© 2015 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 106/15 Unionsrechtliche Zulässigkeit von Schuldenerleichterungen für griechische Staatsschulden Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 106/15 Seite 2 Unionsrechtliche Zulässigkeit von Schuldenerleichterungen für griechische Staatsschulden Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 106/15 Abschluss der Arbeit: 3. September 2015 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 106/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Unionsrechtlicher Rahmen 4 3. Anforderungen des ESMV 5 4. Folgerungen für die Zinsen und die Laufzeiten 6 5. Folgerungen für den Vorschlag des IWF 7 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 106/15 Seite 4 1. Fragestellung Die Ausarbeitung geht auf die Frage ein, in welcher Form eine erhebliche Schuldenerleichterung1 bei den griechischen Staatsschulden, die aus den Krediten des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) bzw. der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) resultieren, unter der Voraussetzung rechtlich möglich wäre, dass Griechenland Mitglied des Euro-Währungsgebietes bleibt. Im Rahmen der Fragestellung soll insbesondere berücksichtigt werden, unter welchen Einschränkungen es möglich ist, mittels einer Schuldenerleichterungsvereinbarung dennoch einen Schuldenschnitt durchzuführen. Zudem wird darauf eingegangen, ob es rechtliche Einschränkungen bei der Verlängerung von Laufzeiten und der Senkung der Zinsen (ggf. auch unter Null) insbesondere mit Blick auf die Annahme gibt, dass ökonomisch jede Schuldenlast wieder tragfähig gemacht werden könne, wenn die Laufzeit gegen unendlich und die Zinsen gegen Null gingen. Schließlich wird darauf eingegangen, ob rechtliche Vorbehalte gegen die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) in seinem Schuldentragfähigkeitsbericht als Möglichkeit genannten Finanztransfers („explicit annual transfers to the Greek budget“) bestehen.2 2. Unionsrechtlicher Rahmen Nach der sog. „Nichtbeistandsklausel“ des Art. 125 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) haften Union und Mitgliedstaaten nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates und treten auch nicht für sie ein. Nach einer – insbesondere in den deutschen Rechts- und Wirtschaftswissenschaften kontrovers geführten – Debatte3 über die Reichweite des Beistandsverbots aus Art. 125 AEUV und das – auch durch die Konkretisierungen gemäß Art. 125 Abs. 2 AEUV in der Verordnung (EG) Nr. 3603/19934 nicht näher definierte – Merkmal „Eintreten für Verbindlichkeiten“ hat der EuGH in der Rs. C-370/12 (Pringle) Art. 125 AEUV dahingehend ausgelegt, dass diese Norm der Union und den Mitgliedstaaten dem Wortlaut nach nicht jede Form der finanziellen Unterstützung anderer Mitgliedstaaten verbietet.5 Würde Art. 125 AEUV jede finanzielle Unterstützung durch die Union oder die Mitgliedstaaten verbieten, hätte in der Beistandsklausel des Art. 122 AEUV klargestellt werden müssen, dass diese Norm eine Ausnahme von Art. 125 AEUV darstellt.6 Zudem stellt der EuGH auf den von Art. 123 AEUV 1 Beispielhaft für die Diskussion über mögliche Schuldenerleichterungen vgl. Bruegel, How to reduce the Greek debt burden?, abrufbar unter http://bruegel.org/2015/01/how-to-reduce-the-greek-debt-burden/. 2 Vgl. hierzu IWF, IMF Country Report No. 15/186 v. 14. Juli 2015, abrufbar unter https://www.imf.org/external /pubs/ft/scr/2015/cr15186.pdf. 3 Zur Diskussion vgl. Schorkopf, AöR 136 (2011), S. 323 (339); Kube/Reimer, NJW 2010, S. 1911 ff.; Frenz/Ehlenz, EWS 2010, S. 65 ff.; Knopp, NJW 2010, S. 1777 ff.; Herrmann, EuZW 2010, S. 413. 4 VO (EG) 3603/1993 des Rates v. 13. Dezember 1993 zur Festlegung der Begriffsbestimmungen für die Anwendung der in Artikel 104 und Artikel 104b Absatz 1 des Vertrages vorgesehenen Verbote, ABl. L 332/1. 5 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 137. 6 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 131. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 106/15 Seite 5 abweichenden Wortlaut des Art. 125 AEUV ab: Das Verbot der Gewährung von Überziehungsoder anderen Kreditfazilitäten in Art. 123 AEUV sei gegenüber dem Beistandsverbot enger gefasst , woraus im Umkehrschluss folge, dass das Verbot in Art. 125 AEUV im Gegensatz zu dem in Art. 123 AEUV nicht absolut gelte und sich damit nicht auf jedwede Form der Unterstützung zugunsten eines Mitgliedstaates erstreckt.7 Die „Nichtbeistandsklausel“ des Art. 125 AEUV solle primär sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten auf eine solide Haushaltspolitik achten, indem sie gewährleiste, dass die Mitgliedstaaten bei ihrer Verschuldung der Marktlogik unterworfen bleiben . Sie verbiete daher auch vom Normzweck her nicht, dass ein oder mehrere Mitgliedstaaten einem Mitgliedstaat eine (freiwillige) Finanzhilfe gewähren. Zentrales Kriterium für die Vereinbarkeit einer grundsätzlich zulässigen finanziellen Unterstützung mit Art. 125 AEUV ist demnach , dass der Empfängerstaat gegenüber seinen Gläubigern haftbar bleibt (Haftungskriterium) und dass die mit der Hilfe verbundenen geknüpften Auflagen nicht zu einer Beeinträchtigung des Anreizes des Staates führen, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben (Anreizkriterium).8 Mit Blick auf die Einrichtung eines dauerhaften Mechanismus für einen finanziellen Beistand zwischen den Mitgliedstaaten wurde mit Art. 136 Abs. 3 AEUV eine Bestimmung in das Primärrecht eingeführt, mit der die Vereinbarkeit eines solchen Beistandes mit Art. 125 AEUV primärrechtlich klargestellt wird.9 Danach können die Euro-Mitgliedstaaten einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen. 3. Anforderungen des ESMV Gemäß Art. 20 des ESM-Vertrags (ESMV) strebt der ESM bei der Gewährung von Stabilitätshilfen die volle Deckung seiner Finanzierungs- und Betriebskosten an und kalkuliert eine angemessene Marge ein. Dementsprechend umfasst die Finanzhilfevereinbarung als Grundlage der jeweiligen ESM-Finanzhilfe neben den technischen Einzelheiten der Finanzierungsbedingungen auch die Zinskosten, Gebühren und Laufzeiten der zu gewährenden Stabilitätshilfe, die durch den begünstigten Mitgliedstaat zu tragen sind.10 Im Hinblick auf Art. 20 ESMV ist bei der Gewährung von Finanzhilfen neben der Deckung der Finanzierungs- und Betriebskosten11 des ESM auch dadurch 7 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 132. 8 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle.), Rn. 136 f. 9 Vgl. Rathke, Von der Stabilitäts- zur Stabilisierungsunion: Der neue Art. 136 Abs. 3 AEUV, DÖV 2011, S. 753 ff. 10 Art. 13 Abs. 3 UAbs. 1 S. 3 ESMV, vgl. Nr. 7 ESM General Terms for Financial Assistance Facility Agreements, abrufbar unter http://www.esm.europa.eu/pdf/20141208%20-%20GT%20Financial%20Assistance%20Facility %20Agreements.pdf. 11 Für die Bestimmung der Finanzierungs- und Betriebskosten, unterteilt in Base Rate, Commitment Fee (Coverage of the Negative Cost of Carry and Issuance Costs), Service Fee (Coverage of ESM overheads) und Other Costs and fees of ESM, vgl. ESM Guideline on Pricing Policy, abrufbar unter http://www.esm.europa .eu/pdf/20141208%20ESM%20Pricing%20Policy.pdf, für die Zinsstruktur und Zinssätze der EFSF vgl. Präambel Abs. 2 (a), Abschnitt 2 Abs. 2 und Abs. 6 EFSF-Rahmenvertrag in der Fassung entsprechend der Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebietes vom 21. Juli 2011, wonach die u.a. die Laufzeiten der Darlehen auf mindestens 15 und bis auf 30 Jahre verlängert und die Zinsen dergestalt gesenkt werden sollten, dass sie „nahe bei, jedoch nicht unter den EFSF-Finanzierungskosten liegen.“, vgl. für die einzelnen Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 106/15 Seite 6 eine angemessene Marge anzustreben, dass Finanzhilfen mit Aufschlägen verzinst werden.12 Die Zinsaufschläge dienen einerseits dem Zweck, einen angemessenen Ausgleich für das Risiko zu schaffen, das die Mitglieder des ESM übernehmen. Insbesondere beruhen sie jedoch auf der Annahme , dass ohne Zinsaufschläge ein Anreiz verloren ginge, den Eintritt des Hilfsmechanismus zu verhindern oder zumindest rasch an den Kapitalmarkt zurückzukehren. Dementsprechend sind die Zinsen so zu gestalten, dass Finanzhilfe unattraktiv wird und so eine negative Anreizwirkung vermieden wird. Vor diesem Hintergrund sollen die Zinssätze für Kredite, die fest oder variabel sein können, der Summe der Refinanzierungskosten des ESM zuzüglich einer Gebühr in Höhe von 200 Basispunkten entsprechen.13 Für Darlehensbeträge, die nach drei Jahren noch nicht zurückgezahlt wurden, wird ein zusätzlicher Aufschlag in Höhe von 100 Basispunkten erhoben.14 Die in der ESM-Leitlinie über die Finanzierung festgelegten Regelungen zur Zinsfestsetzung werden regelmäßig vom Gouverneursrat überprüft. Die Zinsfestsetzung des ESM soll im Einklang mit den Grundsätzen der Zinsfestsetzung des IWF erfolgen und einschließlich eines angemessenen Risikoaufschlags über den Finanzierungskosten des ESM bleiben.15 Sollte der Gouverneursrat beschließen, die Strukturen oder Regelungen zur Zinsfestsetzung des ESM zu ändern, so sollte die Preisgestaltung des ESM für Mitgliedstaaten, die einem makroökonomischen Anpassungsprogramm einschließlich einem EFSF-Programm unterliegen, mit den Bedingungen der zwischen dem EFSF, Irland und der Central Bank of Ireland einerseits und zwischen dem EFSF, der Portugiesischen Republik und der Banco de Portugal andererseits geschlossenen Vereinbarungen über eine Finanzhilfefazilität in Einklang stehen.16 In jedem Fall muss auch bei einer Änderung entscheidend bleiben , dass angemessene Anreize gesetzt werden. 4. Folgerungen für die Zinsen und die Laufzeiten Vor dem Hintergrund der Prämissen von Art. 125, 136 Abs. 3 AEUV sowie mit Blick auf die Bedingungen des ESM zur Gewährung von Darlehen müssen auch Schuldenerleichterungen in Form von Laufzeitverlängerungen oder Zinssenkungen den Anforderungen genügt, wonach Hilfen nur unter strengen Konditionen vergeben werden dürfen, um die von Art. 125 AEUV bezweckten positiven Anreizwirkungen für den Empfängermitgliedstaat zu einer soliden Haushaltspolitik nicht zu beeinträchtigen. Dementsprechend muss ein mit Art. 125 AEUV konformer Bei- Programme den Überblick der EFSF, abrufbar unter http://www.efsf.europa.eu/attachments/faq_en.pdf sowie Ausschussdrucksache 17(8)4350. 12 Art. 20 ESMV; vgl. hierzu Europäischer Rat, Schlussfolgerungen v. 24./25. März 2011, EUCO 10/11, S. 25 sowie Hinblick auf die notwendigen Zinsaufschläge Deutsche Bundesbank, Monatsbericht, Februar 2012, S. 67. 13 Vgl. hierzu ESM Annual Report 2014, S. 43 ff., abrufbar unter http://www.esm.europa .eu/pdf/204204_ESM_RA_2014_web.pdf. 14 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen v. 24./25. März 2011, EUCO 10/1/11 REV 1, Anlage II, S. 29. 15 EUCO 10/11, S. 28. 16 15. Erwägungsgrund ESMV. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 106/15 Seite 7 stand zu nicht konzessionären Bedingungen in dem Sinne erfolgen, dass gegenüber dem Beistandsgläubiger eine neue Schuld resultiert und der gewährte Betrag „um eine angemessene Marge erhöht“ an den Beistandsleistenden zurückgezahlt werden muss.17 Dabei stellen die Erfordernisse der Rückzahlung und der Pflicht zur angemessenen Marge insbesondere Kriterien für die Gewährleistung dar, dass die Gläubiger nicht für die Verbindlichkeiten des Empfängerstaates haften und der betreffende Mitgliedstaat zu einer soliden Haushaltspolitik angehalten bleibt.18 Eine konkrete Trennlinie bzw. das Moment des Umschlagens von einer unionsrechtlich (noch) zulässigen Schuldenerleichterung in einen unzulässigen Schuldenschnitt19 lässt sich rechtlich nicht abschließend bestimmen. Vielmehr handelt es sich hierbei um einen Graubereich, der von einer Vielzahl von insbesondere ökonomischen Faktoren abhängig und politischen Erwägungen zugänglich ist. Je substantieller eine Schuldenerleichterung wäre, desto weniger würden diese Voraussetzungen für zulässige Finanzhilfe erfüllt sein. Vor diesem Hintergrund bliebe zwar bei einer Schuldenerleichterung – im Gegensatz zu einem auch aus diesem Grund mit dem Unionsrecht unvereinbaren Schuldenschnitt20 – die Nominalschuld bestehen. Jedoch dürften die Vorschläge , die Laufzeiten der gewährten Hilfen gegen Unendlich, einen Nullzins oder gar einen negativen Nominalzins festzusetzen, die Grenzen des im Rahmen von Art. 125 AEUV noch Zulässigen überschreiten, da hierdurch zwar die Nominalschuld bestehen bliebe, faktisch jedoch die auch durch Zinsen und Laufzeiten intendierte Anreizwirkung beseitigt würde. Vor dem Hintergrund , dass ein nominaler Schuldenschnitt nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, dürften auch Maßnahmen gleicher Wirkung in Form von Schuldenerleichterung als Umgehung der oben dargestellten Voraussetzungen unzulässig sein. Schließlich dürfte die Festsetzung eines Nullzinses bzw. eines negativen Nominalzinses nicht mit den Anforderungen gemäß Art. 20 ESMV im Einklang stehen, die auf völkervertraglicher Ebene die Anforderungen insbesondere des Art. 125 AEUV widerspiegeln. 5. Folgerungen für den Vorschlag des IWF Der IWF schlägt in seinem Länderbericht vor, dass es zur Herstellung einer tragfähigen Staatsverschuldung in Griechenland jährliche Transferzahlungen der EU-Mitgliedstaaten an den griechischen Haushalt geben sollte. Weitergehend wird der Vorschlag nicht konkretisiert, so dass die Anhaltspunkte für eine abschließende Bewertung fehlen. Insofern lässt sich zu dem Vorschlag des IWF lediglich anmerken, dass jedenfalls unkonditionierte Transferleistungen der Mitgliedstaaten mit Blick auf das erforderliche Anreizkriterium nicht mit Art. 125 Abs. 1 AEUV vereinbar sein dürften. 17 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 139, 141. 18 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 138. vgl. auch Calliess, Der ESM zwischen Luxemburg und Karlsruhe, NVwZ 2013, S. 97 (103). 19 Vgl. hierzu die Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 111/15. 20 Vgl. hierzu die Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 111/15, S. 15.