© 2021 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 109/20 Zur unionsrechtlichen Zulässigkeit von Abschiebungen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 - 109/20 Seite 2 Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Zur unionsrechtlichen Zulässigkeit von Abschiebungen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 109/20 Abschluss der Arbeit: 29.12.2020 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 109/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Begriffsklärung 4 3. Unionsrechtliche Voraussetzungen und Grenzen von Abschiebungen 5 a) Nach der Anerkennungsrichtlinie 5 b) Nach der Rückführungsrichtlinie 7 c) Nach den Unionsgrundrechten 7 4. Zusammenfassung 10 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 109/20 Seite 4 1. Einleitung Der Fachbereich Europa ist um eine Ausarbeitung zur unionsrechtlichen Zulässigkeit von Abschiebungen von Syrern aus Deutschland in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien bzw. in die Türkei gebeten worden. Es soll dabei zu folgenden Fragen gutachtlich Stellung bezogen werden: Inwieweit und unter welchen Umständen wäre eine Abschiebung von Syrern aus Deutschland in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien völker- und flüchtlingsrechtlich zulässig ? Inwieweit könnte in Abschiebungen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien ein Verstoß gegen das Völkerrecht (Anerkennung einer möglicherweise völkerrechtswidrigen Besatzung ) gesehen werden? Inwieweit wären Abschiebungen von Syrern in die Türkei flüchtlingsrechtlich zulässig, wenn davon ausgegangen werden muss, dass diese von den türkischen Behörden in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien gebracht werden? Diese Ausarbeitung behandelt nur die unionsrechtlichen Maßstäbe hierfür. Die völkerrechtliche Zulässigkeit der in Frage stehenden Abschiebungen wird durch WD 2 geprüft. Hintergrund der Frage ist das Auslaufen des bis zum 31. Dezember 2020 geltenden generellen Abschiebestopps nach Syrien, da man sich auf der am 11. Dezember 2020 endenden Innenministerkonferenz nicht auf eine Verlängerung desselben einigen konnte.1 2. Begriffsklärung Der Begriff der „Abschiebung“ wird in der und für die Rückführungsrichtlinie nach deren Art. 3 Nr. 5 legal definiert als „die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d.h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedsstaat“. Art. 21 der Anerkennungsrichtlinie spricht von „Zurückweisung “. Eine entsprechende Legaldefinition fehlt. Darunter dürfte die Verbringung eines Flüchtlings in ein sog. Verfolgerland zu verstehen sein. Dies folgt aus dem Verweis auf den aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen geltenden Grundsatz der Nichtzurückweisung. Bei letzterem steht das Verbot im Vordergrund, den Flüchtling in ein sog. Verfolgerland zu verbringen.2 Im Folgenden wird der in der Fragestellung verwendete Begriff der Abschiebung mit dem in der Anerkennungsrichtlinie verwendeten Begriff der Zurückweisung im Wesentlichen gleichgesetzt. 1 Vgl. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-12/innenministerkonferenz-abschiebestopp-syrien-laeuftaus ?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de%2F. 2 Vgl. Erwägungsgrund 3 der Anerkennungsrichtlinie. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 109/20 Seite 5 3. Unionsrechtliche Voraussetzungen und Grenzen von Abschiebungen Regelungen zu den Voraussetzungen und Grenzen von Abschiebungen finden sich in der Anerkennungsrichtlinie 3 sowie der Rückführungsrichtlinie4. Relevant sind zudem auf primärrechtlicher Ebene die Art. 18 und 19 Abs. 2 GRC5. a) Nach der Anerkennungsrichtlinie Die Anerkennungsrichtlinie regelt die Anerkennung, Aufnahme und Rechtsstellung von sog. international Schutzberechtigten. Darunter sind gemäß Art. 2 lit. a der Anerkennungsrichtlinie Flüchtlinge im Sinne der GFK6und subsidiär Schutzberechtigte zu verstehen. Art. 21 der Anerkennungsrichtlinie eröffnet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit der Zurückweisung von Flüchtlingen und regelt zugleich deren Grenzen. Gemäß Art. 21 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie ist die Möglichkeit der Zurückweisung eröffnet, wenn es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, indem er sich aufhält (lit. a) oder er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt , weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde (lit. b). Dabei ist nach Art. 21 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 der Anerkennungsrichtlinie der Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen zu beachten. Hiermit wird insbesondere an die Vorgaben des Art. 33 GFK angeknüpft. Nach dessen Abs. 1 wird keiner der vertragsschließenden Staaten einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. Auf diese Vergünstigung kann sich nach dessen Abs. 2 ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwer wiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde. Die Möglichkeit der Zurückweisung ist bereits dem insoweit klaren Wortlaut des Art. 21 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie nach begrenzt auf Flüchtlinge. Für subsidiär Schutzberechtigte ist eine solche nicht ausdrücklich vorgesehen, aber auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Jedenfalls gilt der Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Art. 21 Abs. 1 der Anerkennungsrichtlinie auch insoweit. 3 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsi diären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes. 4 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaa tsangehöriger. 5 Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 6 Genfer Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der Fassung des New Yorker Protokolls vom 31. Januar 1967. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 109/20 Seite 6 In Bezug auf die vorliegende Fragestellung setzt Art. 21 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie tatbestandlich positiv voraus, dass es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass ein sich in Deutschland aufhaltender Flüchtling eine Gefahr für die Sicherheit Deutschlands darstellt (lit. a) oder er eine Gefahr für die Allgemeinheit in Deutschland darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde (lit. b). Die Anerkennungsrichtlinie enthält insoweit keine Begriffsbestimmungen. Der EuGH hat in einem Urteil vom 13. September 2018 zum Begriff der „schweren Straftat“ in Art. 17 Abs. 1 lit. b der Anerkennungsrichtlinie Folgendes ausgeführt: „Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass die Bestimmungen dieser Richtlinie [...] im Licht ihrer allgemeinen Systematik und ihres Zwecks unter Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der in Art. 78 Abs. 1 AEUV angesprochenen anderen einschlägigen Verträge auszulegen sind [...]. Diese Erwägungen sind, soweit sie sich auf die Genfer Flüchtlingskonvention beziehen, zwar nur für die Voraussetzungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und deren Inhalt relevant, da die in dieser Konvention vorgesehene Regelung nur für Flüchtlinge gilt und nicht für Personen mit subsidiärem Schutzstatus, doch ergibt sich aus den Erwägungsgründen 8, 9 und 39 der Richtlinie 2011/95, dass der Unionsgesetzgeber einen einheitlichen Status für alle Personen, denen internationaler Schutz gewährt wird, einführen wollte [...]. Was die Gründe für den Ausschluss vom subsidiären Schutzstatus angeht, ist darauf hinzuweisen, dass sich der Unionsgesetzgeber an den auf Flüchtlinge anzuwendenden Regelungen orientiert hat, um sie – soweit möglich – auf die Personen auszuweiten, denen subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist. [...] Hierzu ist hervorzuheben , dass dem Kriterium des in den strafrechtlichen Vorschriften des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Strafmaßes zwar eine besondere Bedeutung bei der Beurteilung der Schwere der Straftat zukommt, die den Ausschluss vom subsidiären Schutz nach Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 rechtfertigt, dass sich die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats gleichwohl erst dann auf den in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausschlussgrund berufen darf, nachdem sie in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, die ihr bekannt sind, vorgenommen hat, um zu ermitteln, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass die Handlungen des Betreffenden, der im Übrigen die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erfüllt, unter diesen Ausschlusstatbestand fallen [...]. Diese Auslegung wird durch den Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) von Januar 2016 mit dem Titel „Ausschluss: Artikel 12 und Artikel 17 der Anerkennungsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU)“ gestützt, der in Punkt 3.2.2 in Bezug auf Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 empfiehlt, dass die Schwere der Straftat, aufgrund deren eine Person vom subsidiären Schutz ausgeschlossen werden könne, anhand einer Vielzahl von Kriterien , wie u. a. der Art der Straftat, der verursachten Schäden, der Form des zur Verfolgung herangezogenen Verfahrens, der Art der Strafmaßnahme und der Berücksichtigung der Frage beurteilt werden solle, ob die fragliche Straftat in den anderen Rechtsordnungen ebenfalls überwiegend als schwere Straftat angesehen werde.“7 Zur Möglichkeit der Zurückweisung nach der inhaltsgleichen Vorgängerregelung des Art. 21 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie hat sich der EuGH – soweit ersichtlich – (nur) wie folgt geäußert : „Die Zurückweisung eines Flüchtlings bildet, auch wenn sie durch die Ausnahmebestimmung von Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 grundsätzlich zugelassen wird, nur die ultima ratio für einen Mitgliedstaat, wenn keine andere Maßnahme mehr möglich oder ausreichend ist, 7 EuGH, Urt. v. 13.09.2018, Rs. C-369/17, Rn. 41 ff., 55 f. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 109/20 Seite 7 um der Gefahr entgegenzutreten, die von diesem Flüchtling für die Sicherheit oder die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats ausgeht. [...] Die Folgen, die die Anwendung der in Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 vorgesehenen Ausnahme für den betroffenen Flüchtling hat, können [...] äußerst einschneidend sein, denn er kann in ein Land zurückgeschickt werden, in dem er der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt sein könnte. Aus diesem Grund unterwirft diese Vorschrift eine Zurückweisung strengen Voraussetzungen, da insbesondere nur ein Flüchtling, der wegen einer ‚besonders schweren Straftat‘ rechtskräftig verurteilt wurde, als eine ‚Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats‘ im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden kann. Selbst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, steht die Zurückweisung des betroffenen Flüchtlings überdies nur im Ermessen der Mitgliedstaaten, die darin frei bleiben, sich für andere, weniger einschneidende Optionen zu entscheiden.“ (Hervorhebung im Urteil)8 Aus diesen Urteilen des EuGH lässt sich schließen, dass hohe Anforderungen an die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale der Gefahr für die Sicherheit beziehungsweise die Allgemeinheit des Mitgliedsstaats zu stellen sind und die Möglichkeit der Zurückweisung restriktiv anzuwenden ist. Bei Vorliegen der positiven Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 21 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie darf ein Mitgliedstaat von der Möglichkeit der Zurückweisung jedoch nur Gebrauch machen, wenn diese nicht aufgrund der völkervertraglichen Verpflichtungen zum Grundsatz der Nichtzurückweisung untersagt ist. Der Zurückweisungsschutz nach der GFK kann insoweit keinen weitergehenden Schutz bieten, da die in Art. 21 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie normierten positiven Voraussetzungen den Ausnahmen nach Art. 33 Abs. 2 GFK entsprechen. b) Nach der Rückführungsrichtlinie Die Rückführungsrichtlinie regelt in ihrem Art. 8 die Abschiebung. Diese stellt die Vollstreckung einer nach Art. 6 der Rückführungsrichtlinie ergangenen Rückkehrentscheidung dar. Die Rückkehrentscheidung setzt einen illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen im Mitgliedstaat voraus. Illegaler Aufenthalt bedeutet nach Art. 3 Nr. 2 der Rückführungsrichtlinie, dass die anwesenden Drittstaatsangehörigen „nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen“. Nach Art. 9 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie ist die Abschiebung aufzuschieben, wenn sie gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde. c) Nach den Unionsgrundrechten Von Bedeutung sind vorliegend noch die Art. 18 und 19 Abs. 2 GRC. Diese gelten für die Mitgliedstaaten nach Art. 51 Abs. 1 GRC „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der 8 EuGH, Urt. v. 24.06.2015, Rs. C-373/13, Rn. 71 f. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 109/20 Seite 8 Union“. Nach dem EuGH haben die Mitgliedstaaten die Unionsgrundrechte immer dann zu beachten , wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig werden.9 Dies ist auch bei der Umsetzung von Richtlinien durch die Mitgliedstaaten der Fall.10 Die Anerkennungsrichtlinie räumt den Mitgliedstaaten in ihrem Art. 21 Ermessen ein. Bei einem solchen Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten ist umstritten, ob die Unionsgrundrechte neben den nationalen Grundrechten zu beachten sind.11 In Konstellationen, in denen das nationale Recht nicht vollständig durch Unionsrecht bestimmt wird, lässt der EuGH eine Anwendung nationaler Grundrechte genügen, sofern weder das Schutzniveau der GRC, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.12 Jedenfalls mittelbar dürfte der Maßstab des Art. 19 Abs. 2 GRC somit auch im Bereich der Anerkennungsrichtlinie gelten. Im Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie (vgl. deren Art. 2) besteht für die Mitgliedstaaten dagegen – bei Vorliegen der dort geregelten Voraussetzungen – die Pflicht zum Erlass der Rückkehrentscheidung und zur Durchführung der Abschiebung, sodass Art. 19 Abs. 2 GRC Anwendung findet. Art. 18 GRC gewährleistet das Recht auf Asyl nach Maßgabe der GFK sowie der beiden EU-Verträge . Aufgrund des Verweises auf die GFK dürfte der durch Art. 18 GRC gewährte Zurückweisungsschutz dem oben beschriebenen der Anerkennungsrichtlinie entsprechen.13 Art. 19 Abs. 2 GRC bestimmt, dass „niemand [...] in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden [darf], in dem für die oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht“. Dies entspricht dem Refoulement-Verbot des Art. 3 EMRK und muss (mindestens ) dessen Tragweite und Bedeutung aufweisen, vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 1, 2 GRC. Das nach Art. 19 Abs. 2 GRC bestehende, Art. 3 EMRK entsprechende Refoulement-Verbot schließt die Abschiebung in sog. Verfolgerländer oder solche Länder aus, in denen den Betroffenen eine menschenunwürdige Behandlung droht.14 Auch eine Abschiebung in Länder, in denen eine (weitere) Abschiebung in eben genannte Länder droht (sog. Kettenabschiebung) ist untersagt .15 9 EuGH, Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-617/10, Rn. 19, EuGH, Urt. v. 27.03.2014, Rs. C-265/13, Rn. 29 ff. 10 Vgl. Terhechte, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 51 GRC, Rn. 10; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Auflage 2021, Art. 51 GRC, Rn. 20; EuGH, Urt. v. 27.06.2006, Rs. C-540/03, Rn. 22. 11 Vgl. Pache, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, 1. Auflage 2017, Art. 51 GRC, Rn. 20 m.w.N. 12 EuGH, Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-399/11, Rn. 60; EuGH, Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-617/10, Rn. 29. 13 Vgl. Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 18 GRC, Rn. 10 f. 14 Thiele, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, 1. Auflage 2017, Art. 19 GRC, Rn. 15 m.w.N. 15 Thiele, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, 1. Auflage 2017, Art. 19 GRC, Rn. 16 m.w.N. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 109/20 Seite 9 Ob und inwieweit diese tatsächlichen Gegebenheiten in den von der Türkei kontrollierten Gebieten in Nordsyrien bzw. in der Türkei vorliegen, kann diesseits nicht beurteilt werden. Der EuGH hat darauf hingewiesen, „dass Art. 4 der Charta unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung verbietet und dass dieses Verbot absoluten Charakter hat, da es eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist, auf die sich Art. 1 der Charta bezieht [...]. Die Existenz von Erklärungen und der Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die grundsätzlich die Beachtung der Grundrechte gewährleisten, reichen für sich genommen nicht aus, um einen angemessenen Schutz vor der Gefahr von Misshandlungen sicherzustellen, wenn es vertrauenswürdige Quellen für Praktiken der Behörden – oder von diesen tolerierte Praktiken – gibt, die den Grundsätzen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten offensichtlich zuwiderlaufen [...]. Folglich ist die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats, sofern sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Personen im ersuchenden Drittstaat besteht, verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen, wenn sie über die Auslieferung einer Person in den Drittstaat zu entscheiden hat [...]. Dabei muss sich die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützen. Diese Angaben können sich u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des EGMR, aus Entscheidungen von Gerichten des ersuchenden Drittstaats sowie aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben [...].“16 In der Kurzfassung des für das nordrhein-westfälische Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration gefertigten und – soweit ersichtlich – noch nicht veröffentlichten Gutachtens von Prof. Thym heißt es: „Ein aktueller Lagebericht des Europäischen Asylbüros (EASO) stützt die Annahme, wonach für Syrien eine regional differenzierte Betrachtung angezeigt ist, wie sie schon bisher für den Irak und Afghanistan praktiziert wird. Während einzelne Regionen weiterhin generell unsicher sind, sodass Abschiebungen dorthin allgemein rechtswidrig wären, soll für Damaskus eine Einzelfallprüfung stattfinden. Politische Unruhen, eine verbreitete Kriminalität , vereinzelte Terroranschläge und massive Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitsbehörden begründen für sich genommen kein generelles Abschiebungsverbot. Allerdings können sich diese Rechtsverletzungen für gefährdete Personengruppen zu einem Abschiebungsverbot verdichten. Nach den Erkenntnissen von EASO gilt dies in Syrien für zahlreiche Personengruppen auch in Gebieten mit weniger willkürlicher Gewalt wie Damaskus. Anders als im Fall des Irak sowie Kabuls wären daher Abschiebungen rechtlich nur in Einzelfällen zulässig, die sorgfältig begründet werden müssten. Besonders schwierig wäre[n] Rückführungen islamistischer Gefährder , denen besonders häufig Folter oder unmenschliche Behandlung drohen; sie dürften daher im Regelfall nur erlaubt sein, wenn die deutschen Behörden verlässliche Zusagen von den jeweiligen Machthabern erhielten. Für besonders schutzbedürftige Personengruppen kann zudem die humanitäre Notlage ein Abschiebungshindernis begründen, obwohl schlechte Lebensbedingungen oder Gesundheitsgefahren normalerweise Rückführungen nicht entgegenstehen.“17 16 EuGH, Urt. v. 6.09.2016, Rs. C-182/15, Rn. 56 ff. 17 https://www.jura.uni-konstanz.de/es/thym/aktuelles/aktuelles/diskussion-um-abschiebungen-nach-syrien/. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 109/20 Seite 10 4. Zusammenfassung Eine Abschiebung ist nur bei Vorliegen der Voraussetzungen der Art. 8 f. der Rückführungsrichtlinie oder des Art. 21 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie zulässig. An die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale der Gefahr für die Sicherheit beziehungsweise die Allgemeinheit des Mitgliedstaats dürften hohe Anforderungen zu stellen sein und die Möglichkeit der Zurückweisung dürfte restriktiv anzuwenden sein. Art. 19 Abs. 2 GRC verbietet (entsprechend dem Art. 3 EMRK) die Abschiebung in Staaten, in denen dem Betroffenen die Todesstrafe, Folter oder andere unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung droht. Ob und inwieweit diese tatsächlichen Gegebenheiten in den von der Türkei kontrollierten Gebieten in Nordsyrien bzw. in der Türkei vorliegen, kann diesseits nicht beurteilt werden. - Fachbereich Europa - Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 109/20 Seite 11