PE 6 - 3000 - 107/19 (26. November 2019) © 2019 Deutscher Bundestag Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Der Fachbereich wurde um eine Darstellung zu der Frage ersucht, wie „die EU-Gesetzgebung in Bereiche der deutschen Sozialgesetzgebung eingreift.“ Von besonderem Interesse für den Auftraggeber ist dabei die im Sozialgesetzbuch II (SGB II) geltende Regelung, wonach Angehörige anderer EU-Mitgliedstaaten nach fünfjährigem gewöhnlichen Aufenthalt Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende haben (vgl. § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II). Der Einfluss des Rechts der Europäischen Union auf das deutsche Sozialrecht lässt sich im Ergebnis auf nur wenige grundlegende Vorgaben zurückführen. Zu diesen zählen in subjektivrechtlicher Hinsicht die für die Unionsrechtsordnung fundamentalen Rechte des Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit sowie der unionsbürgerlichen Freizügigkeit. Beide Gewährleistungen haben in dem Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) eine bereichsspezifische Ausgestaltung erfahren. Zu nennen sind im vorliegenden Kontext die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV für abhängig Beschäftigte sowie die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV für Selbständige. Beide sog. Grundfreiheiten beinhalten ein Freizügigkeitsrecht sowie ein Diskriminierungsverbot. Außerhalb der Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeiten greift das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Art. 18 Abs. 1 AEUV sowie das Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV. Die Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts eröffnet dabei in ständiger Rechtsprechung den Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots.1 Neben den genannten subjektivrechtlichen Gewährleistungen enthält Art. 48 AEUV einen an den EU-Gesetzgeber gerichteten Auftrag, die für die Herstellung der Freizügigkeit notwendigen Maßnahmen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit zu erlassen. Diese müssen zum einen die Zusammenrechnung verschiedener in den Mitgliedstaaten erworbenen Leistungs- und Beitragszeiten gewährleisten und zum anderen die Zahlung von Leistungen auch im Fall des Wohnsitzes in einem anderen als dem leistungsgewährenden Mitgliedstaat sicherstellen (sog. Exportgebot). 1 Vgl. grundlegend EuGH, Urt. v. 20.9.2001, Rs. C-184/99 (Grzelczyk), Rn. 30 ff.; aus neuerer Rechtsprechung siehe EuGH, Urt. v. 13.11.2018, Rs. C-247/17 (Raugevicius), Rn. 27. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Kurzinformation EU-Recht und deutsche Sozialgesetzgebung Kurzinformation EU-Recht und deutsche Sozialgesetzgebung Fachbereich Europa (PE 6) Seite 2 Der EU-Gesetzgeber ist diesem Auftrag nachgekommen und hat auch das Diskriminierungsverbot sowie das Freizügigkeitsrecht sekundärrechtlich näher ausgestaltet. Die betreffenden Vorschriften sind gegenüber den eben erwähnten primärrechtlichen Vorgaben vorrangig anwendbar, letztere setzen dem Unionsgesetzgeber jedoch zugleich (materielle) Grenzen bei der legislativen Konkretisierung und sind darüber hinaus bei der Auslegung des Sekundärrechts zu beachten. Im Folgenden werden die wichtigsten einschlägigen Sekundärrechtsakte kurz näher dargestellt. Zu erwähnen ist vorab noch, dass der EU-Gesetzgeber von seinen Zuständigkeiten zur inhaltlichen Ausgestaltung bzw. Angleichung des Sozialrechts in Art. 153 Abs. 1 Buchst. c, Abs. 2 Buchst. b AEUV bisher keinen Gebrauch gemacht hat. Von den einschlägigen Sekundärrechtsakten ist an erster Stelle die Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit2 (im Folgenden: VO 883/2004) zu nennen. Diese erfasst mit Ausnahme reiner Sozialhilfe nahezu alle Zweige der sozialen Sicherheit, von Leistungen bei Krankheit und Alter bis hin zu Familienleistungen und sog. besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen (vgl. § 3 VO 883/2004). Unter letztere fallen auch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Sinne des SGB II. Ziel und Gegenstand dieses – als Verordnung im Sinne von Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar anwendbaren – Rechtsaktes ist nicht eine Angleichung mitgliedstaatlicher Sozialrechtsordnungen, sondern eine Koordinierung der von den Mitgliedstaaten in eigener Zuständigkeit ausgestalteten Sozialrechtsvorschriften. Dies erfolgt in erster Linie durch Festlegung, welche der mitgliedstaatlichen Sozialrechtsordnung im Falle grenzüberschreitender Sachverhalte anwendbar ist (sog. Kollisionsrecht, vgl. insb. Art. 11 bis 16 VO 883/2004). Daneben werden die Zusammenrechnung von Leistungs- und Beitragszeiten (vgl. allg. Art. 6 VO 883/2004) geregelt sowie das Exportgebot (vgl. allg. Art. 7 VO 883/2004), von dem allerdings etwa besondere beitragsunabhängige Geldleistungen ausgenommen sind (vgl. Art. 70 Abs. 3 VO 883/2004). Schließlich enthält die VO 883/2004 noch ein bereichsspezifisches Diskriminierungsverbot in ihrem Art. 4, welches die in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fallenden Unionsbürger im Zusammenhang mit den erfassten Leistungen der sozialen Sicherheit vor ungerechtfertigten Ungleichbehandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit schützt, etwa beim Zugang zu Leistungen oder ihrer Ausgestaltung. Von Bedeutung für den Bereich des Sozialrechts ist ferner die Richtlinie Nr. 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten3 (im Folgenden: RL 2004/38). Sie konkretisiert zum einen die verschiedenen primärrechtlich verankerten Freizügigkeitsrechte insbesondere hinsichtlich der Bedingungen und Beschränkungen des freien Aufenthalts in anderen Mitgliedstaaten (vgl. Art. 1 RL 2004/38). Daneben regelt sie das sog. Daueraufenthaltsrecht, das jedem Unionsbürger nach einem rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt von fünf Jahren einzuräumen ist (vgl. Art. 16 ff. RL 2004/38). In zeitlicher Hinsicht unterscheidet die Richtlinie darüber hinaus 2 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl.EU 2004 Nr. L 166/1, im Fließtext ist die letzte konsolidierte Fassung vom 31.7.2019 verlinkt. 3 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten , zur Änderung der Verordnung […] und zur Aufhebung der Richtlinien […], ABl.EU 2004 Nr. L 158/77, im Fließtext ist die letzte konsolidierte Fassung vom 16.6.2011 verlinkt. Kurzinformation EU-Recht und deutsche Sozialgesetzgebung Fachbereich Europa (PE 6) Seite 3 noch Aufenthalte von bis zu drei Monaten, an die mit Ausnahme der Ausweispflicht keine weiteren Voraussetzungen gestellt werden (vgl. Art. 6 RL 2004/38), und Aufenthalte von mehr als drei Monaten (vgl. Art. 7 RL 2004/38). Letztgenannte sind bzgl. ihrer Voraussetzungen entweder von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit abhängig (vgl. Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 3 RL 2004/38) oder von dem Nachweis ausreichender Existenzmittel und eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes (vgl. Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und c RL 2004/38). Im Zusammenhang mit dem Aufenthaltsrecht der wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürger bestimmt Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38, dass die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen im Aufnahmemitgliedstaat nicht automatisch zu einer Ausweisung führen darf. Ungeachtet zulässiger Beschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (vgl. Art. 27 ff. RL 2004/38) darf eine Ausweisung zudem auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden, wenn der Unionsbürger erwerbstätig oder arbeitssuchend ist, sofern eine begründetet Aussicht auf Einstellung besteht (vgl. Art. 14 Abs. 4 Buchst. a bzw. b RL 2004/38). Die sozialrechtliche Implikation der Richtlinie 2004/38 ergibt sich insbesondere aus deren bereichsspezifischem Diskriminierungsverbot in Art. 24. Nach dessen Absatz 1 genießt jeder nach der Richtlinie in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigte Unionsbürger „die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats.“ Dieser Gleichbehandlungsanspruch gilt auch im Hinblick auf den Zugang zu sozialen Leistungen des betreffenden Aufenthaltsstaats. Hiervon enthält allerdings Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 einige Ausnahmen. U. a. sind die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, anderen Personen als Erwerbstätigen und solchen, denen dieser Status erhalten bleibt, während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während eines längeren Zeitraums der Arbeitssuche einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. Der dabei verwandte Begriff der Sozialhilfe erfasst dabei nicht nur Leistungen im Sinne des SGB XII, sondern auch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende im Sinne des SGB II. Von der daraus folgenden Möglichkeit, Unionsbürger in bestimmten Aufenthaltskonstellationen vom Bezug dieser Leistungen auszuschließen, hat der Bundesgesetzgeber in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 u. 2 SGB II sowie § 23 Abs. 3 SGB XII Gebrauch gemacht. Da Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 im Hinblick auf Unionsangehörige mit Daueraufenthaltsrecht keine Ausnahmen vom grundlegenden Anspruch auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des jeweiligen Aufenthaltsstaats in Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 vorsieht, hat dies auch der deutsche Gesetzgeber nicht getan. Zu erwähnen ist schließlich noch die Verordnung Nr. 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union4 (im Folgenden: VO 492/2011). Dieser, auf Art. 46 AEUV gestützte Rechtsakt konkretisiert die in Art. 45 AEUV geregelten Rechte der Arbeitnehmer. Hinsichtlich des dort ebenfalls enthaltenen Diskriminierungsverbots (Art. 45 Abs. 2 AEUV) sieht etwa Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 vor, dass Arbeitnehmer aus anderen EU-Mitgliedstaaten „die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen [genießen] wie die inländischen Arbeitnehmer .“ Nach der Rechtsprechung des EuGH fallen unter den Begriff der sozialen Vergünstigung im Sinne dieser Vorschrift v. a. Leistungen, die Arbeitnehmern „die Möglichkeit einer Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen garantieren und damit auch ihren sozialen Aufstieg erleichtern [und,] die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern im allgemeinen hauptsächlich wegen deren objektiver Arbeitnehmereigenschaft 4 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl.EU Nr. L 141/1, im Fließtext ist die letzte konsolidierte Fassung vom 31.7.2019 verlinkt. Kurzinformation EU-Recht und deutsche Sozialgesetzgebung Fachbereich Europa (PE 6) Seite 4 oder einfach wegen ihres Wohnsitzes im Inland gewährt werden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet erscheint , deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu fördern.“5 An die aus den genannten Rechtsakten und ihren Vorschriften folgenden Vorgaben insbesondere zur Gleichbehandlung mit eigenen Angehörigen sind die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung ihres Sozialrechts gebunden. Zu den sich dabei stellenden Rechtsfragen wurden am Fachbereich Europa zahlreiche Gutachten erstellt. Eine Auswahl der aktuellsten Arbeiten sowie von Aufsätzen aus dem rechtswissenschaftlichen Schrifttum ist der Kurzinformation in Form von Anlagen beigefügt. – Fachbereich Europa – 5 EuGH, Urt. v. 21.6.1988, Rs. 39/86 (Lair), Rn. 20, 21, noch zur gleichlautenden Vorgängerregelungen in der Verordnung 1612/68. Kurzinformation EU-Recht und deutsche Sozialgesetzgebung Fachbereich Europa (PE 6) Seite 5 Anlagen Auswahl Ausarbeitungen des Fachbereichs Europa Nationale Maßnahmen zur Bekämpfung der Altersarmut im Lichte des unionsrechtlichen Exportgebots von Leistungen der sozialen Sicherheit (PE 6 – 3000 - 047/19) Der Kindergeldausschluss für Angehörige anderer Mitgliedstaaten nach dem Entwurf eines neuen § 62 Abs. 1a EStG (PE 6 – 3000 - 033/19) Freizügigkeitsrecht ausländischer Unionsbürger und Zugang zu ausgewählten sozialen Leistungen (PE 6 – 3000 - 0121/18) Die in Österreich geplante Indexierung der Familienbeihilfe für im EU-Ausland lebende Kinder - Zur Möglichkeit einer Übertragung auf das deutsche Recht (PE 6 – 3000 - 074/18) Einschränkungen beim Kindergeld für im Ausland lebende Kinder von Angehörigen anderer EU-Mitgliedstaaten im Lichte des Unionsrechts (PE 6 – 3000 - 040/18) Auswahl rechtswissenschaftlicher Aufsätze Derksen/Kubicki: (Kein) Kindergeld für wirtschaftlich nicht aktive EU-Ausländer? (NZS 2019, 651) Fuchs: Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Sozialrecht im Jahr 2017 (NZS 2018, 81) Devetzi: Familienleistungen im Kontext der Freizügigkeit: Rechtsprechung und aktuelle Entwicklungen (NZS 2017, 881) Bieback: Sozialrechtliche Förderung grenzüberschreitender Aktivitäten und Europarecht (NZS 2017, 801) Cremer: Unionsinterne Migration als integrationspolitische und unionsrechtliche Herausforderung (EuR 2017, 681) Schreiber: Bereichsspezifische Begrenzung des sozialen Gehalts der Unionsbürgerschaft oder „Rückkehr zum Marktbürger“? (NZS 2016, 847) Thym: Sozialhilfe für erwerbsfähige Unionsbürger: Das Bundessozialgericht auf Umwegen (NZS 2016, 441) Derksen: Keine Grundsicherung für Arbeitsuchende für EU-Ausländer? (ZAR 2016, 324) Janda: Das Recht auf Existenzsicherung – Eine Frage der Kostenersparnis? (ZRP 2016, 152) Farahat: Solidarität und Inklusion (DÖV 2016, S. 45)