member State“. 30 Proposition d’amendement à l’Article : I- 59; M. Louis Michel, M. Elio di Rupo, Anne Van Lancker, M. Pierre Chevalier, Marie Nagy; abrufbar (auf Französisch) unter: http://european-convention.europa.eu/docs/Treaty /pdf/46/46_Art%20I%2059%20Michel%20FR.pdf. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/16 Seite 10 einen offenen Prozess spricht, in dem auch eine Änderung der Austrittsabsicht möglich erscheint . In dem gleichen Vorschlag31 wurde für den heutigen Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV die Formulierung „L'État membre qui souhaite se retirer“32 vorgeschlagen. Die gegenwärtige Fassung lautet hingegen „L’État membre qui décide de se retirer“33. Auch die Entscheidung für eine restriktivere Fassung des Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV spricht dafür, dass der Austrittsbeschluss eines Mitgliedstaates das zentrale Kriterium ist und die Mitteilung der Austrittsabsicht unwiderruflich sein soll. Für ein restriktives Verständnis von Art. 50 EUV spricht zudem, dass im Zuge des Verfassungskonvents auch ein Vorschlag zur Diskussion stand, der ein ausdrückliches Widerrufsrecht für die Austrittsmitteilung vorsah.34 Dies indiziert, dass die Frage einer Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht bei den Beratungen über Art. 50 EUV von Bedeutung gewesen ist. Der Umstand, dass in der abschließenden Fassung des Art. 50 EUV trotz entsprechender Änderungsvorschläge keine Rücknahmemöglichkeit aufgenommen worden ist, legt die Annahme nahe, dass eine solche Rücknahme unbeachtlich bzw. ausgeschlossen sein soll. 3.4. Argumente für die Möglichkeit einer Rücknahme 3.4.1. Wortlaut Für die Möglichkeit der Rücknahme der Austrittsmitteilung spricht der Wortlaut von Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV, wonach nicht der Austritt, sondern die Absicht des Austritts mitgeteilt wird. Erst die an die Mitteilung anknüpfende Zweijahresfrist führt zum Eintritt der Rechtsfolge, falls kein Austrittsabkommen geschlossen oder die Frist verlängert wird. Die Formulierung „Absicht“ in Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV könnte mithin darauf schließen lassen, dass sich ein austrittswilliger Staat von seiner Mitteilung wieder lösen kann und er daran nicht gebunden ist. 3.4.2. Telos In teleologischer Hinsicht spricht für eine Rücknahmemöglichkeit, dass ein Austritt im freien Ermessen des jeweiligen Mitgliedstaates liegt, auf einer einseitigen Erklärung35 beruht und nicht an 31 Proposition d’amendement à l’Article : I- 59; M. Louis Michel, M. Elio di Rupo, Anne Van Lancker, M. Pierre Chevalier, Marie Nagy; abrufbar (auf Französisch) unter: http://european-convention.europa.eu/docs/Treaty /pdf/46/46_Art%20I%2059%20Michel%20FR.pdf. 32 „Der Mitgliedstaat, der wünscht, auszutreten“ (Übersetzung d. Verf.). 33 „Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt“. 34 Suggestion for amendment of Article : 46; Sylvia-Yvonne Kaufmann; abrufbar unter: http://european-convention .europa.eu/docs/Treaty/pdf/46/Art46KaufmannDE.pdf. 35 Vgl. Łazowski, Withdrawal from the European Union and Alternatives to Membership, European Law Review 2012, S. 523 (526 ff.); Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU: Some Reflections, European Central Bank, Legal Working Papers Series, no. 10, Dezember 2009, S. 24 ff., abrufbar unter https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/scplps/ecblwp10.pdf. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/16 Seite 11 materielle Voraussetzungen geknüpft ist.36 Der Normierung in Art. 50 EUV kommt dabei primär der Zweck zu, das zuvor in der Wissenschaft umstrittene einseitige Austrittsrecht im Vertrag ausdrücklich zu verankern und damit außer Streit zu stellen. Zugleich sollte mit Art. 50 EUV ein konsentiertes Verfahren für den einseitigen Austritt geschaffen werden, um hierbei nicht auf die völkervertraglichen Mechanismen37 angewiesen zu sein und der EU die Möglichkeit zur Mitgestaltung zu geben.38 Dabei regelt das in Art. 50 Abs. 2 EUV vorgesehene Abkommen nur die konkreten Modalitäten eines Austritts und steht rechtlich betrachtet auf der Rechtsfolgenseite des einseitig bewirkten Austritts.39 Die Frage des Austritts bleibt hingegen die Prärogative souveräner Staatlichkeit.40 Steht die Mitteilung des Austrittwunsches im Ermessen des betreffenden Mitgliedstaates , so könnte dies – jedenfalls bis zum Eintritt der Rechtswirkungen gemäß Art. 50 Abs. 3 EUV41 – auch für dessen Rücknahme als actus contrarius gelten.42 Darüber hinaus muss das Austrittsabkommen mit dem austrittswilligen Mitgliedstaat „den Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union“ berücksichtigen (Art. 50 Abs. 2 S. 2 EUV). Das Verfahren des Art. 50 EUV zielt mithin darauf ab, dass auch nach dem Austritt eine rechtliche Beziehung zwischen dem ausgetretenen Staat und der EU bestehen wird.43 Mit Blick 36 Insoweit unterscheidet sich ein Austritt gemäß Art. 50 EUV von der Beendigung eines Vertrags gemäß Art. 60 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (im Folgenden: WVK), von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert durch Gesetz vom 3. August 1985, BGBl. II S. 926. Zur Diskussion vgl. Thiele, Der Austritt aus der EU – Hintergründe und rechtliche Rahmenbedingungen eines „Brexit“, EuR 2016, S. 281 (295 ff.), zur a.A. mit Verweis auf Art. 4 Abs. 3 EUV vgl. Wyrozumska, in: Blanke/Mangiameli (Hrsg.), The Treaty on European Union, 2013, Art. 50 TEU, Rn. 25, 34. 37 Art. 56, 60 bis 62 WVK, vgl. Bruha/Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? Anmerkungen zu Art. I-59 des Entwurfs eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, Archiv des Völkerrechts 2004, S. 1 (8 ff.); Rieder, The Withdrawal Clause of the Lisbon Treaty in the Light of EU Citizenship, Fordham International Law Journal 2013, S. 147 (150 ff.). 38 Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 58. EL 2016, Art. 50 EUV, Rn. 3 f. 39 Bruha/Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? Anmerkungen zu Art. I-59 des Entwurfs eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, Archiv des Völkerrechts 2004, S. 1 (7). 40 Vgl. Doehring, Einseitiger Austritt aus der EG, in: Dörr u.a. (Hrsg.), FS Hartmut Schiedermair, 2001, S. 695 ff. 41 Siehe hierzu unten 3.4.4. 42 Vgl. Peers, Article 50 TEU: The uses and abuses of the process of withdrawing from the EU, abrufbar unter http://eulawanalysis.blogspot.de/2014/12/article-50-teu-uses-and-abuses-of.html; Duff, Everything you need to know about Article 50 (but were afraid to ask), VerfBlog v. 4. Juli 2016, abrufbar unter http://verfassungsblog .de/brexit-article-50-duff/. 43 Herbst, German Law Journal 2005, S. 1755 (1757), Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 58. EL 2016, Art. 50 EUV, Rn. 31. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/16 Seite 12 auf das Ziel des Erhalts einer rechtlichen Beziehung wäre dementsprechend auch die Entscheidung des zunächst austrittswilligen Staates, seine Austrittsabsicht zurückzunehmen, zu berücksichtigen .44 3.4.3. Systematik Da das Primärrecht auch nach Mitteilung der Austrittsabsicht bis zum endgültigen Austritt in vollem Umfang auf den zunächst austrittswilligen Mitgliedstaat Anwendung findet, wäre im Verfahren des Art. 50 EUV in systematischer Hinsicht auch der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) zu berücksichtigen. Hieraus folgt, dass die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen unterlassen, die das Erreichen der Unionsziele gefährden könnten.45 Insoweit kommt insbesondere das Ziel einer immer engeren Union der Völker Europas in Betracht.46 Zudem steht die Mitgliedschaft zur EU jedem europäischen Staat unter den in Art. 49 EUV genannten Bedingungen offen.47 Vor diesem Hintergrund könnte es mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit unvereinbar sein, dass ein zunächst austrittswilliger Staat, der von dieser Absicht später Abstand nimmt, nach einer bereits erfolgten Mitteilung gemäß Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV zunächst das Austrittsverfahren des Art. 50 EUV und anschließend das Aufnahmeverfahren gemäß Art. 49 EUV durchlaufen müsste, um EU-Mitglied zu bleiben bzw. zu sein.48 In diesem Kontext könnte bei der Auslegung von Art. 50 EUV zudem zu berücksichtigen sein, dass das Austrittsverfahren in Kontrast zu Art. 1 Abs. 2 EUV, Art. 53 EUV und Art. 356 AEUV steht, wonach die EU auf einer auf Dauer angelegten Zusammenführung der Mitgliedstaaten beruht .49 Diese Bestimmungen können einem Austritt nach Art. 50 EUV nicht entgegengesetzt werden . Sofern jedoch im Rahmen des Art. 50 EUV Auslegungsspielräume bestehen, sprechen die vorgenannten Bestimmungen für eine möglichst enge Auslegung der Austrittsvorschriften im Hinblick auf die verbleibenden Handlungsmöglichkeiten des austrittswilligen Mitgliedstaats. 44 Vgl. dementsprechend House of Lords, European Committee, 11th Report of Session 2015-16, The Process of Withdrawing from the European Union, Mai 2016, S. 5 abrufbar unter: http://www.publications.parliament .uk/pa/ld201516/ldselect/ldeucom/138/138.pdf: „If you could not change your mind after a year of thinking about it, but before you had withdrawn, you would then have to wait another year, withdraw and then apply to join again. That just does not make sense.“ 45 EuGH, Rs. C‑370/12 (Pringle), Rn. 148. 46 Zu diesbezüglichen britischen Vorbehalten vgl. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen der Tagung vom 18. und 19. Februar 2016, EUCO 1/16, S. 15 ff., abrufbar unter http://www.consilium.europa.eu/de/meetings/europeancouncil /2016/02/EUCO-Conclusions_pdf/. 47 Vgl. Hanschel, Der Rechtsrahmen für den Beitritt, Austritt und Ausschluss zu bzw. aus der Europäischen Union und Währungsunion, NVwZ 2012, S. 995 (996 f.). 48 In diesem Kontext stellt sich die – hier nicht zu erörternde – Frage, inwiefern ein Mitgliedstaat durch die Einleitung eines Austrittsverfahrens zugleich eine Änderung seiner primärrechtlichen Verpflichtungen erreichen kann. 49 Vgl. Bruha/Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? Anmerkungen zu Art. I-59 des Entwurfs eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, Archiv des Völkerrechts 2004, S. 1 (14 ff.); Thiele, Der Austritt aus der EU – Hintergründe und rechtliche Rahmenbedingungen eines „Brexit“, EuR 2016, S. 281 (295); Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 50 EUV, Rn. 9 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/16 Seite 13 Beim Fehlen einer entsprechenden Regelung müsste dementsprechend die Möglichkeit einer Rücknahme zur Vermeidung eines Austritts gegen den Willen des betreffenden Mitgliedstaats als zulässig angesehen werden.50 3.4.4. Völkerrechtlicher Rahmen Anhaltspunkte für die Frage, ob die Austrittsmitteilung als empfangsbedürftige völkerrechtliche Willenserklärung zurückgenommen werden kann, könnten sich schließlich aus einer Auslegung von Art. 50 EUV anhand völkerrechtlicher Maßstäbe ergeben. Als „neue“, sich von der vorhandenen Völkerrechtsordnung unterscheidende Rechtsordnung ist das Unionsrecht nicht per se anhand völkerrechtlicher Maßstäbe auszulegen.51 Jedoch lassen Art. 3 Abs. 5 EUV sowie die Rechtsprechung des EuGH darauf schließen, dass bei der Auslegung des Unionsrechts das Völkerrecht zu beachten ist.52 Vor diesem Hintergrund könnten sich Hinweise zur Auslegung von Art. 50 EUV aus Art. 68 WVK ergeben.53 Danach kann eine Notifikation nach den Art. 65 und 67 WVK54 jederzeit zurückgenommen werden, bevor sie wirksam wird. Die Rücknahme einer einseitigen Willenserklärung ist demnach jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn sie beispielsweise durch das Wirksamwerden einer Vertragsbeendigung ihre rechtsgestaltende Wirkung entfaltet hat.55 Dementsprechend könnte im Rahmen des Austrittsverfahrens gemäß Art. 50 EUV unter Berücksichtigung völkerrechtlicher Wertungen von Bedeutung sein, ob die Mitteilung der Austrittsabsicht bereits rechtsgestaltende Wirkungen zeitigt. Insofern ist davon auszugehen, dass einseitige 50 Vgl. Thiele, EuR 2016, S. 281 (295); Duff, Everything you need to know about Article 50 (but were afraid to ask), VerfBlog v. 4. Juli 2016, abrufbar unter http://verfassungsblog.de/brexit-article-50-duff/ sowie House of Lords, European Committee, 11th Report of Session 2015-16, The Process of Withdrawing from the European Union, Mai 2016, S. 5 abrufbar unter: http://www.publications.parliament.uk/pa/ld201516/ldselect/ldeucom /138/138.pdf: „There is nothing in the wording to say that you cannot [reverse a decision to withdraw]. It is in accord with the general aims of the Treaties that people stay in rather than rush out of the exit door.“ 51 Vgl. GA Maduro, Schlussanträge vom 16. Januar 2008, Rs. C-402/05 P (Kadi), Rn. 21 ff.; zur Anwendung völkervertragsrechtlicher Regelungen vgl. Canor, Can Two walk together, Except they be Agreed? The Relationship between International Law and European Law, CMLR 35 (1998), S. 137 ff.; Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU: Some Reflections, European Central Bank, Legal Working Papers Series, no. 10, Dezember 2009, S. 12 ff., abrufbar unter https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/scplps/ecblwp10.pdf. 52 Vgl. EuGH, Rs. C-286/90 (Poulsen und Diva Navigation), Rn. 9 f.; EuGH, Rs. C-162/96 (Racke), Rn. 45 f.; EuGH, Rs. C-268/99 (Jany u. a.), Rn. 35; EuGH, Rs. C-366/10 (ATAA), Rn. 101 ff. 53 Hierbei kann die Frage außer Betracht bleiben, ob Art. 68 WVK völkergewohnheitsrechtliche Bedeutung zukommt . 54 Vgl. Helfer, Exiting Treaties, Virginia Law Review 91 (2005), S. 1579 ff., abrufbar unter http://www.virginialawreview .org/volumes/content/exiting-treaties. 55 Vgl. v. Arnauld, Völkerrecht, 2012, S. 88 ff.; Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band I/3, 2. Aufl. 2002, S. 768; International Law Commission, Guiding Principles applicable to unilateral declarations of States capable of creating legal obligations, with commentaries thereto, 2006, Ziff. 10, abrufbar unter http://legal .un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/9_9_2006.pdf. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 112/16 Seite 14 Willenserklärungen im Völkerrecht grundsätzlich unmittelbare Rechtsfolgen bewirken, sofern sie nicht mit Vorbehalten, Befristungen und Bedingungen versehen sind.56 Die Mitteilung der Austrittsabsicht begründet frühestens nach der Frist des Art. 50 Abs. 3 EUV materielle Rechtsfolgen. Der austrittswillige Mitgliedstaat bleibt bis dahin – abgesehen von den Sonderregelungen betreffend die Verhandlungen über die Austrittsmodalitäten (Art. 50 Abs. 4 EUV) – umfassend aus dem Unionsrecht berechtigt und verpflichtet. Unter Berücksichtigung völkerrechtlicher Wertungen lässt dies darauf schließen, dass eine Rücknahme völkerrechtlich nicht ausgeschlossen ist. Vor dem Hintergrund, dass es den souveränen Staaten im Völkerrecht grundsätzlich frei steht, Handlungen vorzunehmen oder zu unterlassen bzw. Bindungen einzugehen oder nicht einzugehen, solange sie völkerrechtlich nicht anderweitig gebunden sind, streitet das Nichtbestehen eines Rücknahmeverbots für die Zulässigkeit einer Rücknahme. Dementsprechend kann die Mitteilung im Rahmen von Art. 50 EUV zurückgenommen werden, solange die Mitteilung der Austrittsabsicht nicht rechtswirksam geworden ist und eine Bindung bewirkt hat. 4. Zusammenfassung Die Möglichkeit eines EU-Mitgliedstaats, die Mitteilung der Austrittsabsicht (Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV) nach ihrer Erklärung und vor dem Wirksamwerden des Austritts zurückzunehmen, ist in Art. 50 EUV nicht ausdrücklich geregelt und in der wissenschaftlichen Literatur umstritten. Die Auslegung von Art. 50 EUV legt aus hiesiger Sicht nahe, dass die überwiegenden Argumente für die Möglichkeit einer Rücknahme der Mitteilung sprechen. Vor dem Hintergrund, dass die Bewertung der Zulässigkeit einer Rücknahme im konkreten Fall jedoch auch von den Umständen und Erwägungen des Einzelfalls abhängig ist und potenziell einer Überprüfung durch den EuGH unterliegt,57 kann jedoch vorliegend keine abschließende Bewertung der Zulässigkeit einer Rücknahme getroffen werden. - Fachbereich Europa - 56 Diese Wirkung ist von der Rechtswirksamkeit einer Willenserklärung abzugrenzen, die in der Regel dann anzunehmen ist, wenn die Voraussetzungen für wirksames Außenhandeln eines souveränen Staates vorliegen, vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band I/3, 2. Auflage 2002, S. 768. 57 Für eine Prüfung des Verfahrens durch den EuGH vgl. Coffey, Brexit and Art. 50: the Key lies in Luxembourg, VerfBlog v. 6. Juli 2016, abrufbar unter http://verfassungsblog.de/brexit-and-art-50-the-key-lies-in-luxembourg/.